[tabmenu][tab=Platzreduzierungsseite]Bitte auf Fortsetzung klicken ~[tab=Fortsetzung]Neko betete für Mizu.
Seit sie bei den Rebellen des Herzlandes arbeitete, hatte sie kein wirkliches Gebet mehr an den Gott der Steppe geschickt. Auch vorher war sie nicht sehr religiös gewesen – der Gedanke, die Götter hatten immer ein wachsames Auge auf die Menschen, war ihr schon tröstlich genug. Doch jetzt brauchte es einfach ein bisschen mehr.
Natürlich war Mizu endlich erwacht und man konnte fast meinen, ein solches Gebet käme daher zu spät. Doch Neko machte sich Gedanken darüber, was für Folgen diese Verletzung nach sich ziehen mochte, und die wollte sie so gut es ging eingedämmt wissen, nachdem die Heiler alles in ihrer Macht stehende getan hatten. Auf dem Fußmarsch nach Namine hatte sie mit sich gehadert, welchen Gott sie um Beistand erbeten sollte: Groudon, weil er nunmal Gott der Eloi war; Suicune als Göttin des großen Flusses, an dessen Ufern Mizu aufgewachsen war; oder Arceus, der gerade hier im Herzland die größte Macht des Pantheons ausübte.
Letztlich hatte Neko sich jedoch für Groudon entschieden, da es ihr richtig vorkam. An ihn hatte sie sich stets gewandt, wenn sie Sorgen und Ängste geplagt hatten, also war diese Wahl nur logisch.
Als Neko endete, steckte sie das Räucherstäbchen in den oberen Sandkasten zu den anderen und erhob sich. Sie wandte sich dem Arceus-Altar zu und neigte auch vor ihm das Haupt, um ihren Respekt vor der örtlichen Gottheit zu bekunden. Am Rande gewahrte sie, dass die Naminerin fort war; ihr Weggehen hatte sie gar nicht registriert. Wie auch die Fremde verließ Neko die Kirche, um ihren Besuch in der Hauptstadt fortzusetzen.
Vom Tempel aus führte eine weitere Promenade ab, die der Allee, die Neko zur Kirche geführt hatte, sehr ähnelte. Sie stellte sich nicht ganz so protzig dar, wirkte aber auch alles andere als verarmt. Verschiedene Schilder unter der Bedachung des Gehwegs nannten den Namen und die angebotene Ware des Geschäfts, zu dem sie gehörten: Ein Antiquitätengeschäft nebst eines Pfandleihers, eine kleine Confiserie, ja sogar ein Friseursalon, wie man ihn nur in den reichsten Vierteln der größten Städte zu finden vermochte, wo diese Modeerscheinung eingeschlagen war.
Neko fiel vor allem ein Schild auf, auf dem das Wort Steppenglas zu lesen war. Um das Wortspiel perfekt zu machen, zierten gläserne Grasbüschel das hölzerne Schild, in denen das Licht flackerte, wenn der Wind das Schild zu leichtem Schaukeln anregte. Neugierig warf Neko einen Blick durch die großen Schaufenster, in denen herrlich gearbeitete Glasfiguren ausstanden. Ob der Besitzer tatsächlich ein Eloer war, wie der Name des Ladens suggerierte?
„Du bleibst schön hier, damit du mir nichts kaputt machst“, wies Neko Traunfugil an und wollte sogleich eintreten. Doch der Nebelgeist hielt sie quiekend auf. Er nahm ihre Hand, hob sie hoch, bis sie auf Armeslänge vor ihrem Gesicht hing, und schwebte dann demonstrativ hindurch. „Ne!“, verlangte Traunfugil bestimmt, doch seine Menschenpartnerin schüttelte den Kopf. „Auch wenn du durch alles hindurchschweben kannst, bleib bitte draußen.“ Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie keine weiteren Widerworte hören wollte. Es brach ihr das Herz, als Traunfugil eine traurige Miene aufsetzte, hinaufschwebte und sich an der Decke festsaugte. Die geisterhaft glühenden Augen schloss er schmollend, um auf ihre Rückkehr zu warten.
Er tat ihr leid, doch Neko wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Im Glashaus sollte man nicht mit Steinen schmeißen – und auch nicht von Geistern begleitet werden, die ihre Kräfte nicht recht unter Kontrolle hatten. Traunfugil war einfach zu übermütig.
„Ich bin gleich wieder da“, versicherte Neko ihm und öffnete die Tür. Eine kleine, gläserne Klingel ertönte, als sie den Laden betrat. Was der Eloa sofort auffiel, waren die vielen Regale, die die Wände säumten und Gänge zwischen sich aussparten. Über und über waren die Böden vollgestellt mit meisterlicher Glaskunst, wie Neko sie noch nie gesehen hatte: Pokémon in allen verschiedenen Größen und Posen, Normale wie Bunte oder mit Farben, die nicht in der Natur vorkamen, aus klarem oder milchigem Glas gefertigt. Besonders gefiel ihr eine Libelldra-Figur, die sich nach Drachenart um einen Sandstein schlängelte. Die durchsichtigen, roten Augen schienen von innen heraus zu leuchten. Doch auch alle möglichen Pflanzen und Blumen fanden sich unter den Exponaten. Unter anderem entdeckte Neko eine Rose aus blutrotem Glas, die in ihrer Fertigungsweise sehr derjenigen ähnelte, die Seijin unlängst erworben hatte. Wahrscheinlich war das also hier geschehen.
Neko erhaschte einen Blick zur Ladentheke, hinter der sie den Besitzer vermutete. Zwar war der Posten tatsächlich besetzt, doch wer immer dort saß, verbarg sein Gesicht hinter einer großen Tageszeitung. Zu gern hätte sie gewusst, ob es ein Angehöriger ihres Volkes war. Aber es musste nicht einmal der Ladenbesitzer selbst sein, wahrscheinlich beschäftigte er Angestellte.
Auf ihrem Weg durch die Gänge fielen ihre staunenden Augen auf eine Gruppe an Glasfiguren, von der sie gedacht hatte, außerhalb ihres Elternhauses nie eine zu erblicken: Katzenfiguren, einem Mauzi nachempfunden, aus sanddornfarbenem Glas mit eingeschlossenen Sandkörnern. Kindheitserinnerungen durchwehten Neko wie ein Sandsturm, Erinnerungen daran, wie ihre Mutter bei ihr am Bett gesessen und ihr Geschichten vom Nomadenvolk der Elani erzählt hatte. Neko wusste, ihr Vater war ein solcher gewesen, und dessen Bruder hatte Sanako die Katzenfigur geschenkt, die Neko als Kind immer so geliebt hatte.
Sie hatte geglaubt, diese Figur sei einzigartig gewesen. Ein Zeichen dieser tragischen Liebesgeschichte, wie auch Neko selbst eines war. Jetzt zu sehen, dass noch mehr davon existierten, ja sogar hier, weitab der Steppe zum Schleuderpreis verkauft wurden, schmerzte die Chimäre sehr. Enttäuscht stellte sie die gläserne Katze zu ihren Brüdern und Schwestern im Regal zurück und floh vor der Erschütterung ihres kindlichen Glaubens.
Scherben bringen Glück
Es gibt viele Dinge, die man sich über das wandernde Volk der Elani erzählt. Je weiter entfernt der Ort dieser Geschichten von der Steppe ist, umso seltener entsprechen sie in der Regel der Wahrheit oder sind auch nur halbwegs realistisch. In sehr entlegenen Gegenden, wie das Hügelland und der Hauptarm des Lynor, waren wir sogar eine lange Zeit nichts weiter als ein Mythos. Überraschenderweise wussten jedoch die Gotela seit jeher über uns bescheid, zumindest über unsere Existenz; was aber auch nur der Tatsache zuzuschreiben sein mag, dass das Grundprinzip ihrer eigenen nomadischen Lebensweise der unseren entspricht.
Dass geografische Abgeschiedenheit nicht immer beim Wahrheitsgehalt jener Geschichten eine Rolle spielt, erkennt man auch an den Eloi. Sie bewohnen mit uns dieselbe Steppe, doch sind sie hart von den Elani abzugrenzen – nicht zu leugnen ist aber, dass wir durchaus dieselbe Vergangenheit teilen. Man erzählt sich, als die Menschheit vor eintausend Jahren das Reich der Sieben Länder erreichte, seien einige derer, die über die Steppe einwanderten, weitergereist – diese fanden das fruchtbare Land des Keran oder die stürmischen Hügellande. Andere blieben zwar in der Steppe, ließen sich jedoch nieder in der Nähe von Wasserquellen, um dort Siedlungen zu gründen. Diese Gruppe wurde später als Eloi bekannt. Nicht alle, die in der Steppe blieben, waren mit den Lebensbedingungen zufrieden, die sie hier oder dort vorfanden, und setzten ihre Reise deswegen fort. Weil sie nie einen rechten Ort zu finden schienen, entwickelte sich das Wandern zu ihrer Tradition, ihrer Lebensform – und so wurde aus ihnen das Wandervolk der Elani.
Es heißt, in unseren Adern flösse Sand, und eben wie dieser müssen wir unsere Reise ewig fortsetzen: Auch wenn wir uns für kurze Zeit niederlassen, um zu rasten und uns auszuruhen, weht uns der Wind doch alsbald weiter. Wer stehenbleibt, der erstarrt zu Sandstein, und dieser ist stumm und ohne jede lebendige Bewegung. Wir sehen uns selbst als das ursprüngliche Volk der Steppe, und unsere Lebensweise ist die einzig richtige in diesem Land.
Auch wenn wir es gar nicht mögen, wenn man uns als Eloer bezeichnet, gehören wir rein rechtlich natürlich zu ihnen – damit haben die wenigsten Elani ein Problem. Unsere Haar- und Augenfarbe entspricht der der Eloi. Kulturell, geistig und nach der Aufspaltung auch geschichtlich sind wir aber zwei völlig verschiedene Gesellschaftsstrukturen. Die Eloi sichern ihren Lebensunterhalt mit dem Anbau von Steppenweizen und der Viehzucht – die Elani, obwohl sie auch kleine Herden Tauros und Miltank mit sich führen, sind wie einst hauptsächlich Jäger und Sammler. Doch unsere wichtigste Einnahmequelle ist das Kunsthandwerk. Jeder unserer umherziehenden Stämme hat eine Disziplin, die er besonders gut beherrscht. Auf unserer Reise gelangen wir durch Dörfer und Städte der Eloi und an der Grenze auch der Keraner, um dort unsere Fertigkeiten vorzuführen oder von uns handgefertigte Kunstobjekte feilzubieten. Die ursprünglichen Elani nahmen nur Tauschgegenstände an, neue Güter oder Nahrung, aber mittlerweile handeln wir auch mit dem Geld der Sieben Länder. Es war unumgänglich, sich dieser Veränderung anzupassen.
Doch im Grunde sind wir ein sehr traditionsfokussiertes Volk. Es gibt wenig, das uns in unserer Halsstarrigkeit erschüttern könnte. Das geht sogar so weit, dass kaum ein Elani je ein Partnerpokémon erhält. Selbst die Eloi erzählen sich, wir könnten keine Partner erhalten, weil wir Pokémon schlecht behandelten, nur für uns arbeiten ließen, und auf einer solchen Grundlage nie eine Partnerschaft entstehen könne. Doch das ist nicht ganz wahr.
Tatsächlich halten wir Pokémon als Nutzvieh, jedoch nie in dem Maße, dass wir sie als Sklaven ansähen. Wir gebrauchen nur ihre natürlichen Fähigkeiten, zwingen sie nie zu Dingen, die über ihr Grundwesen hinausgehen. Die Hippoterus, die unsere Zelte und wenigen Habseligkeiten tragen, spüren kaum das Gewicht. Sie wachsen von Geburt an bei uns auf, und Hippopotas führen wir langsam und schonend an ihre spätere Aufgabe heran. Daher folgen sie der Herde und dem Elani-Stamm bereitwillig ohne jeden Zwang. Die Tauros und Miltank bleiben in unserer Gesellschaft ebenfalls hauptsächlich aus Gewohnheit, und, weil sie wissen, dass wir sie immer wieder an Wasserstellen oder Nahrung heranführen. Dass wir sie selbst als Fleischquelle nutzen, unterscheidet sich auch nicht von dem, was Eloer tun.
Es gibt etliche solcher Beispiele, die eines offenbaren: Die Elani sind geistig nicht dazu in der Lage, Partnerpokémon zu erhalten. Wir sehen sie als Hilfen an, aber nicht als gleichberechtigte Lebewesen. Unsere Traditionen lassen es nicht zu, dass wir diese Mentalität je ändern werden. Und auf dieser Grundlage, das stimmt, kann sich wirklich keine Partnerschaft aufbauen. Oder zumindest nur äußerst selten. Ich bin dafür ein gutes Beispiel.
Was man sich auch erzählt, ist, dass wir unsere Frauen unterdrücken und sie nicht tun lassen, was sie wünschen, dass wir ihnen sogar verbieten, mit Angehörigen anderer Völker zu reden. Dass sie keine wichtigen Ämter bekleiden dürfen. Dieses Vorurteil ist so falsch, wie ein solches nur sein kann. Untereinander mögen Frauen keine Abstufungen des Ranges haben, was aber nur daran liegt, dass wir sie alle wie Königinnen behandeln. Sie sind die Verbindung zur Zukunft, bringen sie doch unsere Kinder zur Welt. Jeder Mann der Elani ist jederzeit dazu verpflichtet, alles zu tun, was eine unserer Frauen verlangt, sie zu ehren und zu beschützen. Jedes Vergehen gegenüber einer Frau wird aufs Härteste bestraft – von Männern. Nie müssen sie einen Finger krumm machen; ihre Aufgaben sind lediglich, sich um alle Kleinkinder, auch die Jungen, zu sorgen und die Mädchen so zu erziehen, dass sie Männer nicht ungerecht oder unmoralisch herumkommandieren – welch Ironie, betrachtet man das Vorurteil.
Dass wir sie angeblich vor anderen Völkern verborgen halten oder ihnen verbieten, einer Tätigkeit nachzugehen, hat eben diesen Grund, dass sie unsere Königinnen sind. Warum sollte sich eine Königin eines Volkes, das sich selbst als anderen überlegen ansieht, mit Angehörigen der Eloi und Keraner abgeben? Auch innerhalb der Elani würde das Ansehen einer solchen Königin sinken, wenn sie arbeitete. Deswegen nehmen unsere Frauen, wollen auch sie etwas zum bescheidenen Wohlstand ihres Stammes beitragen, eine zweite Identität an und geben sich als Mann aus. Selbst wenn bekannt ist, dass eine Frau einem Handwerk nachgeht: Solange sie das in ihrer Verkleidung tut, wird es von allen Elani gebilligt. Gerade vor unserer Kundschaft sind sie dergestalt getarnt, wodurch kaum ein Außenstehender etwas von arbeitenden Elani-Frauen weiß.
Was Gesellschaften mit Ehe und Monogamie besonders ein Anstoß ist, ist unsere lockere Haltung eben dieser Themen gegenüber. Heirat existiert bei uns nicht, die Zugehörigkeit zu einem Stamm wird immer über die Mutter definiert, während der Vater in den meisten Fällen nicht bekannt ist. Kurzfristige Beziehungen zwischen Angehörigen zweier Stämme – meist nicht länger als die paar Tage, die sich die Stämme begegnen – werden gebilligt und sind sogar erwünscht, um Inzest möglichst gering zu halten. Natürlich kennen wir auch die Liebe, und so manches Paar bleibt mehrere Jahre zusammen. Doch eine Verpflichtung oder Zurückhaltung hat sich in unserem Volk nie entwickelt.
Trotz allem: Die Elani sind nicht perfekt, auch für sich selbst nicht. Wir schicken unsere Verbrecher ins Exil in die Wildnis der Steppe, wo sie alleine auf sich gestellt nicht überleben können. Aufgrund der mangelnden medizinischen Versorgung und mitunter Nahrungsknappheit wird ein durchschnittlicher Elani nicht viel älter als vierzig Jahre. Wer krank und gebrechlich ist, kann nicht mit uns mitreisen – und bleibt, so es denn sein Wunsch ist, in den Dörfern zurück, die wir passieren. Andere Elani lassen den Sand in ihren Adern freiwillig erstarren und setzen sich von uns ab. Oft spielt dabei die Liebe zu einem Angehörigen sesshafter Völker eine Rolle oder der Wunsch eines standhaften, sicheren Lebens.
Einst durchwanderten dutzende Elani-Stämme die Steppe – mittlerweile kann man sie an wenigen Händen abzählen. Viele Stämme sind so klein geworden, dass sie sich zu einem zusammenschließen mussten. Und noch immer werden es weniger und weniger. Auch wenn das viele meines Volkes nicht wahrhaben wollen: Die Elani sind auf kurz oder lang zum Aussterben verurteilt.
Isago war schon immer ein Draufgänger. Seine große Klappe und noch größerer Wagemut ließen ihn immer wieder in schwierige Situationen schlittern. Schon als Kind hatte er sich mit Jungen angelegt, die mehrere Köpfe mehr maßen als er. Nicht selten kam es dabei zu physischer Gewalt, vor der er selbst bei gegnerischer Übermacht nicht zurückschreckte. Selbst mit Groudon hätte er gekämpft, wenn es nötig gewesen wäre. Das machte es mir als seinen älteren Bruder nicht gerade leicht, das Versprechen einzuhalten, das ich unserer Mutter in seiner Kleinkindzeit gegeben hatte: Immer auf ihn aufzupassen. Er war klein und kränklich, dickköpfig und furchtlos. Keine besonders gute Mischung.
Ich muss zugeben, auch ich passte nicht ganz in das Bild unseres Stammes des Tanzenden Strauches. Wie unser Name schon durchblicken ließ, waren wir eine Gruppe Tänzer und Akrobaten, die sich ihr Geld mit der Zurschaustellung von Kunststücken und eleganten Bewegungen verdienten. Mich interessierte diese Kunstform jedoch nie. Tänze waren für mich zu flüchtig, so ganz ohne jeden Beweis, dass sie je stattgefunden hatten, nur in einer Erinnerung gefangen. Ich wollte etwas erschaffen, das Bestand hatte, etwas Materielles, das ich mit meinen Händen fortgeben konnte. Stets freute ich mich auf Begegnungen mit anderen Stämmen, die einem Handwerk nachgingen und schaute mir dort auch den einen oder anderen Kniff ab. Glücklicherweise war ich nicht dazu verpflichtet, gerade die Kunstform meines Stammes anzunehmen – doch es war nicht schlecht, mich zu einer zu entscheiden, bevor ich den Kindesbeinen entwuchs.
Als mein Halbbruder – was bei den Elani ebenso gut ist wie ein Bruder vom selben Vater bei anderen Völkern – ermutigte mich Isago immerzu, mir ein solches Handwerk anzueignen. Dabei legte er sich nicht wirklich auf ein bestimmtes fest; er bestärkte mich einfach in dem, das ich gerade im Blick hatte. Dadurch war er keine große Hilfe, was meine Entscheidungsfindung betraf, doch ich wusste seine Unterstützung zu schätzen.
Das Dumme war nur, dass in unserem Stamm selbst kein Mann – und auch keine Frau – mitreiste, der ein Kunsthandwerk beherrschte, und unser Kontakt mit anderen Stämmen war nie lang genug, dass ich eines effizient erlernen könnte. Gesellschaftlich wäre es kein Problem, wenn ich mich einfach einem anderen Stamm anschloss; doch ich musste im Stamm des Tanzenden Strauches bleiben, um Isagos Hintern aus den Treibsandgruben herauszuziehen, in denen er immer wieder versank. Und mich zu begleiten käme für ihn ohnehin nicht infrage. So unglaubwürdig es auch klingen mag, sagte er mir einmal: „Arikui, ich bin hier als Störenfried bekannt. Es wäre viel zu viel Mühe, diesen Ruf auch in einem anderen Stamm noch zu bekommen!“
So blieb ich also im Stamm des Tanzenden Strauches, weil mein Bruder ein Idiot war.
Doch er war kein Kotzbrocken. Er wusste, was ich für ihn aufgab, und setzte alles daran, dass ich meinen Traum, ein Handwerker zu werden, umsetzen konnte. Nicht lange vor meinem dreizehnten Geburtstag – das Alter, in dem man sich endlich für eine Kunstform entschieden haben sollte – hatte die Glaskunst mein Interesse geweckt. Im Stamm der Funkelnden Sandrose gab es einen Mann, der ein Knakrack zum Erstpartner hatte. Mithilfe dessen Feuerattacken konnte er den feinen Sand, den Hippoterus über ihre Poren ausscheiden, zu sehr klarem Glas einschmelzen und fertigte daraus, mit Pigmenten gefärbt, wunderschöne Figuren.
Isago und ich hatten ihn beide stark im Verdacht, Isagos Vater zu sein und dass er es auch wusste. Wenn sie sich trafen, fragte er meinen Bruder mit ungewöhnlichem Interesse nach seinem Befinden. Unserer Mutter begegnete er, neben der gewöhnlichen Hochachtung unseren Königinnen gegenüber, mit anfragender Zuneigung. Wohl war er in sie verliebt und hoffte auch noch nach Jahren, wieder mit ihr zusammenzukommen, diesmal für längere Zeit. Nie gab sie seinen Annoncen nach, doch er nutzte jede Gelegenheit, es weiter zu versuchen. Als Isago ihn also darum bat, sich für eine Zeit lang unserem Stamm anzuschließen und mir die Glaskunst beizubringen, willigte er nur allzu freudig ein. So war er meiner Mutter wieder näher, und ich konnte ein Handwerk erlernen.
Doch wie vieles, was Isago so in den Sinn kam, war auch diese Sache nicht gerade durchdacht: Während meiner Ausbildungszeit konnte auch ich vom feurigen Atem Knakracks profitieren, doch was war danach? Elani tragen für gewöhnlich nicht viel Brennholz mit sich, und das wenige benötigen sie zum Kochen. Meine Tätigkeit hätte viel zu viel Holz gefressen, als dass sie sich gelohnt hätte. Am Anfang machte ich mir noch keine großen Gedanken darüber, doch wie die Jahre vergingen und je mehr ich lernte, umso dringender wurde diese Frage. Ich konnte trotz seiner Liebe zu meiner Mutter nicht darauf vertrauen, dass mein Lehrmeister in unserem Stamm bliebe, und falls doch, nicht darauf, dass Knakrack nicht wie alle Partnerpokémon das Weite suchte, wenn sein Menschenpartner starb.
Doch Groudon meinte es gut mit mir: An der Grenze zum Land des Keran kamen wir an einem Bauernhof vorbei, dessen Ernte zu dieser Zeit bedroht war durch eine gefährlich angewachsene Population von Fermicula. Zum Schutz gegen die gefräßigen Pokémon hielt sich der Besitzer des Guts den natürlichen Feind der Metallameisen: Eine handvoll Furnifraß patrouillierte an den Feldern. Durch einen Zufall begegnete ich einem dieser langschnäuzigen Feuerpokémon – und es stellte sich heraus, dass es mein Partner sein sollte.
Ob Nutz- oder Schlachtvieh, langjähriges Haustier, Mitglied einer Familie – wenn ein Pokémon für eine Partnerschaft mit einem Menschen auserwählt wird, so werden alle bisherigen Bündnisse gekappt, das Pokémon aus seinem gewohnten Umfeld gerissen. Insofern ist das Konzept dieser Partnerschaft nicht so gleichberechtigt, wie sie gerne dargestellt wird, doch die Natur hat es nunmal so festgelegt. Der Bauer war als Besitzer des Furnifraß dazu verpflichtet, es gehen zu lassen, als es mein Partner wurde, und hatte nicht das geringste Recht dazu, es irgendwie zum Bleiben zu zwingen. Ich hatte damals dennoch Mitleid mit diesem Mann, der so viel Geld für die Feuerrüssler ausgegeben hatte und noch mehr verlieren würde, wenn seine Streitmacht gegen die Fermicula ausgedünnt wurde. Ich besaß nichts, das den Wert dieses einen Pokémon aufgewogen hätte; aber ich versprach, jedes Mal, wenn mein Stamm vorbeireiste, etwas Geld oder meine schönste Glasfigur zurückzulassen. Wenn auch widerstrebend nahm er an – immerhin hätte ich auch gar nichts anzubieten brauchen. Ab da verband uns bis zu seinem Tod eine langjährige Freundschaft, und auch heute noch lasse ich seiner Familie regelmäßig Geld zukommen.
Immerhin verdanke ich ihm meine Erstpartnerin. Furnifraß ist ein Feuerpokémon. Endlich war es mir möglich, mithilfe meines eigenen Partners Sand einzuschmelzen! Meine Zukunft als Glaskünstler war gesichert.
So schloss ich meine Ausbildung ab, und als Isagos Vater unseren Stamm verließ, machte ich mich selbstständig. Neun Jahre hatte es gedauert, aber ich wusste, dass ich noch lange nicht am Ende des Lernens stand. In der Glaskunst gab es noch viel für mich zu entdecken, und ich experimentierte mit neuen Methoden. Wenn wir in ein Dorf kamen, fragte ich die Menschen aktiv nach ihren Tätigkeiten, um mich inspirieren zu lassen. Isago war dabei ständig bei mir, wie er als mein kleiner Bruder stets hinter mir hergelaufen war, wenn er nicht gerade etwas ausheckte.
Auf solche Tuchfühlung gehen Elani für gewöhnlich nicht mit anderen Völkern. Wir kommen, verkaufen und treten auf, tauschen und bekommen Geld, und dann verschwinden wir wieder. Wie Sand im Wind eben. So intensiv hatten uns Eloer noch nie wahrgenommen wie Isago und mich, wenn wir uns auf Fragerunde begaben. In einem dieser Dörfer begegneten wir auf diese Weise einer Person, die mein künstlerisches Interesse weckte, doch dieses war nichts im Vergleich dazu, was Isago empfunden haben musste. Sie verdrehte ihm derart den Kopf, dass mein kleiner, draufgängerischer Bruder tatsächlich in Erwägung zog, bei ihr im Dorf zu bleiben.
„Ich liebe Sanako“, gestand er mir, als er mir sein Vorhaben eröffnet hatte. Er wollte sich, wenn der Stamm des Tanzenden Strauches weiterreiste, davonstehlen und in aller Heimlichkeit zurückbleiben. Wir beide wussten, unsere Mutter, unser Stamm würde es nie zulassen, dass er blieb – zwar mochte es sein, dass sich so mancher Elani absetzte, doch in unserem Volk war das eigentlich verpönt. Ich war der Einzige, an den er sich wenden konnte, von dem er wusste, dass er ihn nicht verraten würde.
„Du kannst nicht hierbleiben“, sagte ich jedoch eindringlich zu ihm, zur Hälfte aus Egoismus. Hatte ich mich doch eben wegen seiner Schrulle, für seinen ominösen Ruf im Stamm des Tanzenden Strauches zu bleiben, nicht dem Stamm der Funkelnden Sandrose angeschlossen. Zur anderen Hälfte berief ich mich auf das, was jedem von uns von Kind auf eingetrichtert wird: „Ein Elani muss auf Wanderschaft bleiben. Du darfst dich hier nicht festsetzen! Außerdem, wie alt ist sie? Sechzehn, siebzehn?“
„Dann ist sie auch nur ein Jahr jünger als ich“, versetzte mein Bruder.
„Ihr seid beide zu jung!“
Doch Isago hatte sich Hals über Kopf in dieses Mädchen verliebt und ließ nicht locker: „Arikui, du weißt doch genau, wie es ist, wenn man unbedingt mit jemandem zusammen sein will und dafür alles tut!“ Damit bezog er sich auf Furnifraß.
Das waren zwar zwei völlig verschieden angelegte Fälle, doch ich wusste, dass ich ihn über diesen Weg ohnehin zu nichts überreden konnte. Also versuchte ich es anders: „Sanako ist eine Eloa, noch dazu eine Chimäre. Ist es dir das wirklich wert?“ Die Toleranz der Elani Chimären gegenüber war größer als bei anderen Völkern, doch auf die Art mit ihnen zusammenzukommen, wie Isago das vorhatte, war dann doch zu viel des Guten.
„Wir sind auch nicht ganz reinblütig Mensch“, rief er mir flüsternd ins Gedächtnis. Damit hatte er Recht: Unsere Mutter hatte vermutet, dass ihr Vater die Felilou-Chimäre gewesen war, die unseren Stamm vor ihrer Geburt begleitet hatte. Er selbst war schon bei Weitem nicht mehr reinblütig gewesen, und auch bei unserer Mutter deuteten nur von Natur aus arrogant geschwungene Augenbrauen auf eine etwaige Verwandtschaft hin. Bei Isago und mir mochten die drei, vier Tropfen Chimärenblut gerade dafür ausreichen, den Sand in unseren Adern zu benetzen. Doch wenn die Vermutung unserer Mutter stimmte, stammten wir von einer Chimärenart ab, die der von Sanako ähnlich war.
„Ich werde bleiben“, verkündete Isago schließlich. „Ganz egal, was du sagst.“ Damit wandte er sich von mir ab. Es sollte das letzte Gespräch sein, das wir je führten.
Auch wenn es mir nicht gefiel, so war ich ihm, obwohl er meinen Fortgang zu einem handwerklichen Stamm verhindert hatte, doch Einiges schuldig, weil er seinen Vater und dessen Knakrack zu uns geholt hatte. Eigentlich sollte ich ihn jetzt auch unterstützen in dem, was seine Leidenschaft so entfacht hatte. Dem stand die Loyalität zu meinem Stamm im Weg, von dem ich nicht wollte, dass er Mitglieder so einfach verlor. Und natürlich mein Versprechen, ihn vor allem Unsinn zu bewahren, den er sich in den Kopf setzte. Würde er hier im Dorf sicher sein?
Ich beschloss, gar nichts zu tun. So hätte ich Isago zwar nicht geholfen, aber auch nichts getan, was ich später bereuen sollte.
Ich sollte es bereuen.
Zwei Jahre später kehrte der Stamm des Tanzenden Strauches in jenes Dorf zurück. Meine Mutter war mittlerweile verschieden; dass Isago uns einfach so verlassen hatte, hatte sie nie verwunden. Während meine Stammesmitglieder ihre Stände und Zelte aufbauten, machte ich mich gleich auf die Suche nach meinem Bruder. Erwähnte ich Isagos Namen, waren die Bewohner merkwürdig verschlossen und suchten so schnell wie möglich, die Konversation zu beenden.
Nur ein Eloer, ein Junge von vielleicht vierzehn Jahren, der sich mir als Ryusha vorstellte, war so freundlich, mir Antwort zu stehen. Er selbst sei mit Ichijuku, Sanakos jüngerer Schwester, gut befreundet, und wisse daher ziemlich genau, was geschehen war. Doch anstatt mir die Geschichte zu erzählen, empfahl er mir, Sanako selbst nach den Umständen zu befragen. Ich erkundigte mich nach dem Weg zu ihrem Haus. Ryusha wirkte überrascht, deutete dann aber die Hauptstraße des Dorfes hinauf. Bevor ich vor Verwunderung etwas sagen konnte, hatte er sich bereits von mir entfernt.
Das Haus, das er mir gewiesen hatte, war das mit Abstand größte des Dorfes. Auch wenn ich in Architektur alles andere als bewandert war, erkannte ich doch, dass der Baustil ein anderer als der der umstehenden Häuser war. Der Putz war oft nachgebessert worden, viele Stellen noch immer aufgeplatzt. Wohl ein sehr altes Gebäude. Ein ganzer Teil des Hauses war so verwahrlost, dass mich der Verdacht beschlich, man kümmere sich gar nicht mehr darum.
Innen bot sich mir eine Mischung aus ungepflegtem altem Mauerwerk, in dessen Ecken sich Sand angesammelt hatte, und – für die Verhältnisse eines sesshaften Bewohners – heimelige Atmosphäre. Es gab nicht viele Möbel, doch es war zu erkennen, dass zumindest der Teil des Hauses, der noch in Benutzung war, so gut wie möglich erhalten wurde. Was den anderen Teil betraf vermutete ich, dass die Mittel für die Instandhaltung des ganzen Hauses nicht ausreichte.
Aus einem Zimmer, das ich für die Küche hielt, stürmte ein Mädchen in den Eingangsbereich, darin vertieft, eine Tonschüssel mit Brei umzurühren. Um die Temperatur zu prüfen, führte sie den Löffel zum Mund und nippte daran. Abrupt blieb sie stehen, als sie meiner gewahr wurde. Sie sah der Sanako, an die ich mich von vor zwei Jahren entsann, sehr ähnlich, hatte aber keine Mauzi-Ohren. Daher vermutete ich, dass es Ichijuku, Sanakos Schwester, sein musste.
Ichijuku schien sich an den Löffel zu erinnern und entfernte ihn wieder von ihrem Mund, versuchte, möglichst unauffällig den Breireist von ihren Lippen zu wischen. Ihr Blick huschte über meine Kleidung, die charakteristisch für Elani war. „Sanako ist im Kinderzimmer. Ich schicke sie zu dir“, sagte sie ohne eine Begrüßung oder Frage, was ich denn überhaupt wolle. Sie wies mir den Weg in ein Nebenzimmer, und noch bevor ich mich auf einem Stuhl niedergelassen hatte, war sie entschwunden, vermutlich zu dem Kind, dem sie den Brei brachte. Ob Sanako und Ichijuku ältere Geschwister mit Kindern hatten?
Es war mir unangenehm, in diesem viel zu weichen Sessel zu sitzen, doch ich glaubte, es sei unhöflich, sich auf den Boden niederzulassen. Das Zimmer wurde eingenommen von einem Tisch, um den sich vier Stühle reihten, und ein altes Regal war vollgestellt mit staubigem Krimskrams. In diesem geschlossenen Raum fühlte ich mich unwohl und wünschte mich in ein luftiges Zelt.
Die Tür ins Zimmer wurde geöffnet, und eine leichtfüßige Gestalt schlüpfte herein. Sie beobachtete mich mit großen Augen, während sie mir gegenüber am Tisch Platz nahm. Auch sie hielt sich nicht mit Begrüßungen auf, sondern fragte sogleich: „Du musst Arikui sein, Isagos Bruder. Oder?“
Ich nickte. „Du bist Sanako.“ Diese Floskeln dienten lediglich, unsere Gewissheit um die Identität des anderen noch zu schärfen. Auch wenn wir damals nicht viel miteinander gesprochen hatten, war uns das Aussehen unseres Gegenübers doch ein wenig im Gedächtnis geblieben. Außerdem waren mir Sanakos Mauzi-Ohren Beweis genug, wen ich vor mir hatte. Mein Blick glitt zu ihren Händen; ihre Fingernägel waren ungewöhnlich spitz. Als sie bemerkte, wo ich hinsah, verbarg sie ihre Hände rasch unter der Tischplatte.
„Ich feile sie ständig, aber sie wachsen immer so schnell nach“, meinte sie verlegen, als müsse sie sich irgendwie vor mir rechtfertigen. Dafür, dass ihre Schwester kein Chimärenblut abbekommen zu haben schien, floss in ihren Adern wohl mehr, als sie verdiente.
Ich beschloss, zur Sache zu kommen, und sagte: „Ich habe im ganzen Dorf nach Isago gefragt, aber niemand wollte mir antworten. Wo ist er überhaupt?“
Sanako wand sich unter meinem Blick. Ihr war die Sache sichtlich unangenehm. „Isago ist… tot.“
Im ersten Moment fühlte ich mich wie ein Stein, der nach und nach von Wind und Wetter ausgehöhlt wird – nur bei mir geschah dies mit einem alles vernichtenden Schlag. Mein kleiner Bruder tot? Ich hatte versprochen, stets auf ihn aufzupassen, und kaum drehte ich mich fort von ihm, starb er? „Wie… wie ist das passiert?“, wollte ich wissen und versuchte, so gelassen wie möglich zu klingen. Sanako hatte Isago geliebt. Bestimmt hatte auch sie Schwierigkeiten gehabt, seinen Tod zu verarbeiten.
Sie hob die Schultern, aber nicht, um zu signalisieren, dass sie keine Ahnung hatte, sondern aus Machtlosigkeit. Sie erzählte mir, Isago habe einige Zeit in diesem Haus gelebt, auch wenn es Sanakos Vater nicht gefallen hatte, dass sie zusammen waren. Obwohl das Gebäude selbst nicht mehr direkt darauf schließen ließ, stammte ihre Familie von dem Mann ab, dem einst das ganze Dorf gehört hatte; weil so viel Chimärenblut in ihrem Stammbaum floss, hatten sie so schon ihre liebe Mühe, ihr Ansehen im Dorf aufrechtzuerhalten. Dass Sanako dann auch noch mit einem Elani zusammen war, setzte dem Ganzen die Krone auf. Lange hatte Sanako, mit Unterstützung ihrer Schwester, darum kämpfen müssen, dass Isago bleiben durfte – und schließlich hatte der Hausherr zugestimmt. Unter der Bedingung, dass Isago als Gefährte der älteren Tochter das Grundstück und die Pflege um das Haus und Vieh eines Tages übernahm.
Ein furchtbarer Streit war daraufhin entbrannt, in dem die beiden Männer schließlich dazu übergegangen waren, sich gegenseitig zu beleidigen. Noch bevor Sanakos Vater die Verbannung über ihren Freund hatte verhängen können, war er selbst gegangen und hatte das Dorf verlassen.
„Einfach so? Allein?“, fragte ich verblüfft. Ohne den Stamm oder generell Begleitung durch die Steppe zu reisen war sehr gefährlich, das lernte ein Elani, noch bevor er laufen konnte. Nicht einmal Isago konnte so dumm sein.
Doch Sanako schüttelte den Kopf. Gedankenlos hob sie die Hände wieder auf den Tisch, um sie ineinander zu verschränken. Mir fiel auf, dass die Fingernägel in der kurzen Zeit noch spitzer geworden waren. „Es war kurz davor ein Stamm bei uns“, erwiderte sie und dachte nach. „Der Stamm des … Flackernden Sterns?“
Ich nickte bloß zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Vermutlich meinte sie den Stamm der Flimmernden Gestirne, aber ich machte ihr keinen Vorwurf daraus, dass sie sich nicht mehr richtig daran entsann. Für die meisten Eloer gab es zwischen Elani und Elani keinen Unterschied. Es grenzte an ein Wunder, dass Sanako überhaupt wusste, dass unsere Stämme verschiedene Namen trugen.
Sie fuhr fort: „Der Stamm hatte kurz zuvor unser Dorf besucht und war noch nicht lange fort. Isago hat wohl gehofft, sie noch einholen zu können, und ist ihnen hinterhergelaufen.“ Ihre Stimme wurde schwach und brach, Tränen sammelten sich in ihren kaktusfeigenfarbenen Augen. Ob sich dieser Idiot wenigstens von ihr wenn nicht von mir verabschiedet hatte?
„Woher weißt du, dass er gestorben ist?“, wollte ich wissen, auch wenn es mir selbst grausam vorkam, das zu fragen.
„Der Stamm des Flackernden Sterns ist etwa ein Jahr später wiedergekommen“, berichtete sie. Es war nicht ungewöhnlich, dass dieser Stamm in der Zwischenzeit noch einmal dagewesen war, der Stamm des Tanzenden Strauches aber nicht. Die Wanderrouten der einzelnen Stämme unterscheiden sich mitunter stark. Als Sanako jetzt weitersprach, lösten sich aus ihren Augenwinkeln Tränen, aber ihre Stimme blieb erstaunlich fest: „Isago war nicht bei ihnen, und sie sagten, er habe sie auch nie erreicht. Also kann er auch nicht in seinen Stamm zurückgekehrt sein.“
Und es bedeutete auch, dass er tot sein musste. Ein Elani ohne seinen Stamm war in der Steppe völlig hilflos. Dass er einfach gegangen war, hielt ich indes natürlich für eine Folge des Streits zwischen Isago und Sanakos Vater. Für die Männer der Elani ging eine Liebschaft nie mit Verantwortung einher, und auch für unsere Frauen bedeutete sie wenn überhaupt nur, sich um das eigene Kind zu kümmern, das daraus hervorgehen mochte. Isago war durch die Erziehung unserer Kultur nicht darauf vorbereitet gewesen, sich um ein ganzes Grundstück sorgen zu müssen, wenn er mit seiner Liebsten zusammen sein wollte. Vor dieser Last war er davongelaufen und hatte schließlich nicht nur mit seiner Liebe, sondern auch seinem Leben bezahlt.
Die Tür, die Sanako nicht richtig geschlossen hatte, knirschte leise, als sie aufgeschoben wurde. Mein Gegenüber wischte sich eilig die Tränen fort und schaute auf. Auch ich sah hin, doch zu meiner Überraschung stand niemand in der Tür.
„Neko, was machst du da“, rief Sanako aus, stand hastig auf und lief zur Tür. Dort bückte sie sich und hob ein Kleinkind von nicht ganz zwei Jahren auf ihren Arm. „Bist du Ichi schon wieder ausgebüchst?“
„Ein süßes Mädchen“, bemerkte ich, als Sanako sanft mit der Nase über die rosige Wange der Kleinen strich.
Sie lächelte glücklich. „Ja, das ist sie. Sie ist zur Welt gekommen, ein paar Monate, nachdem Isago …“ Die Art, wie sie diesen Satz plötzlich beendete und die Lippen aufeinanderpresste, verriet mir sofort, wessen Kind Neko war. Sie sah mich flehentlich an, und in diesem Moment offenbarte sie sich mir als junge Frau, die um ihre Tochter hatte kämpfen müssen, weil sie bei der Geburt noch nicht ganz volljährig gewesen war. Eine viel zu junge Mutter, die ihr Kind nicht verlieren wollte. Ihr Bitten war gerechtfertigt: Auch wenn die Stammeszugehörigkeit über die mütterliche Linie geregelt war, so waren Elani nicht so streng, was die generelle Volksabstammung betraf. Ob über die Mutter oder den Vater, wer Sand in den Adern hatte, musste mit dem Wind reisen. Für diese Konsequenz, mit der die Elani ihren Fortbestand sichern wollten, waren wir bekannt.
Ich sah Neko an. Das Mädchen hatte einen wachen, neugierigen Blick und grinste hinter den kleinen Fingerchen hervor, an denen sie nuckelte. Keine spitzen Fingernägel, aber die mochten noch kommen. Dreieckige Katzenohren, noch eingeklappt, die sich schon bald so aufrichten würden wie die Sanakos. Mein Großvater war vermutlich eine Felilou-Chimäre. Zwei Chimärenarten konnten sich nicht vermischen, doch es mochte sein, dass die drei, vier Tropfen Chimärenblut das von Nekos mütterlicher Linie verstärkten. Ob sie mehr Chimäre war als ihre Mutter?
Ich seufzte und erhob mich. Der Stuhl war fürchterlich unbequem. „Ich muss nun gehen“, verkündete ich. Immerhin musste ich verdauen, was ich soeben erfahren hatte, und meine Stammesangehörigen um Isagos Schicksal aufklären. Auch wenn sie ihn offiziell verdammt hatten, hielten wir vielleicht eine Trauerfeier um ihn ab, indem wir die erste Nacht unserer Weiterreise kein Wort sprachen. Ich würde es tun, nahm ich mir vor.
Als ich zu Sanako trat, erschrak sie, drehte sich so, dass ihr Körper Neko vor mir verbarg. Doch als sie erkannte, dass ich keine Anstalten machte, ihr die Tochter fortzunehmen, legte sie eine Hand auf meinen Arm und drückte ihn vorsichtig, dass ihre Fingernägel mich nicht verletzten. „Danke“, flüsterte sie.
Ich erwiderte nichts, sondern betrachtete nachdenklich meine Nichte. Wirklich ein süßes Kätzchen. Wie schade, dass ihr Vater nie etwas von ihr gewusst hatte. Aber das war ja normal bei den Elani.
An meinem Gürtel war ein kleiner Beutel befestigt, den ich nun abschnürte und ihn Sanako überreichte. Sie nahm ihn entgegen und sah mich fragend an. Mit nur einer freien Hand konnte sie ihn nicht öffnen, und vielleicht war das erst einmal gut so. „Ein Geschenk von mir“, sagte ich und ging.
Seitdem sind fünfzehn Jahre vergangen. In der Zwischenzeit habe ich mich von meinem Volk losgesagt. Ohne Isago und meine Mutter gab es nichts, was mich an meinen Stamm band, und so bin ich nach Namine gezogen. Natürlich hätte ich auch in einen anderen Stamm gehen oder mich in einem eloischen Dorf niederlassen können; doch man sagt, Namine sei die Stadt der Neuanfänge, weil hier so oft der Verlauf der Geschichte beeinflusst wurde, und ein Neuanfang war das, was ich brauchte. Der Sand in meinen Adern ist zu Glas geworden. Für einen Elani, wenn auch nun sesshaft, halte ich mich immernoch. Auch wenn das eine das andere widerlegt, glaube ich mittlerweile, dass Elani sein keine Lebensweise ist, sondern eine Lebenseinstellung.
Furnifraß und ich eröffneten unsere eigene kleine Glaserei. Der Anfang war schrecklich, und es fiel mir sehr schwer, in dieser riesigen Stadt mit ihren engen Straßen und gemauerten Gebäuden Fuß zu fassen. Doch ich habe mich eingelebt und bin mittlerweile sehr erfolgreich. Mein Geschäft läuft gut genug, dass ich mir Hippoterus-Porensand aus der Steppe liefern lassen kann, mit dem sich das schönste Glas brennen lässt, das man in den Sieben Ländern findet.
In meinem Laden gibt es vieles zu kaufen, das ich gewissermaßen auf Vorrat herstelle, aber ich nehme auch Aufträge an. Erst unlängst hat mich ein ungewöhnlich weißhaariger Naminer darum gebeten, eine weiße Rose für ihn zu glasen.
Mein Lieblingsmotiv und die einzige Figur, die ich durchweg herstelle, während ich mein sonstiges Sortiment gelegentlich ändere, ist die Sandkatze. Ich habe sie damals, als wir uns kennenlernten, nach dem Vorbild Sanakos entworfen, und sie ist die erste und einzige Person, die das Original erhalten hat. Seit meinem Besuch bei ihr gebe ich den mauziähnlichen Figuren Attribute eines Felilou. Sie sind ein Symbol für das Schicksal meines kleinen Bruders.
Das Glöckchen über der Tür bimmelt, als jemand meinen Laden betritt. Ich grüße nickend, ohne wirklich von meiner Zeitung aufzublicken. Doch etwas, das ich nur im Blickwinkel sehe, erregt meine Aufmerksamkeit. Während sich die Besucherin zwischen den Regalen umsieht, beobachte ich sie über den Papierrand hinweg. Ihre Figur, ihre Art, sich zu bewegen, die wachen Augen, das kaktusfeigenfarbene Haar … Sanako!
Ich blinzle und schüttle den Kopf. Ich sehe Geister aus der Vergangenheit. Das kann unmöglich Sanako sein! Die Eloa in der fernen Steppe müsste Mitte Dreißig sein, doch die Eloa hier ist gerademal so alt wie Sanako damals, als sie Isago den Kopf verdrehte. Aber könnte es sein …?
Das Mädchen bleibt vor dem Regal stehen, in dem meine Sandkatzen ihren festen Platz erhalten haben. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, weil sie mir den Rücken zugewandt hat, doch sie sieht sich die Katzen lange an, länger als meine anderen Glasfiguren. Ob meine Vermutung tatsächlich stimmt? Zumindest trägt sie eine Mütze auf dem Kopf, sodass ich nicht sehen kann, ob sie Katzenohren hat.
Sie hat mich wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Ohne ein Wort des Abschieds verlässt sie meinen Laden, und das Bimmeln des Glöckchens verstummt.
Als Neko aus dem Geschäft trat, nahm Traunfugil sie augenblicklich wieder in Empfang und ließ sich auf ihrer Schulter nieder. Seinen kleinen Groll auf ihren Befehl schien er schon vergessen zu haben. Sie streichelte seinen Kopf, während sie die Erinnerungen zu sortieren versuchte, die sie beim Anblick der aus Glas gefertigten Katzenfiguren heimgesucht hatten. Vier, bald fünf Jahre war sie nun schon verschiedenen Rebellengruppen des Herzlandes unterstellt und hatte ihre Heimat in dieser Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Doch wenn sie an das Wort Heimat dachte, kam ihr nicht die Steppe in den Sinn, wie Neko erschrocken feststellen musste. Ihr inneres Auge zeigte ihr keine Bilder von wogenden Steppenweizenfeldern, die golden unter der Wüstensonne glänzten; keinen Obstgarten mit hitzebeständigen Nutzpflanzen, die zum Überleben nur der zusätzlichen Bewässerung aus dem Brunnen bedurften; nicht das gute alte Haus, das an der Spitze des Dorfes stand, seit dessen Geschichte zurückreichte …
Was sie sah, waren keine Orte. Es waren Personen. Ihre Freunde bei den Rebellen – Akari, Momoko und Kasai –, ebenso wie Rai und sogar Raika, die beiden Anführer Tetsu und Seijin, die Stärke und Verstand der Schwarzen Rose verkörperten, und auch Shinzu, denn trotz allem war er ein wichtiger Teil Nekos eigener Geschichte. Und nicht zuletzt Mizu.
Traunfugil summte eine kleine Melodie, während seine Menschenpartnerin die Promenade entlangging, und diese überkam ein leichtes schlechtes Gewissen, dass sie ausgerechnet ihre Partnerpokémon nicht mit einer Heimat assoziierte. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass Libelldra und Traunfugil so eng mit ihr verbunden waren, dass sie zu Neko an sich gehörten denn zu ihrem unmittelbaren Umfeld. Sie waren Teil ihrer Seele und ihres Wesens.
Während sie so ihren Gedanken nachhing, folgte Neko dem Verlauf der Straßen, bis sie endlich den Markt erreichte. Hier tummelten sich wie immer mehr Menschen, als der Platz an sich zu fassen im Stande war, und im allgemeinen Gedränge wurde die unscheinbare Eloa vom Strom in eine Richtung gezwungen. Dabei achtete sie stets sorgfältig darauf, dass ihr weder der kostbare Klappdeckelkorb, noch ihr Erspartes, noch die Mütze abhanden kamen. Alle drei Gegenstände brauchte sie dringend.
Auf ihrem Weg gelangte sie zu dem Teil des Marktplatzes, auf dem Taschenspieler und Wahrsager ihrem Gewerbe nachgingen. Neko hielt aktiv Ausschau nach dem Zelt Mirai Yochis, weil sie die alte Dame etwas den Brief betreffend fragen wollte, den sie bei ihrem ersten Besuch bei ihr erhalten hatte. Doch so wie es aussah, sollte es auch Nekos letzter Besuch sein: Wo sie sich auch hinwandte, sie entdeckte zwischen all den prachtvoll aufgemalten Zelten nicht das eine kleine, das sie suchte. So sollte die Frage, wann sie den Brief mit der Weissagung öffnen sollte, erst einmal unbeantwortet bleiben.
Neko beobachtete für einen Augenblick einen Naminer, der an einem Tisch Kartentricks vorführte, eindrucksvoll in Szene gesetzt durch ein Pantimimi, das auf der Platte tanzte und die Karten zum Schweben brachte. Sie hatte es nicht sonderlich eilig, doch wollte sie nicht so lange bleiben, dass man von ihr erwartete, dem Kartenkünstler etwas zu spendieren. Sie brauchte ihr Geld selbst; das Pantimimi hatte sie an Pantimos erinnert, das Ryori in der Hauptquartiersküche aushalf.
Als sie sich widerstrebend von dem faszinierenden Trickspiel loswandte, stellte sie fest, dass Traunfugil nicht mehr bei ihr war. Sein praktisch kaum spürbares Gewicht auf ihrer Schulter konnte schon einige Minuten nicht mehr darauf ruhen, sie hätte es nicht festmachen können. Obwohl es ihr eigentlich so vorgekommen war, seine roten Augen eben noch im Blickwinkel gesehen zu haben. Zunächst versuchte Neko, die Ruhe zu bewahren – vermutlich war ihr Nebelgeist genau wie sie an einem Ding von Interesse hängengeblieben und würde gleich wieder zu ihr finden.
Doch als er auch nach Momenten des Wartens nicht wiederkam, fing Neko an, sich zu fragen, was sie tun sollte. Hier weiterhin stehen bleiben war definitiv keine Option. Wenn Traunfugil schon länger fort war, würde er sie auch nicht finden, wenn sie an einer Stelle verharrte, wenn die, an der er sie eigentlich verloren hatte, ganz woanders lag. Sollten sich die beiden nicht mehr in Namine begegnen, so würde Traunfugil sicher irgendwann von allein zum Hauptquartier zurückkehren.
Zumindest hoffte Neko, dass der Nebelgeist auf eine solche Idee kommen würde.
An einem der Gebäude, deren Fassaden zum Marktplatz hin zeigten, war eine der praktischen Karten des Stadtzentrums aufgehängt. Schnell fand Neko die Abschnitte, die die benötigten Waren verkauften, und stellte mit Freude fest, dass sie sogar nah beieinander lagen. Sie prägte sich den Weg ein, den sie gehen musste, und folgte dem Strom an Marktbesuchern, der ununterbrochen murmelnd an ihr vorbeizog.