*Pflicht und Ehre*

Wir sammeln alle Infos der Bonusepisode von Pokémon Karmesin und Purpur für euch!

Zu der Infoseite von „Die Mo-Mo-Manie“
  • Part 5: Eine Freundschaft zerbricht


    ³
    Alles um mich herum war in Dunkelheit gehüllt. Ein helles, nervtötendes und sich immer und immer wieder wiederholendes Piepsen dröhnte mir in die Ohren, und dazu noch Stimmen.
    „Noch nichts?“
    „Nein, Doktor.“
    „Sein Zustand?“
    „Weiterhin stabil. Er ist auf dem Weg der Besserung.“
    „Gut. Rufen Sie mich bitte sofort, wenn er wieder zu Bewusstsein kommt.“
    Ich nahm das markante Geräusch einer Tür wahr, die in ihre Angeln fiel - und noch immer piepte es irgendwo. Wo war ich? Dunkel, alles war dunkel. Ich wollte mich bewegen, mich rühren, spüren, dass ich am Leben war. Da waren Schritte, sie klangen nervös. Hin und her, rauf und runter. Wem gehörten sie? Ich konnte die Augen nicht öffnen.


    Ich verlangte meinen übrigen Sinnen alles ab. Ein unnatürlicher Geruch lag in der Luft. Nicht stickig, aber auch keine frische Brise. Es roch ... Woher kannte ich nur diesen Duft? Er war mir bekannt. Sooft hatte ich ihn gespürt, mit Abneigung erwidert. Doch mit jedem Mal war es mir leichter gefallen, diesem Geruch ausgesetzt zu sein. Frische Betttücher, Salbei, so steril und sauber ... Es war ... ein Pokémon-Center? Ja, richtig! So roch es in einem Pokémon-Center, ganz sicher!
    Was war passiert? Warum war ich hier?
    - Weißt du es nicht mehr? –
    Eine Stimme, wem gehörte sie? Ich kannte sie. Etwas Boshaftes, Niederträchtiges und doch Ehrliches lag in ihr. Konnte ich ihr trauen?
    - Soll ich dir auf die Sprünge helfen? –
    Es war mein Instinkt, die Stimme meiner Seele, sie sprach zu mir.
    - Erinnerst du dich? Die Wüste, du warst auf der Suche. Du suchtest einen Weg, deinem Schicksal zu entfliehen. –
    Meinem Schicksal zu entfliehen? Welche Wüste ...? Doch, ich erinnerte mich. Die Rose der Wüste ... Ich hatte sie gefunden, hatte sie berührt ... War geschah dann? Ich erinnerte mich nicht.
    - Willst du das wirklich wissen? -, flüsterte die Stimme. – Verkraftest du die Wahrheit? –
    Die Wahrheit? Warum sollte ich sie nicht verkraften? Es war vorbei! War ich doch in einem Pokémon-Center, war das nicht Beweis genug? Es hatte funktioniert. Mein menschliches Band war gesprengt.
    - Armer Sheinux ... So naiv, so dumm ... Wach auf! Hörst du? Wach auf! -
    „ ... aufwachen.“
    „Er kommt zu sich!“


    Ein Stuhl kratzte mit aller Hast über den Boden. Ein schwacher Windstoß erfasste mich. Ich war müde und doch wollte ich um jeden Preis dieser Welt meiner Starre entfliehen. Leben regte sich dort, wo Sekunden zuvor nichts existiert hatte. Weicher Flaum bedeckte meinen Körper. Ich fühlte ihn ganz deutlich, ja, ich musste auf einer Matratze liegen. Doch noch hatte ich kein Gefühl in meinen Gliedern. Die Lider meiner Augen wogen Tonnen. Eine schier millimeterdicke Dreckkruste rieselte von meinen Augen, ich öffnete sie. Alles war verschwommen, wirkte unscharf.
    „Ich rufe den Doktor.“
    Wer war das? Colin? Hastige Schritte, eine Türklinke wurde in aller Eile gedrückt, sie fiel in ihre Angeln, die Schritte wurden leiser, bis sie verstummten. Nur noch das unaufhörliche Piep! Piep! Piep!
    Die Bilder nahmen langsam Form an. Eine Zimmerdecke, mit kleinen Löchern. Wie viele waren es? Zehn, zwanzig, fünfundzwanzig, ... Zu viele, als dass ich sie hätte zählen können. Ich spürte, wie die Gewalt langsam wieder in meinen Körper zurückströmte. Kopf, Beine – und konnte sie wieder bewegen.
    Abermals die Türklinke, sie wurde geschlossen, Schritte in meine Richtung.
    „Junger Mann? Können sie mich hören?“
    Eine Hand berührte mich – sie war kalt.
    „Wie sagten Sie, war sein Name?“
    „Ähm ... Stan, sein Name ist Stan!“
    „Stan? Hören Sie mich?“
    „Stan ...“, kam es mir über die Lippen. Ich wandte meinen Kopf. Sein Gesicht, ich wollte sehen, wer mit mir sprach. Es war ... ein bärtiger Mensch, ganz in weiß, ein Fremder. Ich kannte ihn nicht. Wer war er?
    „Junger Mann, würden Sie uns bitte allein lassen? Es wird nicht lange dauern, keine Sorge.“
    „Mhmm, okay ...“
    Das war Colin, ich erkannte seine Stimme. Er klang besorgt, aber warum? Was war mit Stan? Abermals rief die Dunkelheit nach mir. So müde ...


    Wie lange hatte ich geschlafen? Wie hatte ich überhaupt bei diesem infernalen Krach ein Auge zubekommen? Wesentlich schneller fand ich wieder die Gewalt über meinen Körper, die Zimmerdecke nahm vage ihre durchlöcherten Umrisse an, meine Glieder wollten mir wieder gehorchen. Ich wandte meinen Kopf nach rechts und fühlte Zufriedenheit mich durchströmen. Jetzt war jeglicher Zweifel gebrochen – ich befand mich in einem Pokémon-Center. Da gab es schneeweiße Betten, Behandlungswagen und ein Tisch, an dem bereits mein Trainer auf mich wartete, mein in Kummer und Sorge gefangener Trainer. Jedes Detail stimmte, auch wenn es noch verschwommen war.
    Ich reckte die Hand nach ihm aus. „Stan ...“
    Hand? Wieso Hand? Das war nicht richtig, ganz und gar nicht. Warum hatte ich Finger?
    Ein Stuhl kratzte über den Boden. „Sheinux!“
    Es war nicht Stans Stimme, soviel war klar. Die schemenhafte Gestalt verformte sich – es war ...
    „C-Colin?“ Er sah schrecklich aus – müde und erschöpft. Tiefe Furchen, von Sorgen umspielt, durchzogen sein Gesicht. Doch es kümmerte mich nicht, nicht im Geringsten.
    Warum Colin? Wo war Stan? Warum hatte ich Hände? Wo war mein Schweif? Warum war da Haut, wo eigentlich Fell hätte sein müssen? Wieso durchströmte mich nicht meine alte Kraft, die mich zu dem machte, der ich doch eigentlich war? Ich fühlte, Verzweiflung, Verständnislosigkeit und ... Hass.
    - Ich wusste, du würdest die Wahrheit nicht ertragen. -
    „Lass mich, geh weg ...“ Diese Stimme, sie war so arglistig, so gemein. Sie tat mir weh, meine Seele, mein Herz, mein Verstand.
    „Endlich!“, rief Colin. Seine Stimme donnerte in meinen Ohren. „Ich dachte schon, du seiest hinüber, ehrlich.“
    Verständnislos sah ich den Menschen vor mir an. „Warum, Colin, warum?“
    Wieso nur, wieso hatte ich es mir nicht verkniffen? Ich wusste doch, wie er war. Ein Idiot, er hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich eigentlich sagen wollte. Stattdessen fing er an zu reden wie ein Wasserfall. Davon, dass ich in der Wüste umgekippt sei, er mich in den Schatten geschleppt und danach Hilfe geholt hatte, wir jetzt im Krankenhaus von Malvenfroh City waren. Er laberte einfach weiter, mich interessierte es nicht. Es war Geschwätz, sinnloses Geschwafel. Die Wahrheit hatte mich eingeholt: wir hatten versagt. Die Rose der Wüste ... war nichts weiter als eine Illusion? Ein Ammenmärchen, um kleine Kinder das Einschlafen zu erleichtern? Hoffnung, Zuversicht, Glaube – sie alle waren von der schrecklichen Realität in Stücke geschlagen. Ich war noch immer ein Mensch, noch immer in Stans Körper gefangen.
    Ich umfasste mit meiner verhassten Hand eines von drei Kabeln, das von einer in meiner unmittelbaren Nähe zu mir aufgebauten Maschine zu meiner nackten Brust führte. Eine Art von Saugnapf hielt sie an mir haften. Ich wollte sie abreißen, fand aber nicht die Kraft dazu. Auch mein rechtes Handgelenk war verkabelt, eine Kanüle in meiner Haut - sie steckte fest. Fesseln? Sollte dies eine Form der Bestrafung sein? Buße für mein Versagen?
    Und Colin redete und redete. Er schien kein Pardon zu kennen. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass ich mich ihm schon lange abgewendet hatte und ihm und seiner langweiligen Predigt nicht mehr zuhörte.
    Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, ich konnte es nicht begreifen. Warum? Warum war ich hier? Miriam, die Rose, sie ...
    - Ein dummes Mädchen, nichts weiter. -
    „Sie hatte gewusst, dass ich ein Pokémon bin ... Sie hatte es gewusst.“
    - Sie hat euch belauscht, eins und eins zusammengezählt. Ein Kind, ein dummes, albernes Kind. Du hättest ihr alles erzählen können – sie hätte es dir geglaubt. -
    „Nein, das kann nicht sein ... Die Geschichte, sie ...“
    - War nur eine Geschichte. –
    „Ich kann das nicht ... ich will das nicht ...“
    - Du willst es nicht einsehen, oder? Deine Pein, sie soll weitergehen, und du weißt, wer Schuld daran zweckt. So verlogen, so falsch.. Gib ihm einen Namen, du kennst ihn, du weißt ihn! Die Niedertracht in Person. -
    „Ich will nicht, lass mich in Ruhe - bitte ...“
    - Sag seinen Namen, los! –
    „Lass mich ...“
    - SAG IHN! –


    „Stan ...“
    „Was?“
    Es war, als wäre ich aus einer ewiglichen Trance erwacht, hätte hunderte von Jahren geschlafen, aus einem furchtbaren Albtraum gestürzt. Unzählige Fragen, eine Antwort, so klar, so deutlich, so scharf vor Augen.
    Warum war ich auf dieser Reise? – Stan. Wieso hatte ich mein wahres Selbst verloren? – Stan. Weshalb konnte Deoxys entkommen? – Stan. Warum war ich in einem Bett in Ketten gelegt? – Wieder Stan. Und da saß er ... mein Freund ... als ob er kein Wässerchen hätte trüben können. Unschuldig sah er mich von einem Tisch aus an, falsch und verlogen war er. Er genoss es ...; genoss, mich leiden zu sehen. Er sah mich an, heuchelte mir Unschuld vor. Das Piepen im Raum – es wurde schneller, und so auch mein Abscheu gegen alles hier. Gegen Colin, gegen diesen Raum, die Maschinen, die Lichter an der Decke, das Glas in den Fenstern, das ganze Haus und all die Menschen, die es beherbergte, und besonders er – Stan.
    Mein Herz raste, das Blut kochte, selbst mein Trommelfell vibrierte.
    „Hau ab!“, flüsterte ich.
    „Was? Was ist los?“, meinte Colin. Fragend sah er mich an, doch ich hatte nur Augen für eines, besser gesagt, jemanden.
    „Hörst du nicht, du sollst verschwinden!“ Ich hatte ihm meinen Kopf nun direkt zugewandt, betrachtete sein Gesicht, sah ihm direkt in die verlogenen Augen, die Augen, die eigentlich mir gehörten. Ich fand kaum Kraft, mobilisierte jedes Quäntchen, das ich finden konnte. Meine linke Hand tastete fieberhaft auf dem mobilen Rollwägelchen zu meiner Seite. Sie umschloss eine Zahl Dinge, deren Zweck ich nicht wusste, aber auch nicht wissen wollte. Ich warf sie, mit aller Gewalt – und ich traf. Stan war wie gelähmt, konnte den Schrapnellen nicht ausweichen und ließ sie über sich ergehen. Wirkungslos prallten sie an ihm ab und prasselten auf den Boden, Kugelschreiber, Stifte, zerknülltes Papier.
    „Bist du übergeschnappt? Was ist mit dir los?!“, rief Colin.
    Ich ignorierte es, unsinniges Geschwätz. Ich wollte nur eines: Stan für alles büßen lassen. Alles, war er getan hatte; alles, was er tat; alles, was er noch tun würde.
    In aller Eile hatte Colin den Wagen weggerollt, doch hatte ich im letzten Moment etwas gefunden, was meiner Wut Ausdruck verlieh. Es war fest, hart und schwer – ein Glas, ich warf es, und Stan ... er wich aus – dieser Feigling.
    „Hör auf! Um Gottes Willen ...“, bettelte Colin. Es war mir egal.
    „Du bist für mich gestorben, hörst du, gestorben!“, brüllte ich. Der Raum erbebte, Stans Miene versteinerte sich. Ihn so perplex und am Boden zerstört zu sehen – es erfreute mein Herz und machte mich gleichzeitig nur umso wütender. „Mir ist es egal! Ich pfeif auf den Kodex, mein Heim – und auf dich!“
    „Was für ein Kodex, welches Heim? Beruhig dich!“
    Colins Ahnungslosigkeit ... Noch mehr Wut, noch mehr Hass.
    „Der Ehrenkodex!“, brüllte ich, dass die Glasscherben des zerbrochenen Gefäßes auf dem Boden vibrierten. Doch es war Zeitverschwendung, wie auch alles, was ich Colin begreifbar machen wollte. Er war die Mühe nicht wert.
    „Zieh Leine! Ich kenne dich nicht mehr!“ Es gab nichts mehr, was ich werfen konnte, nur noch mich selbst hätte ich ihm entgegen schleudern können. Ich spuckte ihn an, ihm mitten in sein versteinertes Gesicht, es tat gut. „Ich will dich nie mehr wieder sehen!“
    „Was um Himmels Willen ist hier los? Die anderen Patienten brauchen Ruhe ...“
    „Lassen Sie die Tür zu!“, brüllte Colin.
    „Hey! Passen Sie doch auf!“
    Im rechten Augenblick hatte eine Pflegerin das Zimmer betreten und Stan in ihrer Unwissenheit den Weg geebnet. Unter ihren Beinen war er getürmt, Colin hechtete ihm nach.


    Er war weg – endlich. Ich war zufrieden. Zumindest mochte ich das von mir behaupten. Mit Stans Türmen verebbte meine Wut und ließ nichts weiter als eine innere Leere in mir, ein Vakuum. Er war weg, mein Zorn, und auch er war weg, Stan. Nichts weiter als ein leerer Platz.
    War es Zufall ...? Konnte es sein ...? Ich sank zurück in mein weiches Kopfkissen, wiederholte die meinigen Worte – und mir wurde plötzlich klar: Es waren dieselben, die mir einst mein Ex-Trainer bei meiner Entlassung entgegen geschleudert hatte, kurz bevor ich Stan überhaupt getroffen hatte. Ich war wie er; Stan war wie ich: Genauso dickköpfig, genauso stur, genauso eigenwillig – und ich war wie mein Ex-Trainer: Genauso widerlich, genauso ekelerregend. Ich fühlte mich in meiner eigenen Haut nicht mehr wohl, widerte mich selbst an. Und die Leere breitete sich aus, und der Parasit in meinem Kopf - er sprach zu mir, ein letztes Mal.
    - Gratuliere, Sheinux. Ein Mensch mit Leib und Seele. -
    Ich fühlte, wie das Vakuum mir meinen Verstand raubte, mein Herz von der Finsternis ummantelt wurde, ich abermals in die Dunkelheit stürzte. Ich hatte endgültig einen Teil von mir verloren.
    „Es tut mir Leid, Stan! Komm zu mir zurück!“

  • Aloha :)


    Ich dachte ich könnte auch mal meinen Senf hier platzieren *grinz*


    Wie du ja bereits weisst, gefällt mir dein Schreibstiel sehr gut! Auch dass Sheinux sich immer wieder an den Leser wendet, finde ich sehr amüsant und gelungen in die Erzählung eingebaut. Mir gefällt das Lockere in deiner Sprache und für mich entsteht, nicht zuletzt auch wegen deiner immer wieder sehr genialen Wortwahl, ein sehr angenehmer Lesefluss.


    Zu den drei Haupt-Charakteren möchte ich auch noch ein kurzes Statement abgeben:
    Sheinux:
    du schaffst es diesen aufbrausenden, zynischen, sarkastischen, teilweise sehr unüberlegten Charakter so sympathisch darzustellen, das man ihm für seine Wut- und Sarkasmus-Anfälle nicht eine Sekunde böse sein kann. Dieses charmante das du ihm verleihst wirkt auf mich super sympathisch. Seine Vorstellungen von Ehre und dem Leben werden in dieser Story spürbar verändert und dass du uns auch an dieser Veränderung teilhaben lässt, spricht für die Tiefe deiner Geschichte.


    Stan:
    Schüchtern, ist als eine Bezeichnung für Stan noch eine meilenweite Untertreibung - und das kannst du auch super rüberbringen. Man spürt förmlich wie die Nervosität dieser Person während des Lesens auf einem übergeht. Doch ist das noch nicht alles was dieser Charakter zu bieten hat. Er hat anscheinend doch sowas wie Kampfeswille und ist seinen Freunden eine grosse Stütze.


    Colin:
    Ich weiss nicht, aber dieser Charakter ist mir i-wie unsympathisch. Er scheint so keine Ecken und Kanten zu besitzen, ist immer die Fröhlichkeit in Person, fair und gerecht, freut sich mit seinen Freunden... etz. Er schient sich in der bisherigen Geschichte nicht weiter entwickelt zu haben, hat keine „Schwächen“ die er noch überwinden könnte. Er ist in meinen Augen der Abklatsch von einem dieser "Begleiter" aus der Pokémon Fernsehserie. Versteh mich nicht falsch; ich sehe seine Rolle als Stans Freund und Begleiter. Doch erscheint er mir neben Stan, der all diese menschlichen Fehler und Eigenschaften hat, fast etwas zu... naja wie soll ich sagen.... "perfekt"


    Den Verlauf der Geschichte interessiert mich natürlich jetzt auch brennend!!!!
    Wird Sheinux sich bei Stan entschuldigen können? lässt das sein Stolz zu?
    Es kommt also zum Showdown zwischen Stolz und Gewissen :P


    und vor allem werden die Beiden ihre normalen Körper wieder bekommen?


    Ich hoffe du nimmst dir die Sache mit Colin nicht so zu Herzen, denn die Geschichte gefällt mir wirklich super.


    Vielen Dank für diese tolle Geschichte! *Quack*
    Fröschchen

  • Erst einmal, sorry das mein Kommentar erst zum Ende dieses Kapitel abgebe. Wie schon oft gesagt gehöre ich wohl zu den langsamsten Kommi schreib hier (und damit meine ich wirklich langsam „schreiben“)Schwierig mich deiner Schreibgeschwindigkeit anzupassen^^;


    Nun gut, dann fange ich mal gleich an.
    Erst einmal zu den Fehlern: Habe dieses Mal zwei kleine Fehler entdeckt:

    Zitat

    Ich Vergleich zu Eagle wirkte Deoxys sogar schon irgendwie sympathisch, auch wenn es mich innerlich bei diesem Gedanken schüttelte.


    Statt aus einem Im ist ein Ich geworden? Gefunden in Part 1 des Kapitels.

    Zitat

    Schwerfällig stapfte das Menschenmenschen, das, - auf den ersten Blick zu schließen - kaum älter als sechs Jahre sein konnte


    Menschenmenschen, witziges Wort aber wohl nicht beabsichtigt, oder^^
    Gefunden in Part 2 des Kapitels


    Alles in allem keine gravierenden Fehler, hat eher den Anschein gehabt, dass du kaum erwarten konntest das Kapitel zu posten XD


    So dann gehe ich gleich mal zum Inhalt:
    Gleich zu Beginn merkt man langsam den ganzen Stimmungswandel der in Sheinux vorgeht. Seine innere Trainerstimme haben war ja schon in ein paar vorherigen Parts getroffen aber nun erreicht das alles … ein neues Level. Schon am Anfang, wo sich Sheinux fragt, wieso Stan ihm noch immer die kalte Schulter zeigt, möchte man als Leser ihm einfach an seine Zeit als Pokemon erinnern, ihm klar machen, dass er doch auch so etwas Ähnliches durchlebt hatte. Aber man ist ja als Leser machtlos… das ist wohl das tolle am Autor sein.
    Baumhausen hat die kleine Gruppe nun verlassen und befindet sich nun auf einer meiner Liebling Routen in ganz Hoenn. Regen, Blitz und Wald (und meine Geheimbasis… öhm) dafür hab ich sie noch in Erinnerung. Die perfekte Stelle ein Unwetter einzubauen und dass hast du auch brave gemacht. Ich kann wieder nichts anderes sagen als klasse Beschreibung, von den Anzeichen des Gewitters bis zum einsetzen des Donners. Als sie sich dann unter einem Baum unterstellen wollten, kam mir irgendwie sofort die Warnung in den Kopf: Stelle dich bei einem Gewitter nicht unter einen Baum! Hätte eher erwartet, dass Colin Sheinux davon abringen möchte, aber da es in diesem Fall dessen eigene Idee war, nun gut.
    Und dann die unbekannte Gestallt unter dem Baum. Als erstes hab ich erwartet, dass dort vielleicht wieder Eagle auf sie wartet, doch da wurde ich mit Deoxys überrascht. Hab nicht wirklich erwartet, dass man diesem Pokemon bereits hier wieder begegnet. Aber eine wirklich gute Wendung, den dadurch hast du den weiteren Verlauf dieses Buches verändert, besonders dadurch, dass Sheinux nun stinksauer auf Stan ist. Verständlich dass Sheinux etwas wütend ist, da sie so ihre Chance vergeudet haben aber wie es so mit der Wut ist, vergisst man gerne, dass man selbst nicht ganz unschuldig ist. Durch das immer wieder aufkommende Wort „Verräter“ und Sheinux innere Stimme kommt rech rasch eine etwas angespannte Stimmung auf.
    Die Wendung mit dem kleinen Mädchen hab ich so auch nicht kommen sehen. Eine weitere Person die nun weiß, das Sheinux eigentlich ein Pokemon ist. Sheinux rätselt auch ziemlich herum, wie sie das wohl heraus bekommen hat… jaja, diese Kindliche Unschuld die ihnen es so leicht ermöglicht etwas leichter wahrzunehmen als Erwachsenen…
    Und danach wird wieder Sheinux von seiner inneren Stimme geplagt, die ihm ununterbrochen einflüstert, dass Stan an allem Schuld war und ihm immer weiter wie einen Menschen denken lässt –jedenfalls glaubt er das- Die Geschichte der Großmutter, vom Prinzen der in ein Pokemon verwandelt wurde, gefiel mir ebenfalls. Die Sprache der Sagen und Märchen liegt dir auch ziemlich gut^^
    „Gib niemals auf“ war wohl die Lehre der Geschichte. Irgendwie stelle ich mir den Prinzen immer als Shaymin vor (wegen der Blume)… Jedenfalls nimmt Sheinux die Geschicht für Bare Münzen und jagt der Blume nach… hätte ich wahrscheinlich auch gemacht. Diese kleine Hoffnung macht schon viel aus.


    Nur der Übergang zwischen Wald und Wüste war doch sehr abrupt. Kann verstehen dass du wahrscheinlich die Handlung nicht unnötig in die Länge ziehen wolltest, dennoch war das doch etwas schnell. So weit ich mich weiß wäre da noch eine Flussmündung und eine Stadt dazwischen… vielleicht hätte man dass noch irgendwie ansatzweise erwähnen können. Ansonsten hast du eine klasse „Verdurstungsstimmung“ rübergebracht (auch wenn eine sehr spontane)
    Als sie dann die Rose gefunden hatten und sie nun berühren wollten, fühlte ich mich richtig angespannt und fragte mich was nun passieren würde. Aber dann passierte Wort wörtlich: Nichts.
    Im nächsten Part ist man, wie Sheinux, für einen Augenblick verwirrt und weiß nicht ganz, was nun los. Aber im Gegensatz zu ihm kann man sich schnell zusammenreimen was passiert war und wo er nun lag. Sheinux stattdessen spekuliert drauf, dass er in einem Pokemoncenter lag, weswegen ihm die Wahrheit einen noch schlimmeren Schlag verpasst. Und zum letzten Mal hört Sheinux wieder diese innere, hinterhältige Stimme die Stan die Schuld an all seinem Unglück gibt. Sogar Sachen wirft er nach ihm und schreit ihm an, er solle verschwinden. Ich hab mich beim Lesen wie Colin gefühlt, dazwischen stehend aber keine Ahnung was man tun soll. Man möchte am liebsten Sheinux irgendwie beruhigen, was aber wohl nicht funktionieren würde. Als dann Stan tatsächlich verschwindet dauert seine Befriedigung nicht lange. Wie es leider so im Leben ist kommt Reue erst zu spät. Sheinux hat in diesem Moment einfach selbst vergessen, wie es ihm ergangen war, als er von seinem Ex-Trainer verjagt worden war, wie er selbst einmal von Stan weggelaufen war, weil er sich von ihm verraten gefühlt hat. Leider kommt diese Erkenntnis etwas zu spät und hinterlässt bei einem (jedenfalls bei mir) innere Leere… perfekt rübergebracht kann ich nur sagen.


    Wie sich wohl die Situation weiter entwickeln wird? Nur noch zwei Kapiteln und irgendwie erinnerte mich die Situation an das Ende von Buch 1, nur aus der anderen Perspektive. Ich bin wirklich gespannt.


    Auf weiter lesen,
    Toby

  • Part 6: Reue


    „Würden Sie mir bitte Ihre Hand reichen? Gut so – es wird nicht wehtun ...“
    „Es ist wieder soweit, hm? Ja, bedienen Sie sich nur und greifen herzhaft zu (*4): Die Blutbar ist vierundzwanzig Stunden über geöffnet. Nicht, dass es mich stören würde, wie ein Fass angezapft zu werden ...“
    „B-bitte?“
    „Vergessen Sie’s ... und stechen Sie schon.“
    Teilnahmslos streckte ich der Pflegerin meine Hand entgegen und ließ die Folter stumm über mich ergehen, wie die unzähligen Male zuvor. Man stach mich an, füllte einige Tropfen meines wertlosen Blutes ab und ließ mich und meine offene Wunde zurück. Ich ertrug es, es war meine Strafe, meine Strafe für mein schändliches Verhalten Stan gegenüber. Mit jedem Tropfen, den ich gab, fühlte ich mich zumindest etwas besser, von der Schuld erleichtert, denn ich gab es für Stan – Blut wäscht meine Seele rein. Erst wenn wohl sämtliche Flüssigkeit aus meinem Körper gesickert und ich eine leere, leblose Hülle wäre, wäre meine Schuld Stan gegenüber beglichen.


    „Ich finde, du übertreibst maßlos ...“
    Wie üblich hatte Colin erst dann mit seiner Moralpredigt begonnen, als der Blutdurst der Pflegerin gestillt war und sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. - Colin war zu mir zurückgekehrt. Seine Jagd nach Stan war geendet, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Mein zum Pokémon gewordener Freund und Trainer war über alle Berge, auf und davon, er war weg – und somit auch meine Hoffnung auf Erlösung aus diesem Martyrium. Unsere Freundschaft war an meinen unüberlegten Worten zerschellt, begraben unter einer undurchdringlichen Gerölllawine, verbrannt, zu Asche zerfallen und in alle Winde verweht. Auch heute, Tag zwei meines Aufenthaltes im Krankenhaus von Malvenfroh City, stand Colin wieder an meiner Seite, obwohl ich ihn und all sein Mitgefühl, das er für mich übrig hatte, nicht verdiente.
    „Findest du ...?“, entgegnete ich tonlos. „Weiß gar nicht, warum du noch hier bist, hier bei mir ...“
    „Du musst etwas essen. Du hast dein Frühstück noch nicht einmal angerührt ...“, belehrte er mich.
    „Keinen Hunger ...“
    „Wie hast du geschlafen?“
    „Schlecht ...“
    „Wie geht es dir?“
    „Miserabel ...“
    „Du bist schlimm, weißt du das?!“
    „Ich weiß ... tut mir Leid.“
    Zugegeben: Ich hatte tatsächlich keinen Appetit, hatte schlecht geschlafen und es ging mir alles andere als blendend, doch meine Entschuldigung – die meinte ich sogar sehr ernst. Colin wollte mir helfen, obwohl ich es wirklich nicht verdient hatte. Noch mehr Gewissensbisse für meine geplagte Seele, die ich irgendwo in dem Chaos in meinem Kopf unterkriegen musste.
    „Ich sorge mich um Stan, sorry ...“, entschuldigte ich mich.
    „Verstehe ich.“
    Eine lang anhaltende Welle des Schweigens setzte ein. Meine Gedanken, sie schwelgten bei Stan. Wo er war, was er tat und ob er mir jemals verzeihen könnte. Wäre ich er: ich würde mir nicht verzeihen, nicht so, wie ich ihn behandelt hatte.
    „Weißt du, ich habe mit dem Chefarzt gesprochen“, sagte Colin und brach den Frieden. „Er hat zugesagt, dich heute etwas raus zu lassen. Die frische Luft, sie wird dir sicherlich gut tun.“


    Ohne Kabel, die mich ans Bett fesselten, und von surrenden und piependen Maschinen befreit zu sein, die frische Luft zu atmen, tat meiner Seele tatsächlich gut. Und doch hielt dieser Ort, das Außengelände des Krankenhauses, etwas inne, was ich nicht mochte. Es erinnerte mich einfach zu stark an einen Flecken Erde, den ich vor langer Zeit mein Zuhause nannte. Mit Gründflächen, Parkbänken, einem kreisförmig verlaufenden Kiesweg und einem kleinen, munter plätschernden See. War das Gelände zwar bei weitem nicht so weitflächig wie mein Zuhause, umringt von durchsichtigen Glasfenstern und –türen, hinter denen man geschäftig seinen Arbeiten herging oder einfach nur durch die endlosen Gänge auf der vergeblichen Suche nach der Toilette irrte, fehlten diesem Ort auch die hohen Gräser, in denen man unerwünschte Eindringlinge ausspähen oder sich einfach auf die Lauer nach ahnungslosen Reisenden legen konnte, die man um einiges Hab und Gut erleichtern konnte, so glaubte ich tatsächlich im ersten Moment daran, wieder in meinem geliebten Nationalpark zu sein (*5).
    „Wie fühlst du dich?“, wollte Colin wissen.
    Wir hatten einige Minuten nur so dagesessen, dem Plätschern des kleinen Teichs gelauscht und in die Leere gestarrt. Es ging mir besser – etwas.
    „Besser“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
    „Freut mich.“
    Und wieder schwiegen wir uns an, lauschten dem unaufhörlichen Geräusch des Wassers, wie es sich seinen Weg über algenzüchtendes Gestein in den Teich suchte. Ich dachte wieder einmal an Stan und an die Dinge, die ich zu ihm gesagt hatte. Dass ich ihn nie mehr wieder sehen wollte, dass er für mich gestorben sei, dass ich ihn und seine ganze Art satt hätte.
    „Weißt du“, begann ich – es war meines Wissens nach das erste Mal, dass ich die Ruhe zwischen uns beiden gebrochen hatte –, „die Dinge, die ich zu Stan gesagt hatte ... Ich glaube, ich bin inzwischen mehr Mensch als Pokémon. Klingt albern, oder?“ Warum ich dieses Thema anschnitt, wusste ich nicht. Vielleicht wollte ich mir einfach den Frust von der Seele reden, meine Gräueltaten einem Freund beichten, oder einfach nur die Zeit totschlagen – ich wusste es nicht.
    Es war zu erwarten: Colin verschaffte sich erst mit hastigen Schulterblicken Gewissheit, ob er gefahrlos mit mir über das Tabuthema sprechen konnte. Verständnislos sah er mich an. „Du sagst das so, als sei es etwas Schlimmes.“
    Ich wandte mich ab. „Vergiss es, war dumm, darüber reden zu wollen.“
    Colins Blick aber lastete auf mir. „Was ist los? Gibt es da etwas, was ich nicht weiß, habe ich etwas verpasst?“
    Ich schwieg, sah ihn nicht an.
    „Sag schon. Hast du etwas gegen uns Menschen?“
    Einige Sekunden noch schwieg ich noch, blickte immer noch auf den Flecken Grün zu meinen Füßen. „Kann sein ...“, sagte ich.
    „Auch gegen mich?“, fragte Colin. Er klang ungewöhnlich leise und nachdenklich, flüsterte fast.
    Ich schüttelte den Kopf, wagte es aber immer noch nicht, ihm direkt in die Augen zu sehen. Seine Schuhe genügten für den Augenblick.
    „Wie kommt’s?“, hakte er nach.
    Abermals hüllte ich mich in Schweigen, doch war mir insgeheim klar, dass mein Sitznachbar Blut geleckt hatte und ich mich jetzt nicht mehr so einfach aus der Affäre wickeln konnte. „Ich habe nicht die besten Erfahrungen gemacht.“, begann ich und wog meine Worte mit unglaublichem Bedacht ab, „Habe ehrlich gesagt ein sehr schlechtes Bild von euch.“
    „Warum?“
    Ich seufzte. Colin ein Heuchler? Vielleicht ... „Liegt doch auf der Hand“, antwortete ich. „Ihr fangt uns, raubt uns aus dem Schoß unserer Familien, unserer Heimat, nutzt uns für eure kindischen Kämpfe und Spielereien. Die Liste ist lange und das weißt du.“
    Ich hatte eigentlich von Colin Verständnis erwartet, eine Entschuldigung, ein Eingeständnis. Nichts dergleichen aber kam. „Das ist doch Kokolores!“, warf er ein.
    Ich blies die Luft aus meiner Nase, ein Lachen. Der Spott war unüberhörbar herauszufiltern.
    „Klar, dass du es bestreitest. Dumm von mir, etwas anderes zu erwarten“, antwortete ich kopfschüttelnd. „Lassen wir es.“
    „Jetzt hör mal“, begann Colin - es klang wie eine seiner üblichen Moralpredigten -. Ich verfluchte mich selbst, damit überhaupt begonnen zu haben. „Sei ehrlich zu mir: Kämpfst du denn nicht gerne, stellst du denn nicht gerne dich selbst auf die Probe, beweist den anderen deine Stärke, deine Kraft, deine Ausdauer, dass du und nur du allein der Beste bist?“
    An Colins Worte, es war etwas dran – zumindest etwas. „Schon,“, gab ich zu, „aber wir kämpfen nur zu eurer Belustigung, ist doch so?“ Es war weniger eine Frage, vielmehr eine Feststellung, eine Anklage.
    „Worin liegt der Unterschied, ob du in der freien Wildbahn ein Hühnchen mit einem Artgenossen rupfst oder deine Fähigkeiten in einer Arena zur Schau stellst?“, fragte Colin – und ich fand darauf keine Antwort, ich schwieg. Ich hasste es, anderen Recht zu geben und Colin ... er hatte irgendwie Recht.


    „Tu mir mal den Gefallen und schau mal da rüber. Siehst du den Jungen dort in dem Stuhl?“, fragte mich Colin und nahm den Faden nach kurzer Schweigepause wieder auf.
    Ein wenig widerwillig folgte ich seinem Geheiß und wurde schnell fündig. „Ein Mensch, vielleicht ein, zwei Jahre Jünger als es mein Körper war. Er saß auf einem Stuhl - einem Stuhl auf Rädern. Er schien mit einem meiner früheren Artgenossen zu spielen, ohne dass er sich dabei erhob – war er faul? -, er wirkte ausgelassen und fröhlich.
    „Was ist mit ihm?“, wollte ich wissen.
    „Weißt du, ich habe zufällig gehört, wie sich zwei Ärzte unterhalten haben: Er hatte einen schweren Unfall und wird nie wieder laufen können.“(6)
    Die Leere in meinem Kopf: sie war schlagartig wieder da. Ich verlor das Gefühl in meinen Armen, meine Beine wurden taub. Ein Gefühl aber, welches nur von beschränkter Dauer war. Er aber, der Junge, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte, er würde nie wieder laufen können, war gefesselt an diesen Stuhl. Ich empfand echtes Mitleid, war drauf und dran, einfach zu ihm zu gehen, ihm einige aufbauende Worte zu schenken. Ich konnte den Blick nicht mehr abwenden, fühlte die Schwermut in meinem Herzen.
    „Und doch kann er lachen, siehst du?“, nickte Colin. „Und das verdankt er euch. Ihr steht ihm bei, seid ihm Trost in dieser Stunde.“


    Abermals pausierten wir und abermals griff Colin wieder das Wort nach einer gefühlten Unendlichkeit wieder an sich. „Ein Letztes noch und da stimme ich dir sogar zu: Vielleicht ist es wirklich nicht ganz okay, euch einfach eine Reise aufzuzwingen, aber genießt du es denn nicht, neue Orte kennen zu lernen, neue Freundschaften zu schließen und Zeit mit deinen Freunden zu verbringen? – Wusstest du, dass sich Pikachu sogar freiwillig mir angeschlossen hat? Er wollte es so.“
    Und vor meinem inneren Auge manifestierte sich das Abbild Feurigels, des kleinen, faulen Fressers, der sich ebenfalls Stans Sache freiwillig angeschlossen hatte. Wieder dieses Gefühl, zuzugeben, dass jemand anderes Recht hatte. Seltsamerweise fiel es mir nun irgendwie leichter, es zu tolerieren, ja, sogar seine Einwände zu akzeptieren.
    „Die Maus ... Pikachu, er hatte Glück, dass er an dich geriet“, sagte ich. „Wäre er an meinen Ex-Trainer geraten – er wäre sicherlich nicht begeistert gewesen.“
    „Ex-Trainer? Du meinst Stan?“, fragte Colin.
    Ich schüttelte den Kopf und konnte mich endlich von dem Bild des Jungens in seinem Rollstuhl losreisen, sogar Colin direkt in die Augen sehen. „Nein, da gab es noch jemand anderen – er war ein Idiot.“
    „Erzähl!“ Colin wirkte höllisch interessiert, was ich ihm nicht verübeln konnte.
    Ich seufzte. „Da gibt es so einiges, wo fange ich an ...?“


    Und ich erzählte Colin von ihm, meinem Ex-Trainer, wie er mich heimtückisch verschleppt hatte, mir seinen Willen aufzwang, ich immer nach seiner Pfeife tanzen musste, wie schlecht er mich unter den widrigsten Bedingungen behandelt hatte, er nie auf mich und meine Bedürfnisse eingegangen war – und auch von meinem erbitternden Widerstand, wie ich ihn regelmäßig auf die Palme gebracht hatte, wir durch mich in eine Bredouille in die nächste gestolpert waren und ich ihn in regelmäßigen Abständen das gewisse Etwas unter sein Frühstück gemischt hatte. Und wie ich schließlich Stan kennen lernte, er mir das Leben rettete, von dem Ehrenkodex und von dem Gesetz der Straße, unserer gemeinsamen Reise, wie selten dämlich und doch gleichzeitig so liebenswert er sich manchmal angestellt hatte.
    „Er hat dir also das Leben gerettet und deshalb begleitest du ihn, um diese Schuld rein zu waschen?“, fragte mich Colin, der die ganze Zeit über selten schweigsam verbracht hatte - sah man von dem Moment ab, als ich ihm von dem Ereignis erzählte, als Stan mich baden wollte und er am Ende mit mir in der Badewanne saß – ich ließ kein Detail aus. Colin amüsierte sich königlich.
    „Anfangs ja“, antwortete ich. „Aber irgendwann war einfach mehr; ich hatte diesen Tölpel einfach richtig lieb gewonnen. In letzter Zeit aber ...“, hier stockte ich, schüttelte den Kopf und wandte mich schuldbewusst von Colin ab. „Meine Nerven lagen einfach blank. Ich fühle mich echt mies ... Ich meine, er ist eben so, wie er ist. Selbiges halt ja auch für mich bei meinem früheren Trainer; ich bin heute keinen Deut besser, als er ...“
    „Geh nicht so hart mit dir selbst ins Gericht“, meinte Colin.


    Damit war das Gespräch beendet. Lange saßen wir noch da, schwiegen uns an, unsere Gedanken ruhten bei Stan. Wo er war, was er tat und vielleicht das Wichtigste: ob er jemals zu mir zurückfinden würde?
    Wo bist du, Stan?

  • !!!Die nachfolgenden Ereignisse werden aus Stans Perspektive erzählt und treten Augenblicke nach seiner Flucht ein. Gedanken und Blickwinkel umfassen seine eigenen persönlichen Eigenschaften, die man bislang nur aufgrund von Sheinux' Vermutungen und Beobachtungen her kennt!!!


    Kapitel 9: Stan auf Abwegen



    Part 1: Verbannung – ein Leben als Geächteter


    Menschen sprangen wild und aufgescheucht in alle Richtungen davon, suchten Schutz auf Stühlen oder Tischen, angsterfüllte und panische Stimmen hallten durch die Flure des Krankenhauses, ein heilloses Durcheinander, ein Hexenkessel, und ich mitten drin. Unter Stühlen, Tischen und unzähligen Beinen hindurch, bahnte ich mir meinen Weg durch die aufgewühlten Menschenmaßen. Eine korpulente Frau, deren Gesicht mit einer millimeterdicken Schminkschicht bedeckt war, ruderte wild mit den Armen und suchte vergeblich Halt, bevor sie mit brachialer Gewalt auf den Boden aufschlug. Ich selbst hatte kaum Augen und Ohren für dieses Wirrwarr von Stimmen und hektischen Bewegungen der Geschöpfe, zu deren Art ich mich einst, vor gar nicht allzu langer Zeit, noch selbst gezählt hatte. Diese Zeiten aber waren vorbei und würden wohl nicht mehr wiederkehren. Es war aus, aus und vorbei. Die Worte Sheinux’ ... sie verfolgten mich, waren wie Salz auf einer Wunde; Rost, der sich ganz langsam seinen Weg durch das noch so widerstandsfähigste Metall fraß; saurer Regen, der die noch so reichste Ernte dahinraffte. Und er hatte Recht, mit allem. Sheinux, er ... er hatte das ausgesprochen, was ich schon viel zu lange mit mir herumgeschleppt hatte, meine Seele vergiftete. Ein Versager, das war ich. Nichts Neues für mich. Bislang hatte ich mit dieser Tatsache ganz gut leben können, war ich schließlich mein ganzes Leben über immer allein und belastete mit meinen Seltsamkeiten niemanden, ich hatte schließlich keine wirklichen Freunde, denn sie waren anders als ich es war. Nein, ich war anders, schon immer ... Mit anderen Leuten an meiner Seite aber war alles anders. Stärken und Schwächen – sie fließen beide in die Gruppe ein, man verlässt sich blind auf den anderen, baut auf seine Stärken und gleicht seine Schwächen mit dem Geschick und Können eines anderen aus. Ich aber ... ich war nur schwach, hatte keine Stärken, auf die man sich verlassen konnte - die Unzuverlässigkeit in Person. Das einzige, worauf man sich bei mir stets verlassen konnte, war, dass man sich auf mich nicht verlassen konnte. Sheinux hatte Recht. Auch wenn ich nicht alles von dem wirklich verstanden hatte, was er mir an den Kopf geworfen hatte, wusste ich zumindest das, was ich deutlich aus seinen Worten herausfiltern konnte, klar zu deuten. Er war schwer enttäuscht von mir. Er war es schon, als ich einfach nicht den Mut aufbringen konnte, mich Deoxys zu stellen. Ich hätte es damals beenden können, wenn ich nicht so rückratlos gewesen wäre. „Du bist für mich gestorben“, „ich kenne dich nicht mehr“, „ich will dich nie mehr wieder sehen“ – das waren seine Worte gewesen und in ihnen steckte sehr viel Wahrheit. Besiegelt mit dem Speichel meines früheren Körpers, der unlängst mit den Tränen meines jetzigen verschmolzen war, beherzigte ich seinen Wunsch und suchte das Weite; auf dass ich ihn nie mehr im Leben enttäuschen würde ...


    Eine elektronische Tür öffnete sich leise surrend. Hinter mir lag das Krankenhaus von Malvenfroh City, in das wir, Colin und ich, Sheinux gebracht hatten, nachdem er in der Wüste vor Erschöpfung zusammengebrochen war. Die Rose der Wüste war ein Irrglaube. Sie hatte nicht die Zauberkräfte, die wir uns erhofft hatten. Wir hatten verspielt, unsere Hoffnungen waren begraben, unsere Wege mussten sich trennen. Ein letztes Mal warf ich noch einen Blick zurück, einen Blick auf die Menschenmengen, die ich unwollend mit meiner ungestümen Flucht aufgescheucht hatte, und auch auf meine Vergangenheit, die ich nun unwiderruflich hinter mir ließ. Die Menschen sahen mich an – was sie wohl dachten? -, funkelten mir zornig entgegen. Ja, das war ich gewohnt ... Egal in welchem Erscheinungsbild ich den Menschen entgegen trat: das Ergebnis war stets das gleiche gewesen. Sie lachten mich aus oder wollten mit mir nichts zu tun haben – ich war anders. Die automatische Tür schloss sich hinter mir, eine letzte Träne kullerte mir über die Wangen, ich glaubte noch einmal Sheinux’ Stimme wahrzunehmen, wie er vergeblich mich bei meinem Namen rief, doch das musste ein Irrtum gewesen sein.


    Das Krankenhaus, den Parkplatz mit seinen turmhohen Autos und die Besucher, die von überall herströmten, um ihre Lieben zu besuchen, - ich ließ sie alle zurück, wie meine Vergangenheit. Wo sollte ich hin, was sollte ich tun? Diese Fragen verfolgten mich bei jedem meiner kurzen aber rasch aufeinander folgenden Schritte.
    Ich erreichte das Stadtzentrum, Menschen blickten mich neugierig an, flüsterten miteinander und zeigten mit dem Finger auf mich. Die meisten aber legten einen großen Bogen um mich ein, sahen in mir nur einen mottenzerfressenen Streuner, Hungerleider und Abschaum der Straße. Ihre anklagenden Blicke verfolgten mich auf Schritt und Tritt. Ich fühlte mich unter meinesgleichen nicht wohl; auch nichts Neues ... So distanzierte ich mich seit jeher von allzu große Menschenanhäufungen. Mir behagte es einfach nicht, mochte dem Trubel und Lärm nicht ausgesetzt sein. Von meiner abgeschiedenen Position am Rande sah ich sie dann immer, meine Gleichaltrigen "Freunde", wie sie miteinander Zeit verbrachten, scherzten und lachten und immer stellte sich mir dieselben Fragen: Sprachen sie über mich, lachten sie mich aus, was sie wohl über mich dachten? Gerne wäre ich einfach zu ihnen rübergegangen, mit ihnen gesprochen und über ihr Witze gelacht, ja, vielleicht sogar selbst einen Scherz gemacht, über den man in schallendes Gelächter ausgebrochen wäre. Aber so hatte es nie sein sollen und nun, in dieser mir noch immer fremd vorkommenden Hülle, schon gar nicht mehr. Nur noch einen abgeschiedenen Ort, wo ich einsam und verlassen meinen Lebensabend verbringen konnte, ich niemals wieder jemanden enttäuschen konnte, so, wie ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, - danach verlangte es mir.¹


    Ich bog in eine verlassene, dunkle Nebengasse ein, verlies die schier unendliche Einkaufsmeile mit ihren betrügerischen Halsabschneidern, die ihren Ramsch zu völlig überteuerten Preisen anpriesen und feilboten. Das lebhafte Gesumme der Fußgängerzone verlor zunehmend an Intensität und wurde von gurgelnden Rohren und leise daraus heraustropfendes Kondenswasser ersetzt. Poröse und schmutzige Hausfassaden starrten mich, den kleinen, ungebetenen Eindringling, von beiden Seiten aus an, ebenso die gigantischen Müllcontainer, die mich bei weitem überragten und deren Inhalt ich aufgrund des widerwärtigen Geruchs nur mutmaßen konnte.
    Hier war ich nun, einsam und verlassen, wie ich es vorgesehen hatte. Abgeschieden von der Welt, niemand störte mich oder fühlte sich durch meine Anwesenheit belästigt. So wollte ich es haben und mochte es seit jeher ... Doch warum fühlte ich mich dann nur so schlecht dabei? Irgendwie bot das Alleinsein nicht mehr den Reiz, den ich von früher her kannte. Es war einfach ... Ich konnte es mir nicht erklären. Etwas fehlte einfach, oder lag es einfach nur daran, dass ich meine menschliche Hülle zurückgelassen hatte?
    Ich sah eine kleine, schmutzige Pfütze - wohl ein Überbleibsel eines heftigen Regenschauers -, betrachtete mein skurriles Spiegelbild. Noch immer hatte ich mich an diesen Anblick nicht gewöhnen können, hielt diese ganze Geschichte nach wie vor für einen absonderlichen Traum, aus dem ich hoffentlich irgendwann erwachen würde.


    Wie lange ich nur so dagestanden hatte, mein Spiegelbild betrachtete und im Selbstmitleid versank, konnte ich nicht sagen. Ich wusste nur, dass ich von einem rapide lauter werdendem Surren plötzlich aufschreckte. Es lag hinter mir und kam schnell näher, ich wandte mich um, war starr vor Schreck und zögerte noch Sekunden, bevor ich mich zum Ausweichen bereit machen wollte – ein Fehler. Eine Stimme fluchte, eine Bremse wurde durchgetreten, Fahrradreifen quietschten, Gummi rammte sich in meinen weichen Körper, ekeliger Schmerz durchflutete jede Faser meines Leibs, ich schlug auf den Boden auf, die Nacht brach über mich herein ... ²

  • Hey Eagle :)


    Zuerst ein Lob :) Cool das du zu dem Kommentar Stellung genommen hast, find ich echt super :D


    So aber nun zur Story von Sheinux *-* *freu*


    Ich war tierisch gespannt auf den weiteren Verlauf der Geschichte und siehe da - Colin darf mal Moralapostel spielen :D
    schön das du diesem aufgedrehten Charakter auch mal etwas ernsthaftere Züge verleihst obwohl wir uns in seiner "Wichtigkeit" in der Geschichte einig sind ;)
    Aber ich fand das war ein guten Kontrast zu den üblichen witzigen, Stand-up-Einlagen die er sonst leistet :)


    Sheinux hat sich jetzt doch der treuen Seele Colin anvertraut. In meinen Augen sehr nachvollziehbar. Es ist viel passiert und selbst der feine Herr Sheinux muss sich mal aussprechen :D


    Aber nun zum Perspektivenwechsel. Ist für mich persönlich sehr gewagt. Die Ich-Perspektive zu wählen bedeutet die Gefühlswelt und Sicht einer einzelnen Person zu beschreiben, der Leser weiss, was sie weiss... Diese Regel setzt du mal eben ausser Kraft und wechselst ganz einfach die Person.
    Find ich sehr mutig :)
    Den Hinweis darauf, dass jetzt Stan das lyrische Ich ist, würde ich allerdings etwas grösser schreiben ;)


    Stans Monolog findet Gefallen :D Er ist sehr selbstkritisch, hat beinahe kein Selbstvertrauen und versinkt im Selbstmitleid... Ein sehr düsteres Kapitel, für das du sehr treffende Worte gefunden hast. Mir persönlich hätten noch etwas mehr Satzfragmente gefallen... Für mich beschreiben sich Gedankengänge am besten mit Satzfragmenten :)
    Aber deine Version gefällt mir auch sehr gut :D


    Ich freue mich auf weitere Kapitel und hoffe du beherzigst das mit dem Perspektivenwechsel ;)
    Grüsse
    Fröschchen *Quack*


    EDIT:
    Super :D Jetzt ist es wirklich klar :)
    und der Perspektivenwechsel ist wirklich super gelungen, jezt steht dem scheuen Stan nichts mehr im Wege :D *freu*

  • Hi Eagle,


    sorry, dass mein Kommi erst jetzt kommt, aber du schreibst irgendwie schneller, als ich mir eine Meinung dazu bilden kann.


    Fangen wir mal mir de zebrechenden Freundschaft zwischen Shenux und Stan an. In den esten Zeilen dieses Parts war ich ehrlich gesagt ein wenig verwirrt, was eigentlich passiert war als die beden die Rose berührt hatten und vor allem, wie es passiert war. Mit deiner Version hast du es dir schon ein wenig einfach gemacht. Ein einfacher Hitzschlag oder was? Bei der Spannung, die du zuvor aufgebaut hattest, war mir diese Fortsetzung zunächst doch ein bisschen zu simpel. Vor allem viel es mir nun doch ziemlich schwer zu glauben, dass die Rose der Wüste doch nur ein Ammenmärchen war. Die Situation mit dem kleinen Mädchen und dessen Großmutter, di du zuvor geschaffen hattest, schien eigentlich sehr vorhersehbar. Das kleine Mädchen, dass die angebliche Legende, den Mythos mit eigenen Augen gesehen hatte und jener Mythos sollte den Protargonisten nun Erlösung bieten. Danach hatte das Ganze für mich ausgesehen, aber da das nicht die originellste Idee gewesen wäre und du ja scheinbar noch einiges vor hast, war der Übergang in die Depressionen, in die Sheinux anschließend gfalen ist, sehr gut. Die Art und Weise, wie er mit seinem innern Ich kämpft, gefällt mir sehr gut. Er will die Wahrheit zunächst nicht akzeptieren - die Wahrheit, dass die angebliche Erlösung in Form der Rose der Wüste nur Humbug war und er wohl auf ewig in Stans Körper schmachten müsste. Dass sein Hass, seine ganze angestaute Wut dann eben auf Stan über ging, ist nur verständlich. Dennoch hätte ich mit einem derartigen Wutausbruch nicht gerechnet und es kam auf de deren Seite auch nicht ganz überraschend, dass Sheinux sein Handeln bereute. Etwas schade finde ich es, dass seine plötzlich aufkeimende Reue nicht ansatzweise so schön beschrieben wird, wie seine Wut. Hier fehlt es mir einfach an Intensität, es geht viel zu schnell von 180 auf Null und von Null auf Reue.


    Womit wir beim nächsten Part angelangt wären. Stans Verschwinden war ehrlich gesagt eine Wendung, mit der ich nicht unbedingt gerechnt hatte. Schließlich machten es sich Stan und Sheinux nur selbst schwer, nein, verurteilten sich selbst zum Scheitern, wenn sie getrennte Wege gingen. Okay, wirklich verübeln kann mn wohl keine der beiden Reaktionen, und dennoch haben sie sich ihr eigenesGrab geschaufelt. Die Tatsache, dass eben dies Sheinux unmittelbar nac seinem Ausbruch bewusst wird, zeigt sehr schön, wie sehr das Handeln der Protargonisten inzwischen von ihren Emotionen bestimmt wird. Je länger ihr Zustand anhielt, desto mehr sind sie zusammengewachsen und umso gerezter und wüteder hatte Sheinux schließlich bei ihrem großen Fehlschlag reagiet. Man merkt deutlich, dass sie ihr Handeln nichtmehr genau überdenken und dementsprechend nur noch tiefer in die Schei... pardon, Misäre geraten. Somit finde ich die Geschehnisse sehr logisch und - sofen dieses Wort in iner Fantasie Story angebracht ist - realistisch. Dass Colin Sheinux dazu bringt, letztlich seine Abneigung gegenüber Menschen im Allgemeinen zu eklären und ihm wiederrum das wahre Verhältnis einer solchen Partnerschaftnähe zu bringen, finde ich ebenfalls toll. Die beiden kommunizieren endlich mal ernsthaft un tauschen sich aus. Sie lernen die Sichtweise des anderen kennen, was ihnen sicherlich noch zu gute kommen wird.


    Schließlich kam noch der Start des neuen Kapitels, nun aus der Sicht von Stan. Ich bin mir noch immer nich sicher, was ich davon halten soll. Die ganze Zeit über hat man nur Sheinux' Interpretation derEregnisse lesn können und nun das. Ich weiß ja nicht, wie lange du diesen Perspektivenwechsel im Voraus geplant hattest, aber wenn du es schon länger vor hattest, hätte ich es besser gefunden, früher schon einmal aus Stans Sicht zu schreiben. Das kommt jetzt ein bisschen so rüber als hättest du spontan eine neue Idee für die Fortsetzung gehabt und keine andere Lösung gesehen, um sie umzusetzen. Wenn man derartige Elemente in eine FF einbaut, sollte man sich schon früher damit auseinandersetzen, finde ich zumindest. Vom Inhalt her bietet dieser Part zwar keine Überraschunen, aber schöne Formulierungen. Stan ist, wie sollte s auch anders sein, natürlich am Boden zerstört, versteht die ihm entgegengebrachten Vorwürfe abe voll und ganz. Er sieht sich selbst als wertlos an und weiß einfach nicht mehr weiter. Sein Leben ist ruiniert und er weiß, das er auch das von Sheinux ruiniert hat. Seine Selbstzweifel undSelbstkritiken finde ich sehr schön und passend.Bin ja mal gespannt, ob nun in Zukunft mehr auf Stan und dessen Gedanken engegangen wird, aber ich gehe mal davon aus.


    Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie alles weitergehen soll. Erst einmal müssen Stan und Sheinux wieder zueinander finden, was ja schon schwierig genug zu sein scheint. Und danach? Tja, da hast du dir so ziemlich alle Freiheiten gemacht, da sie nun absolut keine Spur haben, keinen Hinweis, kene Fährte. Die Fortsetzung ist völlig offen. Ich bin einfach mal gespannt, was du dir ausdenken wirst und freu mich schonmal drauf. Bis dahin...


    LG

  • Part 2: Schnuffel
    ³
    Wind peitschte mir ins Gesicht, der Boden unter mir vibrierte – ich bewegte mich fort. Was war passiert? Meine Erinnerungen waren trübe. Ich erinnerte mich an ein Fahrrad – es hatte mich erfasst, mich gerammt. Was war dann geschehen? Ich erinnerte mich nicht ...


    Der Wind ließ nach, der Boden zitterte nicht mehr, das Surren in meinen Ohren erstarb. Ich sah mich und Sheinux im Raumfahrtzentrum von Moosbach City, wie wir Deoxys Zorn ausgeliefert waren, jene Stunde, als wir unseren Körpertausch durchzogen; das Szenario verblasste und wurde mit dem Panorama des Schiffes ersetzt, das uns nach Seegrasulb City gebracht hatte, Fiffyen jagte mich über das Deck ich hörte ihre Stimme und die der anderen Pokémon, sie sprachen über mich; Sheinux kniete sich zu meinen Füßen, nahm mich in seine Arme und drückte mich fest an sich: „Wir stehen das durch – gemeinsam.“; Sheinux zwang mich gegen Sora, Eagles Pokémon, zu kämpfen, ich hatte Angst, war sauer; Miriams Großmutter erzählte uns von der Rose der Wüste, Sheinux und ich sahen uns an, nickten einander zu; Colin schleppte Sheinux in den Schatten, er sagte mir, er würde Hilfe holen gehen und ich solle hier auf Sheinux aufpassen (4); Sheinux lag im Krankenbett, er brüllte mich an, warf mit Dingen nach mir, ich fühlte die Schwere meiner Schuld ...


    Laut krachend knallte eine Tür zu – unter dröhnenden Kopfschmerzen erwachte ich. Kalter Schweiß auf meinem Gesicht mischte sich mit einigen wenigen Tränen. Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, was überhaupt passiert war. Ein Fahrrad hatte mich erfasst – man hatte mich angefahren. Wesentlich länger – obwohl es eigentlich absolut eindeutig war - dauerte es zu begreifen, dass ich nicht mehr in der abgeschiedenen und schmutzigen Seitengasse der Stadt war. Meine Pfoten tasteten sich auf einer weichen Matratze, ich sah mich um und stellte schlagartig fest, dass die vermeintliche Ruhe nur ein Irrtum war - ich wurde beobachtet! Augenpaare funkelten von allen Seiten zu mir herüber. Ich geriet in Panik, mein kleines Herz, welches noch vor wenigen Augenblicken im ruhigen Gleichtakt geschlagen hatte, war in Sekunden von null auf einhundertachtzig, ich wollte fliehen, doch verfing ich mich in dem Bettlaken und kam abrupt zu Fall. Ächzend strampelte ich mich frei und sah mich plötzlich direkt mit einem paar Augen konfrontiert. Regungslos und schwer atmend sah ich sie an und sie sahen mich an. Die Gestalt eines kleinen und angsterfüllten Pokémon reflektierte daraus hervor – mein Ebenbild. Ich sah mich selbst, wie ich zitternd und mit panischem Gesichtsausdruck dalag, zu ihnen hinaufstierte und nicht wusste, was ich tun sollte. Und mein Gegenüber – er tat nichts, denn kein Leben steckte in ihm oder in allen den anderen Plüschfiguren, die mich umzingelten. Riesige Stofftiere – manche fast zweimal so groß wie ich es war – sahen mich mit ihren starren, schwarzen Glasaugen aus an. Es gab sie überall im Raum, doch die meisten von ihnen saßen auf dem kleinen Bett, auf dem auch ich saß.


    Ich atmete auf, der Herzschlag nahm wieder ab. Die Gefahr war gebannt, war sie schließlich nie existent. Zum zweiten Mal riskierte ich es, mir Eindruck von meiner Umgebung zu verschaffen. Es musste sich um eine Art von Kinderzimmer handeln, denn passend zu dem kleinen Bett, war der Parkettfußboden mit den dazu passenden kunterbunten Pendants übersäht: Spielzeugautos, Bauklötze, Wachsmalstifte, Bilderbücher und stellenweise auch einige achtlos liegen gelassene Kleidungsstücke, die von ihrer Größe her etwa auf einen Schulanfänger schließen ließen.
    Wie war ich hierher gekommen, was sollte ich hier und was noch viel wichtiger war: wie kam ich hier wieder raus? Wie auf Kommando und als ob ich diese Frage laut ausgesprochen hätte, vernahmen meine übersensiblen Pokémon-Ohren, mit denen ich seit meiner Verwandlung gesegnet war, hastige und scheinbar aufgeregte Schritte, die sich rasch der verschlossenen Tür näherten. Ich spürte, wie mir das Herz in die nicht vorhandene Hose rutschte, mir ein eiskalter Schauer über den Rücken jagte - jemand kam. Der Türgriff wurde herunter gedrückt, die Tür öffnete sich, ein Jemand betrat mit dem Rücken voran den Raum.


    Der hagere, strohblonde Junge – er konnte etwa in Miriams Alter gewesen sein, vielleicht auch etwas jünger – tat sich äußerst schwer, die Tür hinter sich nur mit seinem Ellenbogen zu schließen. Seine beiden Hände balancierten je einen Teller und wurden folglich für diesen gefährlichen Akt voll beansprucht. Langsam wandte er sich um, darauf bedacht, den Inhalt seiner Teller nicht zu verlieren. Sein Blick fiel sofort zu dem Bett, auf dem ich, wie gelähmt und an einen Präsentierteller erinnert, dem Schauspiel beiwohnte. Warum nur hatte ich solange gezögert und soviel Zeit verschwendet? Dieses zahnlückenbreite Grinsen und das Funkeln in seinen Augen verhießen nichts Gutes.
    „Oh, bist du wach?“, fragte er mich mit einer kindgerechten hohen Stimme, bei der mein Schweif bereits warnend vibrierte. Ich antwortete nicht.
    Er tapste zu einem kleinen Spielzeugtisch herüber – sein Blick ruhte permanent auf mir, weswegen er fast über einen seiner Bauklötze gestolpert wäre - und stellte die beiden Teller auf der Plastik-Oberfläche ab – ich schnüffelte kühlschrankfrische Milch und schokoladengespickte Kekse.
    „Hast du Hunger, Schnuffel, magst du vielleicht etwas fressen?“, fragte er mich und deutete überflüssigerweise auf die beiden Teller.
    Wäre ich gesprächiger Natur gewesen – ich hätte wohl vor Empörung laut protestiert, mich beschwert. Schnuffel ...? Fressen ...? Wie sah ich denn aus ...? Okay, vielleicht doch ein schlechtes Beispiel ... Jedenfalls war ich viel zu schlau, als dass ich mich so einfach ködern ließ – und einfach zu scheu ...
    Er sah mich an, ich sah ihn an, wir sahen uns an. Abermals fragte er: „Hast du Hunger?“
    Ich rührte mich nicht, zermarterte mir den Kopf darüber, wie ich nur hier aus diesem Kasperletheater entfliehen konnte. Das rettende Fenster aber war zu hoch, als dass ich es hätte erreichen können und zwischen mir und der ohnehin abgeschlossenen Tür standen zirka zwanzig Kilo Mensch, dessen Absichten ich nur vage vermuten konnte. Es gab kein Entrinnen.
    Zu meiner großen Verwunderung stellte ich plötzlich fest, dass der Junge mich angrinste. Weniger angenehm war allerdings, dass er sich mir plötzlich schnell und mit ausgestreckten Armen näherte. Ich beging nicht zweimal denselben Fehler und mobilisierte schlagartig meine Kräfte und hüpfte mit einem Satz von dem Bett herunter. Dummerweise war der hellbraune Parkettboden rutschig, ich geriet heftig ins Schlittern. Krallen kratzten über den Boden, ich ruderte verzweifelt mit meinen Pfoten, um nicht direkt in die Arme des Jungens zu stolpern. Irgendwie schaffte ich es, mir einen gehörigen Abstand zwischen meiner Person und dem Besitzer dieses Zimmers zu verschaffen. Er hatte sich, seitdem ich vom Bett gesprungen war und mich von ihm auf mitleiderregende Art und Weise entfernt hatte, nicht von der Stelle gerührt. Wir standen uns nun in gebührenden Abstand gegenüber - er in der Mitte des Raums und ich in der nächstbesten Ecke. Mein Gegenüber war gewaltiger Natur, zumindest solange ich in dieser Hülle wohnte. In meiner menschlichen Form hätte ich ihn fast zweifach überragt; so aber, in Sheinux’ Körper, reichte ich ihm kaum bis zum Saum seiner kurzen Hosen. Es war nicht auszudenken, was passieren würde, wenn ich ihm in die Finger geriet.
    „Wo willst du denn hin?“, lachte er, setzte sich zu meinem Leidwesen wieder in Bewegung und peilte akribisch die Ecke an, in der ich Schutz gesucht hatte.


    Bauklötze wurden durch die Luft gewirbelt und verwandelten sich zu Geschossen, Spielzeugautos rollten mit wahnwitziger Geschwindigkeit gegen Wände und Mobiliar, übergroße Teddybären mussten als Schutzwall herhalten – man jagte mich quer durch den ganzen Raum, stets von dem Gelächter des Jungen verfolgt, der dies alles wohl nur für ein Spiel hielt. Abermals stolperte ich über einen Wachsmalstift und geriet gefährlich nahe in die Fänge meines Häschers. Das kleine Ding hinter meinem Brustkorb wurde von Sekunde zu Sekunde schneller, die gestaute Luft im Raum schien zu kochen, jeder Atemzug drohte mir im Halse stecken zu bleiben. Mein sicheres Ende war nur etwa zwei Armlängen von mir entfernt und schien, im Gegensatz zu mir, überhaupt nicht müde zu werden. Mein heißer Atem brannte mir in geradezu Löcher ins Fell, immer dann, wenn ich eine Sekunde Verschnaufpause erhaschen konnte.


    Unter dem Plastik-Tisch hatte ich abermals Zuflucht gesucht, mein Verfolger umkreiste mich wie der Jäger seine in die Enge getriebene Beute kurz vor dem zerfetzenden Sprung an die Kehle. Der ausweglosen Situation zum Trotz, witterte ich plötzlich eine Chance, schöpfte Hoffnung. Durch die Beine des Jungen hindurch, wanderte mein Blick zu der Tür - schwere Schritte, sie kamen näher. Das war sie, meine Gelegenheit hier raus. Und doch sagte die Stimme in meinem Kopf, ich solle hier bleiben, es gar nicht erst versuchen; es sei zu riskant, ein Wagnis mit geringer Aussicht auf Erfolg, ein Himmelfahrtskommando; was, wenn es scheiterte, was, wenn man mich schnappte? Was aber war die Alternative? An Ort und Stelle zu verharren und nichts zu tun, war nicht weniger dumm. Was also tun ...?
    Ich sah es – die Türklinge wurde hinuntergedrückt, ein langes paar Beine betrat den Raum.


    Ich spürte einen heftigen Schmerz an Kopf und Schultern. In meinem inneren Konflikt war ich losgespurtet und hatte doch gleichzeitig versucht, mich zu bremsen, mit dem Resultat, dass ich mir den Kopf an der Tischplatte angeschlagen und mir durch die unüberlegte Bewegung einen Krampf in den Rücken eingefangen hatte. Dennoch hechtete ich los, peilte direkt die Schneise zwischen den langen Beinen, von denen ich noch immer nicht wusste, wem sie gehörten, bei der Tür an. Tränen blitzten unter meinen verschlossenen Augenliedern auf, immer begleitet von den „Schnuffel!“-Rufen. Ich spürte den Wind, wie er mir einladend ins Gesicht peitschte, wie er mir zurief, ich solle auf keinen Fall langsamer werden; ich glaubte, ich würde es schaffen, glaubte, diesem Irrenhaus endlich entrinnen zu können.
    „Au!“
    Abermals breitete sich ein ungeheurer Schmerz in meinem Körper aus. Etwas - und ich ahnte bereits, was – hatte mich äußerst grob am Genick gepackt, ich verlor den Boden unter den Füßen, panisch schlug ich die Augen auf – ich hing meterhoch in der Luft.
    „Hast du etwas verloren, Lukas?“ Die Stimme war tief, musste einem Mann gehören, offenbar der Vater des Jungen. Mein schlaffer Körper hing in einer demütigenden Lage in seinem festen Griff gefangen, wagte es nicht, zum Gesicht des Mannes hinaufzublicken. Die aberwitzigsten Gedanken schossen mir durch den Kopf. Von wenn ich mich vielleicht tot stellen würde, würde er mich wohl die Toilette herunterspülen, bis zu wenn ich zuviel Widerstand leisten würde, würde er mir wohlmöglich den Hals umdrehen – es war alles dabei. Ich hatte Angst, furchtbare Angst.
    „Schnuffel!“ Hektische Schritte polterten hinter meinem Rücken auf mich zu – der Junge, Lukas, näherte sich mir. Zu meiner Übergabe kam es aber glücklicherweise nicht – noch nicht.
    „Was soll das, ich dachte, wir hätten das besprochen?“, sagte Lukas’ Vater in verärgertem Ton. „Woher hast du es - doch nicht von der Straße aufgegabelt?“
    „I-ich bin ein er, kein es“, wimmerte ich unter Tränen. (5)
    „Es ist mir nachgelaufen, darf ich es behalten?“, fragte Lukas. Das gierige Verlangen und das gleichzeitige Betteln in seiner Stimme waren deutlich zu hören.
    „E-er hat mich angefahren ... u-und verschleppt. Lasst mich gehen – bitte ...“, flehte ich.
    „Das Thema hatten wir doch schon. Wir waren uns doch einig, dass du zu jung bist, um ein Pokémon zu halten“, entgegnete der Mann.
    „Aber es ist mir doch nachgelaufen ... Bitte, Dad“, bettelte Lukas.
    „Sag nein ... Lass mich gehen ...“, jammerte ich.
    Lukas’ Vater seufzte. Es lag etwas Resignierendes in seiner Stimme – kein allzu gutes Zeichen für mich. Mir schwante Unheil, sah bereits die Welt über mich hereinbrechen. „Also gut ... Ich werde das heute noch einmal mit deiner Mutter besprechen. Dann nimm deinen Schnuffel – das letzte Wort ist aber noch nicht gefallen!“
    Wie eine Münze ihren Besitzer wechselte, wurde auch ich von einer Person zur nächsten weitergereicht. Lukas schloss mich überglücklich in seine Arme, presste mich fest gegen seine Schultern. Noch immer hämmerte mein Herz wie verrückt und vibrierte von den mageren Schulterplättern des Jungen wider. „Danke, Dad!“
    „Ich will sehen, dass du diesen Saustall hier noch heute aufräumst“, sagte Lukas’s Vater „und anschließend kommst du runter – Hausaufgaben!“ (6)
    Lukas wagte es nicht, seinem Vater nochmals zu widersprechen. Er wollte sein Glück offenbar nicht auf die Probe stellen, hatte er schließlich bereits einen Punktsieg gegen eines seiner Elternteile ergattern können.


    Wirklich ans Aufräumen dachte mein ... Besitzer natürlich nicht. Jetzt, wo er mich endlich in seinen Klauen hielt, konnte ihn nichts mehr bremsen. Mittlerweile hatte ich meine vergeblichen Fluchtversuche aufgegeben, war es schließlich ohnehin aussichtslos. Ich war ihm ausgeliefert - auf Gedeih und Verderb, musste mit meinem zerbrechlichen Körper und meiner noch zerbrechlicheren Seele für seine kindliche Unschuld herhalten. Ich wurde gebürstet; ins Bettchen gelegt, um Heia zu machen; geweckt, um wieder gebürstet zu werden; bekam ein Plätzchen, wenn ich artig war und Pfote gab; bei Unartigkeit musste natürlich mein Schweif herhalten, der dummerweise zum Langziehen prädestiniert war; und wurde wieder ins Bett gelegt. Es war die Hölle – und die Zeit schien kein Erbarmen zu kennen. Ich hatte inzwischen aufgehört zu zählen, wie oft man mich nun zum wiederholten Male aus dem Bett geholt hatte. Die Erlösung meines Martyriums kam erst zum Zeitpunkt, als mein Wille schon so sehr gebrochen war, dass ich sogar auf Kommando Purzelbaum schlug, bei dem sich Lukas – der Zirkusdirektor, wie er sich nannte - vor Lachen fast beäumelte.
    Ein kräftiger Schlag gegen die verschlossene Tür, die dumpfe, aber deutlich erregte Stimme von Lukas’ Vater bahnte sich seinen Weg durch das Holz und in das Zimmer hinein: „Lukas, ich sagte doch, du sollt runter kommen!“
    Der Junge stöhnte leise auf, hatte er schließlich die ganze Zeit so schön mit mir gespielt. Ja, die doofen Eltern ... „Ich komme ...“, rief er.
    Die Bettdecke wurde mir grob bis ans Kinn gezogen, rücklings entfernte sich Lukas von mir, nicht aber ohne fast über eines seiner auf dem ganzen Boden verstreuten Spielzeuge zu stolpern. Seine Hand packte bereits die silberne Türklinke, noch immer sah er mich an, wie ich ausgezehrt und sabbernd im Bett lag. „Ich komme gleich wieder, dann spielen wir weiter Zirkus!“, sagte er und verließ endlich den Raum.


    Der Gedanke an die Toilette, mit der man mich hätte runterspülen können, oder aber auch der befreiende Halsumdreher kam mir inzwischen verführerischer als das hier vor. Dieses Kind war absolut von der Rolle, völlig übergeschnappt. Ich musste hier raus - und zwar so schnell wie nur irgendwie möglich. Ich selbst gab mir unter diesen Bedingungen nur noch wenige Stunden, bevor sich entweder mein Verstand in eine breiige Masse verwandelte und ich schlicht und einfach dem Wahnsinn verfiel, oder mich meine Kräfte verließen und ich tatsächlich bereit war, im Klo zu landen – außerdem musste ich tatsächlich mal austreten, schon die ganze Zeit ... Es war mir peinlich, furchtbar sogar, aber was hätte ich tun sollen? Krampfhaft sah ich von dem Bett durch das entfernte Fenster hinaus: Es war milchig hell - vielleicht 16:00 Uhr, vielleicht auch etwas später. Heute bekam ich sicherlich keine Gelegenheit mehr dazu, Luft zu schnappen und meine sündige Notdurft auf brave Pokémon-Manier zu verrichten; wobei es überhaupt fraglich war, ob ich jemals wieder dieses Zimmer verlassen durfte ...
    Ich drehte meine Runden in der Mitte des Raums, warf immer wieder verzweifelte Blicke zu der Tür und zum Fenster, stolperte ein, zwei Mal fluchend über einen Bauklotz oder rutschte auf einem Stift aus. Schließlich und endlich gab ich aber meinem Trieb nach, der ohnehin viel stärker als mein Verstand war, und suchte die dunkelste Ecke im Raum auf ...


    Wohin mich meine kurzen Beine auch führten – ich landete letztendlich immer wieder in einer Sackgasse. Das Fenster war nach wie vor verschlossen, ebenso die Tür. Ich kam hier nicht raus, es sei denn, ich hatte irgendwo zwischen meinem Fell eine Ladung Dynamit versteckt, von der ich bislang nichts wusste. Wie ich es mir auch ausmalte: Mir blieb nur eine Möglichkeit: Die Tür! Ausbrechen, wenn sich die Gelegenheit bot und ich wusste, dass es nur einmal funktionieren würde. Ein weiteres Scheitern war keine Option. Ungehorsam wurde bestraft, und wie ich mir denken konnte, wären Stricke, mit denen man mich wohl ans Bett fesseln würde, die Konsequenz für mein aufrührerisches Verhalten. Ich schluckte bei diesem Gedanken, noch mehr aber daran, dass ich über meinen Schatten springen musste. Wenn die Zeit zum Handeln kam, musste ich es auch tun. Nicht denken, sondern handeln! Keine leichte Aufgabe ... Noch nie brüstete ich mich gern damit, Entscheidungen schnell fällen zu können – im Gegenteil. Man musste nachdenken, Pläne mussten immer wohl durchdacht sein, alle Konsequenzen sorgfältig abgewogen werden. Diesmal aber nicht! Diesmal musste ich handeln, die Gelegenheit beim Schopf greifen, mich notwendig sogar auf mein Glück verlassen, denn ich konnte nicht wissen, was mich außerhalb dieses Zimmers erwartete, nur ein fremdes Haus ...


    Und so wartete ich, legte mich wie ein Wegelagerer auf die Lauer. Der Blick ruhte auf der Tür, zu deren Rechten ich mich spurtähnlich aufgebaut hatte. Ich wagte kaum zu blinzeln, jedes Flimmern vor meinen Augen, jedes Staubkorn, das an mir vorbeiflog, jedes Geräusch – sie alle ließen meinen Körper erbeben. Sekunden, Minuten, vielleicht auch Stunden – ich wartete, rührte keinen Muskel. Und da waren sie endlich: Schritte näherten sich, aufgeregte Schritte. Mit flachem Atem beobachtete ich, wie die Türklinke hinuntergedrückt wurde. Erst ein Bein, das das nächste – Lukas betrat den Raum, wieder mit dem Rücken voran, er musste also abermals etwas auf seinen Händen tragen, doch es war mir egal. Ich witterte nur meine Chance, vielleicht meine einzige. Behutsam huschte ich an ihm vorbei, achtete darauf, bloß nicht seine nackten Beine zu berühren, ihn gar versehentlich mit der Spitze meines Schweifs zu kitzeln. Die Tür fiel zu. Er war drin, ich war draußen – es hatte geklappt. Ich hörte dumpfe Worte hinter der Tür, Lukas rief nach meinem Kosenamen, den ich niemals haben wollte, er suchte nach mir. Viel Zeit hatte ich nicht, bevor er merkte, dass ich mich davon gestohlen hatte und er im ganzen Haus Alarm schlug.

    Glückliche Erinnerungsportraits einer dreiköpfigen Familie lachten mir von den Wänden entgegen, Hochzeitsphotos, Lukas bei dessen Einschulung mit seiner Schultüte – er war seitdem kaum gealtert. Auch dieser Gang war mit nicht weniger rutschigem Parkett ausgelegt. Das war aber auch schon alles, was ich wissen musste. Dieses Haus – ich wollte es nicht näher kennen lernen, als ich es musste. Die Schritte hinter der verschlossenen Tür zu meinem Rücken wurden hektischer, die Rufe lauter. Eile war geboten. Ich warf panisch Blicke nach links und rechts. Der Gang mündete am rechten Ende in einen weiteren Raum, linker Hand lag eine schnurgerade Treppe. Abermals eine Entscheidung ...
    Tu es! schoss es mir durch den Kopf und das tat ich auch. Ich entschied mich für die Treppe. Die ersten Schritte meisterte ich behutsam, wurden aber von weiteren inzwischen panisch klingenden „Schnuffel!“-Rufen hinter mir so weit angestachelt, dass ich kurzerhand ausrutschte und Stufe für Stufe auf meinem Hinterteil hinunterpolterte. Mit schmerzendem Gesäß rappelte ich mich auf, hatte kaum Blick für die vielen Facetten des Ganges und auch nicht für die wohlriechenden Düfte, die aus einem Raum in der Nähe – wahrscheinlich die Küche – kamen. Ich hörte Stimmen. Ein Mann sprach, eine Frau antwortete.
    „Ach, da fällt mir ein, ich muss noch mit dir reden ...“ Es war Lukas’ Vater.
    „Gib mir mal bitte die Kartoffeln – um was geht’s?“ Die unsichtbare Stimme musste Lukas’ Mutter gehören. Sie klang unwirsch, schien sehr beschäftigt zu sein.
    „Also ...“ Der Mann schien seine Worte mit äußerster Präzision wählen zu wollen.
    „Was denn nun?“
    Verzweifelt sah ich mich um. Der Ausgang, wo war nur der Ausgang aus diesem Höllenloch? Meine Augen weiteten sich. Da war eine Tür nicht unweit von mir, auffällig groß und schwer, mit äußerst dickem und robustem Glas in seinen Fenstern. Doch sie war verschlossen ... Der Griff lag in unerreichbarer Höhe für mich. Game over.
    „Gleich ... Ich bringe noch kurz den Müll raus“, sagte die Männerstimme. Sie kam näher. Eine Tür öffnete sich und Lukas’ Vater stand vor mir, ein Baum von einem Mann. Ich vor der verschlossenen Tür und er mit zwei rappelvollen Plastikeimern in den Händen. Wir sahen uns an. Ich hatte bereits mit meinem Leben abgeschlossen, sah es vor meinem inneren Auge vorbeifliegen. Da war fast nichts, worauf ich stolz drauf war, nahezu nichts, woran ich mich gerne erinnerte. Doch sie tauchten immer wieder flüchtig auf – Sheinux, Colin, bevor sie durch eines von vielen schrecklichen Szenerien aus meinem Leben ersetzt wurden und verblassten.
    Noch immer sah mich Lukas Vater an, er sagte nichts, seine Augen rollten fieberhaft hin und her, er biss sich auf die Lippe. In unterwürfiger Position hatte ich mich vor ihm hingelegt, wie ein Bettvorleger, das einzige, was mir in den Sinn kam, um die Schwere meiner Schuld zu mildern. Der Mann näherte sich mir, sein Blick war fest auf mich gerichtet. Unmittelbar vor mir stoppte er, sah mich an. Ein zielgerechter Tritt und mein Kopf wäre Brei unter seinen schweren Schuhen gewesen. Nichts aber dergleichen geschah. Er öffnete die Tür. Die laue Nachmittagssonne lachte mir entgegen, mein Pelz durchjagte ein flüchtiger Windstoß.
    „Hau ab, verschwinde, los!“, sagte er und schob mich sanft aber bestimmend mit seinem Fuß vor die Tür. (7)
    Ich wollte Augen und Ohren nicht trauen, glaubte zu träumen. Meinte er das ernst? Konnte das ... Ich schüttelte mich heftig. Schon wieder dachte ich zuviel nach. Das musste endlich aufhören!
    „Danke!“, sagte ich, wusste aber natürlich, dass ich ihn auch hätte beleidigen können und er trotzdem nichts von alledem verstanden hätte.


    Die Tür flog zu, ich vernahm das Geräusch von zwei Plastikeimern, die hinter der Tür auf den Boden gestellt wurden, Lukas’ Vater rief nach seinem Sohn, er solle antanzen und den Müll vor die Tür bringen und auf die Frage seiner Frau hin, was nun so furchtbar wichtig gewesen sein soll, lachte er nur: „Vergiss es.“
    Freiheit, ich hatte dich wieder!

  • Hallo Eagle :)


    Nun muss ich einen kleinen "Fehler" meinerseits berichtigen! Als du den Perspektivenwechsel gemacht hast, war ich durchaus skeptisch. War es die richtige Entscheidung? Ist ein "Stiel-Bruch" im Sinne des Personenwechsels wirklich der richtige Weg? Wirst du deinen Schreibstiel genügend anpassen können um Stans Gedankenwelt glaubhaft wiedergeben zu können? Doch die ganzen Bedenken die ich da hatte, stellen sich nun als völlig belanglos heraus :)


    Du hast den Wechsel wirlich super gemeistert und Stans Welt wird sehr glaubhaft dargestellt. Ich bin echt schwer beeindruckt und jetzt, noch mehr als zuvor, von der Geschichte begeistert :D Ich hätte das, glaube ich, nicht so gut hingekreigt. Da ich selbst auch gerne in der Ich-Perspektive schreibe, weiss ich wie schwer es ist, von einer gewohnten "Rolle" in eine andere zu schlüpfen, ohne das es gekünstelt wirkt.


    Zusammengefasst:
    Ein grosses Lob an dich und weiter so ;)
    *Quack*

  • Part 3: Das Gesetz der Straße


    Ich hatte sie wieder, meine Freiheit, das Joch meines Unterdrückers war abgelegt, meine Ketten gesprengt - die Tyrannei hatte ein Ende.
    Ich schlenderte den Bürgersteig der Vorstadt entlang, sog die laue Luft in meine Nase, lauschte den Stimmen des sterbenden Tages. Menschen – Männer, Frauen, Kinder – sie alle strömten herbei, zu Fuß, mit Autos, Motorrollern und Fahrrädern, wollten den Tag auf ihre ganz eigene Art zu Ende bringen, die Stunden ihrer Freiheit genießen – gemeinsam. Wir waren gar nicht so verschieden, sie und ich, von meinem Blickpunkt jedenfalls nicht ...


    Saubere Gärten, völlig identische Reihenhäuser und parkende Metallkarosserien ließ ich hinter mir, bog in eine weitere Straße ein und bemerkte, dass auch diese nur ein Spiegel der schon weit zurückgeglaubten Promenade war. Es war schön hier, irgendwie idyllisch, es ließ sich hier sicherlich gut leben, seinen Feierabend mit all seinen Lieben genießen, ob am Grill bis in die späte Nacht hinein oder einfach nur gemeinsam vor der Flimmerkiste. Doch wirkte dieser Ort dennoch falsch auf mich; nein, nicht diese Ort – ich, ich gehörte nicht hier her.
    Meine Vergangenheit holte mich leider schneller ein, als mir lieb war. Noch immer war ich hier, gefangen im fremden Körper, auf mich alleine gestellt und mit einer schrecklichen Schuld belastet. Wohin sollte ich gehen, an wen konnte ich mich noch wenden? Ich erwischte mich dabei, wie nun bereits zwei geschlagene Minuten meine Bewegungen zum Erliegen gekommen waren, ich nur dastand und die Reflexion meines kümmerliches Abbildes in dem Glas einer Bushaltestelle widerspiegeln sah und immer, wenn ich mir selbst in die Augen blickte, sah ich nicht das Pokémon, dessen Fell ich mir unfreiwillig übergestreift hatte, sondern den kleinen, schüchternen Jungen, der ich doch war. Diese Hülle – ich sah sie bereits als eine Form der Bestrafung an, die Vergeltung für all meine Abnormalitäten, mit denen ich jeden auf meinem Lebensweg belastete. Sheinux hatte einen verheerenden Preis dafür gezahlt, mit mir unterwegs zu sein. Diese Schuld ... ich konnte sie niemals begleichen. Mein Leben konnte ich dafür geben und es war doch nicht genug, ein kümmerlicher Trost für ihn. Es machte mir nichts mehr aus, dass die Menschen, denen ich auf meinem Streifzug wieder ins Stadtinnere zurück begegnete, mich sahen, auf mich deuteten und feindselig miteinander tuschelten – das Gegenteil war der Fall. Bestraft mich mit euren Blicken, lästert und zeigt mit eurem Finger auf mich, bringt mir die Verachtung entgegen, die ich schließlich auch verdient habe – es war mir Recht, war es doch meine Strafe. (8)


    „Mistvieh! Bleib stehen!“
    Hinter meinem Rücken krachte und schepperte es, der Ausnahmezustand brach aus. Bei dem Wort „Mistvieh“ war ich bereits instinktiv herumgewirbelt, sämtliche Sinne geschärft, hatte tatsächlich darauf geschworen, dass man mich meinte. Doch auch alle Fußgänger um mich herum, ja selbst die Leute auf der anderen Straßenseite sahen zu der eigentlichen Quelle des infernalen Lärms herüber. In einem kleinen Laden, kaum zehn Meter von mir entfernt, hörte man eine tiefer Männerstimme fluchen, schwere Küchenutensilien – wohl Töpfe und auch Pfannen – donnerten auf den Boden, eine Frau schrie wie am Spies. Mit einem gewaltigen Schlag flog die Tür auf, das Türglöckchen, das unter normalen Umständen leise und einladend gebimmelt hätte, kam gar nicht mehr zu Ruhe. Für einige wenige Wimpernschläge hatte ich tatsächlich geglaubt, ein Feuer wäre in dem Laden ausgebrochen und die Flammen hätten sich gewaltsam den Weg ins Freie gekämpft. Bei näherer Betrachtung stellte ich allerdings fest, dass das Feuer vier Beine und ein strubbeliges, mähnenähnliches Fell besaß und sich auf seinem roten Pelz schwarze Streifen abzeichneten; auch hielt ein Feuer für gewöhnlich kein saftiges und tropfendes Schnitzel zwischen seinen Kiefern gefangen.
    Das fremde Pokémon hatte es eilig, verschwendete keine Zeit. Mit wahnwitziger Geschwindigkeit hechtete der Unbekannte direkt auf mich zu. Ich war völlig zur Salzsäule erstarrt, wusste nicht, was ich tun sollte, geschweige denn, was er von mir wollte. Auch er hatte zwischenzeitlich meine Anwesenheit bemerkt, scherte sich aber nicht sonderlich darum. Zwischen all den panischen Rufen der Menschen und dem Tönen der Automobile um mich herum, vernahm ich die Stimme des Pokémons, die zwischen all dem Fleisch ziemlich wässrig klang: „Lauf!“
    Der von dem fremden Pokémon aufgepeitschte Wind jagte mir durchs Fell. Er war einfach an mir vorbeigerannt, hatte mir kein Härchen gekrümmt, ja, mich sogar fast ignoriert. Eine zweite Gestalt stolperte urplötzlich aus dem Gebäude heraus, klein, plump, eine dreckige Schürze, lichtes und fettiges Haar, ein zornverzerrtes Gesicht, ein Messer. Die Klinge in seinen Händen blitzte in der späten Nachmittagssonne, er hatte sie hocherhoben, er sah mich an, näherte sich mir mit weiten und schnellen Schritten.
    „Mistviecher!“, brüllte er.
    „Scheiße!“. Ich gab Fersengeld. Noch nie in meinem Leben glaubte ich, so sehr gerannt zu haben, denn ich rannte tatsächlich um mein Leben, es hing am seidenen Faden; ein Faden, der nur allzu leicht von der scharfen Waffe, die hinter mir wild hin und her gefuchtelt wurde, zerschnitten werden konnte. Unlängst hatte ich meinen Schweif instinktiv eingezogen, auf dass er auf keinen Fall der Waffe hinter mir zum Opfer fiel. Schon nach kurzer Zeit hatte ich Seitenstechen, schluckte den Schmerz, ignorierte ihn. Anzuhalten, gar zu stolpern, brachte unverzeihliche Konsequenzen mit sich. Mehr brauchte ich nicht zu wissen und nicht über mein weiteres Handeln nachdenken.
    Die Menschen vor mir sprangen laut kreischend zur Seite, pressten sich gegen Hausfassaden oder suchten in noch offenen Geschäften Schutz; Aktenkoffer wurden fallen gelassen, deren Inhalt auf dem Boden zerstreut oder von dem Seitenwind der Fahrzeuge mitgerissen; kleine Kinder, die noch vor Sekunden mich am liebsten gestreichelt hätten, wurden in die Arme ihrer Eltern gerissen – all dies begleitet von den Flüchen des Mannes, der mich jagte. Der Wind drehte sich, ich roch den übelriechenden Schweiß meines Verfolgers - und seinen Zorn, der fast noch mehr stank.
    Ich holte das orangerote Pokémon immer mehr ein, das sich erst noch eine Schneise durch die Menschenmassen bahnen musste, während ich von seiner Bresche profitierte. Der Geruch des Fleisches zwischen seinen Zähnen drang mir in die Nase. Es hatte etwas Widerwärtiges und doch Anziehendes. Er warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, sah mich an, das Weiß in seinen Augen blitzte.


    Das Gefühl in meinen Beinen war längst verloren gegangen, als wir am Ende der Geschäftsmeile in eine von sicherlich unzähligen schmutzigen Nebengassen der Stadt einbogen. Ich wurde langsamer, meine Gliedmaßen wollten das Gewicht meines Körpers nicht mehr tragen. Die Stimme des Menschen wurde lauter, ich spürte schon fast seinen Atem in meinem Nacken brennen und das Messer an meiner Kehle. Doch auch das Pokémon vor mir wurde langsamer, kam abrupt zum Stillstand. Das Fleisch klatschte ihm vor die Pfoten, eine meterhohe, graue Backsteinwand türmte sich vor ihm und schließlich auch vor mir.
    „Ende ... der ... Fahnenstange.“ Schwer atmend, mit an die Brust gepresster Hand und einem Blick, der bereits scharf genug war, um uns bei lebendigem Leibe das Fell abzuziehen, kam unser Verfolger näher. Seine schweren Schritte hallten zwischen den hässlichen Backsteinfassaden wider und wurden durch das Hineintauchen von Pfützen noch weiter bestärkt.
    Ich blickte verzweifelt zu dem Pokémon an seiner Seite, hoffte auf ein Wunder, das er sich aus dem Fell schütteln konnte. Er aber imitierte Fiffyen perfekt, kauerte auf dem Boden, hielt sich beide Pfoten wimmernd vor sein Gesicht, wartete auf sein unweigerliches Ende.
    Wieder sah ich mein Leben im Zeitraffer an mir vorbeiziehen, sah die Bilder meiner Vergangenheit: Einen schüchternen Jungen auf einem Kindergeburtstag, er beobachtete von einem leeren Tisch aus die anderen Kinder, sie hatten Spaß; einsam und verlassen ging er einen hellbraunen Schotterweg entlang, in seinen Augen standen Tränen, eine Frau rief ihm beim Namen, er solle zurückkommen (9); derselbe Junge sehr viel älter, er verabschiedete sich von seinen Eltern, brach zu einer Reise auf, hoffte, endlich seinen Charakter festigen zu können oder jemanden zu treffen, der sein Schicksal teilte; er behandelte ein Pokémon mit einer roten Flasche, brachte es in ein Pokémon-Center; triefend nass saß er mit selbigem Pokémon in der Badewanne; mit trüben Augen hockte er auf einem Bett, sein vierbeiniger Begleiter legte ihm eine Pfote auf sein nacktes Knie, sagte etwas zu ihm; er kämpfte in einem Turnier und gewann gegen all seine Erwartungen, wieder war das Pokémon an seiner Seite; jetzt kniete sich der Junge vor das Pokémon, doch es war nicht er, der da sprach und das wusste ich: „Wir stehen das durch – gemeinsam.“ Und ich fühlte die Schuld, fühlte meine Schwäche, fühlte meinen Zorn, der sich auf meinen Gegenüber in Form eines gleißenden Lichtstrahls entlud. Er und ich waren verbunden. Es war wie ein Band, so wie das Band, das mich und Sheinux einst verbunden hatte, uns zu Partnern, nein, zu Freunden machte. Dieses Band hier aber, im Angesicht der stummen und bröckeligen Hausfassaden, hatte nur Schmerz für den ahnungslosen Menschen übrig, der sich lediglich um ein Schnitzel betrogen fühlte.
    Das Funkenmeer erlosch, das Messer glitt ihm aus der Hand, landete leise auf dem Boden und auch er klatschte einen Atemzug später daneben. Sein Gesicht hing halb in einer der Pfützen und sein schütterndes fettiges Haar hing ihm schlaff und ungezähmt über die Stirn.


    Leise Schritte zu meinem Rücken näherten sich mir, eine Stimme sprach mich an.
    „Wow! ... Du hast ihn erledigt, echt erledigt!“
    Es klang wie ein Bellen. Ich hatte aber kaum etwas für die Stimme übrig, die zu mir sprach und mich lobte. Mein Blick war auf das sporadisch zuckende Häufchen Elend gerichtet, welches meinem Zorn erlegen war und wie einen Baum gefällt hatte. Was hatte ich nur angerichtet? Er hatte mir doch nichts getan. Hätte ich vielleicht mit ihm reden, ihn von meinen friedfertigen Absichten überzeugen sollen? Was aber wäre die Alternative gewesen, hätte er nicht auf mich gehört? Das auf dem Boden liegende Messer blitzte mir entgegen, es war scharf wie eine Rasierklinge. Und wieder sprach mich die Stimme an, überhäufte mich mit Lobeshymnen. „Du hast mir das Leben gerettet!“
    Ich antwortete nicht. Mein Fell stand mir immer noch zu Berge, mein Schweif turmähnlich in die Höhe gerichtet, der Körper entspannte sich nur langsam von den Strapazen der Flucht und der plötzlichen Energieentladung. Ich fühlte den Strom in meinen Adern kitzeln und es fühlte sich ... gut an.
    „War doch nichts dabei ...“, löste sich endlich aus meinem Mund. Meine Stimme zitterte, klang trocken, und obwohl sie noch immer sehr fremd in meinen Ohren klang, war sie noch nie soweit davon entfernt, normal zu klingen. Ich redete es mir immer wieder ein: Er wollte mich verletzen und ich hatte mich lediglich zur Wehr gesetzt, das war alles, und je öfter ich es in meinen Gedanken durch ging, es immer und immer wieder wiederholte, desto einleuchtender klang es. Er griff mich an, ich wehrte mich.
    Endlich hatte sich mein Verstand an dem bewusstlosen Menschen satt gesehen. Ich wandte mich um, der Stimme entgegen. Ich zuckte zusammen, als mein Blick auf ein strahlend rotorangefarbenes Fell traf und sich die meinen Augen mit denen des Langfingers kreuzten – ich redete mit einem Pokémon.
    „Nichts dabei?“, hechelte er fragend. „Nichts dabei? Du hast mir meinen kümmerlichen Pelz gerettet, das war wahnsinnig mutig von dir!“
    „M-mutig? Ich?“, stammelte ich und fühlte die Schamesröte auf meinen Wangen brennen. Und wieder kam mir der Gedanke, dass ich doch tatsächlich mit einem Pokémon redete. Ein seltsames Gefühl ...
    „Wahnsinnig mutig“, bestätigte das Pokémon seine Worte und wedelte freundlich mit seinem Schwanz. „Ich meine, du kennst mich ja nicht einmal und dann riskierst du trotzdem Kopf und Kragen für mich. – Ich heiße übrigens Fukano, du?“ (10)
    „S-Stan.“
    „S-Stan oder nur Stan?“, lachte mich Fukano an.
    „Nur Stan“, antwortete ich. Der Scham brannte mir auf der Stirn.
    „Weißt du, Stan, dass wir uns nicht falsch verstehen: Normalerweise lasse ich mich ja nicht erwischen und schon gar nicht von jemandem wie dem da.“ Er machte mit seinem Kopf einen Wink in die Richtung des bewusstlosen Menschen. „Und wenn es mal wirklich so sein sollte, was übrigens eigentlich, nie, nie, nie vorkommt, dann winde ich mich für gewöhnlich irgendwie noch aus der Misere – stelle mich tot, bettle um Gnade, die übliche Mitleidsnummer, du verstehst schon.“
    „Ähh ...“
    „Aber das da, ist mir noch nie passiert. Ein Messer ... Bei dem geh ich nie wieder einkaufen. Der hat mich heute zum letzten Mal gesehen, das schwöre ich.“
    Bei Fukano klang das alles so normal, als ob er nur mal fix in den Laden gegangen wäre und sich ein Schnitzel geklaut hätte, oder einfach nur einen Schluck Wasser trank. Er hatte solch eine Unschuld in seiner Stimme, wie man sie nur von einem kleinen Kind her kannte. Alles, was er tat, schien in seinen Augen das Allernormalste dieser Welt zu sein.
    „Auf jeden Fall“, fuhr er fort – seine Stimme hatte plötzlich etwas Erhabenes -, „stehe ich tief in deiner Schuld.“
    „Du ... also, du schuldest mir nichts“, sagte ich kopfschüttelnd. Wie ich bemerkte, scherte es mich in der Zwischenzeit fast überhaupt nicht mehr, mit Fukano, einem Pokémon, zu sprechen.
    „Oh doch, und das weißt du“, korrigierte mich Fukano. „Ich halte mich da strikt an den Kodex.“
    Ich runzelte die Stirn, sah meinen Gegenüber fragend an. „Welchen Kodex?“
    „Den Ehrenkodex natürlich, das Gesetz der Straße“, lachte Fukano und entblößte dabei die kleinen Zähne in seinem Maul. „Du bist mir ja einer. Willst mir wohl weismachen, dass du noch nie etwas davon gehört hast. Nein, wie bescheiden und edel ...“
    „Ehrenkodex ...“ Mir jagte etwas durch den Kopf. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte ich dies schon einmal gehört. Doch nur wo?
    Fukano hatte sich meiner abgewandt. Hechelnd tapste er zurück zu der Backsteinmauer. Es interessierte mich in erster Linie nicht, was er tat. Ehrenkodex ... Woher kannte ich das nur? Es ließ mir keine Ruhe.


    Flatsch!
    „Dem Sieger gehört die Beute!“
    Fukano war mit seinem Schnitzel zurückgekehrt. Zwischenzeitlich, nachdem es nun bereits zweimal im Dreck gelandet war, besaß es allerdings mehr Ähnlichkeit mit einem Dreckklumpen als mit einem pfannenfertigen Stück Fleisch.
    „Willst du das wirklich noch essen?“, fragte ich angewidert. Erschrocken musste ich allerdings feststellen, dass ich für den Hauch einer Sekunde, genauer gesagt in dem Moment, als er sich das Schnitzel vor die Pfoten gelegt hatte, den Drang verspürte, mich auf den Klumpen vor mir zu stürzen, ihn mir einzuverleiben, ihn an mich zu reißen.
    „Magst du auch noch einen Happen?“, fragte Fukano.
    „Lass mal“, sagte ich besonders laut, um meinen Magen zu übertönen, der in just diesem Augenblick sich protestierend zu Wort gemeldet hatte. Dieser Duft ... so verlockend.
    „So bescheiden“, lachte Fukano kopfschüttelnd. Er schlug seine Zähne in das Schnitzel, ein gewaltiger Fetzen Fleisch landete in seinem Maul. „Sicher, dass du nichts willst?“, schmatzte er, den Mund voller Essen.
    „Ganz sicher“, bestätigte ich.
    Abermals riss er sich Fleisch von seinem Raubgut ab. Mein Magen rumorte. Es war einfach widerlich zu beobachten, wie man sich nur so den Magen verderben konnte. Mit Staub und Speichel mariniert, die Pfütze, in der es lag, war die Soße, der Dreck um es herum die Beilage ... einfach nur ekelhaft. Ich wandte mich angewidert ab, mein Magen brüllte, Fukano schmatzte. Ich ging einige Schritte, wandte mich wieder um, das Stückchen Fleisch war bereits halb vertilgt, ich roch es, konnte es schon fast auf der Zunge spüren, es schmecken. Das Wasser in meinem Mund kam einem reißenden Fluss gleich. Der Verstand war willig, das Verlangen aber stärker.
    „Mach Platz, lass mir auch was übrig, du Geizkragen!“, fauchte ich.
    Es war mehr Instinkt als alles andere, er beherrschte mein Tun und über den schwachen Geist gesiegt. Fukano wich schlagartig zurück. Nun gut, ich hatte ihn eigentlich gar keine andere Wahl gelassen, so brutal wie ich ihn zur Seite gestoßen und von seiner Beute verdrängt hatte. Ich sah den Fleischfetzen vor mir - er sah grauenhaft aus, dreckig, völlig besudelt, überall Bissspuren und doch wirkte er auf meine Augen verlockend wie eine Blume am frühen Morgen. Ich sog argwöhnisch den Duft vor mir in die Nase. Mein Gewissen redete mir dazwischen, wollte mich davon abhalten; etwas viel Stärkeres aber rief mir zu, ich solle es tun, mich den Verlockungen des Genusses hingeben. Ich schlug meine Zähne in das Fleisch hinein, kaute und schluckte, versuchte nicht mehr als unbedingt notwendig zu atmen.
    „Musstest du es so zusabbern?“, würgte ich mit vollem Mund.
    Fukano grinste mich an. „Ich finde, es verleiht einer Mahlzeit das gewisse Etwas. Sind ja nicht umsonst die drei größten Dinge dieser Welt: Freiheit, ein voller Magen und im Schlaf in seiner eigenen Sabberfütze zu schnorcheln.“
    Ich verdrehte die unter meinen Lidern geschlossenen Augen, riss erneut einen Fetzen Fleisch hinaus, kaute und schluckte. Meine Bewegungen wurden immer langsamer, das rumorende Gefühl in meinem Bauch war gestillt, die Stimme erloschen; die in meinem Kopf dagegen, welche ich so verbissen ignoriert hatte, meldete sich dagegen wieder und konfrontierte mich mit der grausigen Realität. Ich aß Müll, labte mich in einer Gosse an keimübersäten Abfällen – und es schmeckte mir sogar. Wie tief war ich doch nur gesunken ...? Wie sehr Pokémon war ich inzwischen geworden, wie viel Mensch hatte ich zurückgelassen? Wie lange noch würde es dauern, bis auch ich derartige Dinge als das Alltägliche ansah, ebenso wie es Fukano bereits tat? Es war nicht auszudenken ... Und doch kaute ich weiter, ignorierte die Stimme in meinem Kopf. Speichel rann mir den Kiefer hinunter, meine Zunge fuhr sich über die Lefzen und pulte stecken gebliebenes Essen aus den Zahnlücken.


    „Gehe ich richtig in der Annahme, dass du neu in der Stadt bist?“, fragte Fukano.
    „Ja“, sagte ich kurz angebunden, den Mund voller Essen. Zwischenzeitlich hatte ich die Augen wieder geöffnet, gab es schließlich keinen Grund mehr dazu, sie verschlossen zu halten. Längst hatte ich mich mit der bitteren Realität abgefunden.
    „Und – und hast du vor, sie allzu schnell zu verlassen?“ Erstmalig hatte Fukano das Forsche in seiner Stimme verloren, seine ungeschorene Art irgendwie abgelegt. Er klang fremd, als ob er nicht mehr er selbst war, sich vor etwas fürchtete.
    „Weiß nicht ...“, schmatzte ich und zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Warum fragst du?“
    Fukano gewann schnell wieder das gewohnte fröhliche Bellen in seine Stimme zurück. „Ah, da bin ich aber beruhigt“, sagte er. „Das darfst du jetzt nicht in den falschen Hals bekommen, aber mir liegt sehr viel an dieser Stadt hier.“
    Verwirrt drehte ich mich zu Fukano um. Das Schnitzel hatte sich inzwischen gänzlich aufgelöst. Insgeheim war ich aber doch froh, dass ich noch soviel Züchtigung besaß, dass mein Instinkt mich dazu aufrief, den Boden nach den Resten abzusuchen, ihn gar abzuschlecken. Schon der Gedanke daran schüttelte mich. „Was willst du damit sagen?“
    „Du weißt schon“, antwortete Fukano.
    „Was weiß ich?“, erwiderte ich mit langsam steigender Ungeduld in meiner Stimme, was wohl auch Fukano bemerkte.
    „Das Gesetz der Straße natürlich“, antwortete er schnell. „Es geht um den Ehrenkodex.“
    Ehrenkodex ... Wieder dieses Wort, wieder dieses abnorme Gefühl, ich hätte es bereits schon einmal gehört.
    „Klär mich auf“, sagte ich kurz angebunden, versuchte dabei allerdings, das Interesse in meiner Stimme so gering und lautlos wie nur irgendwie möglich zu halten.
    „Du scheinst wirklich von weit her zu kommen, dass du nichts über den Ehrenkodex weißt ...“ Fukano hatte sein Gesicht in Falten gelegt. Das Nachdenkliche passte überhaupt nicht in seine Züge, vielleicht aber auch nur, weil er eine solche Seite nur selten zeigte. „Also, um es kurz zu halten: Du hast mir das Leben gerettet und ich stehe nun in deiner Schuld; eine Lebensschuld sozusagen.“
    „Lebensschuld ...“, wiederholte ich leise. „Was bedeutet das?“
    „Das bedeutet, dass ich dir nicht mehr von der Seite weichen werde, bis ich mich bei dir revanchieren kann.“
    Ich zuckte die Schultern. „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Ich hatte schlagartig das Interesse verloren. Ehrenkodex? Lebensschuld? Musste sich um einen Irrtum handeln ... Ich erinnerte mich nicht daran, jemals beobachtet zu haben, wie einem das Leben gerettet wurde, geschweige denn, dass ich derjenige war, der jemandes Haut rettete. Wo auch immer ich es einst aufgeschnappt hatte – es musste in einem anderen Zusammenhang stehen. „Und jetzt?“, fragte ich.
    „Jetzt“, sagte Fukano, „gehen wir zum Boss, würde ich sagen.“
    „Boss?“, fragte ich argwöhnisch.
    „Jepp!“, antwortete Fukano.
    „Wer soll das sein, muss ich den kennen?“, hakte ich nach.
    „Alles zu seiner Zeit“, lachte Fukano, „du wirst ihn noch früh genug kennen lernen. Machen wir aber erst einmal, dass wir hier verschwinden.“ Er machte eine Geste zu dem leblosen Mann herüber, dem inzwischen der Schaum aus dem Mund quoll. „Ich möchte gerne weit weg sein, wenn ,Fetti, Fetti, Fett hoch zehn - kann nicht ohne Kran aufstehen’ (11) aufwacht, du verstehst?“

  • Moiiin Eagle


    Du bist ja sehr fleissig mit den neuen Kapiteln :) Dein Schreibtempo finde ich sehr beeindruckend ^-^


    Aber nun zum Eigentlichen:
    Stan


    Der Liebe wird ja hier ganz schön in die Mangel genommen. Erst die Entführung in Lukas Zimmer, dann die Flucht vor dem Messer-Typen und dann auch noch die Bekanntschaft mit dem süssen Feuerpokémon Fukano. Du lässt ihm wirklich keine Verschnaufpause ^-^ Stan wird in diesen Parts ganz neu "definiert" (oder besser gesagt sein Charakter...) Er hat schon einen Teil seiner Schüchternheit durch Instinkt und Überlebenswillen ersetzt so wie ich das beurteilen kann. Doch die Scene mit Fukano ging mir beinahe etwas zu schnell. Es erscheint logisch, dass er von Hunger geplagt, alle Schüchternheit über Bord wirft, doch hätte ich es super gefunden, wenn er danach nochmal in seine "alten" Gefühls-Muster zurückgefallen wäre. Aber du wolltest die Geschichte wahrscheinlich voranbringen. Ausserdem finde ich Stan so süss mit seiner Schüchternheit, ich sträube mich noch etwas dagegen, dass er diese in den Griff bekommt ;)
    Aber keine Angst, ich bleibe auch einem starken und selbstbewussten Stan treu, und bis dahin ist ja noch ein langer Weg ^-^:)


    Nun bin ich gespannt wer denn dieser Boss ist, und was denn jetzt eig. mit Deoxis ist.


    In diesem Sinne, ein gutes Gelingen
    *Quack*

  • Solala, komm ich auch wieder mit einem Kommi daher : D
    Muss ehrlich sagen, als ich diese zwei riesigen Parts gesehen habe (jedenfalls scrollt man ein Weilchen auf dem Bildschirm meines Laptops) zweifelte ich daran, dass ich da schnell mit dem Lesen voran komme. Tja, hab mich geirrt, hab mich so richtig durch das Kapitel „gefressen“, so mitreisend hab ich es empfunden^^


    Nun gut, werde wieder alle noch nicht kommentierte Part hier zusammenfassen:
    Fehler hab ich so keine gefunden, also entweder hast du die Parts fleißig kontrolliert, deine Rechtschreibfähigkeiten (schnell) nochmals verbessert oder ich war einfach unfähig, einen Fehler zu finden XD
    So bleibt mir nur der Inhalt:


    Fang ich mal mit dem Part „Reue“ an. Wie ich ja schon letztes Mal erwähnt hab, kommt Reue meist zu spät und macht einen ziemlich fertig. Da ist Sheinux keine Ausnahme. Sheinux depressionsartiger Zustand kommt sehr glaubhaft herüber und ich selbst fühlte Mitleid mit ihm, auch wenn er selbst Schuld an dem Desaster hatte. Naja, aber kann man ihm irgendwie schwere vorwerfen. Colins nimmt auch wie gewohnt seine Rolle als Freund, Ratgeber und… nun ja, irgendetwas wie ein Gewissen, ein.
    Bei der anschließenden Diskussion, ob Menschen die Pokemon ungerecht behandelten, hab ich mich gefragt, ob Sheinux so leicht innerlich zugestimmt hätte, bevor er zu einem Mensch geworden war. Mich hätte er ehrlichgesagt nicht wirklich umstimmen können, dafür ist das „Entführen, von Familie weg gerissen und Kampfzwang“-Argument einfach zu stark : P
    Das Beispiel mit dem Jungen im Rollstuhl fand ich aber sehr berührend. War zudem auch interessant, dass Sheinux einmal wieder seinen Ex-Trainer erwähnt, der ja das negative Beispiel eines Trainers repräsentiert (und den ich schon in eine Schublade, irgendwo ganz hinten in meinem Gedächtnis, gesteckt hatte)


    Weiter geht’s mit dem von dir schon angekündigten Perspektivwechseln zu unserer zweiten Hauptperson Stan. Interessant, obwohl er eigentlich schon seit Anfang dabei ist… man hat trotz allem nicht sonderlich viel über ihm gewusst. Gut, man hat sofort gesehen dass er schüchtern und zurückhaltend ist, aber sonst? Deswegen find ich, dass es eine gute Entscheidung war, so mal die Perspektive zu wechseln, besonders weil er noch im Körper eines Pokemon steckt.
    Selbstmitleid, Depression und auch Reue, eigentlich ein ähnliches Bild wie bei Sheinux. Sheinux Worte haben ihm wohl hart getroffen, besonders weil er sie noch dazu als wahr betrachtet. Und dann wird er aus heiterem Himmel überfahren und tada: Schon findet er sich im Zimmer eines Kindes wieder. Das mit den Augen hast du jedenfalls gut eingefädelt, denn anfangs war ich auch sehr verwirrt, wieso ihm irgendwelche Leute anstarrten, bis es aufgeklärt wurde, dass es nur Plüschtiere sind. Das dann folgende Scenario hat mich leicht (wirklich nur leicht) an Toy Story erinnert. Einen neuen Spitznamen verpasst und zu einem Spielzielzeug degradiert, klasse für den armen Stan. Hatte großes Mitleid mit ihm, auch wenn ich mich irgendwie gleichzeitig köstlich über die Scene unterhalten hab, besonders wie sie durch den Raum jagen, Heiaheia spielen oder Stand sich vorstellt, dass er, wenn er sich tot stellte, die Toilette runter gespült wird. Einfach genial XD
    Beim anschließenden Ausbruch war ziemlich spannend gestaltet, ich hab mich in Windeseilen durchgefressen, nur um zu erfahren ob er es schaffen würde oder nicht. Als dann Lukas Vater auftauchte, hatte ich eher befürchtet, dass Stan wieder mit seinem Sohn spielen durfte aber das war dann wohl nicht der Fall. Verstand er etwa Stan mehr als es Lukas tat oder konnte er sich einfach so davor drücken, mit seiner Frau über das Thema zu sprechen? Naja, von der Flucht kommen wir dann auch gleich zu der nächsten Flucht, auch wenn nun etwas turbulenter. Lange vor Selbstmitleid zerrinnen konnte er ja nicht, nicht mit einem Metzger/Koch auf dem Hals, ganz gleich er eigentlich nichts getan hatte.


    Als die ganzen Schreie und klirrenden Kochtöpfe aus dem Laden erklangen, hab ich irgendwie instinktiv an ein Fukano gedacht, noch bevor die Beschreibung des Pokemons gekommen ist. Woran das wohl liegen wird XD Hab mich aber innerlich sehr darüber gefreut, in Pflicht und Ehre auch mal ein Fukano anzutreffen^^
    Auch diesen Abschnitt hab ich mit rasender Geschwindigkeit gelesen, einfach nur wegen dem tollen aufkommenden Verfolgungsjagt-Feeling. Herrliche Beschreibung, von den auf fliegenden Aktenkoffern und den flüchtenden Menschen bis zu dem Horror jedes Verfolgten: Eine Sackgasse. Wie man wirklich auch immer in so ein totes Ende geraten kann…
    Fukano zeigt ja ganz tolle Überlebensfähigkeiten… Sheinux hätte wohl etwas irritiert auf dieses Verhalten reagiert XD


    Tja und ganz unerwartet wir der kleine fetti, Fetti, Fett hoch zehn - kann nicht ohne Kran aufstehen’ von Stan, ohne dass es dieser richtig merkt, mit einem Blitz bewusstlos geschlagen. Wie passend das zu dem Zeitpunkt in meinem Musikplayer das Lied „Shock of the Lightning“ abgespielt wurde XD
    Egal und dann kommt tatsächlich Fukano mit dem Ehrenkodex, dem Gesetz der Straße auf und erklärt Stan, dass er in seiner Schuldstunde. Lustig, obwohl er Stan immer so schüttert und unsicher ist, hat er zwei Pokemon das Leben gerettet, die sich an diesen Kodex halten… hab ich schon erwähnt das mir das Fukano sympathisch ist : P


    Sehr appetitlich geht es auch dann beim aufteilen der „Beute“ zu. Wie „appetitlich“ du das Stück Fleich auch beschrieben hast, einfach nur genial! Das ganze erinnerte mich leicht an meine Protagonistin… du weißt was damit gemeint ist^^ Der Hunger und Instinkt ist am Ende stärker als die eigene Willenskraft. Und nun geht es zum „Boss“? Wer das wohl ist… und vor allem, wie wird es dann mit dem guten Stan weiter gehen? Ich kann wieder nichts anderes sagen als: Ich bin schon sehr gespannt^^


    Nun das war’s mal von meiner Seite. Diesmal kann ich auch nicht wirklich etwas negativ bewerten (wie etwa, dass etwas zu kurz geraten war… ich fand die Fleischszene eigentlich passend lang) hoffe das dir das als Kommi reicht^^


    Also dann, auf wieder lesen,
    Toby

  • Part 4: Baker Street
    (12)


    Zwei Pokémon schlenderten die Fußgängerzone von Malvenfroh City entlang, eine Stadt, deren Leben bei Nacht nur ein kläglicher Abklatsch zu dem am Tage war. Doch eines von beiden Pokémon war verlogen, trog mit seinem äußeren Erscheinungsbild die desinteressierten Blicke all jener, denen sie begegneten. Gestatten? Ich, Stan.
    Der bislang wohl längste Tag meines Lebens neigte sich unweigerlich seinem baldigen Ende zu. Was war geschehen, was hatte ich erlebt? Meine Freundschaft mit Sheinux war an einigen Worten zerrüttet und lag wie das Glas, mit dem er mich beworfen hatte, in Trümmern; gezwungenermaßen hatte ich ihm den Rücken zugekehrt und dabei unwollend das ganze Krankenhaus auf den Kopf gestellt; die Flucht trieb mich in eine abgelegene Straße, wo man mich gewaltsam aus meiner Verzweiflung riss – ein Verkehrsunfall mit mir in der Hauptrolle; im Anschluss hatte ich für die kindliche Unschuld eines Erstklässlers herhalten müssen, war ihm für ein paar Stunden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen, bis ich auch diesen wie meinen einstigen Körper abgelegt und zurückgelassen hatte; vor einem metztgermesserschwingenden Irren hatte ich Reißaus genommen und mich ihm sogar in einer dunklen Nebengasse entgegengestellt; freundete mich mit Fukano, einem auf der Straße groß gewordenen Stromer an, der von mir glaubte, ich hätte ich das Leben gerettet und er stünde in meiner Schuld; dann noch eine Erfahrung, auf die ich auch gut hätte verzichten können ... Die Erfahrung, wie leicht man sich in der Not doch an den abartigsten Dingen, wie beispielsweise weggeworfenes Fleisch, erfreuen konnte. Wie viel Pokémon steckte bereits dort, wo eigentlich ein menschlicher Verstand wohnte? Wie viel nur ...?


    In den Schaufenstern der kleinen Ramschläden gingen langsam aber sicher die verlockenden Lichter aus, augenkrebsprovozierende Neonlampen nahmen ihre Plätze ein; wo noch vor Stunden die Kinder fröhlich lachend oder auch an dem Rockzipfel der Eltern hängend und quengelnd durch die Straße zogen, gaffend vor den Scheiben die Nase plattdrückten und sich an den unerschwinglichen Spielwaren erfreuten, trat nun zwielichtiges Gesindel an deren Stelle, boten ihren Körper für einige wenige Scheinchen feil, missbrauchten diesen mit Rauschmitteln oder setzten ihn einer Überdosis Alkohol aus; rastlose Fahrzeuge scheuchten mit ihren grellen Scheinwerfern herumlungerndes Nachtvolk auf und trieben es in finstere Gassen, Bars, Clubs, Diskotheken oder ähnliche Spelunken hinein – und ich im Mittelpunkt, im Zentrum des Nachtlebens.
    Lastete zu Tage noch die argwöhnischen, feindseligen und auch anklagenden Blicke der Stadtbevölkerung auf mir, scherte sich die Stadt bei Nacht dagegen einen feuchten Dreck darum, wer durch die Straßen zog. War man nun schwarz oder weiß, hochgewachsen oder mickriger Statur, stammte man aus ärmlichen Verhältnissen ab oder war ein stadtbekannter Emporkömmling, selbst die Spezies war irrelevant: Mensch oder Pokémon – in den Augen des Nachtlebens waren sie alle gleich, eines von unzähligen Sandkörnern am Strand; und so fühlte ich mich auch – ein unbedeutendes Etwas umgeben von einer Vielzahl von Lebewesen, die nicht anders als ich selbst war. Ich war frei, die Nacht hieß mich mit all ihren Facetten willkommen.


    Fukano führte mich an all diesen Dingen vorbei, stur den fast ausgestorbenen Einkaufs-Boulevard entlang. Er selbst war bereits eins mit dem Leben in der Stadt. Blind zog er an besagten Dingen vorbei, würdigte sie keines Blickes mehr; mit eben derselben Ignoranz, wie auch die herumlungernden Menschen ihn und mir begegneten.
    Wir verließen die 14. Avenue ebenso wie wir auch die Marples Road hinter uns ließen, auch von dem Cambell Way konnte seine Rastlosigkeit nicht befriedigt werden. Am Redhill Boulevard hielt er kurz inne - ich dachte schon, unsere Reise endete hier, doch schlug er schnell wieder in eine weitere Straße ein. Wohin führte er mich, woran orientierte er sich überhaupt? Alles um mich herum sah in dem fahlen Licht der Straßenlaternen fast gleich aus, wirkte identisch auf meinen ungeschulten Verstand. Wieso folgte ich ihm überhaupt? Was hinderte mich daran, ihn einfach so zurückzulassen, wie ich auch bereits meine Vergangenheit zurückgelassen hatte, mein Leben und einstige Existenz als menschliches Wesen? Wie so viele Dinge in meinem bisherigen Sein, konnte ich mir diese Frage nicht beantworten; spekulieren, das konnte ich. War es der Anhang, den ich schon immer suchte, wurde ich von Neugierde getrieben, oder sah ich einfach keinen anderen Sinn mehr, etwas anderes mit dem Rest meines Lebens anzustellen?


    „Wir sind da!“
    Fukano hatte während unseres Marsches kaum gesprochen, was es nicht sonderlich schwer machte, mich mit einigen wenigen, aber schlagkräftigen Worten aus den Gedanken zu reißen. Wie schon so viele Straßen zuvor, schien auch diese ewig so weiter zu gehen – schnurgeradeaus ins Unendliche zu führen. Wir aber befanden uns plötzlich an einer Mündung, die die Straße in eine der vielen dunklen Nebengasse spaltete, wie ich es auch schon kannte. Sie wirkte auf den ersten Blick ähnlich dem Ort, an dem mich Lukas noch am selben Tag angefahren hatte, doch hatte es solche Gossen in der Stadt wie die Bäume im Frühling Blätter trugen und sie wirkten alle gleich.
    „Baker Street“, las ich auf einem verwitterten Schild leise.
    Fukano drehte fragend den Blick zu mir. „Sag bloß, du kannst das lesen?“, fragte er verwundert.
    „Öh, ja ... Ist doch nichts dabei. - Du nicht?“
    „Du machst wohl Witze! Ich habe noch nie gehört, dass ein Pokémon menschliche Schriftzeichen entziffern, geschweige denn lesen kann“, sagte Fukano beeindruckt. „Wo hast du das gelernt?“
    Erneut spürte ich die Schamesröte in meinem Gesicht brennen und war erleichtert, dass die Finsternis die Konturen meines Gesichts in schützende Schatten hüllte.
    „I-ist doch egal ...“, winkte ich ab, wollte das Gespräch schnellstmöglich beenden. „Gehen wir.“ In meinen Gedanken lachte ich – und zwar über mich selbst. Wieder dieses Zittern in der Stimme, wieder diese Furcht vor der Fremde, dem Unbekannten, das düster vor mir lag, seine Geheimnisse im schützenden Mantel der Dunkelheit verbarg. Das sah mir ähnlich, sehr sogar. Doch wie konnte man sich nicht davor fürchten, eine völlig fremde Straße zu betreten, nicht zu wissen, was einen dort erwartete? Jeder – so redete ich mir ein – hätte in dieser Situation wohl ebenso reagiert. Jeder ... Auch Sheinux? Die Gedanken an ihn bereiteten mir erneuten Kummer. Was er wohl tat, ob er mich vermisste, ob er mir jemals verzeihen konnte ...?
    „Kommst du?“, rief mich mein Begleiter zu sich.
    Deprimiert schob ich meine Gedanken beiseite. Fukano hatte bereits einen gewaltigen Vorsprung, das rotorangene seines Fells war kaum noch mit bloßem Auge zu erkennen. „W-warte!“


    Ich hielt mich stets an meinen erfahrenen Führer. Mittlerweile hatten wir eine jegliche Lichtquelle hinter uns gelassen, die blinkenden Sterne am Himmel von den beiden gewaltigen Gebäudekomplexen, zwischen denen wir uns fortbewegten, verschluckt, sodass man die eigene Hand ... Pfote vor Augen nicht mehr sah. Die feinen Sinne, die dieser Leihkörper für mich bereithielt, waren bis zum absoluten Anschlag geschärft. Ich vernahm das leise Schlurfen unserer Beine so deutlich, als ob wir mit dem zehnfachen unseres Gewichtes über einen Schotterweg trampelten; die metallisch ächzenden Abflussrohre, die tief unter uns in der Kanalisation verliefen; auch den heißen Atem meines Begleiters; nicht zu vergessen, das wild pochende Ding hinter meinem Brustkorb, dessen jeder Schlag dem einer Pauke gleich kam; jeder noch so feine Luftstrom, der mir durch das Fell sog, kam mir wie eine stürmische Böe vor; ich konnte den gammeligen Käse in den uns wohl nächstgelegenen Müllcontainern riechen, als ob ihn mir jemand direkt unter die Nase hielt, ihn fast sogar auf meiner Zunge schmecken.
    Etwas blitzte plötzlich aus der Dunkelheit vor uns auf, ein Pärchen scharlachrote Augen funkelten uns entgegen. Erschrocken zuckte ich zusammen und tastete mich unmittelbar an Fukano heran, den Schwanz bereits in alarmierenden Höhen empor gestellt und jeden Muskel vor Furcht gespannt.
    „Hallo, Nidoran“, sagte die unsichtbare Stimme zu meiner Rechten, die Fukano gehörte. „Ich bin’s.“
    „Fukano!“, kam es aus der Richtung der Augen. Sie blinzelten, sahen in meine Richtung. Die Stimme war piepsend, schnell und sehr hoch, wirkte weiblich. „Wir warten schon. Und ist er das – Stan?“
    Abermals zuckte ich zusammen, war wie erstarrt, diesmal aber nicht, weil man mich brutal aus den Gedanken gerissen hatte, sondern, da man mich offenbar bereits zu kennen schien.
    „Jepp! Das ist er“, antwortete Fukano.
    Die Augen wandten sich von mir ab und entfernten sich mit leisen Schritten von uns. Fukano machte bereits Anstalten, Nidoran zu folgen, als ich mich aber an ihn wendete.
    „Wieso ... wieso kennt man hier bereits meinen Namen?“, fragte ich verunsichert. „Ich war doch hier noch nie.“
    „Normal“, sagte Fukano. Er musste grinsen, denn ich sah durch die Dunkelheit eine Reihe Zähne zu mir rüberblitzen. „So ist das nun mal. Solche Nachrichten machen schnell ihre Runde. Folglich weiß bereits die ganze Stadt über dich und deine Heldentaten Bescheid, rühmen dich und sprechen über nichts anderes.
    „Um Himmels Willen!“ Mein Gesicht kochte, loderte, stand in Flammen. Meine Verlegenheit erreichte noch nie zuvor da gewesene Höhen – zumindest seit meiner Verwandlung in ein Pokémon. Man redete ... über mich? Sprach in höchsten Tönen ... von mir? Weswegen? Ich meine, ich hatte doch nichts getan ... Fukano gerettet, okay ... Was aber war da schon dabei? Sicherlich hätte er dies auch selbst bewerkstelligen können, wenn er gewollt hätte, und sicherlich geschahen solche Dinge auf der Straße tagein tagaus. Ich hatte solche Lobeshymnen nicht verdient ...
    „Stimmt etwas nicht?“, wollte Fukano wissen.
    Ich antwortete ihm nicht. Ich hatte schon vor meiner Ankunft in die Baker Street arge Bedenken darin, mich Fukanos Boss, wie er ihn nannte, vorzustellen. Jetzt aber, wo man mich damit konfrontierte, dass bereits irgendwelche hirnrissige Geschichten im Umlauf waren, irrsinnige Märchenerzählungen von Heldentaten zusammensponn, die ganz und gar nicht auf mich zutrafen, ich mich mit falschen Lorbeeren schmücken würde, wollte ich diesen Ort schleunigst den Rücken zukehren.
    Ich hatte mich bereits umgedreht, Fukano und dem, was vor mir in der Dunkelheit auf mich lauerte, abgewandt. Panisch musste ich aber feststellen, dass plötzlich hinter mir weitere Augenpaare uns entgegenfunkelten, sie sogar leise miteinander flüsterten und immer wieder meinen Namen erwähnten. Der Fluchtweg war abgeschnitten, ich konnte nur noch voranschreiten. Ich würgte den Klos im meinem Hals herunter.
    „Alles klar bei dir?“, wollte Fukano wissen.
    „A-alles ... klar“, stammelte ich.
    „Gut, dann mal weiter!“


    Der Vorhang der Nacht lichtete sich mit jedem unserer Schritte in die Fremde (in meinem Fall sehr zittriger Schritte). Wir schienen uns einer Lichtquelle zu nähern, erste Schemen wurden leicht erkennbar und auch die Farbe von Fukanos Fell nahm langsam aber sicher wieder die gewohnte Intensität an. Begleitet wurden wir stets von den Stimmen zu meinem Rücken. Obwohl sie freundlich gesinnt und ihr Klang von angenehmer Natur war, breitete sich das Unbehagen weiter in mir aus, wie ein Gift, das sich seinen Weg durch die Blutbahn in jeden Winkel seines Wirtes suchte. Wir bogen um eine Ecke. Rauch, der Geruch von Glut und verbranntem Holz drang mir in die Nase, ein wärmendes Feuer flackerte inmitten der engen Gasse und im Angesicht zweier Hausfassaden. Meine Augen, die sich immer mehr an das spärliche Licht gewöhnten, vernahmen Pokémon, die sich an der Behaglichkeit und dem Schein des flackernden Feuers erfreuten. Sie alle sahen uns, den Neuankömmlingen entgegen. Ich fühlte neues Unbehagen in mir aufkeimen. Immer wieder die gleichen Fragen, die mich innerlich löcherten: Würden sie mich akzeptieren, mich als einer der Ihren anerkennen?
    Wie viele von ihnen waren es überhaupt? Ich zählte auf den ersten Blick fünf. Sie gehörten alle einer anderen Art an, keines glich dem anderen, doch waren sie alle recht klein und – wenn überhaupt – nicht sonderlich größer als ich es war. Klein, flink und allesamt mit scharfen Sinnen gerüstet – perfekt für das Leben als Vagabund in der Gosse gerüstet. Ein Pokémon aber sonderte sich außerordentlich von dem Rest ab und eben dieses näherte sich uns mit den schnellen Schritten seiner vier Beine.
    Das muss der Boss sein, schoss es mir sofort durch den Kopf.
    Sein roter Pelz erreichte fast die gleiche Intensität als das flackernde Feuer, dass ich mich schon beinahe verwunderte, dass er nicht durch dieses einfach hindurch schwebte, Fukanos Schweif wirkte im Vergleich zu dem buschigen seines Chefs regelrecht mitleidserregend, auch seine blassgelbe Mähne war viel prächtiger, als die seines Untergebenen, symbolisierte auf den ersten Blick bereits etwas Erhabenes und Stattliches. Der Herrscher der Baker Street hatte uns fast erreicht. Fast gegenüberstehend war er nahezu einen ganzen Kopf größer, als ich es war. Jetzt erst öffnete er seinen Mund, richtete sich zu Fukano.
    „Fukano! Hab’ es eben gehört. Ich hatte mich schon darauf gefreut, endlich deinen räudigen Pelz zu verschachern.“
    Alle lachten, selbst Fukano, am lautesten aber sein Boss. Von den grauen Blockwänden und den verbeulten, metallischen Abfallbehältern hallte das gewaltige Harr! Harr! Seiner rauen Stimme wider und ließ mir die Haare steil zu Berge stehen.
    „Hallo, Flamara!“, grüßte Fukano seinen Boss grinsend. (13)
    „Hast dir einmal wieder den Kopf aus der Schlinge gezogen – gut gemacht!“, lobte Flamara Fukano.
    „Man tut, was man kann, danke!“, zwinkerte Fukano.
    „Und das hier“, selbst meine Ohren liefen rot an, als sich Flamara nun direkt an mich wandte, „muss Stan sein. Hatte mir dich größer vorgestellt. Harr! Harr!
    Alles um mich herum brach in tosendes Gelächter aus, nur ich nicht. Sollte ich lachen? Ich wusste es nicht ... Abermals verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, so schnell wie möglich das Weite zu suchen.
    „Hast diesem räudigen Köter seinen flohversuchten Pelz gerettet. Guter Junge, guter Junge!“, lobte mich Flamara schließlich und gab mir mit seiner rechten Vorderpfote einen solch kräftigen anerkennenden Klaps auf die Schulter, dass ich zentimetertief zusammenzuckte, mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde und in leises Röcheln ausbrach.
    „Wo-woher wisst ihr davon?“, keuchte ich. „Wir waren doch alleine?“
    „Wir haben überall unsere Augen, auch in der Luft“, lachte Flamara. „Fukano kann man keine Sekunde unbeaufsichtigt lassen, ohne dass er in ein Fettnäpfchen tritt.“
    Fukano stupste mich auf meinen fragenden Blick hin leicht an und machte einen Wink in die Richtung des flackernden Feuers, wo sich ein Tauboga-Weibchen gerade wichtigtuerisch aufplusterte und anerkennende Blicke von ihren Mitpokémon erntete.
    „Auf jeden Fall“, fuhr Flamara fort“, feiern wir die Verlegung von Fukanos Begräbnis (Har! Har!) und unseren neuen Freund: Stan!“
    „Hört, hört!“, jubelten alle
    Auf diesen anerkennenden und kräftigen Pfoten-Patscher von Flamara hin, klappten mir meine Beine ein und sackte keuchend auf den Boden.


    Es war nicht gerade so, als ob es kalt gewesen wäre, doch an dem prasselnden und warmen Feuer fühlte ich mich wesentlich wohler. Das Knistern und Knacken veranlasste mich sogar dazu, endlich mal richtig zu entspannen, mich lang zu strecken, die Dinge einfach so hinzunehmen, wie sie waren. Dass mich völlig fremde Gesichter umzingelten, die allesamt einer anderen Spezies als ich selbst angehörten; dass ich statt auf einem Stuhl, einer Bank oder sonst Etwas auf dem nackten Boden saß; der Geschmack von verdreckten Fleisch noch immer beißend auf der Zunge lag; ich mich sogar einige Male dabei erhaschte, wie eine meiner Hinterpfoten kribbelte und rege Anstalten machte, eines meiner Ohren zu kratzen - ich gewährte ihr dieses Verlangen ... es fühlte sich gut an.
    Das Flackern des provisorisch aus allen Dingen, die die Straße bereithielt, zusammengeschusterten Feuers - Sperrholz, Plastik, alte Konserven, jede Menge abgelutschte Eisstiele, Karton und sonstigen Abfall – erhellte flüchtig die Antlitze der mich umgebenen Pokémon. Einige unterhielten sich leise, andere, wie ich, lauschten einfach nur den Klängen des sich zu Asche verwandelnden Unrats vor uns und ließen den Tag lediglich an sich vorbeiziehen. Sämtliche Blicke allerdings, und wem auch immer sie angehören mochten, huschten immer wieder neugierig zu mir. Sie waren ganz anders, als jene, die mich über den Tag hinaus verfolgt hatten, waren nicht anklagend und auch nicht feindselig gestimmt. Dennoch mochte ich das nicht. Allerdings war mir klar, dass ich sicherlich noch Gesprächsthema des heutigen Abends sein würde – früher oder später.
    „Und Stan“, begann Flamara langsam, der sich zu meiner Rechten befand – Fukano saß links von mir, „wie geht es dir denn so?“
    Wie schon sooft, wenn ich angesprochen wurde, zuckte ich beim Klang meines Namens etwas zusammen. Das Knacken des Feuers linderte allerdings die Furcht, vor der Menge zu sprechen – zumindest etwas.
    „G-gut, denke ich. Meine Schultern schmerzen nur etwas ...“, antwortete ich wahrheitsgemäß. (14)
    Die mich umgebenen Gesichter grinsten, einige kicherten sogar leise.
    „Das geht allen so, die unseren Chef kennen zu lernen“, lachte Fukano.
    Flamara sah an mir vorbei und direkt zu Fukano, der Schein des Feuers erhellte flüchtig sein Gesicht, sein Blick war unleserlich, doch Fukano reagierte sofort. „Eine Ehre natürlich, eine Ehre!“, fügte Fukano rasch hinzu. Flamara kräuselte sein Gesicht wieder zu seiner gewohnten Zufriedenheit.
    „Also, Stan: Wie kommt es eigentlich, dass du diesem alten Herumtreiber“, er machte einen Wink in Fukanos Richtung, „beigestanden hast? Ein Akt der Nächstenliebe oder wolltest du einfach nur ein Stück vom Kuchen abhaben?“ Flamara lachte, die anderen stimmten mit ein.
    „Äh ...“, grübelte ich und suchte fieberhaft die richtigen Worte. Ja, warum? Warum eigentlich hatte ich ihm geholfen? Ich konnte es mir ja nicht einmal selbst erklären. Im Grunde wollte ich ja nur meine eigene Haut ... Pelz retten. Fukano war nur unglücklicherweise zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen. „H-hat sich einfach so ergeben“, schulterzuckte ich wahrheitsgemäß. „Aber ich denke, jeder hätte so gehandelt, wäre er in meiner Situation gewesen.“ Mein Augen, die die ganze Zeit über im Feuer verharrt hatten, wanderte ganz schnell über die Gesichter meiner Mit-Pokémon. Viele nickten. Wieder starrte ich ins Feuer, suchte dort die Einsamkeit.
    „Wohl gesprochen“, sagte Flamara. „Bist ein anständiger Kerl und mutig obendrein!“
    Wieder dieses Wort, mutig. Es im Zusammenhang mit mir zu hören, war völlig ungewohnt. Irgendwie ... ja, irgendwie hatte Flamara ja schon Recht. Es war schon irgendwie mutig ...
    „Du hättest aber auch zu Schaden kommen können und ich wette, Fukano hätte dir nicht geholfen“, fauchte ein Pokémon, dessen Namen ich nicht kannte und am weitesten von mir saß, böse in Fukanos Richtung.
    Fukano hatte schon empört den Mund geöffnet, als ich mich wieder zu Wort meldete. „Das glaube ich nicht. Fukano hätte mir sicherlich beigestanden. Sein Leben hat schließlich auch auf Messers Schneide gestanden und er ...“ (15)
    Um mich herum brachen einige Pokémon in Gelächter aus, Flamara wie gewohnt am lautesten.
    Mein eben neu geschöpfter Mut verflüchtigte sich so schnell wie er gekommen war wieder. Lachten sie mich aus? Aber warum? „W-was? Was habe ich gesagt?“, stammelte ich verlegen und verspürte eine neue Welle der Scham in mir aufsteigen.
    „Auf Messers Schneide ...“, gluckste Flamara. „Gut gesprochen! Hast Sinn für Humor und bleibst immer gelassen, gell?“
    „E-eigentlich nicht so viel“, nuschelte ich leise. „Ich meine, ich stand schon den ganzen Tag unter Strom – da war dieser Junge, der ...“
    Ein Fremder, der unwissend an uns vorbeigezogen wäre, hätte meinen können, eine Explosion wäre um ihn herum ausgebrochen. Alle Anwesenden, selbst das Pokémon, welches Fukano seinen bissigen Seitenhieb verpasst hatte, kringelten sich vor Lachen. Ich verstand die Welt nicht mehr, hatte ich mir doch nichts zu Schulden kommen lassen. Warum lachte man mich schon wieder aus ...? Von der Hitze auf meinem Gesicht hätte das Feuer eigentlich vor Neid erblassen und erkalten müssen.
    Unter Strom!“, keuchte Flamara und rang nach Luft. „Unter Strom!“, wiederholte er, konnte sich gar nicht mehr einkriegen.
    Das ging noch eine ganze Weile so. Hätten Blicke Furchen in die Luft ziehen können – das Feuer wäre unter dem meinen wohl entzwei gespaltet. Ich setzte mir das Ziel, so wenig wie nur irgendwie möglich zu reden – bestenfalls sogar zu schweigen -, bevor ich mir weitere Peinlichkeiten gab.
    „Du hast uns noch gar nicht gesagt, wo du eigentlich her kommst.“ Fukano war der erste, der endlich wieder Worte fand. Auch das andere Gelächter erstarb ganz langsam mit den seinen Worten. Flamara dagegen hickste noch einige Male leise auf.
    Es war eine sehr schwierige Frage und doch hielt ich an meiner Absicht fest: Bloß nicht zuviel sagen. Überhaupt wollte ich über meine Vergangenheit so wenig wie nur irgendwie möglich sprechen ... „Ursprünglich aus einem Mietshaus“, antwortete ich knapp.
    Ich glaubte, meine Ohren müssten explodieren. Lauter, noch viel lauter als beide Male zuvor, ja, sogar beide Male zusammen, stimmten die kläffenden, maunzenden, gurrenden, zischenden und piepsenden Stimmen in ein Meer von Gelächter ein. Es war zum Verrücktwerden. Konnte ich denn nicht einmal etwas tun, ohne mir dabei eine Blöße zu geben? Wohl ein Wunschdenken ... Angetrieben von meiner Scham, wollte ich mich bereits erheben, allen Anwesenden den Rücken zukehren, in die Nacht fliehen. Endlich aber kam die Erleuchtung.
    Miezhaus! Habt ihr das gehört? Ein Miezhaus! Stan, du bist ’ne Wucht!“, krächzte Flamara, der bereits völlig heißer vor lachen war.
    Und jetzt realisierte ich: Sie lachten mich nicht aus, sondern über mich! Ein seltsames Gefühl, beliebt zu sein ...

  • Part 5: Eine Frage des Gewissens


    „Und – und ...“, keuchte ich bereits unter Tränen, „da sagte der Mensch zu seinem Steuerberater: ,Das tangiert mich nur peripher.’“
    Wie bei all meinen Witzen, Wortspielen oder einfach nur dummem Gewäsch, das ich bislang zum Besten gegeben hatte, brach alles um mich herum in tosendes Gelächter aus. Immer wieder wurden die besten Stellen zitiert oder mit den weiteren Erlebnissen anderer ausgeschmückt, keiner stellte dumme Fragen oder fühlte sich durch kleinere Sticheleien beleidigt. Wir redeten und redeten, scherzten, lachten, schwelgten in Erinnerungen, hatten einfach unseren Spaß. Und ich war dabei, inmitten all dieses Gelächters, all dieser Ausgelassenheit, all dieses Glücks, trug sogar dazu bei, überhaupt diese Stimmung am Laufen zu halten. Noch so sehr konnte ich in meinem Gedächtnis kramen – ich konnte kein Szenario in meinem Leben finden, welches dem hier auch nur ansatzweise glich. Ich wurde akzeptiert, war beliebt, gehörte endlich dazu. All diese fröhlichen und glücklichen Gesichter zu sehen war einmalig, ein herrliches Gefühl, das mit nichts mir Bekanntem zu vergleichen war.


    Wie so alles im Leben kam aber auch dieser Abend – und war er noch so unterhaltsam – schließlich zum Erliegen. Nach und nach verabschiedete man sich von seinen Mitpokémon, wünschte sich eine gute Nacht („Lass dich nicht von deinen Flöhen beißen!“) und suchte sein Nachtlager auf. Unlängst spürte auch ich, wie sich die Müdigkeit mehr und mehr meinen Körper einverleibte, mein Verstand immer weiter in schläfrige Gestaden abdriftete und der letzte Funke Interesse für die kümmerlichen Reste des verglimmenden Nachtfeuers erlosch.
    „Ich spreche es jetzt einfach mal aus ...“ Nur noch Fukano, ich und Flamara verweilten noch am Feuer. Es war Flamara, der eine lang anhaltende Stille zwischen uns dreien unterbrach. Erstmalig klang er selten ernst. Offenbar hatte er diese Frage so lange hinausgezögert, wie es ihm nur möglich war. Mit müdem Blick sah ich ihm entgegen. So viel Nachdruck in seiner Stimme lag, so wirkte er auch auf mich. „Stan, hättest du Interesse, unserer Bande beizutreten? Bist ein feiner Kerl, hast Courage und wärst sicherlich ’ne echte Bereicherung für uns.“
    „Ich? Bei euch?“ Sprachlos war so ja oft, fand nicht selten die richtigen Worte. Das hier aber war mit keiner mir bekannten Situation zu vergleichen. Noch nie wurde ich mit einer solchen Sachlage konfrontiert und derart auf die Wahl gestellt. Mitglied einer Bande werden, ich? Wirklich dazu gehören, ich? Zum ersten Mal in meinem Leben richtige Freunde haben? Verlockend ... aber dennoch ...
    „Du musst natürlich nicht, wenn du nicht willst. Gezwungen wird hier keiner“, warf Flamara ein.
    „Mhmm ...“, machte ich nachdenklich. „Das ist es nicht.“
    Sowohl Flamaras als auch Fukanos Blicke ruhten gebannt auf mir. Natürlich konnte keiner von beiden wissen, was mich beschäftigte, woher auch? Meine Vergangenheit, meine Gegenwart und auch meine Zukunft – ein gigantisches Netz aus Intrigen, Verheimlichung und jeder Menge Lügen und je weiter man das Netz spannte, desto löchriger schien die eigentliche Wahrheit zu werden. Der Schleier der Nacht vermochte seine Geheimnisse gut zu hüten – bis dann aber irgendwann der Morgen graut und er mit seinem Licht der Wahrheit die Finsternis und all seine Unwahrheiten durchleuchtet. Wie wollte ich mit der Gewissheit in die Gesichter meiner Freunde sehen, jeden Tag aufs Neue eine Lüge zu leben? Meine Vergangenheit – sie wird immer ein Teil von mir sein. Ich konnte meine Herkunft und meine Wurzeln nicht leugnen. Ich war noch immer ein Mensch, auch wenn mein Äußeres selbst das gewiefteste Auge trügen vermochte.
    Was aber hielt mich noch am Menschsein? Ja, was nur? Ich war nie wirklich glücklich gewesen, hatte nie wirkliche Freunde, keiner scherte sich um mich, wollte wissen, wie es mir geht, hatte etwas für meine Interessen übrig oder wollte überhaupt etwas mit mir zu tun haben. Ich war immer Stan, der Außenseiter, Stan, der Komische. Hinter meinem Rücken wurde getuschelt, stets mit dem Finger auf mich gezeigt. - Und meine armen Eltern ... An die wollte ich erst gar nicht denken. Ein Pokémon zum Sohn – diese Schande, diese Schmach. Das konnte ich ihnen unmöglich antun ...
    Aber hier, hier unter diesen freien und lebensfrohen Pokémon, fühlte ich mich erstmalig richtig am Leben, genoss es in vollen Zügen. Ich war nicht mehr der Stan von damals. Man akzeptierte mich, ich war ein gern gesehener Zeitgenosse – ich war beliebt.
    Aber da gab es noch etwas anderes ... oder besserer gesagt, jemand anderes. Auch wenn er mit mir nichts mehr zu tun haben wollte, verdiente er dennoch auf ewig einen Platz in meinem Herzen. Er hatte mir so viel gegeben und wollte nie etwas von mir dafür haben, war mir stets eine Stütze, auf seine ganz besondere und manchmal auch etwas eigene Art. Und ich ... ich fiel ihm in den Rücken, trat seine Freundschaft mit Füßen. Was sollte mit ihm geschehen, wenn ich hier blieb? Auf ewig verdammt, seine Existenz in meinem Körper zu fristen. Aber wollte er mich überhaupt zurückhaben? Seine Worte – sie hatten endgültig geklungen. Ich kenne dich nicht mehr! Ja, das hatte er zu mir gesagt und kein Funken Unwahrheit oder Unehrlichkeit hatte in seiner Stimme gebrannt. Noch immer sah ich ihn vor mir, wie er mich mit solch tiefster Abscheu angesehen hatte, dass sogar das kälteste Eis hätte schmelzen müssen – und er hatte Recht, und ich schämte mich dafür. Diese Scham, sie würde mich bis zu meinem Lebensende begleiten. Ein Teil von Sheinux würde mir immer entgegen blicken, wenn ich mein eigenes Spiegelbild betrachten würde. Was sollte ich nur tun? Ich konnte diese Frage nicht beantworten – noch nicht.


    Wer das Glück hatte, schon eine ganze Weile in Flamaras Bande zu sein, der konnte seine müden Knochen auf einem vielleicht etwas rauen dafür aber halbwegs bequemen Fußabtreter zur Ruhe betten; Tauboga dagegen genoss es einfach, ihren Kopf unter einen Flügel zu stecken und die Nacht leise gurrend auf einem Geländer zu verbringen. Andere, wie beispielsweise ich, mussten das nehmen, was sie fanden.
    „Da kannst du heute Nacht drauf knacken“, sagte Flamara.
    Ein kläglicher Ersatz von dem, was ich eigentlich gewohnt war: Ein paar schäbige, zerfledderte Zeitschriften, die provisorisch in einer schmutzigen Ecke auf dem Boden zerstreut lagen. Das waren die Schattenseiten, wenn man auf der Straße lebte. Kein Bett, keine warmen Mahlzeiten, niemand, der einen sanft in den Schlaf wog.
    Flamara fing meinen Blick auf. „Keine Sorge! Wenn du bei uns bleibst, kriegst du auch was Anständiges. Vielleicht wird Fukano hier ja sogar mal eines Tages dein Bettvorleger, wenn er nicht aufpasst! Har! Har!
    „Hey!“ Fukano, dessen rotorangenes Fell ich im Schatten der Dunkelheit fast nicht mehr wahrnehmen konnte, hatte sich bereits auf seiner Fußmatte, nicht unweit von meiner Schlafstelle, niedergelassen und bellte empört auf.
    „Find dich damit ab, du wandelnder Flohzirkus!“, lachte Flamara.
    Ich verdrehte die Augen. „Herzallerliebst ...“
    „Geht es vielleicht auch etwas leiser – manche wollen hier vielleicht pennen?!“
    „Genau!“
    „Aber echt!“
    „Frechheit!“
    „Ruhe auf den billigen Plätzen!“, brüllte Flamara erbost über die Schulter den empörten Stimmen seiner Mitpokémon zu, die überall im Schleier der Nacht verteilt waren.
    „Auf jeden Fall“, fuhr Flamara fort, „kannst du hier mal ’ne Nacht drüber schlafen. Vielleicht fällt dir die Entscheidung morgen leichter.“
    „Ja ... vielleicht ...“, antwortete ich mit deutlich verunsicherten Klang in meiner Stimme. Eine Nacht ... Das war nichts. Alle Nächte dieser Welt wären immer noch zu kurz, um eine derartige Entscheidung zu fällen.
    Mit einem letzten „Gute Nacht!“ kehrte mir Flamara den Rücken zu und ließ mich allein – allein mit meinen Gedanken und der Gewissensfrage: Was sollte ich tun?

  • Part 6: Pokémonlatein


    Unruhig wälzte ich mich auf dem brüchigen, hauchdünnen Papier, auf dem ich mich unbequem eingerollt hatte, hin und her. Der nackte, kalte Boden und ein jedes noch so kümmerliche Steinchen darunter bohrten sich mir heimtückisch in die Gelenke und ließen mich einfach nicht zur Ruhe kommen.
    Mitglied einer Bande werden, ich? Wie oft war ich nun Flamaras Vorschlag in Gedanken immer und immer wieder durchgegangen? Wie oft hatte ich Vor- und Nachteile sorgfältig abgewogen? Wie oft zog ich nun bereits alle Konsequenzen, die ein solches Handeln mit sich brachte? Ich musste doch langsam müde werden ... Und doch wollte und wollte mein Verstand, der in diesem Leihkörper wohnte, nicht zur Ruhe kommen.
    Ich rollte mich unruhig auf die andere Seite der Papierfetzen. Alles um mich herum war friedlich, ein jeder schien zu schlafen, selbst die widerborstigste Gegenwehr gebrochen zu sein. Wie spät es wohl war? Ein Mitglied von Flamaras Bande werden?
    Wieder suhlte ich mich umher. Das Papier unter mir knisterte und knackte empört auf. Ich konnte Fukano nicht unweit von mir im Schlaf leise und zufrieden seufzen hören. Ob er wohl gerade träumte? Was war es wohl? Ich kannte ihn kaum und doch tauchte mir in Gedanken flüchtig ein fliegendes Schnitzel auf, dem er mit in dem Wind flatternder Zunge hinterherhetzte. Verstohlen grinste ich in die Nacht hinein und warf mich zum gefühlten hundertsten Mal auf die andere Seite meines Nachtlagers. Was wohl gerade Sheinux tat? Sicherlich schlief er. Ob er aber während all der Zeit an mich dachte oder setzte er alles daran, mich und einen jeden Gedanken aus seinem Gedächtnis zu tilgen? Es wollte mir keine Ruhe lassen ...


    Erinnerungen holten mich im Halbschlaf ein, Erinnerungen an meine Vergangenheit. Ich saß an einem Tisch, Schwester Joy umsorgte Sheinux, den ich vor wenigen Augenblicken schwer angeschlagen in der Wildnis aufgegriffen hatte, sie sagte, ihm würde es bald wieder gut gehen und er hätte Glück gehabt, dass ich in der Nähe war; Mike, Tom und Felix, drei junge Trainer in etwa meinem Alter, sahen mich fragend an, als ich gemeinsam mit Sheinux in das Zimmer eintrat, wir sollten die Nacht gemeinsam verbringen - es behagte mir nicht; ich fing Feurigel ein, Sheinux sah mich missmutig an, er wirkte mit meiner Leistung ganz und gar nicht einverstanden; ein packender Griff um Sheinux’ Schweif bewahrte ihn davor, auf der Straße mit dem Belag gemeinsam asphaltiert zu werden, mit blassem, völlig geschocktem Blick sah er mir entgegen; fauchend stürzte sich Sheinux auf Phils Pokémon, gegen das Feurigel bei einem Kampf haushoch verloren hatte, ich hatte Sheinux bis zu diesem Zeitpunkt noch nie so stocksauer und außer sich vor Wut gesehen; in dem Speisesaal des Pokémon-Centers von Moosbach City kam es zu einem Streit zwischen Sheinux und Pikachu, Fensterscheiben und Porzellan gingen zu gleichen Teilen zu Bruch, Menschen schrieen panisch auf, ich rief Sheinux seit langer Zeit in seinen Pokéball zurück; Sheinux stieß wieder zu mir und Colin, baute sich schützend zwischen uns und einem Rudel Hunduster auf; ich redete auf Sheinux nach einer Niederlage gegen Eagle ein, seine Nerven lagen blank, er war völlig fertig, so hatte ich ihn noch nie erlebt, er war so stolz und diese Abfuhr machte ihm offenbar schwer zu schaffen, und doch konnte er wieder lachen, ich schaffte es tatsächlich, ihn wieder aufzumuntern; ich sah mir selbst entgegen, Sheinux und ich hatten Körper getauscht, ich zitterte wie Espenlaub, wusste nicht, was ich tun sollte, alles sah so anders aus, ich versuchte aufzustehen – und scheiterte, Sheinux entschuldigte sich bei mir und rief mich in einen Pokéball – ein grausames Gefühl, ich wollte hier raus, rief um Hilfe; Sheinux reichte mir eine Wasserflasche, ich trank, als ob mein Leben davon abhinge; Regen klatschte mir ins Gesicht und Sturmböen wehten mir wütend um die Ohren, Colin und ich suchten Sheinux, wir fanden ihn, er stand an der Reling, wirkte völlig apathisch; Deoxys erhob sich vor meinen eigenen Augen, es floh, wir hatten unsere Chance vertan, Sheinux war außer sich; Colin ließ mich mit Sheinux zurück, er hatte einen Hitzschlag erlitten, ich passte auf ihn auf, ließ nichts an ihn heran; Sheinux lag im Krankenbett, ein Glas flog mir entgegen, er sagte, er kenne mich nicht mehr, sagte, er würde auf den Kodex und sein Heim pfeifen ...


    Kodex ...
    Ich schlug die Augen auf. Alles um mich herum war noch pechschwarz, die Nacht herrschte noch immer und der Tag war noch weit davon entfernt, dagegen aufzurühren. Ich war noch immer in der Baker Street, um mich herum regte sich nichts, all die Pokémon, mit denen ich vor kurzem gesprochen und gescherzt hatte, verharrten noch in ihren Träumen. Doch noch nie war ich so hellwach. Der Kodex ...
    Ich musste meinen Körper regelrecht dazu zwingen, sich zu erheben. Gelenke, Knochen, Muskeln und Sehnen ächzten erschöpft, doch mein Verstand war von den eben noch einmal durchlebten Ereignissen wie der wildeste Sturm aufgepeitscht. Sheinux hatte ihn erwähnt, den Kodex. Er musste ihn kennen, was aber besagte der Kodex noch einmal ...? Ich zermattete mir den Kopf, suchte die Einfachheit der Worte, mit denen mir Fukano es erklärt hatte.
    Du hast mir das Leben gerettet und ich stehe nun in deiner Schuld; eine Lebensschuld sozusagen.
    Lebensschuld? Sheinux? Er bei mir? Rastlos ging ich auf und ab. Ein Irrtum, das musste ein Irrtum sein ... Ich konnte mich nicht entsinnen, eine derart ruhmreiche Tat zustande gebracht zu haben, geschweige denn, wäre ich dazu in der Lage gewesen. Aber ...
    Unruhig biss ich mir auf die Lefzen. Pokémon hatten schon eine seltsame Art und Weise, manche Dinge zu betrachten. Was wenn dem doch so war, ich ihm tatsächlich das Leben gerettet hatte? Mir kam es in den eigenen Gedanken idiotisch vor – hatte ich wirklich jemand vor dem sicheren Ende bewahrt und konnte mich schlichtweg nicht daran erinnern? Es gab schon einige Situationen, die auch anders hätten ausgehen können, damals in Oliviana City beispielsweise.


    „Fukano! Hey, Fukano!“ Es war das einzig Logische, was ich zu dieser Stunde hätte tun können. Ich musste es wissen, auch wenn ich dafür jemanden um seinen Schlaf bringen musste ...
    „N-nicht einsperren!“, schreckte Fukano auf. Entgeistert sah er sich um. Wie auch ich musste er aber schnell feststellen, dass er sich noch immer in seiner vertrauten Umgebung befand – dann erst bemerkte er mich. „Stan? Was zum ...“, stöhnte er schlafestrunken.
    „Ich muss mit dir reden“, sagte ich entschieden.
    „Hat das nicht Zeit bis morgen ...?“
    Mein Blick durchschnitt die Dunkelheit um uns herum, glitt wie ein heißes Messer durch Butter und brachte ihn inmitten seiner Ausfertigungen jäh zum Verstummen. „Also gut ...“, seufzte er. „Was ist los?“
    „Der Ehrenkodex“, sagte ich knapp.
    „Schon wieder?“, klagte Fukano verdrießlich. „Ich hab dir doch schon alles gesagt. Ja, ich stehe in deiner Schuld, ich weiß ...“
    „Es geht nicht um deine Schuld“, entgegnete ich. „Da gibt es noch jemand anderes ...“
    Durch den nächtlichen Schleier hindurch nahm ich eine Geste von Fukano wahr, die der eines Menschen ähnelte, wenn er eine Augenbraue hob. „Sag bloß, du hast noch jemandem das Leben gerettet? Bist ja ein richtiger Draufgänger, wirst du eigentlich nie müde. – Spar dir die Antwort ...“
    „Versprich mir, nicht zu lachen, aber ich weiß es nicht. Es könnte sein ...“, sagte ich ein wenig kleinlaut.
    „Du weißt nicht, ob du jemandem das Leben gerettet hast? Du verarschst mich doch gerade, oder?“
    „Nehmen wir an“, lenkte ich das Thema etwas in die Richtung, auf die ich wollte, „ein Mensch rettet einem Pokémon das Leben? Greift der Ehrenkodex und das Gesetz der Straße dann auch?“
    Fukano antwortete erst nach einigen Sekunden. „Ansichtssache“, seufzte er müde, „aber ja, eigentlich schon. Es macht grundgenommen keinen Unterschied. Wer den Kodex lebt, der macht da keinen Unterschied, auch wenn es noch so abwegig klingt, dass ein Pokémon in einem Menschen seinen Lebensretter sieht. – Worauf willst du eigentlich hinaus?“
    „Kann diese Schuld noch anderweitig beglichen werden?“, hakte ich nach.
    „Nein.“
    „Und was ...?“
    „Nein“
    „Aber wenn ...“
    „Ich sagte doch, nein“, sagte Fukano kopfschüttelnd. „Die Schuld wird erst mit einer gleichwertigen Tat getilgt, komme, was da wolle. – Willst du mir nicht langsam sagen, was Sache ist?“
    „Also – sagen wir es so ...“, begann ich langsam. Natürlich konnte ich Fukano unmöglich die ganze Wahrheit auf die Nase binden, er hätte es mir ohnehin nicht geglaubt. Also musste ich mir etwas auf die Schnelle zusammenspinnen. „Folgendermaßen: Nehmen wir an, ich hätte jemandem tatsächlich das Leben gerettet – es sei jetzt mal außer Acht gelassen, ob Mensch oder Pokémon. Aber wir hätten uns zerstritten. Was ist dann? Was ist mit dem Kodex?“
    Fukano seufzte. Es lag etwas Resignierendes und Abschließendes in seiner Stimme.
    „Wie oft noch: Es macht keinen Unterschied. Der Kodex erlischt nicht!“
    Vieles ergab für mich langsam Sinn und noch viel mehr Fragen stellten sich mir doch.
    „Eine Frage noch“, flehte ich Fukano an, der sich bereits wieder auf seiner Fußmatte niedergelassen hatte.
    „Die letzte?“
    „Die letzte.“
    „Schieß los.“
    „Hast du schon mal gehört, dass jemand den Kodex ablegt?“ Ich bemerkte das plötzliche Zittern in meiner Stimme. Diese Frage, sie brannte mir auf der Seele. Die alles entscheidende Frage ....
    Fukano schwieg einige Sekunden. Ich mochte dieses Schweigen nicht, es hatte etwas Ungutes. „Wer den Kodex lebt und ehrt, der hält ihn auch ein“, sagte Fukano langsam. „Die Alternative wäre, ein Leben als Abtrünniger und in Ehrlosigkeit zu verbringen und das möchte wirklich niemand. Es wäre die schlimmste Strafe – schlimmer als der Tod. Man tut sich selbst damit keinen Gefallen, glaub mir. Von wem auch immer du sprichst: Sollte er den Kodex befolgen, wird er zu dir zurückkehren – früher oder später. Will er jemals seine Schuld reinwaschen und sein früheres Leben zurückbekommen, muss er das und je länger er dies hinauszögert, desto mehr hat er sich selbst damit geschadet. – Wäre das dann alles, ich bin echt müde ...“
    „Ja ... Du hast mir geholfen ... wirklich sehr, danke ... und gute Nacht!“
    Ich kehrte Fukano mit der eben errungenen Gewissheit den Rücken zu, dass ich meine Wahl endlich getroffen hatte.

  • Part 7: Geläutert


    „Du willst uns wirklich schon verlassen?“
    „Tut mir Leid ...“
    Meine Wahl war getroffen, meine Entscheidung stand fest. Wenn Sheinux tatsächlich den Kodex ehrte, musste er sich sicherlich gewaltige Vorwürfe machen. Er würde mit seinem restlichen Leben niemals glücklich werden, wenn er niemals die Gelegenheit bekäme, seine Schuld mit Zins und Zinseszins zu tilgen, so, wie es das Gesetz der Straße vorsieht. Doch auch ich trug einen Teil von Schuld in mir, die unbedingt bereinigt werden musste. Wir waren aufeinander angewiesen, Sheinux und ich. Er brauchte mich und ich ihn. Diese Illusion von einer glücklichen und unbekümmerten Welt gemeinsam mit Flamara und den anderen zu leben, konnte ich einfach nicht. Ich musste zurück, zurück zu Sheinux.
    „Du hast deine Wahl getroffen“, seufzte Flamara. „Wir hätten dich gerne bei uns aufgenommen.“
    Sämtliche Pokémon, die auch gestern bei unserer Lagerfeuerrunde teilgenommen hatten, waren gekommen, um sich von mir zu verabschieden, sie nickten. Trennung tat weh. Diese Worte kannte ich schon lange, doch vermochte ich sie bis zu diesem Punkt nicht wirklich zu deuten. Noch nie hatte ich jemanden so lieb gewonnen, dass es mich schmerzte, ihn zurückzulassen – bis zu eben diesem Moment. Es hieß Abschied zu nehmen – und es tat tatsächlich weh.
    „Ich weiß, tut mir Leid ...“, entschuldigte ich mich aufs Neuste.
    „Eine solch große Chance lehnt man nicht ohne einen bestimmten Anlass ab. Du musst einen triftigen Grund haben, anders kann es nicht sein und das respektiere ich“, sagte Flamara. „Wo wirst du jetzt hingehen?“
    „Zu einem Freund, einen guten Freund“, antwortete ich.
    „Ah, ein guter Freund, ich verstehe“, sagte Flamara. „Er kann sich glücklich schätzen, dich als Kumpel zu haben. Nun gut, Stan. Ich denke, ich spreche im Namen aller, wenn ich sage, du bist bei uns jederzeit willkommen und du darfst immer wenn du möchtest zu uns zurückkehren. Wirst aber Wegzoll berappen müssen, versteht sich. Har! Har!
    Diesmal war ich vor Flamaras freundlich gemeinten und mir bereits wohl bekannten Pfoten-Schulter-Schlag bestens gewappnet – ich nahm ihn wie ein Mann, auch wenn mir immer noch das Atmen für einige Sekunden schwer fiel. „Danke“, hustete ich.
    Ein rotorangenes und vierbeiniges Etwas tauchte plötzlich zu meiner Seite auf. Leicht verwirrt drehte ich mich ihm entgegen - es war Fukano. Er hatte sich aus der Gruppe seiner Mitpokémon gelöst und sich meiner angeschlossen.
    „Fukano?“, fragte ich verunsichert.
    „Du weißt, ich habe noch immer eine unbeglichene Schuld bei dir“, winselte er mit derselben Tonlage seiner Stimme, mit der er mich auch bereits bei unserer ersten Begegnung nach meinem Verbleib ausgefragt hatte. Bedrückt aber in seinen Absichten sicher, sah er mich an.
    „Du schuldest mir nichts mehr, Fukano“, sagte ich kopfschüttelnd. „Du hast mir mit unserem Gespräch gestern Abend mein verbliebenes Leben gerettet und dafür danke ich dir – und wer weiß: vielleicht hast du sogar noch das Leben meines Freundes gerettet? Du kannst stolz auf dich sein, du alter Haudegen!“
    Selbst Fukanos feuchte, schwarze Nase verfärbte sich einen Hauch rosa. „Das war doch nichts ...“, murmelte er verlegen.
    „Oh doch“, lachte ich. „Siehst du? Dasselbe sagtest du auch zu mir. Damit sind wir quitt.“
    „Fukano, der Lebensretter“, schniefte Flamara gekünstelt. „Das ich das noch erleben darf ... Unser Fukano wird erwachsen, wie rührselig. Reicht mir doch mal bitte ’nen Putzlappen – ich glaube, mein Zinken tropft.“
    „Ach, du ...!“, tobte Fukano, schloss sich aber bald drauf sämtlichem Gelächter um ihn herum an.


    Die Baker Street mit all seinen Pokémon, die ich so lieb gewonnen hatte, war in ferne Distanz gerückt. Ein letztes Mal drehte ich mich noch einmal um und las dir verwitterten Schriftzeichen des Schildes, auf dem der Name der Straße stand, in der ich in einer Nacht fast mehr gelernt hatte, als in allen Jahren meines Lebens gemeinsam. Wer wusste, was die Zukunft brachte, wenn ich hier jemals wieder zurückkehren würde – vielleicht würde mich keiner von ihnen wieder erkennen, vielleicht aber würde es sogar noch an demselben Tag geschehen, wenn das Schicksal es nicht anders wollte.


    Die Straßen von Malvenfroh City begegneten mir auf den ersten Blick ganz anders, als es noch am gestrigen Tage der Fall war, obwohl ich noch immer ein völlig Fremder in dieser Stadt war und sich mein Äußeres kein bisschen zum Vortag verändert hatte. Die Feindseligkeit in den Blicken der Menschen schien erloschen, das Gefühl, böse Zungen würden hinter meinem Rücken flüstern, wirkte nie wirklich existent. Alles machte den Anschein, als würde es plötzlich in einem gänzlich anderen Licht zu mir stehen. Ich schlenderte vorbei an schwatzenden Frauen, die untereinander den ofenfrischesten Klatsch breittraten, schenkte miesepetrigen, aktentaschentragenden Bürohengsten ein belustigtes Lächeln, sah mich an frischen Backwaren satt, die in den Ladenfenstern zur Schau gestellt wurden und lauschte dem atemberaubenden Sound der Großstadt am frühen Morgen. Keiner brachte mir mehr Abneigung entgegen, keiner deutete mehr mit dem Finger auf mich. Ich schien überhaupt nicht mehr aufzufallen, als ob ich schon immer dazugehörte, ich mit all diesen Dingen um mich herum verschmolzen wäre.
    Inmitten des Menschengewirrs bewegte ich mich auf dem kalten Asphalt voran, wartete an der roten Fußgängerampel artig, wie es sich für einen geschulten Bürgersteigbenutzer gehörte, die monströsen Automobile ab, folgte dem Menschenstrom bei grünem Licht über die Straße und las immer wieder die Schilder, die mich vom Zentrum der Stadt in Richtung des Ortes führten, an dem mein Schicksal auf mich wartete – das Krankenhaus von Malvenfroh City, wo ich Sheinux nach unserem Streit zurückgelassen hatte.
    Ich konnte nicht leugnen, dass noch immer Skepsis in mir wohnte. Was war, wenn Fukano sich irrte, Sheinux sich tatsächlich unwiderruflich von mir abgewendet hatte ...? Dem Kodex abschwören? Seine Ideale verraten? Ein Leben in Schande führen? Nein, nicht Sheinux. Das klang einfach nicht nach ihm. Ich rief mir immer und immer wieder unsere gemeinsamen Erlebnisse in Gedanken. Wir hatten so manche Differenzen, er und ich. Kein Wunder, schließlich waren wir auch grundverschieden. Und doch war er stets an meiner Seite, hat mich so hingenommen, wie ich nun mal war, kehrte immer wieder zu mir zurück, auch wenn die Zeiten noch so schwer um unsere Freundschaft gestanden hatten – und nun war ich dran, diese Freundschaft zu ehren, sie zu retten. Ich blickte an der Fassade des gigantischen Gebäudes vor mir hinauf. Ein blutrotes Kreuz, das noch kilometerweit zu sehen war, zierte das flache Dach des Krankenhauses. Ich schluckte. Vor einem Tag hätte ich niemals geglaubt, diesen Ort wieder zu sehen, geschweige denn, ihn wieder zu betreten, tat sogar alles daran, ihn aus meinen Gedanken zu streichen. Der alte Stan hätte keinen Fuß über die Schwelle getan, wäre Hals über Kopf getürmt. Diese Zeiten aber lagen hinter mir. Sheinux, ich komme!


    Surrend schloss sich die elektronische Schiebetür hinter meinem Rücken. Die Ohren waren bis zum Anschlag gespitzt, mein scharfer Blick schweifte umher, wachend, auch nur bei der kleinsten Bewegung Alarm zu schlagen Die Spuren meiner gestrigen Kapriole waren bereits wieder verwischt. Nichts ähnelte mehr dem weitläufigen Trümmerfeld, das ich bei meinem letzten Besuch zurückgelassen hatte. Der Geruch von Bohnerwachs stach mir unangenehm in der Nase, der grüne, über Nacht auf hochglanzpolierte Linoleumboden des Eingangsbereichs lag ausgestorben vor mir, Bänke und Stühle waren verlassen, ein hutzeliger, noch ziemlich verschlafen wirkender Portier hatte noch nicht einmal bemerkt, dass jemand sein Allerheiligstes betreten hatte – konnte mir nur Recht sein.
    Der Boden knarrte verräterisch unter meinen Pfoten, ich beschleunigte instinktiv meine Schritte. Auf der Straße, inmitten des Gewirrs und unter all den Leuten fühlte ich mich inzwischen beinahe unsichtbar, war nichts weiter als Luft. Nicht aber hier. An diesem Ort besaß ich einen äußerst verrufenen Rang und Namen, war ein unerwünschtes Übel, das man bestenfalls mit einem kräftigen Fußtritt wieder an die frische Luft beförderte. Mein gestriger Auftritt und die Panik, an der ich Schuld zweckte, waren mir noch gut im Gedächtnis. Es brauchte nur jemand zu realisieren, dass der Unruhestifter von gestern wieder vor Ort war und das ganze Haus würde augenblicklich auf den Beinen sein. Und dummerweise war ich als einziges umherstreifendes Pokémon derart auffällig, wie Feurigel, wenn man ihn in ein rosarotes Tutu zwängen und er auf einer Geburtstagsfeier von ein paar Milchzahnträgern einen broadwayreifen Stepptanz vorführen lassen würde. Nicht ohne ein verstohlenes Grinsen schüttelte ich mir diesen absurden – wie kam ich eigentlich auf derlei Ideen? – aus dem Kopf. Aber Recht hatte ich trotzdem. Wollte ich hier heil rauskommen, musste ich mich beeilen.


    Ich erklomm die wenigen Treppenstufen, die ins erste Stockwerk führten, und bog um die Ecke. Auch hier fand ich die vielen Sitzgelegenheiten noch verlassen vor, Zeitschriften waren ordentlich aufgestapelt und Aschenbecher waren picobello sauber. Zu beiden Seiten gab es vollautomatische Türen, die nur darauf warteten, einen ungebetenen Eindringling wie mich einzulassen – ich nahm die rechte, über der in großen Zahlen 101 – 149 stand. Sheinux hatte sein Lager unfreiwillig in Zimmer einhundertsechsunddreißig aufgeschlagen. Ein weiter und beschwerlicher Weg, der noch vor mir lag, denn hier herrschte bereits das Leben. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee lag wie ein dichter Nebelschleier in der Luft, es klirrte und schepperte, besohlte Füße eilten von Zimmer zu Zimmer, man sammelte Geschirr und Besteck ein und sortierte es in einen großen Stapelwagen. Nervös sah ich auf eine runde Uhr an der Wand – es war bereits kurz nach halb zehn. Die Frühstückszeit war wohl vorbei, außerordentlich schlechtes Timing für mich. Abermals verscheuchte ich die Gedanken von Feurigel aus meinen Gedanken. So sehr ich mir auch den Kopf zerbrach – nur drei Optionen boten sich mir: Umkehren und nie mehr wieder kehren – eine Schnapsidee; Unschuld heuchelnd über den Gang schlendern, allen, denen ich über den Weg lief, einen wunderschönen guten Morgen wünschen und somit alle Blicke auf mich ziehen – ziemlich riskant, wenn man meinen Auftritt von gestern vor Augen hielt; oder aber mich klammheimlich durch den Flur stehlen – die mir sinnigste Idee. Ich war klein und flink, die Menschen dagegen stark in ihre Arbeit vertieft, hatten wohlmöglich noch nichts gefrühstückt und waren daher auf Kaffeeentzug.


    Mein Herz pochte einen rhythmisch Rock ’n’ Roll zusammen. Ich hatte es irgendwie geschafft, ungesehen durch einen Viertel des Flurs zu huschen. Beinahe, so glaubte ich, hätte aber fast jemand meinen Schweif einem der knatternden, menschenhohen und mir Geschirr beladenen Rollwagen verschwinden sehen unter dem ich nun kauerte. Doch kein skeptischer Blick tauchte plötzlich links oder rechts neben mir unmittelbar über dem Boden auf und suchte das Gewölbe des Karrens nach einer gespensterhaften Erscheinung ab. Stattdessen waren da ein Paar weiße Schuhe zu meiner Linken, über mir polterte und ächzte es, ein weiteres Tablett wurde in den Wagen sortiert. Die Kunststoffräder quietschten, er bewegte sich voran. Mit robbenden Bewegungen folgte ich meinem Obdach, bis es nach wenigen Metern wieder zum Stillstand kam. Ich spitzte die Ohren, schlurfende Schritte entfernten sich von mir, eine Männerstimme fragte, ob es geschmeckt hätte. Ich nutzte die Gelegenheit und linste unter meinem Versteckt nach rechts heraus, las das Zimmerschild und suchte schnell wieder Deckung. Einhundertvierundzwanzig – noch zu früh ...
    Ich zuckte zusammen, wieder polterte es über meinem Kopf, Schritte führten nun nach rechts von mir weg, wieder die Männestimme, die sich nach dem Zustand der Patienten informierte, erneut tauchten die Schuhe bei mir auf, es polterte und schepperte, der Wagen bewegte sich.
    Wieder und immer wieder wiederholte sich der Vorgang, in Gedanken ging ich jedes Mal die unsichtbaren Ziffern durch, die links und rechts zu mir den weiteren Weg deuteten. Der Wagen stoppte, ächzte unter dem Gewicht weiterer Teller und Schüsseln (noch sechs Zimmer), bewegte sich wieder und hielt an (noch vier ...), abermals bremste er, Schritte führten von mir weg (nur noch ein bisschen, nur noch ein bisschen ...), der nächste Stopp – meine Haltstation. Der Führer des Rollwägelchens ließ ihn, wie die Male zuvor, zurück, um im linken Flügel abzuräumen. Rechts aber – da lag er, meine Vergangenheit, meine Gegenwart, meine Zukunft. Vorsichtig lugte ich heraus – und tatsächlich! In großen Lettern und Ziffern stand es da: Zimmer 136, Stan Leonheart. Ich gluckste leise, während sich die Ziffern auf meiner Netzhaut regelrecht einbrannten. Ein seltsames Gefühl, mich selbst zu besuchen ...


    Die Tür stand einen Spalt weit offen, ich konnte problemlos hineingehen. Auf diesen Moment hatte ich hingearbeitet und doch - jetzt, wo ich endlich hier war ... Was war, wenn er mich doch nicht zurückhaben wollte, wenn statt einiger freundlicher Worte plötzlich nur ein weiteres Glas mir wutentbrannt entgegenflog? Ich bebte bei diesem Gedanken.
    Nicht mein Sheinux!, redete ich mir selbst ein. Nein, nicht mein Sheinux! Ich schluckte den pokéballgroßen Kloß in meinem Hals hinunter und tastete mich ganz vorsichtig in Richtung der Tür. Sie ließ sich leicht öffnen, ich witterte bereits den Geruch von Sheinux und auch den von Colin, ich lugte einen Spalt weit hinein – und erstarrte. Das Zimmer war leer ...

  • Part 8: Patient vermisst


    Das Zimmer war leer, verlassen, ausgestorben. Mit hängendem Kiefer stand ich da, war gerade über die Türschwelle getreten. Kein Sheinux, kein Colin, keine Menschenseele weit und breit. Ich verstand die Welt nicht mehr ...
    Zerstreut kreiste ich durch den Raum, ließ den Blick umherschweifen und erklomm schließlich das Bett, um mir einen besseren Blick zu verschaffen. Es war zerwühlt und noch ein kleines bisschen Restwärme steckte noch darin, bis vor kurzem musste noch jemand darin gelegen haben, auch sämtliches Hab und Gut war noch da, ich erkannte einige meiner Kleidungsstücke, die vor weniger Zeit noch meine Größe hatten, das Kantinenfrühstück stand ebenfalls sauber und unangetastet da. Von demjenigen aber, wegen dem ich überhaupt die Last dieser Reise auf mich genommen hatte, fehlte jede Spur. Wo bist du nur, Sheinux?


    Was sollte ich nun tun? Die unterschiedlichsten Szenarien hatte ich mir über die Zeit hinaus zusammengesponnen. Davon, dass Sheinux mich freundlich in die Arme schließen und das alles vergeben und vergessen wäre, bis hin zu, dass er mir bei lebendigem Leibe das Fell über die Ohren ziehen würde und meine leblose Hülle für den Rest der Zeit als Flamaras Bettvorleger in der Baker Street herhalten müsste. Diese Abfolge der Ereignisse in diesem Szenario war mir allerdings völlig fremd. Nicht einmal im Traum hatte ich mir vorstellen können, dass ich Sheinux’ Bett verwaist vorfinden würde.
    Das ist nicht fair!
    Etwas anderes wollte mir in dem Moment einfach nicht einfallen. Ich war frustriert, mit den Nerven am Ende. Wie sollte ich nun vorgehen? Hier bleiben und darauf hoffen, dass irgendwann ein freundliches Gesicht auftauchen würde, oder Sheinux auf eigene Faust suchen gehen? Wie lange war er überhaupt schon weg? Mein Blick schweifte zu dem in Plastik eingewickelten Tablett, auf dem sein unangerührtes Frühstück ruhte. (16) Zu lange offenbar, als dass es sich lediglich um eine Toilettenpause handelte. Ich machte mir Sorgen, war ihm etwas zugestoßen? Ich hielt diese mich von Innen auffressende Ungewissheit nicht aus.

    Entschlossen sprang ich vom Bett. Es war gewagt, die Chance, erwischt zu werden, groß, doch auch diesmal hatte ich meine Entscheidung gefällt, war mir meiner Sache einmal mehr sicher. Die Tür war bereits in greifbare Nähe gerückt, sie stand noch immer ein Stück weit offen. Nichts würde mich daran hindern, mein Glück auf die Probe zu stellen. Ich hatte die Spalte schon mit meinem eigenen Leib geweitet, sodass ich leicht hindurchpasste, als mir plötzlich ein besohlter Fuß entgegengeschossen kam – ich konnte nicht mehr ausweichen.
    Das Gefühl, jemand hätte mir in diesem Moment das Nasenbein gebrochen, durchflutete mich, suchte jeden noch so kleinen Winkel in meinem Leib auf, die Luft wurde mir gewaltsam aus den Lungen gepresst, ich schmeckte Blut; jemand fluchte und taumelte, ein Mensch teilte mein Los und stürzte auf den kalten Boden.
    Die Vernunft triumphierte über den Schmerz. Eiligst rappelte ich mich auf, doch auch der Mensch, der soeben über mich gestolpert war, stand schon fast wieder auf den Beinen, sein lodernder Blick lag auf mir.
    „Du mieses, kleines ...!“
    „Ich wollte eh gerade gehen“, entgegnete ich kühl, nachdem ich behände zur Seite gesprungen war, um dem hervorschnellenden Fuß auszuweichen.


    Und eben dies hatte ich die ganze Zeit über vermeiden wollen. Ich fühlte mich mitten in den gestrigen Tag zurückversetzt. Der Aufstand brach um mich herum los. Sämtliches Personal schien plötzlich auf den Beinen und dummerweise auf dieser Etage vorzufinden zu sein. Mir wurde keine andere Wahl gelassen, als schnellstmöglich zu türmen.
    Von Flüchen, Kugelschreibern und allem Möglichen, was man mir entgegen schleudern konnte, begleitet, floh ich vor der aufgepeitschten Meute. Meine Pfoten trommelten im Millisekundentakt über den Boden, ich holte meinen eigenen Atem ein, er brannte sich mir ins Gesichts, alles aber nur ein müder Vergleich mit dem war, was sich hinter meinem Rücken abspielte.
    „Haltet ihn auf!“
    „Scheucht ihn hier raus!“
    „Könnt ihr euch mal entscheiden?“, rief ich über die Schulter, duckte mich dabei schlagartig, um ein weiteres Geschoss im letzten Moment zu entgegen, es zerbarst vor meinen Augen – ein Glas. Glücklicherweise war niemand vor mir, ich hatte freie Bahn. Ein letztes Mal warf ich noch einen Blick über die Schulter. Pflegepersonal auf dem Gang verfolgten mich verbissen, Patienten – jung und alt - lugten neugierig aus ihrem Zimmer hervor, doch unter all diesen Gesichtern war noch immer nicht das, welches ich suchte – das von Sheinux.


    Ich stolperte die Treppe hinunter. Der Eingangsbereich lag verlassen vor mir, so wie ich ihn vor wenigen Minuten zurückgelassen hatte. Zeit zum Überlegen blieb mir nicht. Stocksaure Schritte unzähliger Menschen kamen näher, eilten ebenfalls die Treppe herunter, schwer mit allen Dingen bewaffnet, die sie auf die Schnelle auffinden konnten. Ich steuerte bereits zielsicher und schnell den Ausgang an, bremste dann aber abrupt ab. Die vollautomatische Tür öffnete sich ohne mein jegliches Zutun und auch ohne, dass ich überhaupt in seine Nähe kam. Ich erstarrte zur Salzsäule. Ein hutzeliges, altes Großmütterchen stolperte langsam in das Krankenhaus hinein, zwei Männer, einer links und einer rechts von ihr, wohl Verwandte, halfen der sich mit Gehhilfe schwerfällig fortbewegenden Frau über die Schwelle. Allesamt blickten mir, dem unerwarteten Begrüßungskomitee, entgeistert entgegen. Mein Fluchtweg war versperrt – und meine Verfolger saßen mir bereits im Genick.
    „Weg von den Patienten, du Biest!“
    Panisch sah ich mich um. Hinter mir eine Horde aufgebrachter Pfleger, vor mir die alte Dame, die ich nicht einfach so über den Haufen rennen konnte, ohne dass sie sich dabei die Hüfte oder sonst was brach – das konnte ich einfach nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Rechts von mir, vorbei an Colaautomaten und Münztelefon, gab es noch einen Weg: Ein langer Gang, er war ausgestorben und leer.
    Man sagt zwar gerne, kleine Schläge auf den Hinterkopf, würden das Denkvermögen erhöhen, aber auf diesen Schlag hätte ich auch gut und gern verzichten können. Etwas war mir mit aller Gewalt gegen den Hinterkopf gedonnert, dass mir im ersten Moment schwarz vor Augen wurde. Ein rotweißer Ball kullerte mir direkt vor die Pfoten – ein Pokéball. Man hatte mich darin fangen wollen.
    „Warum funktioniert es nicht?“, fluchte jemand.
    „Sorry, bin bereits vergeben“, rief ich unter heftigen Kopfschmerzen über die Schulter und eilte über das grüne Linoleum hinweg in Richtung des breiten Ganges, der sich mir als einzigen Ausweg bot.
    „Ihm nach!“


    Der heiße Atem meiner Jäger brannte mir im Nacken, mein Schweif hatte ich unlängst so eng wie nur irgendwie möglich an mich herangezogen, bevor sie ihn zu fassen bekämen. Langsam bekam ich Seitenstechen, wieder dieses Taubheitsgefühl in meinen Beinen. Lange hielt ich das nicht mehr aus ...
    Die stabilen Betonwände zu meiner linken tauschten ihren Platz mit durchsichtigen Glasfenstern ein. Rechts von mir jagte eine Tür die nächste. Nur eine davon musste aufschnellen, irgendjemand sich vor mich stellen, um mir den Fluchtweg abzuschneiden. Die Gefahr war groß und unmittelbar vorhanden, betrachtete man den Aufruhr hinter mir und die schier unendliche Anzahl an Türen zu meiner Rechten. Es war nur noch eine Frage der Zeit ... Ich suchte eine Alternative, einen Ort, wo ich mich vielleicht verstecken konnte, bis Gras über die Affäre gewachsen wäre. Unter dem Trommelfeuer meines Herzens sah ich mich um. Türen, nichts als Türen zu meiner Rechten und links von mir ein kleines Fleckchen Grün, ein Teich, einige Menschen, allesamt Patienten – wohl ein Außengelände, umzingelt von Glasfenstern – aber da war noch etwas ... Da war er!
    „Sheinux!“ Ich rief seinen Namen, meine Stimme klang bereits völlig heißer. Er war es, kein Zweifel. Er saß mit Colin auf einer Bank, schien allerdings noch nicht realisiert zu haben, was um ihn herum geschah.
    „Mistvieh! Bleib stehen!“
    Mich packte die Wut, übermannte mich zum ersten Mal. Stehen bleiben? Konnten sie haben!
    Ich wirbelte herum, ein Funken Reue hatte ich zwar schon, die Funken, die sich aber plötzlich aus meinem Fell lösten, waren aber weitaus stärker. Ein gleißendes Blitzgewitter entlud sich meinem Körper, ließ ihn in dem strahlendsten Gelb aufleuchten, der Boden unter meinen Pfoten schien zu beben, das Gefühl, ein Teil meiner Lebenskraft würde direkt aus meinem Körper gesogen und entfesselte sich nun in Form eines lähmenden Energiestrahls direkt in den Leibern vor mir, durchströmte mich. Die Schmerzensschreie der Männer hämmerten auf mein Trommelfell ein, das Glas um mich herum zerplatzte, ein Scherbenmeer rieselte auf mich herab – dann herrschte Totenstille.
    Ich wollte nicht sagen, dass sie sich das selbst zuzuschreiben hatten, doch konnte ich nicht leugnen, einen Hauch von Genugtuung zu spüren, die Lebensfarbe der Nachhut, die herbeieilt war, um mich an der weiteren Flucht zu hindern, langsam aus dem Gesicht rinnen zu sehen. Völlig perplex betrachteten sie die drei Männer, mit denen ich den Boden aufgewischt hatte, dann erst sahen sie mich an und stolperten langsam zurück, die Hände schützend erhoben.
    Mich interessierten die fassungslosen Pfleger, Zivildienstleistenden und Ärzte nicht, nur eines gab es für mich – nur eines ...


    Ich suchte mir die größte Lücke in einer der zerbrochenen Glasscheiben, verließ das grüne Linoleum und betrat weiches Gras – es fühlte sich gut an, nicht aber so gut, wie das Bild vor mir: Sheinux, mein Sheinux. Ich näherte mich ihm, er war aufgestanden und auch er näherte sich mir, sah mich ungläubig an. Ich kam ihm näher. Er sah elendig aus, bleich, ausgezehrt, ein kümmerliches Abbild seiner Selbst - er musste die Hölle durchlebt haben. Colin war an seiner Seite, hielt ihm eine Hand auf der Schulter, nickte ihm zu. Noch einige wenige Schritte waren wir von einander entfernt. Ich sah zu ihm hinauf, er zu mir hinunter. Schlug mein Herz noch? Ich hörte es nicht mehr schlagen. Mein Atem war flach, mein Puls quasi nicht mehr vorhanden.
    „Stan ...“
    „Sheinux ...“
    Wir sahen uns an, keiner wagte erst den nächsten Schritt – dann aber ... Er breitete die Arme aus, bückte sich bereits, um mich in diese zu schließen; ich sammelte Kraft, stieß mich kraftvoll vom Boden ab, sprang ihm direkt in seine ausgebreiteten Arme, er nahm mich auf, drückte mich, ich hörte sein Herz unter der Kleidung ganz deutlich schlagen und es schlug für mich. Wir waren wieder vereint. Er streichelte mich, es war das Größte, fühlte sich atemberaubend an.
    „T-tut mir Leid ... Tut mir Leid. Hörst du? Es tut mir Leid ... Ich war ein Idiot, so ein Idiot ...“, jammerte er. Seine Stimme zitterte. Tränen tropften auf mich ein, meine dagegen versickerten ungesehen in seinem T-Shirt. „Lass uns nie wieder streiten, okay?“, sagte er.
    „O-okay ...“


    „Weg von ihm!“
    Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, meinen Kopf zu erheben. Ich wollte ihn nicht mehr verlassen, diesen Moment festhalten, damit er mir keinesfalls aus den Krallen entglitt.
    Ging es allerdings um das Interesse des Krankenhauspersonals, so war dieser Augenblick nur von kurzer Dauer. Sie waren hier, hier wegen mir, wollten mich gewaltsam wegzerren, mich diesem Moment berauben. Auch Sheinux hob seinen Kopf und wandte sich somit gezwungenermaßen von mir ab.
    „Dieses kleine Scheusal hat die ganze Station verwüstet! Rück ihn raus!“ Es war ein Mann in grünem Kittel, offenbar der leitende Arzt des Tages, der da sprach.
    Ich schlug meine Krallen in das Stück Stoff, dass ich umklammerte, bohrte mich tief hinein, sogar in sein Fleisch. Ich wollte ihn nicht wieder loslassen, ihn keinesfalls mehr loslassen ... Und ich wollte sie nicht sehen, die Menschen, die mich hier nicht haben wollten, die Menschen, die mich hier gewaltsam wegzerren wollten. Konnten sie nicht einfach verschwinden ...? Noch enger drückte ich mich an den Körper meines Freundes. Halt mich fest, lass mich nicht mehr los, nie mehr ...
    Sheinux antwortete nicht. Ich hatte Angst.
    „Dürfte ich darum bitten?“
    Wieder dieses Schweigen, wieder diese Angst ... Sheinux sah mich an, wirkte verunsichert. Warum zögerte er so lange?
    „Wisst ihr – wisst ihr, was eine Befehlskette ist?“ Sheinux hob ruckartig seinen Kopf. „Eine Kette, die ich euch gleich solange um die Ohren prügele, bis ihr begreift, wer hier das Sagen hat! (17) Colin, wir gehen – sofort!“
    Wir bewegten uns fort, ließen die Männer hinter uns. Der letzte Zweifel war gebrochen, das letzte Stück Bedenken, das mein Herz wie Granit umschlossen hatte bröckelte ab. Es war ihm ernst, ich war ihm ernst. Unsere Reise durfte weiter gehen – gemeinsam.


    Ganz langsam ließen wir die Hochhäuser Malvenfroh Citys hinter uns, die Stadt, die mir so viel beigebracht hatte. In meinem Herzen wird sie immer ein Teil von mir sein, niemals die Erlebnisse und Lektionen vergessen, und auch niemals die Pokémon der Baker Street, denen ich so viel verdankte ...
    Danke, Freunde.

  • !!!Die nachfolgenden Ereignisse werden wieder aus Sheinux’ Perspektive erzählt und treten nach den Ereignissen in Malvenfroh City ein. Gedanken und Ansicht der Dinge umfassen wieder seine persönliche Perspektive!!!



    Kapitel 10: Showdown in Laubwechselfeld




    Part 1: Der Wandel der Dinge

    Malvenfroh City ... Diese Stadt, all seine blutdurstigen Krankenschwestern, das Bett, auf dem man mich verkabelt, angekettet und mit Spritzen misshandelt hatte und all das bekloppte Gesocks, das dort wohnte, mochte ich so weit wie nur irgendwie möglich von mir wissen.
    Ich hatte es hinter mir und keine zehn Zebritz, keine Macht der Welt und nicht einmal sämtliche Mülltonnen der Hoenn-Region konnten mich dazu bewegen, diesen Ort so schnell wieder aufzusuchen. Höchstens ... Ja, allerhöchstens einer könnte es, auch wenn ich es unwahrscheinlich hielt, dass er irgendwann doch den Entschluss fällen würde. Stan war zu mir zurückgekehrt, er hatte mir verziehen, nach allem, was ich zu ihm gesagt hatte, nach allem, was ich ihm angetan hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein. Es war so schlicht, so einfach - ich sah ihn einfach treu neben mir an meiner Seite hergehen und lediglich dies reichte bereits völlig aus, mich zu dem glücklichsten Pokémon, Mensch oder was auch immer ich war, zu machen. Ich fühlte mich wie frisch geschlüpft, rein und unbefleckt. Mein Leben hatte wieder einen tieferen Sinn. Die letzten Tage hatten schreckliche Narben bei mir hinterlassen. Keine Narben aber auf dem Körper: Mein Verstand und auch meine Seele waren in Mitleidenschaft geraten. Ich hatte meine Ideale vergessen; darum, worauf es eigentlich ankommt. Doch nicht mehr. Ich sah die Dinge wieder klar, ich hatte mein altes Selbst wiedergefunden. Und dafür danke ich dir, Stan. Danke für alles ...


    Doch auch Stan wirkte verändert. Zwar blieb es mir nach wie vor vergönnt, seine Worte zu verstehen und auch seine unsichtbaren Gedanken zu hören, doch meine Augen waren alles andere als blind. Er hatte sich verändert, irgendetwas in ihm hatte sich verändert. Er war noch immer Stan, kein Zweifel, und doch war es nicht mehr der Stan, den ich glaubte zu kennen. Ein gleißendes Licht schien von ihm auszugehen, seine Augen besaßen einen eigenartigen Glanz. Wo vorher nur Brachland trocken und karg lag und Unkraut seine spröden Wurzeln in den unfruchtbaren Boden schlug, reifte nun Selbstbewusstsein, Stolz und auch Willenskraft heran. Er lächelte jedes Mal, wenn er mich ansah, seine Augen funkelten wie die Hoffnung am Firmament, strahlender als die Sonne, die uns auf dem Weg nach Norden die Nackenhaare versengte.
    Ja, Stan war anders, etwas hatte auf ihn gewirkt. Ich wollte meinen Augen und Ohren nicht trauen, als wir noch am selbigen Abend rasteten. In Gedanken sah ich ihn bereits neben mir an meiner Seite sitzen, wie er stumm sein Abendessen vertilgte und mir nicht von der Seite wich. Dem war aber nicht so, ganz und gar nicht. Er streifte umher, suchte nicht nur die meine, sondern auch die Gesellschaft aller – sogar die Feurigels und die der anderen Pokémon. Er redete mit ihnen, schwatzte, als ob es für ihn das Normalste dieser Welt war. Ich sah ihn lachen und auch, wie er sich plötzlich einen Korb von Fiffyen fing. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings auf den Boden - und schon war er wieder auf den Beinen, sah mich an und grinste mir schwanzwedelnd entgegen.


    Die Zeit, aber auch gute Freunde lassen alle Wunden verheilen und reichen sie noch so tief ...

  • Part 2: Auf der Zielgeraden


    Unser Weg führte fortwährend nordwärts. So wie Stan und ich unsere Zwistigkeiten hinter uns gelassen hatten, nahmen wir auch immer mehr Abstand zu den Orten, die immer weiter in die Ferne rückten: Das Raumfahrtzentrum – die Konfrontation mit Deoxys; Moosbach City – meine erste Nacht als Mensch; der Ozean – Gefühlsschwankungen so hoch wie die Wellen in jener Nacht; Seegrasulb City – ein unbedeutender Zwischenstopp auf unserer Jagt gen Westen; Baumhausen City - die Auseinandersetzung mit einem hirnverbrannten Knallkopf; das kleine Häuschen – die Geschichte über den selbstverliebten Prinzen; die Wüste – wo wir wie blinde Traumtänzer beinahe der unerbittlichen Sonne zum Opfer gefallen wären; und schließlich Malvenfroh City – das Krankenhaus, die Ärzte, ein heftiger Streit, an dem Stans und meine Freundschaft fast zerbrochen wäre, und unsere schließliche Wiedervereinigung. Alles war wieder beim Status quo. Nur eines musste noch bereinigt werden, nur noch eines ... Und das taten wir! Wir waren wieder unterwegs nach Laubwechselfeld, wo, laut Angaben eines bereits genannten Spinners, dessen Namen ich mir wohl an dieser Stelle sparen kann, Deoxys auf uns wartete.


    Mit anwachsender Steigung unseres Pfades schien die Temperatur um uns herum mehr und mehr zu sinken, ein aufdringlicher – zumindest erweckte es den ersten Eindruck – Nebelschleier schob sich vor die Sonne, es wurde immer dunkler, und das am helllichten Tage. Dem noch nicht genug, stiefelten wir plötzlich durch millimeterhohen Schnee – es schneite, mitten im Sommer! Es war nicht zu glauben. Auch das Landschaftsbild pervertierte mit jedem zurückgelegten Schritt: Das Grün der Gräser, Bäumen und Blumen verschwand unter der dicken, grauen Schicht, die unaufhörlich vom Himmel regnete. Die Gegend war sehr abwechslungsreich, mal zerklüftet und mal glatt wie ein auf Hochglanz polierter Mülltonnendeckel, die Flora blühte dennoch regelrecht auf: Trotz schlechter Witterung gab es eine Vielzahl von Pflanzen, deren Anblick mich nachdenklich stimmte – viele davon waren mir völlig fremd. Von knochigen Wurzeln, über zierliche Blumen, deren Schönheit problemlos mit der der Schönheit der Rose der Wüste Schritt halten konnte, bis hin zu monströsen, turmgroßen Bäumen. Der Hoenn-Schnee war allerdings eine Sache für sich - weniger flockig, als ich ihn von meinem geliebten Nationalpark her kannte. Auch hatte ich noch nie zuvor gräulichen Schnee gesehen, geschweige denn, gekostet. (*¹)
    „Bäh!“ Nur knapp entging Stan meinem gräulichen Speichel, dem ich ihn unbeabsichtigt direkt vor die Pfoten gespuckt hatte. Er rief empört auf. „Sorry ...“, entschuldigte ich mich bei ihm und wandte mich angewidert zu Colin. „Euer Schnee schmeckt echt grässlich, weißt du das?“
    Colin verschränkte genervt die Arme. „Hast du mir eigentlich nicht zugehört? Ich sagte doch, dass das Asche und kein Schnee ist.“
    „Ich bin nicht schwerhörig, ich ignoriere dich bloß, aber bitte – klär mich noch mal über dieses Schneegestöber auf“, entgegnete ich aalglatt.
    Oh, ja: Ich war wieder ich selbst. Endlich hatte ich mein bereits verloren geglaubtes Ich wieder gefunden. (*²) Mit Stans Rückkehr war alles wieder beim Alten – nun ja, sah man noch von der winzigen Kleinigkeit ab, dass ich noch immer ein über 150 Zentimeter großes, pelzloses und auf zwei Beinen gehendes Ungetüm war. Doch da ließ sich sicher noch etwas deichseln, weswegen wir schließlich auch unterwegs waren.
    Colin seufzte resigniert. „Asche, mein Freund, kein Schnee, Asche“, belehrte er mich zum wiederholten Mal. „Vor geraumer Zeit – lass mich überlegen ... es müssten jetzt an die zehn Jahre sein – gab es bei uns in der Region ein Unglück. – Siehst du den Berg da, den ganz großen?“ Colins Finger zeigte auf einen gewaltigen Brocken von einem Berg, der ein Stück weit im Osten majestätisch in den Himmel ragte und spöttisch auf die kleinen Geschöpfe hinablächelte, die sich in seinem gigantischen Schatten räkelten. „Man nennt ihn ,den Schlotberg’. Er brach aus, spie Feuer und Flamme und verformte so das Land.“
    „Ein Feuer spuckender Berg?“ Ich stellte ihn mir gerade in Gedanken vor, den rülpsenden Berg, mit dicker Knollennase und breitem Mund, wie er mit einem kräftigen Nieser die blühende Landschaft entstellte – geradezu absurd.
    „Im übertragenen Sinn natürlich“, fügte Colin hinzu, der meine Skepsis aufgriff. „Ein Vulkan, du verstehst?“
    „Kenn ich nicht, weiß ich nicht, versteh ich nicht ...“, entgegnete ich schulterzuckend.


    Ich hasste dieses resignierende Seufzen, das Colin immer dann tat, wenn ich mich in seinen Augen schwer von Begriff präsentierte. Ich fühlte mich dabei immer wie ein neugeborenes menschliches Kind behandelt, dem man alles auf die einfachste und kindgerechteste Art erklären musste, Abends vor dem Zubettgehen die Flasche reichte und zum Bäuerchen machen dann zärtlich auf den Rücken klopfte. Ich stellte die Ohren einfach auf Durchzug. Es interessierte mich schlichtweg nicht, schließlich wusste ich längst alles, was ich zum Leben brauchte, oder um es mit den Worten meines werten Großvaters zu sagen: ,Auf dem Mond muss es nicht unbedingt Leben geben, nur weil da jeden Abend das Licht brennt.’
    „Also – ähm, wo war ich? Ach ja!“, griff Colin das Gespräch wieder auf. „Auf jeden Fall brechen seit diesem Tag regelmäßig diese Ascheregen über uns ein. Der Schlotberg selbst rührt sich aber nicht mehr. Er wird in Abständen immer wieder untersucht, bislang deutet allerdings alles darauf hin, dass er inaktiv ist und dies auch bleiben wird.“
    „Aha“, sagte ich schläfrig.
    „Du wirst aber lachen – dieser regelmäßige Ascheregen ist eine wahre Wohltat für unsere Ländereien. Die Agrarprodukte unserer Gegend gelten dank des fruchtbaren Bodens als die besten des ganzen Landes und das trotz manchmal nur wenigen Sonnenstunden am Tag. Unsere Landwirtschaft ist dank des angereicherten Ascheregens unübertroffen!“
    „Wahnsinn ...“ Ich unterdrückte ein herzhaftes Gähnen.
    „Viele hier in der Gegend leben auch ausschließlich von der Landwirtschaft, weswegen wir uns unser Leben nur noch kaum ohne den Schlotberg und den regelmäßigen Ascheregen vorstellen können – und da ist auch schon einer.“


    Von dem ständigen Geräusch plattgetretener Asche begleitet, passierten wir ein eingezäuntes Stück Land. Ein älterer Mann mit Strohhut bearbeitete sein aschebedecktes Feld mit schwerem Werkzeug – scheinbar ein Knochenjob, denn das Ächzen und Stöhnen seiner Bewegung und auch der Klang von kaltem Metall, der sich ruckartig in den Boden bohrte, sangen bereits beim Zuhören Lieder davon, wie schwer es ein Farmer hat, seine Felder zu bestellen.
    „Hallo, Mr. Owen!“, grüßte Colin den Mann, wandte sich aber noch kurz in verschwörerischer Stellung zu mir. „Ich kenne ihn“, sagte er überflüssigerweise. „Ich habe ihm früher gelegentlich für ein paar Pokédollar bei der Arbeit geholfen – da habe ich übrigens auch Sandan kennen gelernt -, in letzter Zeit aber nicht mehr so oft.“
    Ich verdrehte die Augen. „Ja, dachte ich mir ...“
    Der Mann schob sich mit einem weiteren Ächzen sein Rückrat grade, wischte sich den überflüssigen Schweiß mit einer kräftigen Bewegung von der Stirn und wandte sich zu uns. Er war bereits etwas älter, Falten formten sein vor Anstrengung gezeichnetes Gesicht. „Ah, der junge Colin Knox!“ Er stützte sich erschöpft auf seine Gartenhacke ab. „Du hast mir ja schon eine ganze Zeit nicht mehr bei der Arbeit geholfen. – Hast du vielleicht Zeit, mein Junge? Möchtest du dir vielleicht etwas zu deinem Taschengeld bei dem guten alten Owen dazu verdienen? Dein Freund ist natürlich auch herzlich eingeladen.“
    „Also ...“, begann Colin.
    „Dem alten Knacker, zacker ich doch nicht den Acker! Wir müssen weiter!“, zischte ich leise und rempelte meinen Kumpanen dabei unwirsch an.
    Stan gluckste heftig, Colin schien im ersten Moment etwas beleidigt, nickte mir dann aber stumm zu. „Ein andermal vielleicht, Mr. Owen“, sagte er.
    Das Lächeln verschwand auf dem Gesicht des Greises. „Schade“, sagte er traurig, „wirklich schade ...“
    „Wir sind auf der Durchreise und leider etwas in Eile. Bald aber wieder, versprochen“, fügte Colin hinzu.
    „Auf der Durchreise? Doch nicht nach Laubwechselfeld, oder?“, fragte Mr. Owen.
    Colin, Stan und ich tauschten Blicke. „Doch, gibt es da ein Problem?“, fragte Colin leicht nervös.
    Die Hacke bohrte sich mit einem gedämpften Ächzer wieder in den Boden. Mr. Owen hatte wieder mit der Bearbeitung seines Landes begonnen. „Kann mal wohl sagen“, meinte er. „Die ganze Stadt ist seit gestern Abend in Aufruhr. Irgendein Viech aus dem All soll da gelandet sein – frag mich nicht ...“
    Colins Gesicht wurde die Farbe des Lebens genommen – er war plötzlich kreidebleich. „A-Aufruhr?“, stammelte er.
    „Deoxys!“, rief ich und spürte dabei regelrecht das Verlangen in meiner Stimme. „Ist es noch weit?“
    „N-nein ...“
    „Dann komm!“

  • Part 3: Eine Stadt in Angst


    Colin mal an der Spitze unserer Gruppe zu sehen, stellte sich als unverhofftes Vergnügen heraus. Das Einzige, was man unmerklich von dem Dauerredner vernahm, war das kraftvolle Aufstampfen seiner Füße auf die aschebedeckte Erde, sein unaufhörliches Schnaufen nicht zu vergessen. Auch mir trieb mittlerweile die Anstrengung des Spurts den Schweiß ins Gesicht, das schwere Gepäck auf meinem Rücken wippte im Gleichtakt meiner weiten Schritte und drosch brachial auf mich ein. Doch die Schufterei lohne sich: Die langsame Steigung des Pfades erreichte an einem steilen grasbewachsenen Abhang schließlich seinen Höhepunkt. Das recht steile Gefälle reichte etwa einen Kilometer herunter und unmittelbar dahinter türmten sich endlich die ersten Gebäude Laubwechselfelds auf – der Augenblick, auf den wir so lange und so verbissen hingearbeitet hatten.


    Colins Heimatort war nicht mit Städten wie Moosbach - oder Malvenfroh City zu vergleichen. Das Streben nach Perfektion und der Drang, den anderen Städten der Menschen in jeder Hinsicht nachzueifern, schien diese abgeschiedene Region Hoenns noch nicht erreicht zu haben, denn Laubwechselfeld kam eher einem verschlafenen Nest gleich: Keine monströsen Wolkenkratzer, kein dichtes Verkehrsnetz, sehr viel Grün umzingelt von lediglich kleingewachsenen Betonbunkern – verirren schien in diesem geordnetem Chaos fast ausgeschlossen. (*³)
    Unter heftigem Seitenstechen erreichte ich schließlich Colin, der an einer Absperrung – ein schlichter Holzzaun, der unvorsichtigen Reisenden den unerwarteten Sturz den Abhang hinunter ersparen sollte – auf seinen Heimatort hinabblickte. Aus der Distanz konnte man unmöglich Schlussfolgerungen ziehen, was sich in der Menschenstadt abspielte. Auf den ersten Blick sah alles normal aus: Einige Autos schlängelten sich durch die Straßen und auch kleine Punkte waren zu sehen – wohl Menschen, wenn es auch nicht sonderlich viele waren. Ein Grund sich zu sorgen? Für Colin offensichtlich schon, denn nicht ich war es, der den langen aber sicheren Pfad ins Tal hinab gekonnt ignorierte, sich kommentarlos über die Brüstung schwang und sich zielstrebig das steile Gefälle hinunter arbeitete, sondern Colin – Stan und ich folgten ihm minder beeindruckt.


    „Wohin jetzt?“ Wir hatten unsere Rutschpartie heil überstanden und blickten nun auf die Rücken der ersten Wohnhäuser und auf die gut gepflegten, jedoch aschebedeckten Kleinstadtgärten Laubwechselfelds. Es war ruhig, sehr ruhig, zu ruhig. Es machte mich nervös, von Colin gar nicht erst zu reden. Er antwortete erst gar nicht auf meine Frage, sondern setzte sich mit schnellen Schritten wieder in Bewegung. Stan und ich tauschten ratlose Blicke, nahmen aber gleich wieder die Verfolgung auf.


    Wohin man auch sah, blickte man in angespannte Mienen, den wenigen Menschen auf der Straße stand die Nervosität förmlich ins Gesicht geschrieben. Ein jeder suchte offensichtlich in aller Eile den schnellsten Weg von der Straße herunter und zu dem einzigen Ort, der ihrer Auffassung nach ausreichend Schutz bot: Die eigenen vier Wände.
    „Wohin wollen wir eigentlich?“ Stan und ich hatten Colin eingeholt. Gemeinsam jagten wir durch die fast ausgestorbenen Straßen Laubwechselfelds, vorbei an geschlossenen Geschäften und bis zum Anschlag verrammelten Schaufenstern. Baumhausen City oder Laubwechselfeld – in welcher Stadt ich mich unter diesen Umständen wohler fühlte, konnte ich nicht sagen.
    „Zu mir nachhause“, keuchte Colin knapp.
    „Kaffeekränzchen oder was?“
    „Quatsch! Ich will wissen, was hier los ist.“
    Colin, und so auch ich und Stan, bogen an einem kleinen Lebensmittelgeschäft in eine weitere Straße ein. Wir schienen das Geschäftsviertel hinter uns gelassen zu haben – viele Häuser in verschiedenen Formen und Farben standen zu jeder Straßenseite, mit Garagen für überteuerte Edelkarosserien aber auch ohne, mit kleineren aber auch größeren Vorgärten, mehrere Etagen oder schlichte Bungalowbauten mit Flachdächern. Auch wenn die Behausungen für wesentlich mehr Abwechslung sorgten, als die monotonen Reihenhäuser der Großstadt, konnte ich dennoch kein wirkliches Interesse oder Gefallen daran finden.
    Colin wurde erst langsamer, nachdem er gut und gern zwanzig Häuser interesselos zurückgelassen hatte. Eine kleine Mauer wurde übersprungen, das aschebedeckte Gras des Vorgartens gleichgültig zertrampelt – stets von mir und Stan begleitet. Völlig zum Stillstand kam Colin endlich an einer Haustür, er klingelte – hier lebte also Colin? Keuchend und mit einem Messer, das unaufhörlich in Lungen und Hüfte einstach, stoppte auch ich und begutachtete das Haus. Nicht sonderlich groß, Betonmauer, weiße Fassade, Fenster, ... ja, wie ein Haus eben aussieht – uninteressant. Mich interessierte nur eines: Wo steckte Deoxys?


    Colin läutete Sturm – keiner öffnete. Wieder leierte die Haustür sein Glockenspiel rauf und runter – nichts geschah.
    „Niemand da?“ Colin schien nervös und ratlos zugleich. Er stolperte einen Schritt zurück, den Blick stets auf der verschlossenen Türe ruhend. „Was ist hier bloß los ...?“
    „Willst du die Tür niederstarren – es ist keiner hier, fertig!“, keifte ich ihn genervt an. „Dann lass jemanden fragen, vielleicht weiß ja irgendwer was. Da drüben der vielleicht ...“ Ich deutete auf einen Mann, der eiligst den Bürgersteig entlangmarschierte.
    „Ja, hast vielleicht Recht ... Oh, warte! Den kenn ich, das ist mein Nachbar. – Hey, Marc, warte mal ’ne Sekunde!“
    Der Mann namens Marc drehte sich interessiert zu uns. Wir näherten uns ihm rasch. „Oh, Colin, hi! Schön, dich mal wiederzusehen. Allerdings gerade etwas ungünstig ...“ Marc warf nervös einen Blick über die Schulter, als ob er fürchtete, verfolgt zu werden.
    „Weißt du, wo meine Eltern sind? Ich bin ausgesperrt“, sagte Colin.
    Marc schürzte unruhig die Lippen. „Wenn sie nicht hier sind, dann wohl auf den Meteoritenfeldern ... Mich kriegen die da nicht hin. Wer weiß, was da vorgeht. Du solltest dich auch besser fernhalten, wenn du mich fragst ...“
    Colin schlug sich mit der Hand kräftig gegen die Stirn. „Die Meteoritenfelder!“, sagte er. „Richtig!“
    „Meteoriten?“, murmelte ich leise und verschränkte fragend die Arme. „Da war doch was, aber was ...?“
    „Erklär ich dir später, komm! - Danke, Marc. Grüß die Familie von mir.“