*Pflicht und Ehre*

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  • Kapitel 6: Geteiltes Bett ist halbes Bett


    Part 1: Nostalgische Gefühle


    Diese Menschen... Ich würde sie wohl nie verstehen... Ich meine, wie konnte man überhaupt nur Ansatzweise darüber nachdenken, die Nacht hier draußen im Regen zu verbringen, wenn man keine fünf Minuten weiter sicher und wohlbehütet im Trockenen sitzen kann?
    Stan lieferte mir, warum auch immer, verbissenen Widerstand, als ich ihn mit aller Kraft in Richtung des Menschengebäudes zog. Es verlangte mir tatsächlich meine allerletzten Kraftreserven ab, ihn zum Eintreten zu bewegen. Stan zog mit seiner engstirnigen Unbeweglichkeit bereits eine meterweite Schneise in den Schlamm.
    „Jetzt mach schon!“, fluchte ich, als wir nur noch wenige Meter von der einladenden und wärmespendenden Fassade des Gebäudes entfernt waren.
    Die anderen wetterflüchtigen Menschen warfen uns beim Vorrübergehen neugierige Blicke zu. Die meisten von ihnen schirmten sich mit Kleidungsstücken oder anderen Stofffetzen, die sie über ihren Köpfen hielten, vor dem prasselnden Nass ab.
    „Das ist ja peinlich. Mit dir kann man sich nur schämen...“, murrte ich, während scharenweise Menschen kopfschüttelnd an uns vorbeiströmten. „Nun komm endlich!“
    Stan schaute nervös in alle Richtungen. Er schien von Sekunde zu Sekunde schwerer zu werden.
    „Hier ist soviel los... Die haben eh für uns nichts frei... Lass uns woanders weiter suchen... Oliviana kann auch nicht mehr soweit sein...“, stammelte Stan und machte doch tatsächlich Anstalten wieder kehrt zu machen.
    Sofort stellte ich mich meinem Trainer in den Weg und ging wie ein Raubtier, dass seine Beute fixierte, langsam auf ihn zu.
    „Wenn du nicht gleich da rein gehst, ziehe ich andere Seiten mit dir auf!“, bellte ich.
    Stan stolperte erschrocken die drei hölzernen, schlammübersäten Treppenstufen rücklings hinauf.
    „Marsch rein mit dir“, rief ich und drückte ihn mit meiner puren Körperkraft durch die von unseren freundlichen Vorgängern bereits geöffnete Tür.


    Ich schüttelte meinen schlammbeschmierten Körper ausgiebig und besprenkelte dabei meine maulenden Nachbarn mit Dreck und Regenwasser.
    Ein vertrauter Anblick bot sich mir, als ich die Augen nach dieser Wohltat öffnete: Wir fanden uns in einem weiten, mit braunen (wahrscheinlich waren sie weiß, doch da mittlerweile mindestens die Hälfte des Schlamms hier im Haus war, konnte man das nicht mehr erkennen) Keramikplatten bepflasterten Raum wieder. Das Haus glich dem Pokèmon-Center von heute Morgen wie aus dem Haar. Ja selbst der Geruch war nahezu identisch, auch wenn gleichzeitig das dezente Aroma von durchnässten Kleidungsstücken und Dreck in der Luft lag. Ein weiterer Unterschied lag natürlich auch an der Vielzahl der Menschen, die hier offenbar, genau wie wir, Schutz vor dem Unwetter suchten. Gut zwei Dutzend tummelten sich hier im Eingangsbereich bei uns.
    Stan wirkte nervöser denn je. Seine Augen huschten fast schon panisch von einer Seite des Raumes zur nächsten. Zweimal sogar blickte er direkt zum Ausgang hinter uns hinüber.
    „Bitte hier anstellen“, sagte ein etwas müde aussehender Mensch freundlich zu uns und wies uns an das Ende einer Menschenschlange ein.
    „Nicht nötig... Wir wollten eh gerade gehen...“, murmelte Stan und zwang sich krampfhaft zu einem Lächeln.
    Ein heller Lichtblitz suchte sich seinen Weg durch das uns am nächsten liegende Fenster. Nur Sekunden später hallte ein kraftvolles Donnern durch den Raum. Windböen pfiffen unheilbringend und rüttelten kraftvoll an den Fensterrollläden. Der Sturm war auf dem Höhepunkt seiner Macht.
    Stan winselte leise auf und reihte sich zittrig als Schlusslicht in die Schlange ein.
    Der Mann musterte uns noch einige Sekunden neugierig, doch nahm er bereits wenige Augenblicke später die nächste Ladung Neuankömmlinge in Empfang, die sich hinter uns einordneten.
    Irgendwie konnte ich mir aus Stans Verhalten immer noch keinen Reim machen. Doch im Moment interessierte mich nur, dass wir endlich ein Dach über dem Kopf hatten. Über Stan hatte ich leider noch mehr als genug Zeit zum Nachdenken...


    Die Menschenschlange vor uns wurde von Minute zu Minute kleiner. Hinter uns jedoch fanden sich immer mehr Wetterflüchtige ein und ich musste doch sehr aufpassen, dass mir niemand auf meinen vom Wetter gebeutelten Schwanz trat. Wasser perlte von meinem Fell langsam gen Boden hinab, während das Ende der Schlange nun in sichtbare Nähe kam: Eine völlig übermüdete Krankenschwester, die der Pflegerin aus dem Pokémon-Center des letzten Tages wie aus dem Gesicht geschnitten war, trug die reisenden Besucher in ein kleines Buch ein und verwies sie allem Anschein nach auf ihre Zimmer. Stan stolperte unruhig von einen seiner Füße auf den anderen, während die Gestalt der Krankenschwester immer näher kam.
    „Hallo“, begrüßte sie uns mit einem Lächeln auf den Lippen.
    „Nun sag schon was...“, zischte ich und stieß Stan in die Kniekehle.
    „Äh, Hallo... Ein Zimmer für... Ich meine, ein Einbettzimmer bitte“, stotterte Stan.
    „Und etwas ordentliches zum Essen, mit Verlaub“, hakte ich nach.
    „Tut mir leid, aber Einbettzimmer sind alle bereits vergeben“, antwortete sie freundlich. „An Tagen wie diesen sind unsere Kapazitäten leider etwas ausgeschöpft. Ich hoffe es macht dir nichts aus, dein Quartier mit anderen zu teilen.“
    „Äh...“
    „Nehmen wir“, schnitt ich Stan ins Wort.
    „Ich weiße dich in ein Vierbettzimmer ein. Zimmer elf, wäre es dann für diese Nacht“, sagte sie und überreichte Stan einen kleinen silberfarbenen Schlüssel.“


    „Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden...“, brummte Stan zu mir hinab, seinen Blick fest auf den Schlüssel geheftet.
    „Voll und ganz“, entgegnete ich ihm zufrieden und befreite meinen Körper von der restlichen Nässe; sehr zum Leidwesen meiner Nachbarn.

  • Erst mal Respekt, dass du so viel und schnell schreibst
    Ich bin eine miese Fehlersucherin und die Tatsache, dass du so wenig davon hast, macht es mir nicht leichter. Kritik ist eh nicht mein Ding

    „Gut, gut. Oliviana City ist wirklich einen Besuch wert, sage ich dir.

    Da fehlt ein "


    Ich finde es sehr schön, dass du aus der Sicht eines Pokemons schreibst, dass die Handlungen der Menschen nicht versteht, was wir wiederum verstehen,das finde ich sehr lustig (bin aber auch einfach zum lachen zu bringen).
    Die Landschaften, die du beschreibst, kann man sich gut vorstellen und auch alles andere was passiert.
    Ich finde es auch schön, dass Sheinux seine eigenen gar nicht so dummen Gedanken hat und die Handlungen der Menschen aus einer komplett anderen Sicht sieht. Am besten sind Sheinux bissigen Bemerkungen, die Stan nicht versteht ;D . Er kapiert Stans Handlungen nicht und Stan kapiert nicht was Sheinux sagen will^^. Ich habe das Gefühl, dass der Trainer nicht das Pokemon im Griff hat sondern andersrum.
    Ich habe übrigens das Gefühl du benutzt "..." recht häufig, obwohl ich schlimmere kenne Ignorier das einfach


    Ich bin gespannt, was dem armen Stan (mein Beileid) noch passieren wird :D .

  • Part 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben


    Mit hängendem Kopf, den Blick fest auf die mit braunen Fußabdrücken übersäten Keramikplatten gerichtet, schlurfte Stan mit mir in Begleitung aus dem lärmenden und völlig überfüllten Empfangsraum.
    Im Grunde konnte ich das Verhalten meines mürrischen Begleiters gut nachempfinden: Auch mir lag nicht sonderlich viel an der Anwesenheit von so vielen Menschen. Der Lärm war nahezu unerträglich. Ganz zu schweigen von den strengen Gerüchen, die mir unangenehm in der Nase kribbelten. Doch war es auch eine gelungene Abwechslung von einem ganzen Tag in fast völliger Abgeschiedenheit.
    Ich muss euch hier doch gestehen, dass mich die vielen Menschen doch etwas neugierig machten.
    Wieso, fragt ihr? Wo ich doch sonst immer die Gegenwart von Menschen gemieden hatte? Nun, das ist wohl wahr. Aber die Erfahrung lehrte mich auch, dass, wo viele Menschen waren, es auch immer etwas halbwegs ordentliches zu essen gab und mein Magen... Nun ja, er rebellierte zu dem Zeitpunkt doch etwas lautstark. Aber Stan schien andere Pläne zu haben. Recht ziellos bahnte er sich seinen Weg durch die Menschenmengen, auf der Suche nach... Ja, nach was überhaupt?


    „Hey Chef! Wohin soll’s eigentlich gehen?“, fragte ich Stan, als er in einer halbwegs menschenleeren Ecke Halt gemacht hatte und damit begann, Löcher in die Wand zu starren.
    Stan seufzte schwer.
    „Was ist nun? Will ja nichts sagen, aber mir hängt mein Magen in den Kniekehlen“, hakte ich nach.
    Stan schwieg bedächtig.
    Ja, gab es denn so etwas? Der Typ schien mich konsequent zu ignorieren. Na, das wollten wir doch mal sehen.
    Ich holte mit meinem schlammbeschmierten Vorderbein großzügig aus und trat meinem Gegenüber kräftig gegen sein Schienbein.
    „Autsch, Sheinux! Was...?“
    „Lies es mir von den Lippen ab: Ich ~ habe ~ Hunger“, fluchte ich laut, nun da ich endlich für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit gewonnen hatte.
    „Äh, was hältst du davon, wenn wir uns unser Zimmer mal anschauen?“, fragte er und ohne überhaupt auf eine Antwort von mir zu warten, setzte er sich in Bewegung.
    „Das kann ja wohl jetzt nicht dein ernst sein oder!?“, rief ich, rannte ihm aufgebracht nach und versuchte wieder durch “schlagkräftige Argumente“ seine Aufmerksamkeit zu gewinnen.


    Stans bitteren Klagelaute konnte man wohl im ganzen Haus hören, doch schien er mich und meinen knurrenden Magen trotz unserer Bemühungen weiterhin hartnäckig ignorieren zu wollen.
    Reges Getuschel und stellenweise auch Gelächter begleitete uns auf unserem Weg durch den noch immer reichlich besuchten Eingangsbereich, welchen wir auf unserem Weg in die wohl essensfreie Zone passierten.
    Ein langer, völlig ausgestorbener Korridor erstreckte sich nun vor uns. Von dem regen Treiben aus der Aula war nahezu nichts mehr zu hören. Scheinbar war jeder bei klarem Verstand längst im Speisesaal und ließ sich es gut gehen. Ich ließ meiner Unlust also weiterhin freien Lauf.
    „Zimmer neun... Autsch! Zehn... Au... Elf, da wären wir“, sagte er und schob den silberfarbenen Schlüssel, den er vor wenigen Minuten erhalten hatte, in der Türschloss.
    Mit einem leisen “Klick“ öffnete sich die Tür. Stan tastete mechanisch an der Wand entlang, auf der Suche nach dem Lichtschalter. Mit einem Schlag war helllichter Tag in den finsteren Raum eingekehrt.
    „Toll!“, platzte es mir hinaus, während mein Blick durch dein kleinen Raum schweifte. „Zwei idiotische Etagenbetten, eine hässliche Lampe, ein blöder Tisch, vier doofe Stühle und ein Fenster, wie es sie im ganzen Haus gibt. Bist du jetzt zufrieden?“
    „Sieht doch ganz gemütlich aus“, murmelte Stan und wippte vorsichtig auf dem Kopfende einer Matratzen herum. „Oder was meinst du?“
    „Jetzt platzt mir aber der Kragen: Mein Magen fängt gerade an sich selbst zu verdauen und du spielst hier Hoppe, Hoppe, Reiter!“, entgegnete ich ihm aufgebracht und warf ihm einen verabscheuungswürdigen Blick zu.
    Wie auf Kommando meldete sich mein Magen mit einem unüberhörbaren Knurren zu Wort und keine fünf Sekunden später antwortete auch der leere Bauch Stans mit einem eindringlichen Zürnen. Stan schaute verlegen in meine Richtung.
    „Tja, zwei gegen einen. Wir sind in der Überzahl, würde ich mal sagen“, höhnte ich genüsslich.
    „Also gut...“, murrte Stan und erhob sich von seinem Bett. „Gehen wir.“


    Angetrieben von meinem immer lauter werdenden Magen, marschierten wir wieder zurück in den Eingangsbereich, der mit Ausnahme einiger späten Neuankömmlinge nahezu völlig leer war, hinüber zum Speisesaal der Menschen. Der Weg dorthin kam mir wie eine schier endlose Höllenqual vor. Warum um alles in der Welt war Stan nur so störrisch? Aber egal. Alles was nun zählte war, dass ich jeden Moment meine Zähne in irgendetwas hineinschlagen konnte.
    „Um eines klar zu stellen“, sagte ich zum Abschluss, als wir vor einer großen, flaschengrünfarbenen und zweiflügeligen Tür standen. „Ich hätte den Weg auch gut alleine gefunden, klar?“
    Hinter der Tür war das fröhliche Geklimper von Messern und Gabeln, und natürlich das rege Lärmen von mindestens hundert Menschen zu hören.
    Stan seufzte auf. Seine Hand war auf einen der beiden Türgriffe gerichtet. Sie zitterte.
    „Wohl vor Hunger völlig kraftlos, hm? Na, hättest du gleich auf mich gehört...“, äußerte ich mich. „Aber egal. Diese Tür wird uns nicht aufhalten.“
    Mit diesen Worten und mit meinem ungebrochenen, eisernen Willen schob ich die schwere Tür auf und zwängte mich hindurch.


    Der Speisesaal glich, wie ich es bereits erwartet hatte, dem aus dem Pokémon-Center von heute morgen, wie aus dem selben Stoff geschneidert. Dutzende lange Bänke und Tische standen aufgereiht in der großen Halle für hungrige Besucher bereit. Auch der Essensausschank war am selbigen Ort zu finden. Einziger Unterschied war natürlich die Übermacht von Menschen, die gerade fröhlich dabei waren, mein Essen zu verdauen.
    Niemand schien bemerkt zu haben, dass ein hungriger Mensch und ein noch hungrigeres Pokémon soeben den Raum betreten hatten. Wie auch? Sie waren schließlich viel zu sehr damit beschäftigt, mir mein Essen wegzufuttern. Stan gab einen flehenden Klagelaut zum Besten, während sein Blick durch den überfüllten Raum wanderte.
    Ich warf einen Blick über die Schulter.
    „Du bist ja immer noch hier!“, rief ich und war, wie ihr euch sicher denken könnt, nicht gerade erfreut. „Du könntest schon längst zurück sein. Mach hin! Ich halt uns derweil einen Platz frei.“
    Ich eilte durch den Raum und nahm auf dem Ende einer gut besetzten Bank Stellung ein. Mein Banknachbar schien nicht bemerkt zu haben, dass er gerade solch vornehmen Besuch bekommen hatte und schaufelte sich fröhlich Kartoffeln in die Futterluke.
    „Ja, genieß es ruhig solange du kannst, Angeber. Aber gleich kommt mein Essen. Dann schaust du dumm aus der Wäsche“, zischte ich, während mein Magen meinem Gegenüber anknurrte. Ich schaute erwartungsvoll zum Essensausschank, wo Stan sicherlich schon die köstlichsten Delikatessen für mich organisierte. Doch meine Augen weiteten sich vor Schreck: Eine kleine Menschenschlange, doch von Stan keine Spur zu sehen. Wo war er bloß geblieben? Hatte er sich etwa klammheimlich mit meinem Essen verdrückt?
    Meine Augen huschten nervös durch den Raum und blieben plötzlich am Ausgang kleben.
    Ja, gab es denn so was? Stan hatte sich doch tatsächlich noch keinen Millimeter bewegt, stand wie angewurzelt an Ort und Stelle fest und schaute verängstigt abwechselnd zu mir hinüber und in Richtung einer nahezu leeren Bank am Ende des Raumes, als wollte er mir irgendetwas mitteilen, was mich jedoch überhaupt nicht interessierte.
    „Steh nicht so unnütz in der Gegen rum und mach dich endlich nützlich!“, brüllte ich ihm durch das fröhliche Geschnatter und Besteckgeklimper hindurch.
    Endlich. Stan setzte sich in Bewegung. Wenn auch nur langsam.


    Mein Nachbar gab einen leisen Rülpser zum Besten und rieb sich zufrieden seinen vollgefressenen Wanst. Scheinbar wollte er mich verspotten.
    „Rülps nicht so selbstgefällig“, fauchte ich. „Mein Essen kommt auch gleich und dann wirst du Bauklötze staunen!“
    Begierig schaute ich hinüber zur Essensausgabe. Stan hatte sich inzwischen mit einem Tablett in der Hand in die kleine Schlange eingereiht. Es würde nicht mehr lange dauern. Ja, nicht mehr lange... Noch drei Leute vor ihm... Noch zwei... Noch einer...
    Mein Banknachbar nieste plötzlich laut und schaute angewidert auf seine Hände.
    „Tja, der Erfolg liegt auf der Hand, nicht wahr?“, gluckste ich zufrieden. „Ah, da kommt er ja!“


    Stan hatte sich soeben auf den Rückweg gemacht. Sein Tablett war, sofern ich das richtig beurteilen konnte, zwar nicht rappelvoll, aber zumindest war etwas drauf. Das würde für mich allemal reichen. Er stellte es nervös auf den Tisch ab. Mit einem Satz sprang ich hinauf und begutachtete seinen Beutezug. Meine Banknachbarn warfen mir neugierige Blicke zu, was mich jedoch nicht sonderlich kümmerte.
    Aber was...? Was sollte denn das sein? Ein widerlicher Gestank drang in meine Nase, ausgehend von einer gelben, schleimigen Suppe. Das konnte doch jetzt nicht sein ernst sein?
    „Sag mal, versuchst du mich hier gerade zu vergiften?“, rief ich und schaute ihm entrüstet in seine trüben Augen.
    „Äh, tut mir leid, aber wir sind wohl etwas zu spät. Das ist alles, was es noch gibt...“, entschuldigte er sich und zwang sich zu einem krampfhaften Lächeln.
    Mir klappte der Kiefer hinunter. Das war ja wohl die Höhe! Leichtfüßig sprang ich vom Tisch, hinunter auf den keramikbepflasterten Boden und tat meiner Missmut wieder freien Lauf.
    „Das ist...“, fluchte ich und trat ihm erneut gegen das Schienbein. („Autsch“) „...alles deine Schuld“ („Au, Sheinux, lass das!“)
    Zwar konnte ich unter dem Tisch nicht erkennen was oben vor sich ging, doch dem regen Getuschel zu urteilen, waren Stan und ich mittlerweile zum Bankgespräch des Abends geworden. Recht so! Sollten sie nur sehen, mit was ich mich hier herumärgern musste.
    „Hättest du gleich auf mich gehört...“ („Ich sagte doch, dass es mir leid tut...“) „...statt in dieses doofe Zimmer zu gehen...“ („Uff...“) „...dann könnten wir uns jetzt im Essen aalen. Von was soll ich jetzt satt werden? Hm?...“ („...“) „...Von was? Sag schon!“


    Mit einem letzten Tritt, der sich nach Stans Klagelaut zu urteilen wahrlich gepfeffert hatte, stolzierte ich hoch erhobenen Schwanzes davon. Ich würde schon etwas zu essen finden, auch ohne die plumpe Hilfe meines nutzlosen Begleiters.
    Ich warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Stan rieb sich sein von mir bearbeitetes Bein und begann seine Suppe zu löffeln. Mir entfuhr bei diesem Anblick ein verächtliches Schnauben. Noch lauter war jedoch mein Magen, der sich allem Anschein nach gerade von mir verabschiedete.
    „Ruhig Blut...“, beruhigte ich mich selbst und begutachtete meine Umgebung sorgfältig. „Wo Menschen sind, da gibt es auch etwas zu essen. Und wenn ich jemanden eigenpfötig etwas von der Platte stibitzen muss.“
    Meine Augen weiteten sich plötzlich vor Freude. Da war es. So einfach und doch so schön, wenn auch ausländischen Formats. Wie konnte ich sie nur übersehen? Zwei bis zum Anschlag rappelvolle und völlig unbewachte Mülltonnen keine zehn Schritte von mir entfernt und allem Anschein nach nur so auf mich wartend.


    Was ich also tat, fragt ihr? Na, die Frage konntet ihr euch doch auch selbst beantworten, oder? Ich meine, was tut ein Pokémon oder ein Mensch wohl bei klarem Verstand, wenn man eine Mülltonne vor Augen hat? Richtig! Man macht sich über den Inhalt her.
    Natürlich waren die Anwesenden nicht gerade begeistert darüber, dass ich die beiden Schatzkisten zuerst gefunden hatte. Im Gegenteil: Das fröhliche Stimmengewirr war schlagartig verebbt, als eine der beiden Mülltonnen krachend zu Boden fiel und ich mich über deren Inhalt hermachte. Sekundenschnell hatte sich eine riesige, aufgebrachte Menschentraube um mich herum versammelt, die mir anscheinend die besten Happen wegschnappen wollten.
    „Ich war zuerst da! Sucht euch gefälligst eure eigene Mülltonne!“, rief ich, ließ mich jedoch nicht weiter von den Neidhammeln stören und setzte meine Suche nach den Köstlichkeiten vor mir unbeirrt fort.
    „Wessen Nachtara ist das?“, hörte ich eine verärgert klingende Stimme hinter mir.
    „Nachtara? Kein Grund mich zu beleidigen“, grunzte ich, den Mund mit kalten Kartoffeln gefüllt.
    „Äh...“, ertönte durch das undeutlich zu verstehende Stimmengewirr die zittrige Stimme Stans hindurch. „Das ist mein Sheinux...“
    „Das ich nicht lache. Träum weiter. Dein Sheinux...“, spottete ich ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. „Aber von mir aus... Das hier könnt ihr haben. Schmeckt mir doch nicht.“
    „In Ordnung Leute! Hier gibt es nichts mehr zu sehen! Zurück mit euch!“, rief die, warum auch immer, verärgert klingende Stimme hinter mir.


    Die Menschenstimmen um mich herum wurden schwächer. Schlurfenden Schrittes ließen sie mich in meiner Euphorie zurück. Zumindest fast alle.
    „Junge, pass gefälligst etwas auf dein Nachtara auf!“, raunzte die barsche Männerstimme.
    „Sheinux...“, antworteten Stan und ich im Chor. Ich setzte derweil meine Erkundung fort. Sollte doch Stan sich darum kümmern, egal worum es eigentlich ging.
    „Ein Sheinux? Sieht aber nicht gesund aus“, sagte er.
    „Nur etwas schmutzig...“, nuschelte Stan verlegen.
    „I wo, schmutzig“, entgegnete ich. „Es geht nichts über eine gesunde Schlammpackung.“
    Ich kratzte mich genüsslich mit der Hinterpfote am Ohr.
    „Ich kümmere mich um den Saustall hier“, sagte der Mann, der mit Stan sprach. „Du schnappst dir jetzt augenblicklich dein Pokémon und machst es sauber. So lass ich dich hier nicht weiter herumlaufen! Baden ist angesagt!“
    Ein kalter Schauer lief mir plötzlich über den Rücken. Zum ersten Mal seit Minuten war mein Interesse fürs Essen völlig abgeflaut.
    „B-Baden?“

  • Part 3: Züchtigung


    Mir war schlagartig der Appetit vergangen. Ich war ja vieles von den Menschen gewohnt: Beleidigungen, Beschimpfungen und auch das ein oder nicht mehr ganz so frische Stück Obst, dass sie mir damals im Nationalpark nachgeworfen hatten. Das alles gehörte für mich zur Tagesordnung beim täglichen Kampf ums Überleben. Aber noch nie, wirklich noch nie, wurde ich auf eine solch gemeingefährliche Art und Weise bedroht, dass es mir eisig über den Rücken lief.
    „M-Moment mal. Was ich auch eben getan habe: das rechtfertigt doch nicht eine solche Strafe...“, versuchte ich mich zu entschuldigen und suchte verzweifelt einen Ausweg aus meiner Lage.


    Inzwischen hatte der Mensch, der mir mit baden gedroht hatte, angefangen, meine Schlachtplatte noch vor dem Hauptgang abzuräumen.
    „Siehst du? Das ist doch dann Strafe genug für mich. Nächstes Mal gebe ich auch allen etwas davon ab. Ich schwöre es“, versprach ich der verlegen dreinblickenden Figur, besser bekannt als mein Trainer, Stan. Doch irgendwie ahnte ich bereits, dass es damit nicht genug war. Unauffällig bewegte ich mich Richtung des rettenden Ausganges, während die von mir entdeckten Leckereien in hohem Bogen wieder zurück in die Mülltonne geschleudert wurden.
    „Wo kann ich mein Pokémon waschen?“, tönte plötzlich die Stimme von Stan in meinen Ohren. Mein Körper erbebte schlagartig vor Schreck. Das war dann wohl doch etwas zuviel für mich. Er machte tatsächlich ernst mit seiner Drohung. Verpflichtungen gegenüber meinen Trainer gut und schön: hier aber ging es um das nackte Überleben.


    „Ich muss weg“, rief ich von Stans Drohung alarmiert und spornte meinen erschöpften und hungrigen Körper zur Höchstleistung an. Doch mein Fluchtversuch war bereits zuende, noch bevor er überhaupt begonnen hatte: Dummerweise hatte ich nicht damit gerechnet, dass diese verfluchten Keramikplatten unter meinen Pfoten so rutschig waren. Ich stürzte bereits nach wenigen Metern unsanft auf den Boden und schlitterte mit der Nase voraus gegen eine nahe gelegene Wand. Stan sammelte mich hilflos auf dem Bauch zappelnd und unter hohlem Gelächter der übrigen Schaulustigen wieder ein.
    „Den Gang bei den Nachtquartieren ganz runter und die letzte Tür links“, brummte der Mann, warf das letzte Stück Obst zurück in die Mülltonne und machte eine kurze Handbewegung in Richtung des Ausgangs.


    Unheilbringend setzte Stan sich mit mir auf den Armen in Bewegung. Die Lage war zum Verzweifeln. Wie sollte ich mich dieses Mal nur aus der Affäre ziehen? Flucht war bei all den Menschen hier um mich herum nahezu ausgeschlossen. Jetzt half wohl nur noch eins: Bestechung.
    „Hey, Stan, hör mal: Vergessen wir doch die ganze Sache und ich lade dich demnächst auf einen Schluck in meiner Lieblingsspelunke ein, na, ist das nichts? Nun komm schon... Der Pirsifsaft schmeckt wie eine Bombe, sag ich dir. Oder warte, noch besser. Viel besser. Einen Schatz! Ja, ihr Menschen steht doch auf solch Glitzerzeug. Ich weiß wo einer vergraben ist. Ich würde sogar mit dir teilen Siebzig zu Dreißig, na, was sagst du? Was ist, hm?“
    Doch Stan stellte sich als unnachgiebiger Verhandlungspartner heraus. Selbst mein letztes Angebot („OK. OK. Schon kapiert. Vierzig zu Sechzig“) ließ ihn völlig kalt. Mir ran inzwischen kalter Angstschweiß über die Stirn. Meine sonst so genialen Einfälle blieben völlig aus.
    „Die letzte Tür links...“, murmelte Stan und lief geradewegs an unserem Zimmer vorbei.
    „Nun mach keinen Quatsch!“, rief ich verzweifelt. „Wir können das auch friedlich regeln. Kein Grund Gewalt anzuwenden.“


    Stan machte abrupt Halt. Ich glaubte schon, er hätte es sich anders überlegt und atmete beruhigt aus.
    „Bist du also endlich zur Vernunft gekommen. Aber über den Schatz, müssen wir noch einmal reden, denn...“
    Ich stoppte meinen Satz schlagartig. Stan hatte direkt vor einer soliden kieferfarbenen Tür Halt gemacht, auf der eine Art Regenwolke abgebildet war, die unheilvoll Wasser auf den Boden vergoss.
    „Ich will nicht!“, brüllte ich schon fast den Tränen nahe und versuchte mich mit Klauen und Zähnen verbissen aus seinem Klammergriff zu befreien.
    „Autsch, Sheinux, was...?“
    „Ich will nicht! Ich will nicht! Zwing mich nicht!“
    Doch Stans Griff war einfach zu stark. Mit einem Arm drückte er mich fest gegen seinen Körper, während er mit der anderen die unheilvollknarrende Tür öffnete.


    Ein Bild des Grauens offenbarte sich mir, unterdessen ich mir mit meinem Kidnapper einen gewaltsamen und verbitterten Kampf lieferte. Ja, ich hatte schon davon gehört. Von den teuflischen Instrumenten, die die Menschen “Badewannen“ getauft hatten. Ihre Opfer, so erzählte man es sich bei uns, würden mit einem Guss brühend heißen Wasser und mit abstoßend und übelschmeckenden Dingen wie Seife malträtiert werden, bis sie völlig verschrumpelt und nicht mehr wiederzuerkennen waren.
    Selbst einer Bande wild gewordener Menki die letzte Banane der Welt vor ihren Augen zu stibitzen, hätte ich in diesem Moment vorgezogen.
    Stan hatte die Tür hinter sich verschlossen und somit mir meine letzte Fluchtmöglichkeit genommen. Umgekehrte Strategie war nun angesagt. Fersengeld geben hatte mit abgeschnittenem Fluchtweg auch seinen Sinn verloren. Stattdessen klammerte ich mich nun fester denn je an Stan und vergrub meine Krallen in seiner Kleidung.
    Stan heulte vor Schmerzen, hüpfte wie von einem Ariados gestochen durch den ganzen Raum und versuchte mich verzweifelt abzuschütteln.
    „Sheinux, du tust mir weh!“
    „Mir egal! Ich will nicht“, röhrte ich und verstärkte meinen Haltegriff.
    Ich spürte Stans kalten Griff, der sich mir um meinen Nacken schloss und vergeblich an mir zerrte, während das Geräusch von Stoff der von meinen Krallen entzwei gerissen wurde immer weiter zunahm.


    Immer mehr von Stans Habseligkeiten fielen unterdessen lautstark zu Boden. Es war für mich überhaupt ein Wunder, dass er noch nicht bei seinen hüpfenden Versuchen mich abzuschütteln auf einem seiner Pokébälle oder sonstigen Utensilien ausgerutscht war.
    Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Mein Herz machte vor Freude einen Hüpfer.
    Der Ausweg aus dieser heiklen Situation kullerte gerade unter Stans Füßen hindurch. Das ich einmal freiwillig in einen dieser Bälle verschwinden würde war für mich eigentlich unvorstellbar gewesen. Doch das waren eben harte Zeiten und da waren eben auch harte Maßnahmen gefragt.
    Gerade als sich Stans Griff um mich etwas gelockert hatte, sprang ich von seiner Brust, an der ich mich die ganze Zeit über festgeklammert hatte, hinab und ehe er es sich versah, war ich auch schon in den unendlichen Weiten meines Pokéballs verschwunden. Endlich war ich in Sicherheit...


    „Sein blödes Gesicht möchte ich mal sehen“, gluckste ich als ich durch die endlose, pechschwarze Leere des Pokéballs schwebte und atmete erst einmal richtig auf.
    Es war eigentlich peinlich zuzugeben, dass ausgerechnet ich, Sheinux, Hals über Kopf die Flucht vor einem Menschen angetreten hatte. Aber er ließ mir ja keine andere Wahl. Jeder hätte wohl in meiner Lage das Selbe getan. Baden... Ich... Schon allein die Vorstellung...


    Völlig unerwartet erfasste mich plötzlich der unerbittlich reißende Luftstrom des Pokéballs und wirbelte mich in Richtung des gleißenden Lichtes. Stan hatte es doch tatsächlich fertig gebracht, mich ohne meine Erlaubnis aus meinem Unterschlupf zu rufen. Gleich würde die Hatz weitergehen, da war ich mir sicher. Doch weit gefehlt: Zum ersten Mal hatte ich Stan völlig falsch eingeschätzt. Er war sogar richtig verschlagen. Ich fand mich nicht auf den Boden zu seinen Füßen, sondern in einem teuflisch schäumenden und übelriechenden Sud aus heißem Wasser wieder. Mein Herz begann vor Angst zu flattern. Panisch begann ich wie wild gegen die Unmengen von Wassermassen anzustrampeln. Doch sie waren überall. Ich spotzte einen warmen und ekelerregenden Wasserschwall hinaus. Aus meinem Mund quoll Schaum hervor. Meine geschlossenen Augen brannten wie verrückt.
    „So nicht, mein Freund“, hörte ich Stans zufriedene Stimme gackern. „Und jetzt die Brause“
    Die Brause? Was immer es war, ich mochte es schon jetzt nicht. Nun half nichts mehr.


    Was ich tat, fragt ihr? Nun, was tut wohl ein jeder, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht und sich in einer gefährlichen und aussichtslosen Situation befindet? Sich zur Wehr setzen, natürlich.
    Ein gleißender Lichtblitz durchflutete den Raum. Die Glühlampen flackerten einige male hell auf, bis zwei von ihnen mit einem lauten “Blop“sogar in ihre Einzelteile sprangen. Allen anderen, dummerweise mich mit inbegriffen, verpasste ich einen Stromschlag, der sich gewaschen (ha!) hatte.
    Stan fiel nach meiner kleinen Schocktherapie mit einem lauten Platscher zu mir in die Badewanne und setzte dabei den halben Raum unter Wasser.
    Eilig, wie vom Blitz getroffen (ha, was bin ich heute wieder komisch), tauchte Stans Kopf aus dem Wasser auf und spukte mir einen Schwall warmes Wasser entgegen. Er stützte sich mit beiden Händen von dem Boden der Badewanne ab und schaute mich völlig entgeistert an.
    „So gefällt mir das schon eher“, sagte ich genüsslich und entgegnete seine Wasserfontäne mit einer von mir. „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“

  • Part 4: Zimmerkameradschaft


    Wir hatten an jenem Abend für die Inhaber des Pokémon-Centers sowohl eine gute, als auch eine schlechte Nachricht parat. Die gute Nachricht war natürlich, dass sie von nun an kein Badezimmer mehr besaßen. Die schlechte jedoch, dass sie dafür zukünftig ein zu groß geratenes Planschbecken zu ihrem Komfort zählen durften. Stan hielt es jedoch für die beste Idee, die von ihm angerichtete Überschwemmung mühselig aufzuwischen, anstatt sie einfach dem Nachfolger in die Schuhe zu schieben.
    Was denn? Hätte doch jeder so gemacht....


    Nach einem kleinen Nervenzusammenbruch meines muffeligen Trainers, nachdem ich mich von dem überflüssigen Nass auf Pokémon-Manier befreit hatte („Ich hatte dich doch um ein Handtuch gebeten“) und einem raschen Klamottenwechsel seinerseits, konnten wir endlich das Badezimmer verlassen und hoffentlich brauchten wir nie wieder zu ihm zurückzukehren. Stan war wohl der selben Ansicht, denn er wirkte nach diesem feuchten Abenteuer recht überdrüssig. Ich dachte, dass ich ihn wohl an diesem Abend genug geärgert hatte. Aus diesem Grund ließ ich auch ausnahmsweise davon ab, ihn an meinen nach wie vor knurrenden Magen zu erinnern. Das Essen ließ hier eh zu wünschen übrig...


    Aber alles in Allem fühlte ich mich Sheinuxwohl. Zwar hatte ich meine gewohnte Sheinux-Duftnote, eine herzhafte Mischung aus taufrischem Gras, frühreifen Labrusbeeren und der Mülltonne von nebenan, verloren und roch stattdessen wie ein einbalsamiertes Duflor, doch verspürte ich nach dieser kleinen Wasserschlacht auch irgendwie völlig entspannt und angenehm müde, wie schon seit langem nicht mehr gewesen. Jetzt hatte ich wahrlich nichts dagegen einzuwenden, unserem Schlafquartier für diese Nacht einen Besuch abzustatten. Stan dachte zu dem Augenblick wohl das Gleiche und hielt, mit mir an seiner Seite, direkt auf die Tür Nummer elf zu. Er schob den silbrigfarbenen Schlüssel in das Türschloss. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür. Ich war es inzwischen gewohnt, dass Stan gerne zwischen den Türangeln festklebte. Also wartete ich in diesem Augenblick erst gar nicht, bis er den Raum betrat, sondern huschte einfach graziös zwischen seinen Beinen hindurch.


    „Oh Hallo, Nummer drei“, ertönte plötzlich eine heiter klingende Stimme innerhalb des Zimmers.
    Meine Augen suchten rasch den Ausgangspunkt der Stimme und fanden ihn natürlich auch nur wenige Augenblicke später: Zwei unserer drei Zimmerkameraden für diese Nacht waren bereits anwesend. Einer von ihnen saß bereits bettfein zurechtgeschniegelt auf der oberen Etage eines Bettes, während der andere aufrecht auf seinem Bett sitzend und mit dem Rücken zur Wand ein Buch beäugte.
    „Hallo. Würde es dir etwas ausmachen, die Tür zu schließen? Es zieht.“, sagte der Bücherwurm, ohne seine mit Brillengläsern verstärkten Augen von seinem Schmöker zu richten.
    Ich sheinuxte meinen schönsten, wenn auch etwas schläfrigsten Gruß, den ich an diesem Abend hervorbringen konnte hervor und hüpfte auf das uns am nächsten liegende freie Bett, über dem der für die Nacht bereits geschniegelt und gebügelte saß.
    Stan übte sich derweil als menschlicher Briefbeschwerer.
    „Nun komm schon rein!“, zischte ich „Und sag endlich was. Mit dir kann man sich auch nur schämen...“
    „’lo“, krächzte Stan hervor, schlurfte langsam in das Zimmer hinein und nahm zittrig am Kopfende des Bettes neben mir Platz.
    „So kalt ist es hier doch auch wieder nicht...“, sagte ich kopfschüttelnd.
    Der verkehrt herum hängende Kopf unseres Obermanns erschien über seine Bettkante. Er musterte uns interessiert. Doch keine fünf Sekunden später wurde seine Aufmerksamkeit völlig von einem erneuten Klick-Geräusch, ausgehend von unserer Zimmertür, in Beschlag genommen.


    „Ah, last but not least: Nummer vier“, begrüßte er vergnügt den Neuankömmling. „Willkommen bei uns, Kamerad.“
    „Nabend“, antwortete der Letzte in unserer vertrauten Runde frohgemut und reichte jedem von den Anwesenden, wie es sich nun mal gehörte, die Hand. „Mike mein Name.“
    „Tom, freut mich dich kennen zu lernen“, sagte unser Bettgenosse über uns und schüttelte ihm die Hand.
    „Ich heiße Felix, Hallo“, sagte der Bücherwurm ohne Mike auch nur wirklich eines Blickes zu würdigen.
    „Stan...“, sagte mein Trainer knapp.
    „Nimm dir mal ein Beispiel an unserem Freund hier. So stellt man sich ordentlich vor“, fauchte ich zu Stan hinüber, während der Neuankömmling mir die Pfote schüttelte.
    „Oh...“, gluckste der Mensch namens Mike plötzlich. Sein Blick huschte abwechselnd von mir zu Stan hinüber. „Wir haben ja prominenten Besuch.“
    „Mist... Man hat mich also erkannt“, sagte ich und spürte wie mein Gesicht leicht errötete. „Für Autogramme aber hinten anstellen. Nur keine Sorge: es ist genug Sheinux für alle da.“
    „Hm?“, ertönte eine Stimme von oben.
    Selbst der Bücherwurm namens Felix gegenüber lugte zum ersten Mal über seinen Wälzer hinweg.
    „Starke Nummer, die ihr da vorhin im Speisesaal abgezogen habt“, feixte Mike und grinste breit. „Der krönende Abschluss eines eh gelungenen Tages.“
    Stan mied den Blick seiner Zimmergefährten. Ich dagegen badete natürlich ganz im Glanze des Ruhmes, wie es sich natürlich gehörte.
    „Danke“, antwortete ich zufrieden. „Das nächste Mal aber nur gegen Aufpreis.“
    „Du hättest mal dein Gesicht sehen müssen, als du gesehen hattest, dass das dein Pokémon war. Sei mir nicht böse, aber das sah wirklich urkomisch aus“, lachte Mike.
    Stan schwieg. Sein Blick war auf den Boden am Bettrand gerichtet.


    Was mit Stan los war? Keinen blassen Dunst... In dem Moment hätte er eigentlich eine lustige Bemerkung seinerseits machen, oder zumindest mit Mike mitlachen müssen. Doch stattdessen wirkte er merkwürdigerweise eher peinlich berührt als amüsiert.
    Mike machte es sich derweil auf der zweiten Etage des Bettes über Felix, dem Bücherwurm, der inzwischen wieder völlig in sein Buch vertieft war, bequem. Ich dagegen räkelte mich genüsslich auf meinem Bett und gab einen herzhaften Gähner zum Besten.
    „Wohl gesprochen, Sheinux“, tönte Mikes Stimme durch den Raum. „Wenn es euch nichts ausmacht, haue ich mich aufs Ohr. Ich bin Hundustermüde.“
    „Nein, nein. Mach ruhig“, sagten Tom und Felix wie aus einem Mund.
    Mike zog sich flink einen Schlafanzug über. Tom hatte derweil den Lichtschalter gefunden und die Nacht in das Zimmer eingeladen. Die einzige Lichtquelle ging jetzt nur noch von einer kleinen Leselampe aus, die Felix an seinem Buch befestigt hatte.
    „Äh, ich bin noch einmal ganz kurz weg...“, sagte Stan und eilte aus dem Raum.
    „Merkwürdiger Vogel“, sagte Mike kopfschüttelnd, als die Tür zugefallen war.
    „Wohl nur ein wenig schüchtern“, mutmaßte Tom über mir.
    „Etwas? Ist wohl untertrieben...“, entgegnete Felix trocken, blätterte eine Seite um und las unbeirrt weiter.
    „Seid froh. Ihr müsst nur diese Nacht mit ihm auskommen. Ich dagegen Vierundzwanzig Stunden am Stück...“, gab ich zum Besten. „Ich könnte euch Geschichten erzählen, da würdet ihr euch kringeln vor Lachen.“
    „Ist aber sicher ein guter Kerl, unser Stan“, gähnte Tom.


    Ich wurde mal zu mal schläfriger. Mein Bett wirkte einladender denn je und ich hatte mir wahrlich meine Nachtruhe verdient. Wo immer Stan auch gerade war, er kam sicherlich auch ohne mich aus.
    Gerade als ich schon unter die Bettdecke kriechen wollte, öffnete sich mit einem leisen Klick, die Tür und Stan kam herein.
    „Mach die Tür zu und rein mit dir ins Bett. Ich habe von deinen Spielereien für heute genug“, nuschelte ich schlaftrunken und kringelte mich unter der warmen und flauschigen Bettdecke ein.
    „Sheinux, du...“, murmelte Stan.
    Was war denn nun noch. Hatte ich ihm nicht klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass ich heute Abend keine Lust mehr auf irgendwelche Spielereien hatte?
    Mürrisch lugte ich unter der Bettdecke hervor. Stan stand vor mir und hielt ein kleines Weidenkörbchen in seiner Hand.
    „Ostereier suchen? Aber nicht heute“, brummte ich verdrießlich und drehte mich wieder herum.
    „Ich glaube, es gibt da ein Missverständnis“, sagte Stan. „Das hier... Ist mein Bett...“
    Ich zwang mich mit aller Kraft Stan noch einmal anzusehen.
    „Ich soll in diesem ollen Korb pennen, während du es dir hier bequem machst? Aber sonst geht es dir noch gut, oder?“, rief ich empört und wälzte mich im Bett wieder herum.
    Doch ehe ich es mich versah, fand ich mich plötzlich im dem engen und überhaupt nicht bequemen Korb wieder, während sich Stan auf meinem Bett räkelte.
    „Na, das wollen wir doch mal sehen“, rief ich fuchtig, sprang auf das Bett hinauf und ehe Stan auch nur begriff, wie es um ihn geschah, hatte ich ihn auch schon hochkantig und mit einem lauten Plumps aus dem Bett gestoßen.
    „Das kann ja wohl nicht...“, fluchte Stan und rappelte sich auf.
    „Sag mal: Habt ihr beide es bald da unten?“, sagte Toms Kopf, der wieder verkehrt herum über unserem Bett baumelte. „Einige von uns wollen hier vielleicht schlafen.“
    Tom und Felix sahen tatsächlich teils genervt, teils interessiert zu uns hinüber.


    Stan warf mürrisch das Weidenkörbchen in die Ecke, schlüpfte eilig in seinen Schlafanzug und huschte zu mir ins Bett.
    „Du darfst ausnahmsweise bei mir im Bett schlafen“, gähnte ich. „Aber wehe du schnarchst. Dann weißt du, wo du landest.“
    Mit diesen Worten schnappte ich mir einen großzügigen Teil der Bettdecke, drehte mich herum und fand mich bereits nach wenigen Sekunden im Traumland wieder.

  • Kapitel 7: Willkommen im Club, Leidensgenosse


    Part 1: Frühstück unter Freunden


    Zwar hatte ich Stan unbeabsichtigt an das Fußende unseres gemeinsamen Bettes geekelt, doch war es, abgesehen von dem nur langsam abflauenden Wind der an rüde an den Fensterläden rüttelte, eine recht ruhige und ereignislose Nacht. Meine insgeheime Sorge, einer meiner Stubengefährten könnte ein leidenschaftlicher Nachtschwärmer, oder sogar Schlafwandler sein, war völlig unbegründet, und so wurde ich am nächsten Morgen sanft von meinen morgengrußaustauschenden Zimmerkameraden geweckt.
    So eine Nacht in einem Menschenbett hatte etwas, das musste ich tatsächlich zugeben. Natürlich was es nichts im Vergleich zu dem warmen und gemütlichen Unterschlupf in meinem Zuhause, welches wohl noch immer sehnsüchtig auf meine Rückkehr wartete, aber...


    In Gedanken an meine Heimat stieß ich einen melancholischen Seufzer aus. Mein Herz ziepte unangenehm, als die schier endlosen grünen Wiesen und Felder meines Geburtsortes vor meinem Inneren Auge auftauchten und mir beinahe der markante Geruch meines Heimes in die Nase stieg. Wer auch immer einst verlauten lies, dass Durst schlimmer als Heimweh sei, musste zu dem Zeitpunkt tatsächlich sehr durstig, oder aber auch nur sturzbesoffen gewesen sein...
    Wie lange war ich inzwischen fort gewesen und wie weit war ich nun bereits von Zuhause entfernt? Tage, Wochen, Monate... Meine Erinnerungen an Daheim schienen immer mehr zu verblassen.
    Ich richtete meine noch etwas schläfrigen Augen auf die Gestalt Stans, die langsam zum Leben erwachte. Eines Tages würde ich die Chance bekommen, meine Schuld bei ihm abzugleichen und endlich heimkehren können, da war ich mir sicher. Eines Tages...


    Mit dem Erwachen sämtlicher Lebensgeister in mir, meldete sich schlagartig auch mein Magen mit einem mürrischen Knurren zu Wort. Kein Wunder wenn man bedachte, mit was für einem dürftigen Abendmahl er am gestrigen Abend abgespeist worden war. Doch wenn mich die Ereignisse des Vortages eins gelehrt hatten, dann, das ich Stan zukünftig an der kürzeren Leine ziehen musste. Zu seinem, und natürlich vor alledem, zu meinem Wohl.
    „Bist du endlich wach?“, war mein vielleicht etwas ruppiger Morgengruß für Stan. „Penn nicht gleich wieder ein, sonst futtern uns die anderen wieder alles weg.“
    Stan streckte sich genüsslich.
    „Schon gut. Wir wissen so langsam, das du wach bist. Los jetzt. Raus da!“
    Meinem Trainer entfuhr ein kleiner Schreckensschrei, nachdem ich ihn auf meine Art und Weise wachgerüttelt hatte und er sich unerwartet auf dem kalten Fußboden außerhalb seines Bettes wiederfand. Mit tiefster Zufriedenheit schielte ich zu ihm hinunter. Plötzlich war er hellwach. Dummerweise war Stans Reaktion maßlos übertrieben gewesen. Mittlerweile musste wohl, dank ihm, das ganze Haus auf den Beinen sein.
    „Lass dir ruhig Zeit“, sagte Tom breit grinsend und sah zu Stan hinüber, der sich gerade einen blauen Fleck an seinem Hintern rieb. „Felix ist scheinbar auch nicht so richtig munter.“ Tom machte eine Geste zu Felix’ Bett hinüber, wo selbiger sich gerade die Brille aufsetzte. „Warst wohl ganz in deinem Buch gefangen, hm? Mike und ich warten auf euch. Nicht wahr, Mike?“
    „Logisch“, flötete Mike.
    „Sehr freundlich, danke“, sagte ich und spornte Stan derweil zu Höchstleistung an.


    Keine Fünfzehn Minuten später fand sich unsere kleine Runde an dem reich gedeckten Frühstücksbuffet ein. Glücklicherweise hatten anscheinend auch die Betreiber des Pokémon-Centers aus ihren gestrigen Fehlern gelernt und dieses Mal kistenweise Essen gehortet. Stan rutschte einige male (er saß zwischen Felix und Tom. Ich natürlich auf dem Tisch, wo sonst?) nervös auf der Bank herum, während er eiligst sein Essen in sich hineinschob, aber das wollte mich an jenem Morgen nicht wirklich interessieren. Besonders bei all den Köstlichkeiten, die mich völlig in Beschlag nahmen.
    „Das Loch in der Mitte ist doch eigentlich völlige Verschwendung“, rülpste ich und schlug meine Zähne in ein mit Schokolade überzogenes Teiggebäck.
    „Wo soll eigentlich die Reise hingehen?“, fragte Mike in die Runde. „Mich zieht es ja nach Teak City. Und euch?“
    „Eine Reise um die Welt...“, seufzte Tom scheinbar auf Mülltonne Sieben schwebend. „Teak City? Ist das weit? Gibt es da was besonderes?“
    „Um Teak City ranken sich Sagen, Mythen und Legenden. Teak City pflegt hochbetagte Traditionen und gehört zu den ältesten Städten in der Region. Wohl in der Schule nicht richtig aufgepasst, hm?“, antwortete Felix wie aus der Pistole geschossen und genoss seinen kleinen Rachefeldzug gegen Toms vorherige Bemerkung beim Wecken allem Anschein nach ausgiebig.
    „Langweilig“, gähnte Tom.
    Felix warf ihm einen kühlen Blick zu.
    „Mich reizt auch viel mehr der neue Orden, der schon bald meine Sammlung ziert“, lachte Mike.
    „Reich mir mal bitte die Butter, Stan“, sagte Felix und versuchte anscheinend, die Bemerkungen seiner Kameraden zu ignorieren.


    „Und du, Felix? Wo zieht es dich hin?“, wollte Mike wissen.
    „Oliviana City“, antwortete Felix und begann damit eine Scheibe Brot mit Butter zu beschmieren.
    Ich spitzte plötzlich die Ohren. Oliviana City? Wollte Stan nicht ebenfalls dorthin?
    „Da komme ich gerade her“, sagte Mike. „Was hast du dort vor?“
    „Ich habe zum Geburtstag eine Bootsreise nach Fleetburg mit Rückfahrt geschenkt bekommen. Meine Eltern wussten, dass ich schon seit langem der Bibliothek von Fleetburg einen Besuch abstatten wollte und da haben sie mir dieses Geschenk gemacht“, sagte Felix und biss in sein mittlerweile mit Marmelade beladenes Brot.
    „Ich werde wohl einige Zeit lang in Fleetburg bleiben. Hoffentlich ist die Bibliothek überhaupt wieder zugänglich. Vor kurzem soll ein vierbeiniges Ungeheuer ein ganzes Stockwerk zerlegt haben... Es stand doch dick und fett in jeder Zeitung...“, stöhnte er, als er unsere fragenden Blicke bemerkte. „Egal...“


    „Und was ist mit euch beiden? Wo gurkt ihr so rum?“, fragte Mike und schaute zu Stan hinüber, dem vor Schreck die Milch aus der Nase lief.
    „Ich bin mit dieser Katastrophe auf zwei Beinen ins Nirgendwo unterwegs...“, grunzte ich mürrisch und mopste klammheimlich Felix’ letzte Apfeltasche unter seiner Nase weg.
    „Weiß noch nicht...“, keuchte Stan. „Irgendwohin...“
    Ich blickte verwirrt in Stans Richtung. Irgendwohin? Ich dachte wir wollten eigentlich nach Oliviana City, genau wie Felix? Was sollte denn das wieder bedeuten?
    „Irgendwohin?“, sagte Felix argwöhnisch. „Ziemlich planlos. So könnte ich nicht reisen, aber wenn’s schön macht...“
    Stan schwieg.
    Ich verstand die Welt nicht mehr. Entweder hatte mein Partner ein Gedächtnis wie ein Sieb, oder er stellte sich absichtlich, aus welchen Gründen auch immer, dumm.
    „Ich weiß nicht...“, sagte Tom und schaute verträumt in meine Richtung. „Ich meine, das hat schon irgendwie Stil. Ziel- und planlos in der Weltgeschichte herumgondeln.
    Stan setzte seine Schweigerunde unbeirrt fort.
    Und ich? Ich verstand die Welt nicht mehr...

  • Part 2: Kälter als Eis: Stan


    Mike, Tom und Felix palaverten noch einige Zeit über ihre Zukunftspläne. Ich verfolgte auf halbem Ohr ihr Gespräch, während ich mich über die Reste ihrer fast leergeputzten Tabletts hermachte. Wenn man ihren Geschichte Glauben schenken durfte, dann war die Welt wohl doch etwas größer, als ich sie mir bislang in meinen Träumen ausgemalt hatte. Die gigantischen Blumenwiesen Floris, eine monströse Stadt im Süden namens Dukatia City, die heißen Quellen von Bad Lavastadt und der schier endlose Ozean, was auch immer das sein mochte... Natürlich reizte mich aber nichts mehr, als endlich wieder in meine Heimat zurückkehren zu können, denn zuhause war es doch immer noch am Schönsten. Steht aber außer Frage, oder?

    Mit Toms Abschied löste sich unser geselliges Beisammensein rasch auf. Kaum hatte er sein Tablett abgeräumt und seinen Abschiedsgruß verkündet, suchten auch Mike und Felix das Weite und ließen mich mit meinem stummen Gefährten alleine.
    Obwohl ich Menschen nach wie vor nicht so richtig leiden mochte, musste ich zugeben, dass die drei Jungs dennoch schwer in Ordnung waren. Für einen Bruchteil einer Sekunde hätte ich mir sogar gut vorstellen können, mit einem der drein auf reisen zu gehen. Doch war ich natürlich weiterhin durch die, leider von mir selbst auferlegten, unsichtbaren Fesseln an die schleierhafte Gestalt Stans gefesselt.
    Ich seufzte schwermütig bei dessen Anblick.
    Ob wir einen unserer neuen Freunde wohl jemals wiedersehen würden?
    Stan ließ mein Schwermut und der Abschied jedoch offenbar völlig kalt.

    Gesättigt und gewässert verließen wir die mir inzwischen sogar behaglich vorkommenden Wände des Pokémon-Centers und kehrten der aufgehenden Sonne den Rücken zu. Die düsteren Regenwolken des gestrigen Tages waren längst verschwunden und so stand der Fortsetzung unserer Reise nichts mehr im Weg.
    Vor dem Gebäude herrschte unterdessen reger Trubel. Zwei Pokémontrainer, beziehungsweise deren Pokémon, schlugen sich just in dem Moment die Köpfe ein, als Stan und ich das Gelände verließen. Stan schien in dieser Hinsicht jedoch nicht anders zu denken als ich und würdigte diesen albernen Schaukampf keines Blickes. Zumindest in dieser Hinsicht schienen wir uns ansatzweise zu ähneln. Auch wenn ich Auseinandersetzungen liebte, so waren für mich nur Kämpfe um meine territoriale Vorherrschaft zu beweisen, oder um den Inhalt einer leckeren Mülltonne zu ergattern, interessant. Vielleicht ging es Stan in dieser Beziehung auch nicht anders. Zu einem gut gefüllten Abfallcontainer konnte schließlich niemand nein sagen.

    Langsamen Schrittes ließen wir unsere Herberge, deren restliche Bewohner und den Lärm des auf dem Höhepunkt stehenden Kampfes hinter uns. Schon nach wenigen Minuten unbeschwerlichen Fußmarsches fanden wir uns in der unberührten und menschenleeren Wildnis wieder. Ein mystischer Nebelschleier hing wie eine zarte Bettdecke über den Bergen und Tälern der Landschaft. Hauchdünne, beinahe wie Perlen glänzende Regentropfen lagen auf den Blättern der vom Sturm gebeutelten Bäume und Pflanzen. Die fein gesponnenen und mit Regentropfen garnierten Netze der Weberaks glänzten im Lichte der frühen Morgensonne.
    Ich sog die frühe und reine Morgenluft in meinen Körper. Selbst die hartnäckigste und widerspenstigste Müdigkeit entwich schlagartig meinem Geist. Der nur mit wenigen Schleierwolken verzierte Himmel versprach der Welt und dessen Bewohnern einen wirklich herrlichen Tag.

    Ich genoss jede Sekunde dieses wunderbaren Wetters, während Stan stumm wie eh und hinter mir her schlurfte. Einige Male warf ich doch meinem nichtssagenden Begleiter neugierige Blicke zu. Obwohl er sich am Frühstückstisch zu seiner scheinbaren Planlosigkeit bekannt hatte, schien er dennoch den Weg, der er mit mir an seiner Seite beschritt, genau zu kennen. Er war mir einfach ein Rätsel...

    Urplötzlich erbebte mein ganzer Körper. Der Puls wurde schneller und die Spitze meines Schweifes begann warnend zu vibrieren. Meine hochsensiblen und zuverlässigen Sheinux-Instinkte alarmierten mich vor etwas, etwas in der Nähe...
    Ich bremste abrupt und sondierte wachsam das Gelände. Ein Gefühl, viel mehr als nur eine vage Vermutung, stählte jeden Muskel in meinem Körper. Eine Ahnung, nein, viel mehr als das. Ich hätte in jenem Moment sogar den Inhalt jeder Mülltonne dieser Welt darauf verwetten können: irgendjemand beobachtete uns.

  • Part 3: Widerstandslose Gefangennahme


    Die Ohren bis zum Anschlag gespitzt und die restlichen Sinne am äußersten Limit, prüfte ich meine unmittelbare Umgebung. Noch nie hatten mich meine übersensiblen Instinkte verraten und das taten sie auch in jenem Moment nicht, da war ich felsenfest überzeugt. Irgendjemand, irgendwer oder irgendwas hatte uns im Visier. Doch was waren seine Absichten? War er Freund oder Feind? Meine Augen huschten von den zierlichen, taubenetzten Cattleya zu meiner rechten, zu dem dichten Gehölz eines kleinen Wäldchens zu meiner linken.


    Plötzlich und völlig unerwartet rammte sich irgendetwas schmerzvoll in meine Hüfte und haute mich glatt von den Beinen. Noch bevor ich überhaupt realisieren konnte, was mich gerade getroffen hatte, fand ich bäuchlings auf dem nassen Gras wieder, mit mächtig Gewicht auf mir. Stan, dem wandelnden Missgeschick, war natürlich nicht meine Vorsicht aufgefallen. Unachtsam wie er war, hatte er mich glatt über den Haufen gerannt und mich nach seinem spektakulären Sturz beinahe völlig unter seinem massigen Menschenkörper begraben.
    „Hast du denn keine Augen im Kopf?“, ächzte ich unter seinem erdrückenden Gewicht und versuchte mich irgendwie von der Last seines Körpers du befreien.


    „Uff...“, hörte ich Stan stöhnen. Er rappelte sich langsam auf und erlöste mich somit endlich von seinem Balast. „Entschuldige...“
    „Autsch... Das wird hässliche Flecken geben... Warum bist du nur so eine wandelnde Katastrophe?“, fluchte ich und schaute ihn finster an. Die Stelle an meinem Körper, in die er seinen Fuß versehentlich versenkt hatte schmerzte unangenehm.
    „Stümper! Einfallspinsel! Ignorant! Hohlkopf! Trampel“, tobte ich aufgebracht und fügte jedem meiner Rufe einen Tritt gegen das mir am nächsten liegenden Schienbein Stans bei.
    „Ist ja gut... Ich hab mich doch bereits entschuldigt...“, flehte Stan und versuchte mir mit weiten Luftsprüngen zu entkommen.


    Ein leises stöhnen ließ den tobenden Zorn gegenüber meinen ungeschickten Trainer jäh verstummen. Es war nicht Stans Stimme, die ich in diesem Moment gehört hatte, da war ich mir sicher. Auch fiel mir plötzlich wieder schlagartig ein, warum ich überhaupt vor wenigen Augenblicken angehalten hatte.
    Meine Augen huschten schlagartig zu der Stelle, an der ich glaubte, die unbekannte Stimme vernommen zu haben.
    „Sheinux, was...?“, fragte Stan und blickte verwirrt in meine Richtung.
    „Sei leise!“, zischte ich und suchte erneut die Umgebung ab.


    Plötzlich sah ich es. Die Quelle der Geräusche. Wie ich die ganze Zeit über nur so blind sein konnte, war mir schleierhaft gewesen. Auf einem kleinen Felsen, keine zehn Schritte von mir und Stan entfernt, döste ein blasses, vielleicht einen Tick kleiner als ich selbst, Pokémon. Kleine Flammen flackerten leicht aus seinem Rücken hervor, während er sich im Schein der warmen und frühen Morgensonne räkelte. Absolut verständlich für mich. Es bestand kein Grund zur Sorge. Mein ganzer Körper entspannte sich schlagartig.
    „Macht doch nicht einen solchen Krach...“, murmelte der Fremde ohne sich wirklich aus der Ruhe bringen zu lassen.
    „Ist in Ordnung. Lass uns weitergehen“, murmelte ich zu Stan und drehte meinem Artgenossen den Rücken zu.


    Stan schien wiederum ganz andere Pläne zu haben. Er ging neugierig auf den friedlich schlummernden Sonnenbadenden zu und begann in seiner Tasche zu kramen. Mir schwante bereits übles für meinen Artgenossen und zu meinem großen Leidwesen zückte Stan außerdem noch sein nervtötendes Piepsgerät und richtete es auf ihn.
    „Feurigel, das Feuermaus Pokémon“, piepste Stans Wunderwerk der Technik mit seiner mechanischen Stimme. „Feurigel lässt Flammen aus seinem Rücken lodern, wenn es sich bedroht fühlt. Die Flammen sind umso heißer, je wütender dieses Pokémon ist. Ist es aber müde, flackern die Flammen nur unregelmäßig und schwach.“


    „Hm...“, stieß Stan hervor und näherte sich dem Pokémon namens Feurigel langsam.
    Ich seufzte.
    Natürlich... Stan war trotz seiner merkwürdigen Art eben ein Pokémontrainer. Ich konnte es ihm also kaum verübeln, wenn er seine “Sammlung“ erweitern wollte. Mir tat nur bereits mein armer Artgenosse leid...
    „Das ist eine gute Gelegenheit. Sheinux?“, rief Stan und schaute in meine Richtung..
    Ich seufzte noch schwerer
    Auch ich näherte mich nun wieder Feurigel.
    „Hey, Kollege“, rief ich ihm warnend zu. „Wenn du weißt was gut für dich ist, dann machst du besser sofort die Fliege, oder du hast den Typen hier gleich am Hals.“
    „Lass mich... Lass mich schlafen...“, gähnte er schläfrig mir zu.
    „Sheinux los! Greif an!“, rief Stan.
    Ich schaute erneut zu Feurigel hinüber. Er wirkte völlig friedvoll, wie er so da lag und scheinbar absolut kein Wässerchen trüben konnte. Er gähnte mir zwei kleine Rauchkringel entgegen und war scheinbar Sekunden später tief eingeschlafen.
    „Sheinux?“, fragte Stan, allem Anschein nach über meine Untätigkeit verwundert. „Was ist los? Greif an!“
    „Bist du noch ganz sauber?“, entgegnete ich scharf. „Ich greife doch keinen pennenden Gegner an! Das wäre ja das Allerletzte!“
    Ich kehrte Feurigel wieder den Rücken zu.
    Unterdessen schaute mich Stan völlig perplex an. Sekunden später zückte Stan einen seiner Pokébälle und schleuderte ihn zu meinem großen Missvergnügen auf die friedlich schlummernde Gestalt Feurigels. Kaum hatte er ihn berührt, löste er sich scheinbar in Luft auf. Übrig blieb nur noch der eben geworfene Pokéball.
    Ich hatte einige Male beobachtet, wie es aussah, wenn einer meiner Artgenossen in einem dieser Pokébällen verschwand. Oftmals wehrten sie sich verbissen und konnten sich sogar aus den Klauen der Kugel befreien. Dabei zappelte und rollte der Ball wild vor sich hin, bis er seinen Gefangenen wieder freigab. Dieses Mal jedoch, lag der Ball nur völlig ruhig da.


    Stan ging langsam auf die unbewegliche Kugel zu und hob sie unsicher auf. Er sah sie einige Sekunden lang ungläubig an.
    „Es hat geklappt!“, rief er plötzlich scheinbar überglücklich darüber, jemandes Leben völlig ruiniert zu haben und hielt seinen Ball gen Himmel. „Es hat geklappt! Sheinux, sieh nur!“
    „Kannst stolz auf dich sein...“, antwortete ich ihm kopfschüttelnd und schnaubte abfällig.
    „Mal sehen...“, murmelte Stan und richtete Feurigels neues Zuhause auf eine unberührtes Fleckchen Erde.
    Mir entfuhr ein leichtes Schmunzeln, als mein Leidensgenosse sich langsam in der selben Position vor uns materialisierte, wie zu dem Zeitpunkt, als er von Stan gefangen wurde. Offenbar hatte er noch nicht begriffen, was ihm soeben zugestoßen war. Oder vielleicht, aber auch nur vielleicht, war es ihm auch nur völlig egal gewesen.
    Gähnend suchte Feurigel wieder das Licht der Sonne und legte sich flach auf die trockene Erde und keine drei Sekunden später war er scheinbar wieder im tiefsten Traumland versunken.
    Stan schaute hilfesuchend in meine Richtung, doch ich kicherte nur.


    „Feurigel, hey?“, sagte Stan und versuchte sein neues Pokémon wieder wach zu bekommen.
    „Lass mich doch einfach weiterschlafen...“, murmelte er schläfrig und drehte Stan den Rücken zu. „Trag mich oder schick mich wieder zurück in den Ball. Mir egal, solange du mich weiterschlafen lässt...“
    Stan warf mir einen vielsagenden, flehenden Blick zu, während er verzweifelt versuchte, Feurigel zum Aufstehen zu bewegen.
    Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten vor lachen und kringelte mich bereits mit heftigem Seitenstechen auf dem Boden. Nun war es doch tatsächlich Stan, der mir leid tat. Er hatte es echt nicht leicht, der Gute.

  • Kapitel 8: Oliviana City: Ende der Hatz?



    Part 1: Gestatten, Feurigel: Klein, faul und verfressen


    Oh ja, Stan konnte einem wirklich leid tun. War er doch offensichtlich allein mit mir völlig überfordert, so war er von nun auch noch mit der vierbeinigen Schlaftablette namens Feurigel gestraft. Wäre ich das treue, folgsame und vor allen Dingen, gehorsame Pokémon, dass sich ein jeder Trainer wünscht, würde ich ihm nun, in jener bitteren Stunde, meinen Trost spenden und ihm gut zureden. Doch so war ich nun mal nicht. Stattdessen genoss ich förmlich jeden Augenblick von Stans dumm-aus-der-Wäsche-guck-Blick.
    Mein Trainer gab, wie es zu erwarten war, die Versuche seinen neuen und schläfrigen Begleiter zum Aufstehen zu bewegen rasch auf. Mit blank liegenden Nerven und einem resignierenden Blick im Gesicht, ging er Feurigels, für ihn natürlich unverständlichen Wunsch nach und verstaute ihn wieder in den Tiefen seines neuen, kugelförmigen Heimes.
    „Gehen wir...“, seufzte Stan und befestigte den Pokéball an seinem Gürtel.
    „Ich folge dir unauffällig“, feixte ich mit Tränen in den Augen.


    Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in meinem Leben so gelacht hatte. Nach all den niederschmetternden Erfahrungen der letzten Tage, tat mir dieser heitere Moment richtig gut, auch wenn ich vielleicht doch für den kurzen Augenblick einer Sekunde etwas Mitleid für Stan empfand. Aber wirklich nicht länger.
    Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich diesen kurzen Moment meiner Schwäche bereits wieder bereuen tat: Stan hatte wieder damit angefangen, die Nerven all jener, die töricht genug waren seinen Weg zu kreuzen, mit seinem elektronischen Handcomputer zu strapazieren. Ich hatte von dem ganzen Feugerigel bereits nach wenigen Sekunden die Nase gestrichen voll und schenkte meine ganze Aufmerksamkeit den lieblichen Klängen des sanften Plätschern eines kleinen Baches, der in der Nähe seine Bahnen zog.
    „Oliviana City ist nicht mehr weit...“, hörte ich Stan leise sagen und klappte dabei sein Piepsgerät zu.
    Jetzt also doch wieder nach Oliviana City? So sehr ich mich auch bemühte: ich konnte Stans Handlung einfach nicht begreifen. Wenn er allem Anschein nach auch zu diesem Ort reiste, warum hatte er sich dann heute morgen nur so dumm angestellt? Sicher, von unseren drei Zimmergenossen mochte ich Felix am wenigsten leiden, aber in einer Gruppe ist es doch immer lustiger, selbst wenn der Reisegefährte Felix heißt...


    Die Sonne verstand an diesem Tag ihre Arbeit wirklich gut auszuüben und zwang Stan und mich um die Mittagszeit herum zu einer kleinen, wohlverdienten Rast in dem kühlen Schatten eines Ahornbaumes. Im Grunde war ich froh, dass Stan doch nicht ganz so planlos zu sein schien, wie ihn Felix beschrieben hatte. Er hatte sogar an etwas zu essen gedacht, selbst wenn es sich dabei nur um ein paar magere Äpfel handelte.
    Feurigel hatte es sich nach der Entlassung aus seinem Pokéball wieder auf einem kleinen Felsen bequem gemacht und knabberte dösig an seiner Ration. Stan stierte derweil, auf dem Boden kniend, auf einem weit ausgebreiteten Blatt Papier, scheinbar eine Art Karte.
    „Willkommen in der Reihe der Verlierer“, sprach ich unseren neusten Begleiter an.
    Feurigel knabberte noch einige Sekunden an seinem Apfel, bevor er reagierte.
    „Warum sagst du das? Bist du etwa nicht gerne mit deinem Trainer unterwegs?“, wollte er wissen.
    „Bist du verrückt? Mit dem da?“ Ich machte eine verwerfliche Geste in Stans Richtung. „Der ist eine wandelnde Katastrophe. Ich bin nur hier, weil ich eine Schuld ihm gegenüber abzugleichen habe und sobald diese bezahlt ist, bin ich schneller weg als du bis drei zählen kannst.“
    „Ich weiß ja nicht was du hast...“, gähnte mein Gesprächspartner, wendete mir den Rücken zu und suchte das schwache Licht der von dem dichten Blattwerk gesiebten Sonne. „Du brauchst dich um nichts zu sorgen, kriegst regelmäßig etwas zu essen und bekommst außerdem noch die Welt zu sehen. Nicht das mich letzteres interessieren würde, aber...“
    „Aber dafür verzichtest du auf deine Freiheit. Deinen freien Willen. Die Gabe, zu tun und zu lassen was du willst“, entgegnete ich ihm eindringlich.
    Feurigel streckte sich gelangweilt.
    „Ist mir persönlich ja egal...“, murmelte Feurigel. „Die Sorge, wie ich morgen meinen knurrenden Magen beruhigen kann, ist nun endlich passé. Stattdessen bekomme ich jetzt das jetzt alles mundgerecht geliefert und kann dabei auch noch die ganze Zeit über schlafen...“
    Er gähnte mir das Letzte seiner Worte so gleichgültig entgegen, dass ich vor Schreck zurücktaumelte und mir das Herz zu bluten begann.
    „Ich glaube es ja nicht!“, rief ich sichtlich entsetzt. „Du hast dich absichtlich fangen lassen und damit deine Freiheit aufgegeben, nur damit du dich jetzt durchfüttern lassen kannst? Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!“
    Feurigel schwieg. Im Sekundentakt schwebten kleine Rauchkringel über seinen Kopf hinweg und lösten sich langsam in Luft auf.
    „Schläft mitten in meiner Standpauke einfach ein... Nun, dann brauchst du den wahrscheinlich auch nicht mehr...“, schnaubte ich kopfschüttelnd und machte mich über die Reste seines Mittagessens her.


    Gestärkt von dem dürftigen Mahl, alle Habseeligkeiten wieder sicher in den Tiefen von Stans Rucksack verpackt und Feurigel auch wieder in seinem ruhigen und gemütlichen Heim untergebracht, setzten mein Trainer und ich unsere qualvolle Reise fort.
    Wie lange sollte das eigentlich noch weitergehen? Ich wollte endlich zurück. Zurück in meine Heimat. Feurigel war für mich beinahe noch ein größeres Mysterium als Stan. Wie konnte man überhaupt nur ansatzweise in Erwägung ziehen, seine Freiheit wegen etwas so triviales wie eine Mahlzeit aufzugeben? Widerlich. Es ekelte mich förmlich an.
    Ich war noch einige Zeit über so tief in meinen finsteren Gedanken gefangen, dass ich gar nicht bemerkte, wohin uns unser Weg eigentlich führte. Noch nicht einmal der markante salzige Geruch, der mir plötzlich unangenehm in der Nase ziepte.
    „Oliviana City... Wir sind da“, hörte ich plötzlich Stans entfernte Stimme in meinen Ohren ertönen.

  • Part 2: Groß, Größer, Oliviana City


    Es war beinahe lächerlich zuzugeben, dass ich die ganze Zeit über nicht bemerkt hatte, wie die gigantischen Menschengebäude mit jedem unserer Schritte näher kamen. Nun lagen sie beinahe greifbar vor uns. Endlos hoch erstreckten sie sich gen Himmel, dass es mir gar nicht gelang, mit meinen Augen ein Ende zu sehen. Es schien beinahe so, als würden sie pausenlos versuchen, einander in ihrer Größe zu übertreffen.
    Schier Abertausende Meeresvögel segelten kreuz und quer über einen riesigen, scheinbar endlosen See am äußersten Ende von Oliviana City.
    „Das musste das Meer sein, von dem Tom und die anderen heute Morgen sprachen“, schoss es mir durch den Kopf, während mein Blick über diesen atemberaubende Anblick schweifte.
    Riesige, rauchende Schiffe, aber auch kleine, mit Segeln bespannte Boote trotzten an der nahen Küste den brechenden Wogen des Ozeans.
    Mir fiel es doch recht schwer, meine wahren Gefühle bei diesem phänomenalen Anblick zu unterdrücken. Ich war beeindruckt, ganz zweifelsohne, aber natürlich würde ich das niemals offenkundig zum Ausdruck bringen.
    Stan und ich befanden uns auf einem kleinen Hügel an der äußersten Peripherie von dem Ort, bei dem es sich um Oliviana City handelte. Nun ging es für uns nur noch ein kleines Stück bergab.
    „So, wir sind da... Können wir jetzt wieder gehen?“, sagte ich und versuchte dabei so gleichgültig wie es mir nur möglich war zu klingen.
    „Das ist also Oliviana City“, sagte Stan und klang dabei natürlich alles andere als gelangweilt. „Gehen wir.“


    Ja, ich gebe es ja zu... Insgeheim hatte ich gehofft, dass Stan diesen Satz sagen würde. Aber das brauchte doch keiner zu wissen. An Stans Seite begab ich mich den kleinen Hügel hinunter und fand mich, nur wenige Augenblicke später, umringt von mehr Menschen als ich jemals in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Wer nach Ruhe und Einsamkeit suchte, war hier an der völlig falschen Adresse: Es war laut und lärmend. Einen Ort zum Alleinsein würde man hier wohl vergeblich suchen. Auch roch es hier doch recht streng. Es war ein für mich völlig fremder Geruch. Nichts wirklich angenehmes. Irgendwie... verbrannt? Aber ich sah kein Feuer. Nur die schier endlosen Beinpaare der unzähligen Menschen. Vielleicht war es aber auch nur normal. Andere Orte, andere Gerüche.
    „Schau dir nur diese Wolkenkratzer an“, hörte ich Stans Stimme durch den lauten Trubel zu mir hindurchklingen. Er blickte beeindruckt auf eines der größten Menschengebäuden vor uns.
    „Wolkenkratzer? Na, dann hoffen wir mal, dass die Wolken nicht kitzelig sind, sonst gibt es Regen...“, sagte ich mit meinem noch immer anhaltenden gelangweilten Ton und stierte ebenfalls in den Himmel, ohne jedoch auf den Weg der vor mir lag zu achten.
    „Sheinux! Stopp“, ertönte plötzlich Stans in Panik geratene Stimme.
    Noch bevor ich begriff, was um mich herum eigentlich geschah, spürte ich plötzlich einen packenden Griff, der sich um meinen Schweif schloss und wurde ruckartig meterweit zurückgezerrt. Nur Sekunden später schossen in wahnsinniger Geschwindigkeit blecherne Metallkisten mit einem Höllenlärm dort vorbei, wo ich mich noch vor wenigen Augenblicken befand. Mein Herz pochte heftig, als ich dieses Schauspiel vor Augen hatte. Um ein Haar hätten sie mich ohne zu zögern überrollt.
    Ich warf einen Blick über die Schulter. Es war Stan, der mich vor meinem sicheren Verderben bewahrt hatte. Er war noch blässer als sonst. Ich spürte die Blicke unzähliger Menschen auf uns ruhen, die uns scharf musterten.
    „Ich glaube es wäre besser, wenn du jetzt in deinen Pokéball gehen würdest...“, murmelte Stan und nahm meinen Pokéball vom Gürtel.
    „Das wäre wohl das Beste...“, antwortete ich leicht apathisch.
    Augenblicklich erfasste mich der rote Strahl des Pokéballs und sog mich sekundenschnell in seine unendliche Leere hinein. Mein Puls normalisierte sich wieder. Ich war in Sicherheit


    Warum ich das tat, wollt ihr wissen? Freiwillig in einen dieser verfluchten Pokébälle zu gehen, obwohl mir doch angeblich so viel an meiner Freiheit lag? Das ist leicht zu erklären: Ich war natürlich müde. Die Reise war, wie ihr wisst, lang und beschwerlich gewesen. Der harte Belag war außerdem nicht gerade eine Wohltat für meine wundgelaufenen Pfoten und natürlich lag mir der so eben erfahrene Schreck noch schwer in den Knochen. Schließlich war ich abermals nur ganz knapp dem Tode entronnen.
    Doch erst als ich mir selbst in der Sicherheit und im Schwebezustand der Finsternis meines Pokéballs diese Frage stellte und über meine Situation nachdachte, wurde mir plötzlich eines klar: Stan hatte mir nun bereits zum zweiten Mal das Leben gerettet.

  • Part 3: Apathie


    „Ich glaube, Sheinux ist krank...“
    „Sieht auf den ersten Blick völlig gesund aus. Warum glaubst du das?“
    „Äh... Er ließ sich vorhin von mir völlig problemlos in seinen Pokéball verstauen.“
    „Das klingt für mich doch völlig normal. Sieht aber etwas blass aus. Er wirkt außerdem leicht apathisch... Sheinux? Hey, Hallo? Kannst du mich hören?“
    Ich nahm die Stimmen um mich herum überhaupt nicht richtig wahr. Noch zu tief saß der Schreck, nur ganz knapp mit dem Leben davon gekommen zu sein. Noch nicht einmal verwunderte es mich, plötzlich scheinbar in die Augen der Krankenschwester zu blicken, die mich Tage zuvor das erste Mal gesund gepflegt hatte. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass auf mir nun die doppelte Schuld lastete, denn ich verdankte Stan nun bereits zum zweiten Mal mein Leben. Ein wahrlich schwerer Schlag für mich...


    Ich befand mich auf einem kleinen Krankenbett, offensichtlich in dem ortsansässigen Pokémon-Center. Obwohl ich hätte schwören können, dieses Zimmer bereits schon einmal gesehen zu haben, wirkte es auf mich dennoch völlig fremd.
    „Er scheint irgendwie völlig abwesend zu sein. Ist etwas vorgefallen?“, hörte ich die Krankenschwester sagen. Obwohl sie mir gegenüberstand, schien es so, als wäre sie kilometerweit von mir entfernt.
    „Ja, vorhin... Sheinux wäre beinahe überfahren worden. Es war ganz knapp... Sehr knapp...“, sagte Stan und klang noch zittriger als sonst.
    „Verständlich, dass er geschockt ist“, meinte die Ärztin und ließ endlich davon ab, mir in meine trüben Augen zu schauen. „Ich nehme an, dass es für Sheinux das erste Mal ist, in einer Stadt zu sein?“
    „Äh...“
    Ich spürte plötzlich Stans verunsicherten Blick auf mir kleben.
    „Ja, ich glaube schon...“
    „Klarer Fall von einem neuropsychologischen traumatischen Erlebnis...“, murmelte sie und streichelte mir mitfühlend den Kopf.
    Von was redeten sie eigentlich? Klar, war ich noch etwas benommen, aber dennoch war ich hellwach. Ich musste es nur irgendwie verarbeiten, nun Stans Leben zweimal retten zu müssen, bevor ich wieder meinen Weg in die Freiheit gehen konnte. Das war alles...
    „Können Sie etwas für Sheinux tun?“, fragte Stan.
    „Nein, ich nicht...“, sagte sie kopfschüttelnd. „Aber du. Ich denke, was Sheinux jetzt am Meisten braucht, ist die Nähe zu Personen, zu denen er Bezug hat. Die Zeit, musst du wissen, heilt alle Wunden, auch wenn sie noch so groß sind.“
    “Oh“, sagte Stan und klang recht erleichtert. „Das ist kein Problem. Sheinux reist eh immer an meiner Seite.“
    “Du solltest ihn jedoch vorerst nicht einem solchen Trubel, wie dem lebhaften und lärmenden Stadtleben aussetzen und schon gar keinen Kämpfen. Vielmehr etwas entspannendes und erholsames. Du bist sein Trainer, du wirst schon wissen, was ihm gefällt.“
    Stan errötete leicht und musterte verlegen seine Schuhe.
    „Äh ja... Mir wird etwas einfallen....“
    „Gut“, sagte die Krankenschwester abschließend. „Ich sehe keinen Grund, Sheinux weiterhin bei mir zu behalten. Wie bereits gesagt, wäre es das Beste, wenn du mit ihm Zeit verbringst. Ich lasse dir euer Essen auf euer Zimmer bringen. Es war genug Aufregung, auch für dich.“
    „D-Danke“, stammelte Stan freudig.
    „Äh, für uns bitte die doppelte Portion, wenn es nichts ausmacht natürlich...“, sagte Stan hastig, als die Ärztin gerade das Zimmer verlassen wollte.
    Sie musterte zuerst ihn und dann mich etwas verwirrt, nickte dann aber doch lächelnd.


    Auf Stans mageren Armen geschmiegt, trug selbiger mich in direktem Weg zu unserem Nachtquartier. Es war ein ähnliches Zimmer, wie wir es Tags zuvor bereits in unserer anderen Herberge bereitgestellt bekommen hatten. Einziger Unterschied war, dass es sich hierbei nun um ein Ein-Mann-Quartier handelte.
    Stan schwieg die ganze Zeit über, während er gelegentlich zu mir hinüberschielte. Selbst als uns unser Abendmahl, hübsch auf einem Tablett verpackt, frei Haus geliefert wurde, nickte er nur stumm zum Dank.
    Ich fand es natürlich nicht in Ordnung, aber solche Eskapaden war ich ja inzwischen von Stan gewohnt. Zumindest ich sprach meinen Dank aus und machte mich gleich über meinen mir zustehenden Teil her. Feurigel naschte derweil, bäuchlings auf dem Kopfkissen ausgebreitet, an seiner Pokémonfutter-Ration. Ich ersparte mir rasch den Anblick, bei dem mir nur mein eben verdautes wieder hochkam.
    „Weißt du...“, murmelte Stan (er hatte noch keinen Bissen angerührt, sondern saß nur ganz still neben mir auf der Bettkante) „...ich hatte echt Angst um dich. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn dir etwas passiert wäre...“
    “Es ist ja nicht passiert. Nun iss endlich. Es wird sonst nur kalt“, antwortete ich ihm, auch wenn sich in mir dabei ein flaues Gefühl in der Magengegend ausbreitete.
    Nein, es war kein Hunger... Es war etwas ganz anderes. Stan schien sich wirklich um mein Wohlergehen zu sorgen. Niemals hätte ich gedacht, dass ausgerechnet ein Mensch jemandem wir mir solche Gefühle entgegen bringen könnte. An so etwas war bei meinem ersten Trainer nicht einmal im Traum zu denken. Sogar an eine extra Portion, nur für mich allein, hatte er gedacht.


    „Auch wenn wir uns nicht immer richtig zu verstehen scheinen, denke ich trotzdem, dass wir zusammengehören."
    Stan begann damit, meinen Nacken zu graulen.
    „Was tust du?!“, rief ich empört „Lass das bleiben, sonst kannst du was... Oh... Das tut gut...“
    Mein ganzer Körper entkrampfe sich schlagartig. Alles, was mir vor wenigen Minuten noch bleischwer auf der Seele lag, hatte sich scheinbar in Luft aufgelöst. Nichts schien mir wirklich noch wichtig zu sein. Es tat... irgendwie gut.
    Ich ließ mich, wie soeben von einer starken Attacke getroffen, seitwärts auf das Bett fallen, während Stan mich weiterhin bearbeitete.
    Ich schnurrte zufrieden (habe ich das gerade eben tatsächlich laut gesagt?)
    „Wir werden Morgen in See stechen. Ich bin mir sicher, dass es dir gefällt“, hörte ich Stan sagen. Erneut schien er kilometerweit von mir entfernt zu sein. Meine Augen wurden immer schwerer.
    „Wenn du meinst... Aber glaub ja nicht, dass sich irgendetwas zwischen uns beiden geändert hat...“, murmelte ich, kurz bevor ich völlig einschlief.

  • Kapitel 9: Eine Seefahrt, die ist lustig?



    Part 1: Soll mir das etwa gefallen?


    Stan hielt es allem Anschein nach für eine gute Idee, mich nach dem Frühstück noch für eine Weile in den Tiefen meines Pokéballs zu verstauen. Ich willigte, teils widerwillig, ein. Zwar war mir meine Bewegungsfreiheit beinahe wichtiger als alle Mülltonnen dieser Welt, aber umringt von den Menschenscharen dieser Stadt, fühlte ich mich sogar noch viel eingesperrter. Ganz zu schweigen von dem unerträglichen Lärm und dem nicht gerade rosenfrischen Geruch. Nicht zu vergessen, diese komischen und skrupellosen Höllengefährten der Menschen, die ich am Liebsten ganz aus meinem Erinnerungsvermögen streichen wollte.


    Es dauerte nicht allzu lange, bis ich wieder die Finsternis meines Pokéballs verlassen, und das grelle Licht der frühen Morgensonne genießen durfte. Sofort stieß mir der markante salzige Geruch in die Nase; noch viel intensiver, als zu dem Zeitpunkt an dem Stan und ich die Stadt zum ersten Mal betreten hatten.
    Mein Blick schweifte umher. Ein gigantischer schneeweißer Ozeankreuzer lag, nicht unweit von meiner Position entfernt, am Steg vor Anker. Eine sanfte, kühle Brise wehte mir durchs Fell. Und Vor mir: die unendlichen Weiten des Ozeans. Das Licht des Morgengrauens zauberte einen bunten Farbenschimmer auf die glatte Oberfläche des Meeres. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich das Rauschen des Ozeans. Es war einfach unbeschreiblich wohlklingend und entspannend.
    „Also, da wären wir“, hörte ich Stan sagen.
    Ich musterte meinen Trainer neugierig. Vergeblich suchte ich etwas, mit dem er in See stechen konnte; warum er auch immer einen Groll gegen das Wasser hegte...
    „Und nun...?“ fragte ich verwirrt.
    „Bereit in See zu stechen?“, fragte er mich.
    „Tu, was du nicht lassen kannst...“, antworte ich ihm.


    Stan lief an dem mit Geländern gesicherten schmalen Steg entlang. Das Meer, einen guten Meter unter uns, prallte gegen die von Menschenhand geschaffene steinerne Brüstung, während wir uns dem großen Ozeankreuzer näherten. Ich wusste noch immer nicht, das Stan eigentlich vor hatte. Aber sicher würde ich es gleich erfahren...
    „E-Einmal, bitte“, stammelte Stan zu einem müde aussehenden Mann ganz in weiß und einem albern aussehenden Cappi auf dem Kopf, und reichte ihm ein kleines Stück Papier.
    „Du bist früh dran“, murmelte er und musterte das von Stan gereichte Pergament scharf. „Geht in Ordnung. Du darfst an Bord. Abfahrt ist aber erst in zwei Stunden. Wenn du dir bis dahin noch die Stadt ansehen willst...“
    „Nein, nein. Schon in Ordnung. Danke“, antwortete Stan hastig. „Sheinux? Kommst du?“
    „Kommen?“, schoss es mir durch den Kopf. „Wohin? Doch nicht etwa...“
    Ich blickte entsetzt zu Stan hinüber. Er war tatsächlich gerade dabei, eine kleine Eisentreppe in das innere des Schiffs zu erklimmen. Meine schlimmste Befürchtung hatte sich bewahrheitet: Stan wollte tatsächlich mit mir auf eine Seereise gehen.
    „Moment mal!“, rief ich erschrocken. „Ich dachte, wird würden etwas machen, was mir Spaß macht? Vom Regen in die Traufe war nicht die Rede!“
    Einige Sekunden verstrichen, bis Stans Stimme aus dem Bauch des Schiffes ertönte
    „Sheinux? Wo bleibst du denn?“
    Der Seemann begann mich interessiert zu beobachten.
    Das konnte ja nicht wahr sein. Eine Reise ohne Wiederkehr... Ich würde sicherlich meine geliebte Heimat nie wieder sehen. Wer wusste schon, wo dieses Ungetüm uns hintragen würde. Aber hatte ich eigentlich eine andere Wahl? Umkehren und ewig in der Schande zu leben, sogar zweimal in der Lebensschuld eines anderen zu leben? Andererseits hatte Stan in letzter Zeit tatsächlich viel für mich getan und allem Anschein nach lag ihm an mir recht viel.
    Ich würde meine Chance bekommen, mich eines Tages bei ihm erkenntlich zu zeigen und dann endlich nach Hause zurückzukehren. Aber bis dahin musste ich ihm folgen.


    „Sheinux?“
    Ich schreckte abrupt aus meinen Gedanken auf.
    Stan war soeben wieder vor mir aufgetaucht und kniete in Augenhöhe zu mir nieder.
    „Los komm. Wir wollen an Bord gehen. Soll ich dich tragen?“
    „Von wir, kann ja nicht die Rede sein und nein danke, mein Lieber. Ich laufe...“, entgegnete ich ihm und stolzierte hoch erhobenen Schwanzes in das Innere des Schiffes.

  • Part 2: Abschied vom Festland


    Bis Stan und ich den gigantischen Ozeanriesen vom Heck bis zum Bug erkundet, und auch einen kleinen Abstecher in unser Kabuff... äh, unsere Kajüte hinter uns hatten, war bereits ein Großteil der Besatzung und der Fahrgäste an Bord. Im Grunde genommen ließ das Schiff keine Wünsche offen; wenn man ein Mensch war, natürlich...
    Neben einem großzügig ausgestattetem Innenleben, mit fließend warmen Wasser, einem kolossalen Speisesaal, Theken und Bars, Sport-, Freizeit- und Fitnessräumen und einem Spielkasino, bei dessen Anblick Stan übrigens einen Luftsprung vor Freude zum Besten gab, war das Außendeck mit seinen Swimmingpools und mehr Sonnenliegen als Sterne am Himmel auch recht großzügig hergerichtet.
    Für mich war der ganze Krempel natürlich nur unnötiger Schnickschnack. Aber das die Menschen das alles brauchten, um bei einer Schiffsreise keinen totalen Nervenzusammenbruch zu erleben, war mir irgendwie klar. Mir persönlich würde da schon ein sattes Feld voller Erdbeeren völlig genügen, aber so waren sie nun mal, die Menschen...


    Der elektronische Zeitanzeiger am Achterdeck (Stan hatte sich wiedereinmal in einer ausgestorbenen Ecke des Schiffes vor dem Rest der Welt abgeschottet) zeigte “10:00“, als eine akustisch verstärkte Stimme den Beginn unserer “fröhlichen“ Seereise ankündigte.
    „Meine Damen und Herren, hier spricht ihr Kapitän“, tönte es aus allen Lautsprechern auf dem gesamten Schiff. Jegliches muntere Geplapper war schlagartig verstummt.
    „Ich freue mich, Sie auf unserer dreitägigen Reise nach Moosbach City an Bord der M.S. Mistral im Namen der ganzen Mannschaft begrüßen zu dürfen.“
    „Drei Tage?“, stöhnte ich entmutigt und warf einen verbitterten Blick zu Stan.
    „Wir werden in wenigen Minuten planmäßig auslaufen. Auf unserer Reise in die Hoenn-Region sind Sie herzlichst an unserer Vielzahl von Freizeit- und Beschäftigungsangeboten eingeladen. Bitte beachten Sie dazu die Aushänge, die sie in allen Einrichtungen des Schiffes finden können oder fragen Sie einfach einen unserer Mitarbeiter. Sollte es Ihnen an etwas fehlen, so scheuen Sie sich bitte nicht, uns direkt anzusprechen. Unser Personal steht Ihnen vierundzwanzig Stunden um die Uhr zur Verfügung. Ich wünsche ihnen eine entspannende und erholsame Reise. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.“
    Kaum hatte die Stimme geendet, gab es von allen Reisenden an Deck, Stan miteinbegriffen, regen Beifall.
    „Drei Tage...“, stöhne ich verdrießlich. „Und was soll ich deiner Meinung nach die ganze Zeit tun? Pfötchen drehen?“
    Stan schwieg. Er hatte seine Hände um die Balustrade gelegt und starrte verträumt auf den weiten Ozean.
    „Schön, du kannst ja hier weiter Wurzeln schlagen! Ich aber steht der Sinn eher für etwas anderes. Wir riechen uns später“, rief ich ruppig und kehrte meinem Trainer den Rücken zu.


    Stan hatte echt Nerven so breit wie Bandnudeln. Schleppte er mich doch, ohne mich überhaupt nach meiner Meinung zu fragen, auf diesen mobilen Inbegriff der Langeweile und ließ mich dann einfach links liegen. Hatte ich gestern noch eine Spur von echter Zuneigung für ihn empfunden, lag sie nun bereits wieder auf dem Grunde des Ozeans.
    Ich lief über das schier endloslange hölzerne Schiffsdeck und begann damit, die Umgebung auf eigene Faust auszukundschaften. So wie Stan es tat, standen die meisten der deckansässigen Menschen an der Reling des Schiffes und stierten verträumt auf das weite Meer hinaus. Nur wenige schienen sich für mich zu interessieren, was mir jedoch auch nur recht war.


    Ich spürte wie der Boden unter meinen Pfoten zu vibrieren begann. Nun zog es mich auch an eine menschenverlassene Stelle der Reling. Langsam, aber sicher setzte sich das Schiff in Bewegung. Es stieß vorsichtig rücklings aus dem sicheren Hafen hinaus und begann sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Noch einmal offenbarte sich mir der kurze Anblick von Oliviana City, einer riesigen Stadt, von der ich im Grunde genommen nichts gesehen hatte. Aber nicht, das ich ihr nachtrauern würde, nein. Aber der Anblick, wie Oliviana City und das Festland in immer weitere Ferne rückte, stimmte mich doch sehr traurig. Würde ich jemals meine Heimat wiedersehen?

  • Part 3: Streichelzoo. In der Hauptrolle: Sheinux


    Mir wurde bei dem Anblick, wie die fernen Gebäude von Oliviana City von Sekunde zu Sekunde immer kleiner wurden, sehr schwer ums Herz. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, wäre ich sicherlich sofort über Bord gegangen, da könnt ihr Gift darauf nehmen. Dummerweise war mit Stans zweiter Lebensrettung das unsichtbare Band zwischen uns enger denn je geschweißt. Mit dieser Schuld mein Leben in Schande zu verbringen, kam für mich überhaupt nicht in Frage. Es hieß also, die Zähne zusammenzubeißen und abwarten. Meine Stunde würde kommen.
    „Schau mal Mami, ein Pokémon.“
    Ich zuckte leicht zusammen und blickte zur Seite. Ein kleines Mädchen hing einer älteren Frau, offenbar ihrer Mutter, am Rockzipfel und deutete in meine Richtung.
    Das hatte mir noch gefehlt... Kleiner Kinder mochte ich gar nicht leiden. Neben Hunger und Langweile standen kleine Mamischreier auf meiner Hassliste ganz weit oben. Spätestens nun war für mich der Zeitpunkt gekommen, meine eigene schiffsweite Erkundung fortzusetzen.


    Doch als ich das Deck erneut von Heck bis Rumpf abgesucht, und auch noch einmal dem Inneren einen kurzen Besuch abgestattet hatte, wurde mir klar, dass es hier außer den unterschiedlichsten Reisegästen aus aller Herren Ländern nichts wirklich interessantes gab. Zumindest die Tatsache, dass ich hier bei all den Menschen wohl nicht verhungern würde, heiterte mich, wenn auch nur etwas, auf. Nach einem kleinen meiner berühmt-berüchtigten Beutezüge, machte ich mich, mit einem salzigen Teiggebäck im Mund, auf die Suche nach Stan. Viel anderes blieb mir ja nicht übrig. Inzwischen kannte ich das Schiff wohl besser, als sein eigener Erbauer und die ewig quengelnden Kinder, die offenbar mit ihrer Zeit nichts besseres anzufangen wussten, als mit mir fangen spielen zu wollen, gingen mir doch langsam auf den Zeiger.


    Ich hastete mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau („habt ihr denn kein Zuhause?“), welche die Verfolgung jedoch bald aufgaben, wieder zurück auf Deck. Mittlerweile war doch einige Zeit vergangen. Schon von weitem konnte ich feststellen, dass Stan nicht mehr an Ort und Stelle stand. Er hatte sich klammheimlich verdrückt.
    Ich gab bei dem Anblick des stanlosen Promenadendecks ein verwerfliches Schnauben von mir.
    Tja, das sah Stan ähnlich. Sicher hatte er mich inzwischen völlig vergessen und genoss derweil ein ausgiebiges Mittagsessen.
    Vor lauter Zorn trat ich mit aller Gewalt gegen das stählerne Geländer, was mir natürlich nicht wirklich weiterhalf. Stattdessen musste ich nun, neben meinem Missmut über diese Reise, jetzt auch noch mit dem dumpf pochenden Schmerz in meinem rechten Vorderbein leben.
    Frustriert humpelte ich nochmals quer durch das ganze Schiff, um Stan ausfindig zu machen.


    Ich stellte also noch einmal den gesamten Dampfer auf dem Kopf. Unser Quartier war scheinbar verlassen und auch im inzwischen schmackhaft riechenden Speisesaal war Stan nicht vorzufinden. Leise fluchend machte ich mich auf den Weg, in Richtung des Casinos. Mit jedem weiteren meiner schmerzenden Schritte, wuchs der Zorn auf Stan in schier in unermessliche Höhen. Doch viel Zeit, um einen Rachefeldzug gegen meinen sogenannten Trainer zu schmieden, blieb mir leider nicht. Eine schrille, ohrenzerreisende Stimme hinter mir, ließ mich jäh zusammenfahren.
    „Mami schau mal! Da ist das Pokémon wieder!“
    Ich wirbelte erschrocken herum. Augenblicklich stellten sich meine Nackenhaare zu berge und mein Fell begann zu glühen.
    „Oh nein... Nicht du“, stöhnte ich leise.
    Die kleine Göre, die mich bereits bei unserer Abfahrt wohl am Liebsten in ihren Streichelzoo gesteckt hätte, saß mitsamt ihrer Mutter nur wenige Wimpernschläge von mir entfernt an einem runden Tisch. Mir schwante böses.
    „Mami, darf ich mit ihm spielen?“, quiekte sie und deutete bedrohlich in meine Richtung.
    „Mach ruhig, Liebes“, antwortete ihre Mutter in einem desinteressierten Ton und ohne mich überhaupt eines Blickes zu würdigen.
    „Moment mal!“, rief ich empört und versuchte mich verzweifelt so unauffällig wie es für ein einzelnes Pokémon umring von Menschen nur möglich war, mich aus der Gefahrensituation zu manövrieren. „Ich habe da auch noch ein Wörtchen mitzureden!“
    Das Mädchen gab nochmals ein durchdringendes Quietschen von sich und begann sich mir unheilbringend zu nähern.


    So schnell mich meine drei gesunden Beine tragen konnten, humpelte ich in die entgegengesetzte Richtung. Die Schritte meiner Verfolgerin hämmerten so laut wie zu Boden geworfene Mülltonnen in meinen Ohren.
    „Kommt her Kleines. Ich will dich streicheln.“
    Na, hatte ich es nicht prophezeit?
    „So wie du aussiehst, kannst du dir das gar nicht leisten“, entgegnete ich ihr und setzte meinen lächerlich langsamen Fluchtversuch fort.
    Ich warf einen raschen Blick über die Schulter. Sie war nur noch wenige ihrer Schritte von mir entfernt.
    „Kannst du nicht deinem Plüschbären auf die Nerven gehen?“, rief ich verzweifelt.
    „Wo willst du denn hin? Magst du vielleicht etwas zu essen?“, hörte ich die immer lauter werdende zu mir sagen.
    „Auf deine Almosen kann ich verzichten“, erwiderte ich.


    Meine Verfolgerin wollte einfach nicht locker lassen. Ich spürte bereits ihren heißen Atem in meinem Nacken. Erneut linste ich über meine Schulter. Die Kleine war nur noch einen Wimpern schlag von mir entfernt und hatte beide Hände weit in meine Richtung ausgestreckt.
    „Stan!“, rief ich mit meinen Nerven am Ende. „Stan! Wo bist du?“
    Ich weiß, was ihr jetzt denkt... Sheinux, Sohn des Sechsten Hauses, unangefochtener Champion und Revierherrscher des westlichen Nationalparks, großmeisterlicher Mülltonnendurchwühler und mit dem blechernen Bierdeckel ausgezeichneter Meisterlangfinger, ruft in seiner Not nach seinem Trainer. Ja, ihr habt recht... Wie tief war ich nur gesunken? Doch vor meinem inneren Auge sah ich mich bereits mit Windeln und Schnuller in dem Puppenwagen meiner, mit einem breiten und triumphierenden Lächeln im Gesicht, Jägerin liegen. Das wäre tatsächlich mein völliger Ruin gewesen.
    Ruckartig schlossen sich zwei klebrige Hände um das hintere Ende meines Schweifes und beendeten meinen, bereits im vornhinein, vergeblichen Fluchtversuch.
    „Hab dich“, trällerte sie fröhlich.
    „Stan!“, brüllte ich verzweifelt und versenkte meine Krallen in den hölzernen Boden, um mich noch irgendwie der unbändigen Kraft meiner Verfolgerin zur Wehr zu setzen.
    „Sheinux?“
    Schlagartig hob ich meinen Kopf in die Luft. Einige Schritte vor mir entfernt, stand er. Stan.
    „Hey, was tust du da?”, rief mein Trainer dem Mädchen zu.
    „Spielen“, flötete sie lachend und zerrte mich immer weiter in ihre Richtung.
    Stan schaute einige Sekunden völlig perplex dem ungleichen Kampf, den ich meiner überlegenen Gegnerin lieferte, zu.
    „Jetzt steh hier nicht wie ein Ölgötze herum! Schaff sie mir endlich vom Hals!“, brüllte ich der nutzlos dastehenden Gestalt Stans entgegen. Ich hatte bereits eine meterlange Krallenspur auf dem Boden gezogen.


    Glücklicherweise gelang es Stan irgendwie, die Kleine unter dem gesamten Einsatz seiner katastrophalen diplomatischen Fähigkeiten, zu beruhigen. Nun, “beruhigen“ war wohl das falsche Wort dafür, denn letzten Endes lief meine, vor wenigen Minuten noch so willensstarke, Verfolgerin, bittere Tränen weinend, zu ihrer Mutter zurück.
    „Verschwinden wir...“, murmelte Stan mit einem Kopf so rot wie eine reife Tomate.
    „Die beste Idee seit langem“, antwortete ich.
    „Du bist ja verletzt“, sagte er plötzlich und blickte besorgt auf mein wundes Bein.
    „Das hab ich von dir doch schon mal gehört...“, sagte ich.
    Noch bevor ich reagieren konnte, schloss mich Stan fluchs in seine Arme und eilte mit mir die nächstliegende Treppe hinauf.


    „Wo warst du die ganze Zeit?“, keuchte er, als wir endlich eine ruhige, menschenleere Ecke des Promenadendecks erreicht hatten. Sein Kopf hatte mittlerweile wieder eine normale Farbe angenommen.
    „Das Selbe könnte ich dich fragen...“, entgegnete ich mürrisch.
    Er legte mich auf eine der vielen Sonnenliegen und begann in seiner Tasche zu wühlen. Nostalgische Gefühle überschwemmten mich, als Stan eine rote Flasche in den Händen hielt und sie auf meine pochende Wunde richtete.
    Ich zuckte erschrocken zusammen, als der kühle Strahl meinen Körper berührte.
    „Autsch! Hast du für dieses Ding eigentlich einen Waffenschein?“, brummte ich, als mein Bein wenige Sekunden später noch schlimmer zu ziepen begann. Doch nur bereits einen kurzen Augenblick später, war der Schmerz beinahe völlig verebbt.
    „So, das sollte helfen; hoffe ich zumindest...“
    „Danke...“, murmelte ich und blickte leicht verlegen meinem Trainer in die Augen.
    „Aber das eins klar ist“, rief ich und gewann schlagartig meinen gewohnten Schneid zurück. „Mit dem Mädel wäre ich auch alleine zurecht gekommen. Und auch deine Sprühaktion, zählt nicht als lebensrettende Aktion, klar?“
    Stan lächelte sanft.

  • Kapitel 10: Aber doch bitte nicht auf meine Kosten...


    Part 1: Verrat


    Zum ersten Mal in meinem Leben war ich richtig froh, Stan an meiner Seite zu haben. In seiner Begleitung schien sich plötzlich niemand mehr wirklich für mich interessieren, was mir nur mehr als recht war. Selbst die quirligen Kleinen, waren plötzlich wie ausgewechselt. Zwar konnte ich unschwer in ihren Augen ablesen, dass sie mich wohl, nach wie vor, am Liebsten auf ihr Kaffeekränzchen mit Plüschbär und Co. eingeladen hätten, aber die pure Anwesenheit meines Trainers genügte aus, um lästige Zwischenfälle zu vermeiden. Dabei war Stan eigentlich nichts, was man wirklich als Respektperson bezeichnen konnte...


    Wir entschieden uns, uns nach diesem schweißtreibenden Erlebnis ein ausgiebiges Mittagsessen zu genehmigen. Die deftige Seemannskost war sogar noch um Längen besser, als das Kantinenfutter aus dem Pokémon-Centern, die wir auf unserer Reise bislang besucht hatten. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass auf diesem Schiff alles in reichem Überfluss vorhanden zu sein schien. Von solch einem ernüchternden Vorfall, wie ich ihn erst vor kurzem im Pokémon-Center kurz vor Oliviana City erlebt hatte, schien an Bord unseres Luxuskreuzers völlig undenkbar. Kaum hatte man sich mit Suppe, Braten und Grünzeug eingedeckt, hasteten die auf der Lauer liegenden Küchengehilfen wie von einem Ariados gestochen los, um für Nachschub zu sorgen. Na, das nannte ich doch mal Service. Es erinnerte mich schon fast an meine Lieblingsmülltonne im Nationalpark.


    Auf meinem mir gebührenden Stammplatz auf dem Tisch, schlürfte ich eine kräftige Nudelsuppe und erntete dabei scheinbar missvergnügte Blicke.
    Warum fragt ihr? Hm, das konnte ich mir damals auch nicht erklären. Ihnen war wohl gerade doch die Nudelsuppe ausgegangen und ich hatte die letzte Portion ergattert. Tja, Pech würde ich mal behaupten...
    Doch das neidvolle Gemurmel um uns herum wurde langsam aber sicher unerträglich. Das Essen schmeckte mir von Sekunde zu Sekunde immer schlechter. Stan begann bereits wieder unruhig auf seinem Stuhl hin und herzurutschen, als uns plötzlich eine leicht anmaßend klingende Stimme bei unserem Diner rüde unterbrach. Das heißt, Stan ließ sich unterbrechen, denn ich ließ mich nicht weiter stören und genoss lautstark und völlig unbeirrt mein Mahl.


    „Entschuldigung, Sir?“
    Stan reagierte natürlich mal wieder völlig überspannt. Es dauerte eine gefühlte Minute, bis er seinen Bissen, der ihm noch im Halse steckte, herunterwürgen konnte und aufhörte nach Luft zu ringen. Mit Tränen in den Augen und wiedereinmal einer Farbe im Gesicht, die eine Tomate schon fast neidisch machen könnte, linste er schüchtern zu unserem Besucher hinauf.
    „J-Ja?“, murmelte mein Trainer.
    „Sir, ich möchte Sie bitten, ihr Pokémon vom Tisch zu nehmen“, flötete der Mensch, welcher allem Anschein nach zum Küchenpersonal gehörte. Auch ich lugte nun argwöhnisch in seine Richtung und sog dabei die übrigen, an meinem Mund baumelnden Nudelfäden, in meine Futterlucke. Ich war mir keinerlei Schuld bewusst.
    „Die anderen Gäste fühlen sich von dem ungebührlichen Verhalten ihres Pokémons belästigt.“
    Stans Augen huschten angsterfüllt durch den Raum. Scheinbar jeder im Saal hatte den Inhalt seines eigenen Tellers völlig vergessen und starrte, leise mit seinen Nachbars flüsternd, zu uns hinüber.
    Es war wahrscheinlich der falsche Zeitpunkt, aber genau in diesem Moment gab ich einen kräftigen Rülpser zum Besten. Schlagartig waren alle Augenpaare, Stans miteingeschlossen, auf mich gerichtet.
    „Was denn?“, rechtfertigte ich mich lautstark. „Das ist das beste Kompliment, was man einem Koch machen kann!“
    Stan starrte schweigsam auf seinen Teller.
    „Und Sir: Die Speisen sind eigentlich für die Gäste gedacht und nicht für deren Pokémon. Sie finden Pokémon-Nahrung auf dem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite des Raums.“
    Stan schielte einige Male verlegen zu mir hinüber, wagte mich aber nicht direkt anzusehen.
    „Ähm...“, murmelte er.
    „Ist schon gut“, rief ich bebend vor Zorn und sprang vom Tisch. „Ich weiß, wann ich unerwünscht bin. Mir ist eh gerade der Appetit vergangen...“
    Ich warf der kompletten Gemeinschaft im Raum noch einmal einen verächtlichen Blick zu und stolzierte, hoch erhobenen Schwanzes, von dannen.

  • Part 2: Voltenso


    Mit heftig knurrendem Magen und einer Höllenwut im Kopf, ließ ich meinen sogenannten Freund und Trainer - ja, ich bezeichnete ihn tatsächlich inzwischen als Freund - und den Rest der Menschen, ohne sie auch nur eines weiteren meiner Blicke zu würdigen, im Speisesaal zurück. Nicht nur das ich mich erniedrigt fühlte, auch spürte ich wie der beißende Gestank des Verrats auf mir lastete.
    Ja, Stan hatte mich verraten. Natürlich wusste er zweifelsohne, dass es für Pokémon ein eigen zubereitetes Essen gab. Schließlich hatte Feurigel die ganze Zeit über seelenruhig schlemmend unter dem Tisch gesessen. Doch Stan fehlte wie immer der Schneid, seine bescheidene Meinung der Welt mitzuteilen. Stattdessen hoffte er darauf, dass sich seine Probleme von selbst lösten. Auch wenn er wohl nicht in der Lage gewesen wäre, sich gegen das gesamte Küchenpersonal zu behaupten, hätte er mir doch wenigstens etwas den Rücken stärken können...


    In dem kühlen Schatten einer der unzähligen Sonnenliegen auf dem Promenadendeck, unter der ich mich verkrochen hatte, grübelte ich lange Zeit über mich und Stan nach. Zweimal schon, hatte er mir das Leben gerettet. Zwei mutige und heldenhafte Taten und doch konnte er sich vor den einfachsten Dingen im Leben nicht behaupten.
    „Vielleicht war ich einfach zu streng zu ihm..“, dachte ich, während das sanfte Auf und Ab des Schiffes mich langsam in den Schlaf wiegte. „Ich werde mich bei ihm entschuldigen...“


    Wie lange ich eingeschlafen war, wusste ich nicht. Ich weiß nur noch, dass mich plötzlich ein Höllenlärm weckte.
    Schlaftrunken blinzelte ich aus meinem sicheren Versteck hinaus. Eine große, grölende Menschentraube hatte sich in der Nähe des Schiffsbugs versammelt und erfreute sich allem Anschein nach an irgendeinem sinnlosen Spektakel. Zwar scherten mich die Geschäfte der Menschen relativ wenig, doch war dies wohl einer der seltenen Momente auf dem Schiff, bei denen ich meine Langeweile vielleicht für einige Minuten vergessen konnte.


    Vorsichtig näherte ich mich dem Ort des Geschehens. Die kraftvollen Blitze, welche über die Köpfe der Menschen gen Himmel strömten und das kampfeslustige Grölen der Menschen, ließen mich bereits aus weiter Distanz erahnen, was am Schauplatz wohl vor sich ging. Obwohl ich von solchen Schaukämpfen nichts hielt, war ich dennoch sehr neugierig. Außer Feurigel hatte ich schließlich niemanden, mit dem ich mich mal vernünftig unterhalten konnte und diese alte Schnarchnase war wahrlich nicht das, was ich mir unter einem Gesprächspartner vorstellte. Vielleicht würde ich ja endlich einen gleichgesinnten finden. Ein Kamerad, dem ähnliches wie mir wiederfahren war und mit dem ich endlich meinen Schmerz teilen konnte... Ein Freund, der mir zuhörte. Oder vielleicht auch einfach nur jemand, mit dem ich meine Kräfte messen konnte.


    Ich zwängte mich durch das enge Beingewirr der Menschen hindurch. Niemand schien mich in nur irgendeiner Form zu beachten, was die Sache recht erschwerte. Zweimal konnte ich nur knapp verhindern, dass mein Schweif unter die gewichtigen Füße der Menschen geriet.
    Irgendwie schaffte ich es jedoch heil durch den Dschungel von Beinen und Füßen hindurch und landete schließlich am Rande des Kampfplatzes. Zwei sich weit gegenüberstehende Trainer spornten ihre beiden verbissen kämpfenden Pokémon zur Höchstleistung an, während das Johlen der Schaulustigen immer lauter wurde.
    Im Ring zog gerade ein blaues, recht struppiges Pokémon, mit spitzer Schnauze und scharlachroten Augen immer enger werdende Bahnen um ein sich auf dem Boden windendes, rosarotes Etwas. Sabber lief aus dem Mund des wehrlosen Kämpfers, während er im Sekundentakt vor Schmerzen heftig zuckte. Mir war bereits klar: der Kampf war längst vorbei. Auch sein Trainer war ebenfalls dieser Ansicht.
    „Snubbull, komm zurück“, rief er niedergeschlagen, zückte einen Pokéball und zog seinen geschlagenen Kameraden zurück die rote Kugel.


    „Verehrtes Publikum. Darf ich Ihnen die Gewinner vorstellen: Ray und Voltenso. Applaus bitte!“, rief ein Mann, der offenbar eine Form von Schiedsrichter zu sein schien.
    Der Kampfplatz explodierte förmlich vor Begeisterung der Zuschauer.
    Der junge Trainer mit Namen Ray, reckte seine Faust in triumphierender Geste in Richtung Himmel. Voltenso, das Pokémon, welches den eigentlichen Sieg errungen hatte, gab ein Mark und Bein erschütterndes Siegesheulen von sich.
    Selbst aus dieser weiten Entfernung spürte ich deutlich die Macht, die von Voltenso ausging. Zwar war er natürlich nichts im Vergleich zu mir, doch würde er mir sicherlich keinen leichten Kampf liefern.
    Völlig unverhofft trafen sich plötzlich unsere Blicke. Sämtlicher Lärm um mich herum, schien schlagartig völlig verschwunden zu sein. Auch die unzähligen Menschen waren wie vom Erdboden verschluckt. Es gab nur mich. Mich und Voltenso. Voltenso kräuselte seine Lippen zu einem merkwürdigen Lächeln. Seine scharlachroten Augen blitzten in der orangefarbenen Abendsonne auf. Jede Faser meines Körpers begann bei dem Anblick meines Gegenübers unruhig zu ziepen. Was es war, wusste ich nicht. Ein merkwürdiges, unbehagliches Gefühl. Etwa Abscheu? Nein, das war es nicht. Warum auch? Aber was war es dann?
    Wie war das? Angst? Nein, niemals! Was es auch war: sicherlich keine Angst, das könnt ihr mir glauben! Ich mochte den Blick einfach nicht. Es glich beinahe einem hämischen Grinsen.
    Etwas, nennt es einfach Instinkt, verriet mir, dass Voltenso mir eines Tages noch das Leben schwer machen würde. Ich weiß, das könnt ihr nicht verstehen. Müsst ihr jedoch auch nicht.


    Ein jäher Lichtstrahl beendete unseren stummen Augenkontakt und beförderte mich schlagartig in die reale Welt zurück. Voltenso wurde soeben von seinem Trainer zurück in seinen Pokéball befördert.
    „Bitte vergessen Sie auch nicht, unser morgiges Turnier“, rief der Schiedsrichter in die Runde. „Die Teilnahmebedingungen erfahren sie auf den aushängenden Plakaten. Ich danke den beiden Teilnehmern dieses kleinen Kampfes und möchte noch einmal um einen kräftigen Applaus bitten.“
    Abermals ertönte das Geklatsche und die grellen Pfiffe und Jubelrufe des Publikums.
    Erst nach Minuten des Beifalls löste sich die Menschentraube langsam auf, bis ich schließlich mit meinen Gedanken völlig alleine war.

  • Part 3: Vom Teufel besessen


    Minuten verflogen schnell wie Sekunden, während ich gedankenversunken durch die Schiffsbalustrade hindurch den fernen Sonnenuntergang beobachtete. Zwar war es meine erste, und hoffentlich auch meine letzte Reise an Bord eines Schiffes, doch das Meer, in seinen nahezu grenzenlosen Tiefe und Weiten, schimmerte an diesem Abend schöner, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte.


    Ich wäre wohl noch den ganzen Abend und die ganze Nacht regungslos an der Reling gestanden, die Gestirne bei ihrer Himmelseroberung beobachtet und in Erinnerungen geschwelgt, hätte mich nicht plötzlich mein heftig rebellierender Magen zurück in die Wirklichkeit versetzt. Mein karges Mittagessen schien bereits in schier endlose Ewigkeiten gerückt und so verabschiedete ich mich schweren Herzens von der untergehenden Sonne und der Ruhe und Beschaulichkeit meiner menschenleeren Aussichtsplattform. Zum wiederholten Male machte ich mich auf den Weg, Stan zu finden.


    Systematisch stellte ich abermals das Schiff auf den Kopf. Angefangen mit unserem, mir mittlerweile sogar recht gemütlich erscheinenden Quartiers.
    Von den nervenzerfressenden Ereignissen des Tags geschult, wog ich bei diesem meiner Streifzüge meine Schritte besonders achtsam ab. Selbst die kleinsten Anzeichen eines kindlich klingenden Kicherns genügten bereits, dass ich einen weiten Bogen um den vermeintlich gefährlichen Korridor machte. Dementsprechend langsam kam ich natürlich auch voran. Das aber war ein Preis, den ich gerne bereit war zu zahlen; auch wenn mein Magen natürlich ganz und gar nicht mit dieser Vorsicht einverstanden war... Zurecht: Das traurige Ende des Lieds war nämlich, dass ich meinen Trainer erst nach einer Odyssee von zwei geschlagenen Stunden durch das ganze Schiff im gänzlich ausgestorbenen Spielkasino fand, welches ich natürlich, wie hätte es auch anders sein können, dummerweise als vorletzten von Stans möglichen Aufenthaltsorten aufgesucht hatte. Den Speisesaal hatte ich mir bis zum Schluss aufgehoben.


    Als ob er kein Wässerchen trüben könnte, stand er, seine starren Augen auf einen flackernden Monitor geheftet, an einer Konsole, die mit den Buchstaben “Arcade“ geziert waren und von der pausenlos ein Höllenlärm ausging. Seine Hände umschlossen ein merkwürdig geformtes Stück Kunststoff, welches er ununterbrochen auf den Bildschirm richtete und ein nerviges Klicken von sich gab. Schweiß glänzte auf Stans Stirn und lief ihm langsam am Kinn hinunter. Sein blasses Gesicht war vor Anstrengung merkwürdig verzerrt und er schien mich und sein ganzes Umfeld überhaupt nicht wahrzunehmen.


    Ich sheinuxte ihm meinen höflichsten und unter normalen Umständen auch unüberhörbaren Gruß entgegen. Die Sekunden verzogen, während Stans starrer Blick weiterhin unaufhörlich auf den Monitor vor ihm gerichtet war.
    „Stan?“, rief ich ihm mit ansteigender Tonlage entgegen. „Hey Stan!?“
    Noch immer reagierte er nicht und begann stattdessen damit, in lächerlich anzusehender Art und Weise vor dem Kasten herumzuspringen.
    Langsam aber sicher riss mir dann doch der Geduldsfaden. Mit brachialem Körpereinsatz rempelte ich meinen, in seiner eigenen Welt völlig gefangenen Trainer an; so heftig, dass er schlagartig das Gleichgewicht verlor und spektakulär auf die Nase fiel. Das Kunststoffgerät, welches er die ganze Zeit über umklammert hatte, baumelte träge an einer Schnur vor dem Kasten herunter.


    „Was... Was zum...“, stotterte Stan, während er sich völlig zerstreut aufrappelte und mit schmerzerfüllter Miene sein Bein rieb. Sein Kopf schwenkte ziellos umher, bis sein Blick endlich mich traf.
    „Oh, Sheinux!“, rief er freudig, als ob er bereits wieder vergessen hatte, dass ich ihn soeben mit aller Kraft gerammt hatte. „Wo warst du die ganze Zeit? Ich hatte mir schon...“
    Stans Augen huschten plötzlich zurück auf den Bildschirm. Seine Hand schoss plötzlich blitzschnell an das Stück Plastik, dass der die ganze Zeit über gehalten hatte und schenkte seine gesamte Aufmerksamkeit wieder dem Arcade-Dingensda.
    „...Sorgen gemacht...“, beendete ich seinen Satz mit einem Seufzen. „Ja, das sehe ich...“
    Doch Stan schien bereits wieder kilometerweit von mir und der wirklichen Welt entfernt zu sein.
    „Mist!“, fluchte er mürrisch und steckte eine kleine Anzahl von klimpernden Münzen in einen Schlitz am Automat.


    Ich entschied mich dazu, dem Schauspiel, dass sich vor mir bot, noch einige Minuten lang stillschweigend zu beobachten. Irgendwann, so glaubte ich zumindest, würde er sicherlich die Interesse an dem verlieren, was auch immer er gerade tat.
    Doch die Zeit verstrich ereignislos. Stan steckte dem gierigen Automaten immer mehr Münzen in sein verfressenes Maul.
    Warten... Ich hasste es einfach. Besonders wenn ich auch jemand anderen warten musste.
    Mittlerweile hatte auch ich mehr Interesse an einem kleinen Bäumchen in meiner Nähe gefunden, an dem kleine, ovalförmige, gelbe Früchte prangten, als an dem traurigen Anblick, meines Trainers. Mit einem hohen Sprung schnappte ich mir eine der leicht bitter riechenden Früchte und trug meine Beute zu Stan hinüber. Teilen kam mir natürlich nicht in den Sinn. Aber selbst wenn, war Stan fiel zu beschäftigt, als das er meinen erfolgreichen Raubzug überhaupt wahrgenommen, geschweige denn, gelobt hätte.
    Ich warf Stan noch einmal einen verächtlichen Blick zu und versenkte meine Zähne in die Schale des Obstes.


    Ich kann euch versichern, dass ich in meinem gesamten Leben noch nie zuvor eine solch ekelerregende Frucht gekostet hatte. Sie war einfach nur unbeschreiblich sauer, dass ich meine Zunge gar nicht mehr spüren konnte. Meine Lippen begannen sich von Außen nach Innen zu wenden, während es mich am ganzen Körper heftig schüttelte.
    „Widerwärtig...“, röchelte ich und spuckte das Stück Fruchtfleisch gegen Stans rechtes Hosenbein. Doch dieser schien, welch Überraschung, nach wie vor überhaupt nicht Teil dieser Welt zu sein und nahm es überhaupt nicht zur Kenntnis.


    Mittlerweile füllte sich das verlassene Kasino langsam aber sicher. Die herannahenden Menschen machten den Eindruck, als wären sie über irgendetwas sehr glücklich und genau das, machte mich noch wütender.
    Stans Desinteresse gegenüber mir brachte mich allmählich zur Weißglut. Noch gestern hatte er mir das Blaue vom Himmel versprochen. Er wollte mir eine angenehme Zeit zu schenken. Stattdessen saß ich nun mit knurrendem Magen da, wurde von Langeweile innerlich aufgefressen und war einem äußerst grausamen und sauren Tode nur knapp entgangen.


    Stan wollte gerade eine weitere seiner silberfarbenen Münzen in den Schlund des Automaten werfen, als ich ihm das angebissene Stück Obst mit einem saftigen Tritt gegen seinen Kopf kickte.
    „Autsch“, murrte Stan und fasste sich an die Stelle, an der ihn soeben mein Geschoss traf. Sein Blick huschte schlagartig zu mir hinüber. Wie auf Kommando begann mein Magen so laut zu knurren, dass ich mir sicher war, ihn hatte man soeben auf dem ganzen Schiff gehört.
    Ich warf ihn einen meiner finstersten und vernichtendsten Blicke zu. Vielleicht würde er ja so endlich auf mich reagieren.
    „Ja, du hast recht. Entschuldige bitte...“, seufzte er. „Gehen wir einen Happen essen. Ich habe auch ein Loch im Magen.“
    „Dein Magen interessiert mich nicht die Bohne. Aber der Plan klingt gut“, sagte ich glücklich.
    Stan warf noch einmal einen schwermütigen Blick auf den Bildschirm, doch setzte er sich endlich, nach kurzer Dauer, in Bewegung.


    Der heute mittag noch so rappelvolle Speisesaal war an jenem Abend völlig ausgestorben. Doch die Soßenkleckse auf den Tischtüchern, das stapelweise dreckiges Geschirr und der Geruch von gekochten und gebratenen Speisen, welcher in der Luft lag, verriet mir unmissverständlich, dass hier noch vor wenigen Augenblicke ein wahres Festgelage stattgefunden hatten musste.
    „Äh, Entschuldigung, aber...“, murmelte Stan.
    „Tut mir Leid Sir, aber das gemeinsame Abendmahl hat bereits stattgefunden. Sie kommen leider zu spät...“, sagte einer der Küchengehilfen, der offenbar sofort verstand was los war und setzte seine Arbeit fort, die gebrauchten Teller und Gläser in einen Rollwagen zu räumen.
    Für Stan, wie auch für mich, schien die Welt gerade mit diesen Worten entzwei gebrochen zu sein. Hätte ich nur die Kraft gehabt, hätte ich mich wohl noch einmal auf eine besondere Art und Weise bei Stan bedankt. Doch eben diese, fehlte mir unglücklicherweise. Ich sank resigniert zu Boden.
    „Die regelmäßigen Mahlzeiten finden Sie auf diesem Plakat gekennzeichnet“, sagte der Mann und deutete auf ein Stück Papier, dass an der Wand hing.
    „Danke...“, murmelte Stan verdrießlich, ohne das Dokument auch nur anzusehen.
    Mit einem leisen Scheppern verstaute die Bordskraft das letzte, schmutzige Geschirr in den Wagen. Er schenkte uns ein mitfühlendes Lächeln.
    „Die Küche hat zwar bereits geschlossen, aber Sie können sich, wenn Sie sich beeilen, heute Abend noch auswärtig an einem der Kiosks versorgen, sofern Sie das möchten.“
    „Natürlich möchten wir!“, rief ich urplötzlich wieder völlig munter und auf den Beinen. „Los! Keine Zeit verlieren! Die warten garantiert nicht auf uns, nur weil du Stan heißt.“
    „D-Danke“, rief mein Trainer in seinem üblichen Stammelkauderwelsch dem Mann zu und eilte fluchs, mit mir an seiner Seite, aus dem Speisesaal hinaus.


    Auf meinen Streifzügen durch das Schiff hatte ich natürlich bereits das Ein oder Andere Kiosk ausgemacht. Hätte ich mich in diesem Fall ebenfalls auf Stan verlassen, so wäre ich wohl verhungert. Doch glücklicherweise fand ich sofort, was ich gesucht hatte.
    Wir waren wohl eben noch rechtzeitig gekommen, denn der müde wirkende, glatzköpfige Verkäufer machte bereits Anstalten, seinen Laden zu schließen.
    „Stopp! Halt! Einen Moment bitte!“, keuchte Stan und griff sich völlig atemlos an seine Seite.
    Der Kaufmann schaute verwirrt in unsere Richtung und schien dabei ganz und gar nicht erfreut zu sein.
    „Dann aber schnell“, murrte der Verkäufer und musterte mich und Stan argwöhnisch. „Wir haben eigentlich bereits seit zwei Minuten geschlossen.“
    „Eine feine Art, mit potenzieller Kundschaft umzugehen...“, schoss es mir durch den Kopf, während Stan anfing, allerlei Krimskrams zusammenzusuchen.
    „Ich nehme das. Danke...“, sagte Stan und kehrte dem Verkäufer den Rücken zu.
    Auch ich, in meiner völligen Unschuld schwelgend, tat es ihm gleich. Doch plötzlich ließ mich die laute Stimme des Verkäufers erschrocken zusammenfahren.
    „Ja, bist du noch ganz sauber? Du musst erst bezahlen. Zurück!“
    „Be-Bezahlen?“, stotterte Stan.
    „Natürlich“, schnaubte der Kaufmann. „Wir sind hier schließlich keine Wohlfahrtsgesellschaft.“
    „Ich-Ich dachte, hier an Bord gäbe es alles kostenlos“, entschuldigte sich mein Trainer.
    „Wie kommst du denn darauf?“, fragte der Verkäufer und runzelte die Stirn. „Frühstück, Mittag- und Abendessen, ja. Aber für alles andere zählt nur bare Münze. Also, wie sieht es jetzt aus?“


    Stan kramte in seiner Hosentasche und wirkte plötzlich verlegener denn je. Er begann damit, eine kleine Hand voll klimpernder Münzen in seiner Hand abzuzählen.
    Ich selbst beobachtete Stan skeptisch. Das er sich manchmal recht seltsam verhielt, war mir ja inzwischen nichts neues. Aber dieses Mal, war es anders. Irgendetwas stimmte hier nicht und ich ging jede Wette ein, dass ich mitunter der Leidtragende sein würde...
    „Was macht das zusammen?“, fragte er mit zittriger Stimme und legte den Batzen an Gegenstände auf die Ladentheke.
    „Mal sehen... Einhundert, Zweihundert, Dreihundertfünfzig...“
    Der Kassenbon, der aus einer kleinen Maschine hinausglitt, wurde mit jeder Sekunde länger und auch Stans Augen nahmen mit jedem weiteren Millimeter, um den der Zettel wuchs, alarmierende Größe an. Wäre es nicht so eine heikle Situation gewesen und ich nicht kurz vor dem Verhungern stand, so hätte ich wohl darüber gelacht. Doch mir war wirklich nicht zum Lachen zumute...
    „Das macht dann zusammen Zweitausendeinhundertfünfzig Pokédollar“, sagte der Verkäufer, schlug auf eine der Tasten und zog den ellenlangen Kassenzettel aus dem ratternden Kasten heraus.
    „Äh...“, murmelte Stan.
    „Ja?“, fragte der Kioskbetreiber misstrauisch.
    „Dann bitte nur das“, nuschelte Stan, entfernte mehr als die Hälfte seiner in Kunststoff und Papier eingewickelten Waren und reichte dem Händler eine Hand voll Münzen. „Ich habe mich wohl heute etwas zuviel verausgabt...“
    Gott, war mir das wieder einmal peinlich... Hätte mich jemand zu diesem Zeitpunkt darauf angesprochen, dann hätte ich wohl Stans Bekanntschaft geleugnet...
    Der Kioskbetreiber zog eine Augenbraue in die Höhe und kräuselte die Lippen zu einem leicht hämischen Grinsen.
    „In Ordnung, junger Mann. Darf es sonst noch etwas sein?“, fragte er mit einem nicht zu überhörendem spöttischen Unterton.“
    „N-Nein, das wäre alles, danke. Gute Nacht“, antwortete der gebrandmarkte Stan, griff sich seine erworbenen Güter und eilte schnellen Schrittes von dannen.
    Ich hätte mich am Liebsten auf der Stelle vor Scham in Luft aufgelöst. Doch mein Abendessen hatte bereits alarmierende Abstände zu mir angenommen und so entschloss ich mich widerwillig, der Gestalt meines niedergeschlagenen Trainers zu folgen.


    Stan trug die Schuld an der ganzen Misere. Das stand für mich völlig außer Frage und geschah ihm auch ganz recht. Aber das auch ich aufgrund seiner Dummheit nun darunter zu leiden hatte, das gefiel mir ganz und gar nicht. Nur, wie sollte es weitergehen? Ganz so ohne Geld?
    Was meintet ihr? Ob ich mir Sorgen machte? Dumme Frage... Natürlich machte ich mir Sorgen! Aber nicht um ihn, sondern um mich! So ausgenommen, wie er nun war, würde er mir doch glatt bei meinen Beutezügen Konkurrenz machen, oder vielleicht sogar noch schlimmer: Die nächstbeste Mülltonne streitig machen...
    Wir bogen in einen ausgestorbenen Korridor ein von dem ich wusste, dass wir nur noch wenige Augenblick von unserem beschaulichen Quartier entfernt waren. Stan schien von den eben erfahrenen Ereignissen sehr mitgenommen. Die ganzen Zeit über schlurfte er mit hängendem Kopf hinter mir her, während er seine karge Ausbeute in den Händen hielt. Das er dabei nichts sagte, war für mich nichts neues. Seine Betroffenheit aber, war ihm jedoch sichtlich anzumerken.


    Ich hatte mich bereits vor der Tür unseres Quartiers eingefunden, als ich bemerkte, dass Stan gar nicht mehr die übliche Rolle meines Schattens eingenommen hatte.
    Ich blickte teils verwirrt, teils missvergnügt vor Hunger, den Gang hinunter. Er stand etwa zehn Schritte von mir entfernt und stierte auf eines der bunten Plakate, welche viele Wände der Schiffe zierten.
    Ich trottete verärgert zurück.
    „Was ist nun?“, fragte ich brummig und schaute zu ihm hinauf. „Ich werde auch nicht jünger...“
    Stan murmelte geistesabwesend den Schriftzug des Plakats, auf das er schaute, vor sich hin. Er schien beinahe wieder in irgendeiner Welt gefangen zu sein, die ich so oder so nicht verstand.
    Interessiert war um alles in der Welt denn wichtiger als mein knurrender Magen war, tat ich es Stan gleich. Doch nur wenige Augenblicke genügten, um meine Augen angewidert von dem knallbunten Plakat abzuwenden.
    „Oh nein! Denk nicht einmal daran! Vergiss es! Ohne mich! Keine Chance! Nie und nimmer! Schmink dir das gleich wieder ab! Nur über meine Leiche!“, rief ich meinem Trainer ohne Luft zu holen und in absolut unmissverständlichem Ton zu.
    Zugegeben: Ich verstand nicht viel über die Menschen und noch viel weniger über ihre Angelegenheiten. Aber ein Plakat, auf dem sich zwei meiner Artgenossen einander die Schädel einschlugen, das verstand ich dann doch noch...
    „Großes Pokémonturnier...“, hörte ich Stan neben mir murmeln. „Ruhm, Ehre und ein Preisgeld von Fünfundzwanzigtausend Pokédollar...“
    Er warf mir einen flüchtigen Blick zu.
    War es bereits zu spät, um mich seekrank zu melden?

  • Kapitel 11: Das Turnier


    Part 1: Von Gewissensbissen und Schuldgefühlen


    Mir wollte mein, vor wenigen Minuten noch in durchsichtiges Plastikpapier eingewickeltes Essen, nicht wirklich schmecken. Stans Absichten für den kommenden Tag waren glasklar: Den Preis seiner Dummheit musste niemand anderes als ich zahlen. Allein der pure Gedanke, dass ich morgen zum Vergnügen der Menschen in den Kampfring steigen musste, ekelte mich förmlich an. Doch was blieb mir schon großartig übrig? Eine wirkliche Wahl hatte ich schließlich nicht und würde ich mich weigern, so käme die Strafe für meine Dienstverweigerung auf dem Fuße: Fasten, spätestens dann, sobald wir das Festland erreichten und die Reise auf Schusters Rappen weiterging. Es schüttelte mich bei diesem abartigen Gedanken.
    „Kampf ums Essen... Im Prinzip auch nichts anderes, als wie ich es in meiner Heimat tagtäglich erfahren hatte...“, versuchte ich mir einzureden und verschlang meinen nicht gerade nahrhaften, dafür aber recht schmackhaften schokoladeüberzogenen Kuchen mit einem Haps.


    Stan schien auch nicht wirklich glücklich bei dem Gedanken zu sein, mich morgen für seine Sünden in den Kampf zu schicken. Zumindest nahm ich das mal an, denn fast minütlich spürte ich seinen nervösen Blick auf mir kleben.
    In den kurzen Momenten, bei denen er keine Löcher in mich hineinbohrte, linste ich verstohlen zu ihm hinauf. Er schien erneut mit seinen undurchschaubaren Gedanken meilenweit von mir entfernt zu sein. Völlig geistesabwesend starrte er auf den mit Holzbrettern verkleideten Fußboden, während er recht flache Atemzüge von sich gab. Noch nicht einmal seine ihm zustehende Essenration hatte er angerührt. Plagte ihn etwa sein Gewissen? Na, dann sprach ja auch nichts dagegen, wenn ich mir den letzten Karamellriegel einverleibte, schließlich war er allein für unser Unglück verantwortlich.


    Weich und komfortabel zu Stans Seite gebettet, schlief ich in jener Nacht trotz dem mir völlig ungewohnten Seegang, erstaunlich gut. Mein Bettnachbar jedoch, schien keinen wirklichen Schlaf zu finden. Stellenweise bekam ich während meinen kurzen Wachphasen mit, wie er sich unruhig hin und her wälzte und mir dabei die Bettdecke streitig machte.
    Das ganze Bild seines Elends bekam ich dann beim Grauen des nächsten Morgens vor Augen.
    Ihm stand seine schlaflose Nacht förmlich ins Gesicht geschrieben. Schwer wie Bleisäcke hingen seine Lider vor seinen leicht geschwollenen rot untermauerten Augen. Und als ob es überhaupt möglich wäre, war er an jenem Morgen sogar noch blässer als sonst.
    So hatte ich ihn noch nie gesehen und ich muss zugeben, dass mich dieser Anblick sehr traurig stimmte. Wie konnte ich überhaupt noch mit Missfallen auf ihn und seine menschlichen Schwächen blicken, wenn seine Schuldgefühle ihn doch bereits innerlich auffraßen. Nein, das konnte ich wirklich nicht... Was er jetzt brauchte, war jemand, der zu ihm stand und ich fühlte mich dafür in meiner Schuld ihm gegenüber einfach verpflichtet.
    „Nun komm schon. Lass den Kopf nicht hängen“, tröstete ihn, legte ihm eine meiner Pfoten auf sein nacktes Knie und schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. „Das wird schon wieder. Wirst schon sehen.“
    Stans trübe Augen ruhten einige Zeit auf mir, bis sich seine schlaffen Gesichtszüge endlich ansatzweise zu einem Lächeln verformten.
    „Danke...“, sagte er mit rauchiger Stimme.


    Nichts schien an jenem Morgen den Anschein zu machen, dass noch am gestrigen Abend der Speisesaal eher einem einzigen Schlachtfeld geglichen hatte. Jegliche Spuren von Chaos und Verwüstung waren von dem fleißigen Schiffspersonal wie ausradiert. Selbst die bunte, aus Bratenfett, frittierten Kartoffelscheiben und den verschiedensten, übelriechendsten Käsesorten, Duftmischung, schien niemals wirklich existiert zu haben. Stattdessen erstrahlte der ganze Saal mit seinen auf Hochglanz polierten Tischen und Stühlen, seinen farbenprächtigen, aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt stammenden herrlich duftenden Blumen und den meterlang, prallbedeckten Büffettischen, in funkelnagelneuen Glanz.


    Außer Stan und mir waren bislang nur ein griesgrämig dreinblickender älterer Herr, der mit der einen Hand eine kalte Suppe löffelte und mit der anderen kopfschüttelnd eine Zeitung konsultierte, sowie ein junges, sich gegenseitig scharwenzelndes Liebespaar, am anderen Ende des Raumes.
    Stan hatte bereits einige beherzte Schritte in Richtung des Büffets zurückgelegt, als er auf einmal völlig unvorhergesehen innehielt. Einige Augenblicke stand er nur so da und schien aus weiter Entfernung auf die reich gedeckten Büffettische zu stieren. Seine Schuhe rutschten langsam auf dem Boden herum, bis er schließlich, nach etwa einer zehn Sekunden, eine makellose halbe Drehung vollführt hatte. Er starrte mich mit einer, mir bereits wohlbekannten, verlegenen Miene an. Nein, das ist nur die halbe Wahrheit, denn offenbar wagte er sich gar nicht, mir direkt in die Augen zu sehen. Stattdessen begutachtete er mit seinen schweren Augen scheinbar eher meine beiden Forderpfoten an.
    „Sheinux...Würde es dir etwas ausmachen, heute am Boden neben Feurigel zu essen?“
    Ich verzog bei diesen seiner Worte mürrisch mein Gesicht.
    „Ich weiß...“, murmelte er, noch immer ohne mich wirklich anzusehen, „... aber du weißt ja, was das gestern für ein Trara war...“
    Obwohl es mir überhaupt nicht passte, gab ich Stan ausnahmsweise recht. In dieser Hinsicht hatte mein Magen Vorrang.
    „Ausnahmsweise...“, antwortete ich ihm verdrießlich. „Aber dass das nicht zur Gewohnheit wird, klar?“
    Ich trabte zu einem der kleineren Tische hinüber und ließ mich demonstrativ an einem der Holzbeine fallen.

  • Part 2: Die Ruhe vor dem Sturm


    Es war schwer zu beurteilen, ob Stans oder Feurigels Augen an diesem Morgen tiefer hingen. Man konnte aber zweifelsohne behaupten, dass Stan für Feurigel eine ernstzunehmende Konkurrenz darstellte. Mein ewig hungriger Pokémon-Kamerad jedoch, schien sich weder an Stans Zustand, noch von der Tatsache, dass ich ihm an diesem Morgen bei seinem Mahl Gesellschaft leistete, zu stören. Stumm und über alles, was außerhalb seiner Essenschale lag, uninteressiert, verschlang er seelenruhig sein Frühstück; nichtsahnend, dass vielleicht bald eine lange, schmerzvolle Zeit des Fastens für ihn anbrechen könnte. Es lag an mir, dies zu verhindern. Auch wenn ich es natürlich weder für Feurigel, noch für Stan, sondern in aller erster Hinsicht für mein persönliches Wohlergehen tat.


    Stan hatte es irgendwie geschafft, vor den Augen des “Feindes“ unauffällig einige, mit süßer Fruchtmarmelade beschmierte Toastscheiben, zu mir unter den Tisch zu schmuggeln. Ich nahm seine großzügige Gabe natürlich dankend an und entledigte mich meiner Schüssel mit Pokémon-Essen. Feurigel blickte mich einige Sekunden lang fragend an, linste währenddessen ein-zweimal verstohlen zu meiner Essenschale, die er sich dann auch gleich schnappte.
    „Manke“, schmatzte Feurigel und machte sich gierig, als hätte er bereits seit Dekaden nichts mehr zwischen die Zähne gekriegt, über den Inhalt her.
    „Keine Ursache...“, sagte ich tonlos und begann damit, den süßen Belag vom Brot zu schlecken. „Dir scheint dein Futter... – Ich betonte das letzte Wort mit einem leicht spöttischem Unterton - ...ja zu schmecken. Für mich aber, ist das ganz und gar nichts.“
    Feurigel schwieg.
    „Gerade heute muss ich unbedingt bei Kräften sein. Ansonsten werden magere Zeiten auf uns zukommen.“
    Noch immer gab Feurigel, abgesehen von seinem gierigen Schlürfen und Schmatzen, kein Ton von sich. Hörte er mir eigentlich zu? Ihn schien nichts anderes als essen und schlafen zu interessieren. Ich wusste aber, wie ich seine Aufmerksamkeit für mich gewinnen konnte.
    „Aber auch auf dich...“, sagte ich honigsüß und kräuselte schadensfroh die Lippen.
    Zum ersten Mal hatte allein ich Feurigels Aufmerksamkeit völlig in Beschlag genommen. Mit einer, wenn auch nur leichten Spur von Panik, blickte er mich plötzlich an.
    „Wie meinst du das?“, fragte er.
    Jetzt, wo ich endlich seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, wurde mein Grinsen noch eine Spur breiter.
    „Nun, unser lieber Trainer hat sich wohl auf seinem Egotrip etwas verausgabt“, erklärte ich ihm.
    „Was soll das heißen?“, fragte Feurigel und runzelte die Stirn.
    Ich biss in eine meiner Toastscheiben und kaute absichtlich sehr langsam. Ich genoss einfach jede Sekunde von Feurigels Anflug von Angst.
    „Will sagen, Stan hat keinen müden Pokédollar mehr in der Tasche und wenn ich heute nicht für uns das Turnier gewinne, dann beginnt für Stan, dich und mich eine lange Zeit der Enthaltsamkeit.
    „Was willst du damit sagen?“, fragte Feurigel erneut und klang, zu meinem großen Vergnügen, mehr als nur besorgt.
    „Spreche ich so undeutlich? Dann lass es mich für dich buchstabieren: F-a-s-t-e-n. Kapito?“
    Für Feurigel schien gerade seine kleine, heile Welt zusammengebrochen zu sein. Seine, auf dem Rücken lodernde Flamme, schrumpfte schlagartig einige Zentimeter zusammen, Angstschweiß lief ihm über die Stirn und... ja tatsächlich: zum ersten Mal konnte ich einen Blick auf seine Augen erhaschen. Klein, rubinrot und zu meinem großen Vergnügen, angsterfüllt, schaute er mich mit hängendem Kiefer an.
    „F-Fasten?“, stammelte er.
    „Ja, fasten. Soll ich dir das auch noch näher erklären? Vielleicht mit Wörtern, die dir eher geläufig sind?“, höhnte ich. „Hungerkur, Diät halten, darben, den Gürtel enger schnallen, Kilos verlieren, abspecken... Letzteres würde dir übrigens wirklich nicht schaden.“


    Urplötzlich und völlig ohne Vorwarnung stürzte sich Feurigel auf mich und presste meinen Körper mit seiner ganzen Körpergewalt auf den Boden. Im ersten Moment dachte ich, er wollte sich für meinen Hohn und die spitzen Bemerkungen rächen. Mein ganzer Körper erbebte bereits vor spannungsgeladener Elektrizität und ich war bereits kurz davor, meinen Widersacher in eine knisternde Welt der Schmerzen zu schicken. Doch er machte nicht wirklich den Anschein, als läge ihm großartig etwas an einem Kampf mit mir.
    „Bitte...“, flehte er mich verzweifelt und mit zittrig klingender Stimme an. Silbrige Tränen glänzten unter seinen Augenlidern. „...Bitte, du musst dieses Turnier um jeden Preis gewinnen. Ich ertrage es nicht, zu fasten. Das machst du doch, oder? Jetzt sag schon!“
    „Würde ich ja gerne..., wenn du die Güte hättest, von mir herunterzugehen...“, würgte ich ihm hervor.
    Ich schob ihn mit meinen kräftigen Hinterläufen von mir herunter und rappelte mich auf.
    Stans Kopf tauchte plötzlich unter der Tischkante hervor. Er musterte Feurigel, der unaufhörlich die Worte, “So war das aber nicht geplant...“, murmelte, und mich, wie ich schwer atmend und mit einer klebrigen Toastscheibe an meinem Ohr zu ihm hinaufstierte, besorgt.
    „Alles klar bei euch?“
    „Ja, Ja. Dir aber nicht zu verdanken“, murrte ich und zerrte die traurigen Überreste meines Frühstücks von meinen Lauschern.


    Mit meiner dritten Scheibe Toast, hatte sich inzwischen der Speisesaal auf das abendliche Niveau gefüllt. Was über dem massiven, zentimeterdicken Holztisch vorging, konnte ich aus meinem Versteck im Untergrund nur mutmaßen. Doch Stans rastloses Fußgescharre sprach eine mehr als deutliche Sprache für sich. Er war, milde ausgedrückt, nervös. Nichts neues, sollte man meinen, wenn man Stan kennt. Das aber, was sich unter dem Tisch abspielte, kam bereits einem Erdbeben gleich. Feurigel hatte weniger zu befürchten, doch ich, als stolzer Schwanzbesitzer, hatte schon eher meine Probleme, wenn ihr versteht, was ich meine. Schon bald hatte er mich an das äußerste Tischbein verdrängt. Als dann aber plötzlich der Klang einer sanft klingende Schiffsglocke, und wenige Augenblicke später, die akustisch verstärkte Stimme eines Mannes ertönte, erreichte Stans Nervosität mit dem Geräusch von zersplitterndem Glas und einer Milchlache, die langsam Richtung Boden tropfte, seinen Höhepunkt.
    „Meine sehr geehrten Damen und Herren“, schallte es durch den Raum. „Ich möchte Sie an unser kleines Pokémon-Turnier erinnern, welches in etwa einer Stunde im Raum 002 auf dem Untergeschoss stattfindet. Es erwarten Sie spannende und actiongeladene Kämpfe. Ein Muss für jeden Pokémon-Trainer und ein Spaß für die ganze Familie.
    Ich gab bei diesen Worten ein abfälliges Schnauben von mir.
    „Hauptsache ihr habt euren Spaß...“, brummte ich missvergnügt.
    „Schon in einer Stunde?“, hörte ich Stan leise über meinem Kopf hinweg stöhnen.
    „Jeder Trainer mit mindestens zwei Pokémon und dem Mindestalter von zehn Jahren darf daran teilnehmen. Neben Ruhm und Ehre, winkt dem Sieger außerdem ein Preisgeld von Fünfundzwanzigtausend Pokédollar. Alle Nicht-Teilnehmer sind natürlich herzlich als Zuschauer eingeladen. Die Teilnehmer mögen sich bitte in den kommenden Minuten im Raum 002 einfinden und sich dort eintragen. Wir würden uns freuen, Sie bei diesem lustigen Zeitvertreib begrüßen zu dürfen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.“


    Die Minuten zogen ereignislos dahin. Stan hatte sich in der Zeit keinen einzigen Millimeter gerührt. Nicht das es mich wirklich interessierte was Stan tat, jedoch kam ich dann doch unter dem Tisch hervor und spähte zu meinem Trainer hinauf; schließlich hatte ich heute ja noch etwas anderes vor... Stan saß stillschweigend wie eh und je, den rechten Ellenbogen auf den Tisch, und seinen Kopf auf die Hand gepresst, da und stocherte mit einem Messer gedankenversunken auf eine ihm hilflos ausgelieferte Scheibe Brot ein.
    Hatte er es sich etwa anders überlegt? In einer Hinsicht konnte mir das nur recht sein, doch die Aussicht, in der kommenden Zeit Hunger leiden zu müssen, gefiel mir gar nicht.
    „Sehr geehrte Fahrgäste...“, erschallte es plötzlich abermals aus den Lautsprechern in der Wand. Glücklicherweise gab es nichts mehr, was Stan noch vernichten konnte und so begnügte sich dieser mit einem heftigen Zucken seinerseits.
    „Dies ist der letzte Aufruf für die Teilnehmer unseres Pokémon-Turniers, sich für die Wettkämpfe im Raum 002 einzuschreiben. Die Anmeldung schließt innerhalb der nächsten fünf Minuten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
    Stan schnellte, wie von einem Ariados gestochen, von seinem Stuhl auf und stieß dabei mit seinen Knien so heftig gegen den Tisch, dass dieser gefährlich schwankte und dabei das Besteck lautstark zu Boden fiel. Feurigel, der zu diesem Zeitpunkt noch immer friedlich kauend unter dem Tisch döste, flitze erschrocken hervor und bahnte sich in seiner Panik seinen Weg durch Tische, Stühle und die unzähligen Füße der friedlich dinierenden Passagiere. Es dauerte aber nicht lange, bis sich eine helle Panik unter den Fahrgästen vor dem undefinierbaren, orangerotfarbenen Schleier breit machte, der zwischen ihren Beinen umherflitze. Männer und besonders Frauen sprangen hysterisch kreischend auf Tische und Stühle und ließen dabei eine wahre Sinnflut an Geschirr, Besteck und Essen laut scheppernd auf den Boden fallen.
    „Fünf Minuten?!“, rief Stan völlig aufgelöst. „Wir müssen los! Schnell!“
    Zielsicher, wie man es ihm niemals zugetraut hätte, schaffte es Stan mit einem einzigen Strahl seines Pokéballs, Feurigel auf seinem wilden Streifzug durch den ganzen Raum einzufangen und rannte zum Ausgang hinüber.


    Das wir noch rechtzeitig den Ort des Wettkampfs erreichten, glich für mich wie ein Wunder. Doch Stan war trotz seiner mageren Statur ein ausgezeichneter Läufer und dank meines überragenden Orientierungssinns, erreichten wir schließlich in allerletzter Sekunde den Raum 002, wo das Turnier stattfinden sollte.
    Mein Blick schweifte durch den Austragungsortes des Turniers. Der Raum, oder besser gesagt, die Halle, war rechteckförmig aufgebaut. Inmitten des dunkelbraunen, aus massiven Kunststoffbelag bestehenden Bodens, waren die Umrisse eines gigantischen Pokéballs eingraviert. Rote Linien und Striche am äußeren Feldes, wiesen scheinbar auf die Grenzen des Kampfrings hin. Die, mit reihenweise schwarzen Stühlen ausgestattete Tribüne, bot Platz für rund eintausend Zuschauer. Der traurigen Anzahl der Menschen zu urteilen, welche uns fragende Blicke zuwarfen und welche man mit zwei Menschenhänden abzählen hätte können, bot das Schiff nur Unterschlupf von wenigen Trainern. Die meisten hatte ich natürlich noch nie zuvor gesehen. Doch einer sprang mir schlagartig ins Auge und ließ mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Mein ganzer Körper schien plötzlich wie aus Stein gemeißelt. Es war Ray. Voltensos Trainer war also auch hier. Musste ich mich etwa mit ihm messen?
    „Ah, schön“, ertönte eine mir vertraute Stimme. Es war der Schiedsrichter, welcher Rays gestrigen Kampf moderiert hatte. Er schüttelte Stans verschwitzte, zittrige Hand. „Nun wären wir zu acht. So lässt sich ein wunderbares kleines Turnier ausrichten. Du nimmst doch daran teil, oder?“
    Stan schien fast so, als hätte er am Liebsten wieder kehrt gemacht und Hals über Kopf die Flucht angetreten. Doch nun, da alle Augen auf ihm ruhten, entschloss er sich dazu, den einzigen Weg zu gehen, der ihm noch offen war. Er nickte stillschweigend.
    „Nur nicht so schüchtern, mein junger Freund“, lachte der Mann und klopfte Stan fröhlich auf die Schulter. „Da vorne kannst du dich eintragen.“


    Nachdem Stan seinen Namen und sämtlichen Firlefanz, den sie für dieses alberne Turnier brauchten, eingetragen hatte, ließ er sich am äußersten Teil der Teilnehmerbank, in der Nähe des Kampfrings, nieder. Zu meiner großen Verwunderung schien nicht nur er, sondern alle Trainer merkwürdig angespannt zu sein. Das hieß alle, bis auf Ray. Dieser lehnte sich lässig gegen eine kreisrunde Säule und starrte gelangweilt gegen die ihm gegenüberliegende Wand.


    Mittlerweile hatte sich die große Halle mit eifrig schnatternden Zuschauern gefüllt. Zwar reichte es um Längen nicht aus, alle Stühle auf der Tribüne zu füllen, doch genügte es dafür, Stans Nervosität auf einen neuen, scheinbar unendlich hohen Gipfel zu führen.
    Unser Ringrichter stolzierte wichtigtuerisch, mit einem Klemmbrett unter dem einen, und mit einer kleinen, silbrigfarbenen Box unter dem anderen Arm, durch den Raum und kam vor unserer Bank jäh zum Stillstand. Er musterte unsere kleine Runde.
    „Dürfte ich noch einmal um einen kurzen Moment eurer Aufmerksamkeit bitten?“, fragte er, jedoch scheinbar ohne wirklich eine Antwort von uns zu erwarten.
    „Ich bitte euch nun, hier bei mir eine Nummer zu ziehen. Diese gibt an, in welcher Reihenfolge ihr gegeneinander antretet.“
    „Wie ihr unschwer erkennen könnt...“, fuhr er fort, drehte sein Klemmbrett herum und deutete auf ein, scheinbar in aller Eile angefertigtes, Gekrakel, „...nehmen insgesamt acht Trainer bei unserem kleinen Turnier teil. Im Ausscheidungsverfahren werdet ihr gegeneinander antreten. Der Sieger aus dem ersten Kampf kämpft gegen den Sieger des zweiten Kampfs und so weiter. Wer am Ende übrig ist... Nun, der hat natürlich gewonnen“, lachte er.
    „Fragen? Nein? Nun dann fangen wir an.“
    Er stierte auf sein Klemmbrett.
    „Eric Anderson aus Ebenholz City bitte zu mir.“
    Ein, nicht weniger nervös dreinblickender junger Trainer stolperte vor. Seine Hand glitt in die silbrige Box, wo er bereits nach wenigen Sekunden fündig wurde.
    „Die fünf“, sagte er und zeigte dem Schiedsrichter ein kleines Blatt Papier.
    „Gut. Du bestreitest den dritten Kampf. Bitte nimm wieder Platz. Als nächstes hätten wir...“


    Ich spürte, wie mein Interesse schlagartig abflaute. Alles weitere interessierte mich reichlich wenig. Wen kümmerte es schon, wen ich wie und wann in den Staub schicken würde? Es wäre wohl das Einfachste gewesen, mich einfach zum Sieger zu erklären und...
    „Unser nächster Teilnehmer: Ray Valentine aus Malvenfroh City.“
    Ja, ich gebe es ja zu. Rays Position interessierte mich dann doch. Zumindest ein bisschen.
    Ray schritt leichtfüßig nach vorne und griff beherzt in die Kiste und barg, wenige Augenblicke später, ein kleines Blatt Papier. Ein wenig enttäuscht starrte er auf seine Nummer.
    „Die acht...“, sagte er und zeigte seinem Gegenüber die Nummer.
    „In Ordnung. Ray, du kämpfst im vierten und letzten Kampf der Runde eins“, sagte der Schiedsrichter und kritzelte Rays Namen auf sein Klemmbrett.


    Stan, welcher als letztes sich zu den Reihen der Turnierteilnehmer gesellte, blieb die Auswahl erspart. Er bekam als letzter verbliebener Teilnehmer die übriggebliebene Nummer: Die drei und bestritt somit den zweiten Kampf.
    Wenn ich die Regeln dieses verwirrenden Turniers richtig verstanden hatte und mich mein Gedächtnis nicht im Stich gelassen hatte, so würde ich also erst, wenn überhaupt, mich im Finale mit Voltenso messen dürfen.
    „So, damit wäre der leichte Teil erledigt“, sagte unser, offenbar stets gut gelaunter Ringrichter. „Und wir liegen pünktlich im Zeitplan. Wunderbar. Dann bitte ich nun, unsere ersten beiden Kontrahenten in den Ring: Teresa Lockheart aus Dukatia City und Phil O’Brien aus Marmoria City.
    Die beiden Duellanten nahmen, unter tosendem Applaus, an den beiden äußeren Enden des Kampfrings Stellung. Der Schiedsrichter nahm dagegen Position am mittleren Rand. In seiner einen Hand hatte er weiterhin sein Klemmbrett fest in Beschlag. Seine Box jedoch, hatte er gegen ein silbrigfarbenes etwas eingetauscht, welches er, beinahe wie eine Eistüte mit Erdbeergeschmack, vor den Mund hielt.


    „Hoch verehrtes Publikum...“, schallte seine Stimme plötzlich mit enormer Lautstärke durch den Raum und ließ mich, Stan und den Rest der auf der Bank sitzenden Trainern, jäh zusammenfahren. „Ich darf sie zu unserem kleinen Turnier an Bord der M.S. Mistral herzlich begrüßen. Kommen wir also gleich zur Sache, denn wie sie sehen, sind unsere Kontrahenten bereits mehr als nur heiß auf unseren Kampf.“
    Mein Blick wanderte von Teresa hinüber zu Phil. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, denn keiner von beiden schien noch wirklich große Lust auf den Kampf zu haben. Teresas Blick erinnerte mich sogar stark an Stan, wenn er am Liebsten gleich die Flatter machen wollte.
    „Nur noch einmal kurz für Sie und unsere Teilnehmer die Regeln: Es treten immer zwei Trainer im Einzelduell gegeneinander an. Jeweils zwei Pokémon dürfen von den Trainern im Kampf eingesetzt, und jederzeit ausgewechselt werden. Wessen Pokémonteam als erstes kampfunfähig wird, oder den Ring verlässt, hat verloren. Ferner steht es den Trainern allzeit zur Auswahl, den Kampf auf eigenes Ermessen hin abzubrechen, was für ihn jedoch eine Niederlage bedeutet. Der Sieger aus dem ersten Kampf tritt in der nächsten Runde gegen den Sieger aus dem zweiten Kampf an und so weiter. Uns erwarten also insgesamt sieben aufregende Duelle. Ich darf noch einmal um einen kräftigen Applaus für unsere ersten beiden Duellanten bitten. Teresa Lockheart aus Dukatia City zu meiner Linken und Phil O’Brien aus Marmoria City zu meiner Rechten.“
    Wie auf Kommando, brach auf der Tribüne begeisterndes Geklatsche, vermischt mit grellen Pfiffen und Jubelrufen, aus.
    Stan wippte nervös auf seiner Bank herum. Mittlerweile kannte ich Stan so gut, dass ich genau wusste, was in ihm vorging. Hätte er die Möglichkeit, zwischen dem Hier und Jetzt und dem feurig heißen Krater eines aktiven Vulkans zu wählen, so hätte er Letzteres wohl freudig ohne zu zögern angenommen.
    Endlich ebbte der Applaus ab.
    „Hoch verehrtes Publikum“, sagte der Ringrichter und lächelte mit seinem makellos weißen Zähnen in die Runde. „Hiermit eröffne ich den ersten Kampf. Möge der oder die bessere gewinnen. Ring frei!“


    Der Kampf... Nun, ich möchte mich hier nur kurz fassen. Kurzweg: Es war völlig uninteressant. Die arme Teresa hatte nicht einmal die Spur einer Chance. Beide ihrer Pokémon wurden binnen wenigen Sekunden von Phils scheinbar äußerst gut trainierten Bisasam haushoch geschlagen. Irgendwie tat sie mir, als sie gesenkten Hauptes den Kampfring verließ, sogar Leid. Phil, der mit seinem Sieg plötzlich wie ausgewechselt war, stolzierte mit Stolz geschwellter Brust aus dem Ring und schien in dem Applaus und in den Jubelrufen förmlich zu baden. Er nahm auf der Bank neben der, nervös in alle Richtungen blickenden Gestalt meines Trainers, Platz.
    Phil schien offenbar nicht zu entgehen, wie heftig sein Banknachbar zitterte.
    „Hey, nur keine Sorge“, sagte er und gab Stan mit seiner Faust einen kleinen Klaps auf die Schulter. „Wenn du erst einmal draußen bist, dann geht alles wie von alleine. Wirst schon sehen.“
    Stan schwieg. Phils Worte schienen ihn nicht wirklich aufzubauen. Stattdessen zitterte er noch mehr.


    „Meine Damen und Herren. Kommen wir nun zum zweiten Kampf. Stan Leonheart aus Azalea City gegen Colin Knox aus Laubwechselfeld. Ich bitte die beiden Kontrahenten in den Kampfring.
    Stan schien jegliche Kraft in seinen Beinen verloren zu haben. Inzwischen hatte er dank seiner Gesichtsfarbe ungemeine Ähnlichkeit mit einem Schneemann. Irgendwie schaffte er es aber, nach etlichem Bitten und Flehen des Ringrichters und meinen eindringlichen Aufbauversuchen, mit mir an seiner Seite den Kampfring zu betreten.
    Colin schien nicht weniger nervös als mein Trainer zu sein, doch merkte man ihm doch eine Spur mehr Mumm an, obwohl er einen guten Kopf kleiner als Stan, und scheinbar einige Jahre jünger war.
    „Meine Damen und Herren...“, sagte der Ringrichter erleichtert über Stans Kooperation in sein Mikrophon, „...der zweite Kampf möge beginnen. Ring frei!“
    Meine Muskeln waren bereits zum zerreisen gespannt und mein ganzer Körper knisterte förmlich vor Energie, die nur darauf wartete, sein Opfer zu finden. Ich hatte mich bereits zum Sprung in den Kampfring vorbereitet, als plötzlich etwas völlig unerwartetes passierte. Etwas, mit dem ich nicht einmal im Traum gerechnet hatte. Etwas... Nun, seht selbst.

  • Part 3: Feurigel ganz groß


    „Feurigel, los!“
    Wie in Zeitlupe flog der rotierende Pokéball in Richtung des Kampfringes. Inmitten seines Fluges klappte er plötzlich auseinander. Ein gleißender Lichtblitz, dicht gefolgt von einem lauten Zischen, umfasste das Feld, als plötzlich niemand anderes als die mehr als nur verwirrt dreinblickende Gestalt Feurigels auf dem Spielfeld erschien. Wollten mir etwa meine Sinne einen Streich spielen? Ja, das musste es sein. Ich kniff die Augen so fest ich nur konnte und begann meinen Kopf heftig zu schütteln, in der Hoffnung, gleich wieder einen feurigelfreien Kampfplatz vorzufinden. Doch meine Bemühungen waren vergebens: Bereits als ich meine Augen einen kleinen Spalt geöffnet hatte, sprang mir der nur müde flackernde, orangerote Feuerschleier auf Feurigels Rücken förmlich ins Gesicht.

    Verdutzt schaute mein feuriger Pokémon-Kamerad in die Runde. Tja, damit hatte dann wohl niemand gerechnet. Nicht einmal ich. Keine Sekunde hatte ich einen Gedanken daran verschwendet, dass Feurigel meinen Platz hätte einnehmen können. Schon allein die Vorstellung war geradezu lächerlich gewesen. Doch das Undenkbare war tatsächlich eingetreten. Ängstlich schweifte sein Blick zu Stan und damit auch zu mir hinüber. Er schaute mich mit einem noch nie da gewesenen, hilfesuchenden Blick an. Auch wenn ich nicht viel für ihn übrig hatte, so hätte ich in diesem Moment jedoch gerne seinen Platz eingenommen. Doch diese Entscheidung oblag nicht an mir.

    „Hey! Bist du noch zu retten?“, rief ich durch den tosenden Lärm, der von der Tribüne ausging, zu meinem, stumm auf den Kampfplatz blickenden Trainer. Stan starrte mich von oben herab groß an. „Warum lässt du diese Memme in den Ring? Wie kannst du ihn nur mir vorzuziehen? Ist dir das nicht peinlich?“
    Ich warf der heftig zitternden Gestalt im Ring einen spöttischen Blick zu.
    Noch bevor Stan eine einzige Silbe hervorbringen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit von den Geschehnissen im Ring jäh wieder in Beschlag genommen. Colin, unser Gegner, hatte seine Wahl getroffen und schwungvoll einen seiner Pokébälle in den Kampfring geschleudert. Kreisrunder Körperaufbau, aquamarinfarbene Haut, große Ohren, die der meinen beinahe Konkurrenz hätten machen können, funkelnde Knopfaugen und ein gezackter Schweif, dessen Ende ein ballförmiges Etwas zierte. Offenbar ein Wasserpokémon hatte sich soeben im Ring, unter Colins Kommando, eingefunden. Kühler Mut gegen brennende Leidenschaft. Kein guter Start für Stan, wenn man allein von dem Typenvorteil ausging.

    „Marill, setz Blubber ein!“
    „Okidoki“, piepste Feurigels Widersacherin auf Kommando, holte tief Luft und schleuderte ihrem Gegenüber ein halbes Dutzend kreisrunde Wasserblassen in allen Größenordnungen entgegen.
    „Hör auf Löcher in die Luft zu bohren Stan!“, tobte ich. „Tu etwas!“
    „Feurigel, Einigler, los!“, rief Stan.
    Feurigel, noch einige Momente etwas planlos, rollte sich jedoch urplötzlich zu einem kleinen Ball zusammen. Einzig und allein durch die Flammen auf seinem Rücken, konnte man Feurigel noch von den handelsüblichenen Bälle, welche die Menschen gelegentlich zu ihrem Zeitvertreib in meinem Revier hin und herkickten, unterscheiden.
    Mit lauten Blopp-Geräuschen, hagelten Marills Wasserattacken auf die eingekringelte Gestalt meines Kollegen ein. Man wollte schon meinen, Feurigel hätte die Attacke unbeschadet überstanden, als ihn die letzte, und größte der Blasen diesen auf einmal aus seiner Defensivhaltung riss und in hohem Bogen zurückschleuderte.
    Die Menge stöhnte und auch ich verzog empathisch mein Gesicht.
    „Uhh!“, stöhnte auch der Schiedsrichter von seiner sicheren Seitenlinie aus in sein Mikrophon. „Da ist Stans Plan wohl nach hinten losgegangen. Einigler funktioniert leider nicht gegen Spezialattacken, sondern nur gegen physische Angriffe. Nächstes Mal mehr Glück.“

    „Was soll das?“, fauchte ich Stan an. „So kannst du nicht gewinnen. Du musst angreifen. Los!“
    Feurigel rappelte sich pitschnass und scheinbar unter Höllenqualen leidend, auf. Er schaute wehmütig zu mir hinüber. Gerne hätte ich den Platz mit ihm getauscht...
    „Jetzt nicht nachlassen Marill! Noch einmal Blubber!“, feuerte Colin sein Pokémon an.
    Abermals strömten ein knappes Dutzend bunte Wasserkugeln auf Feurigel zu. Stan, nachdenklich und sein Gesicht tief in Falten gelegt, schien mit der Situation völlig überfordert zu sein. Marills Attacke kam von Sekunde zu Sekunde immer näher. Das Aus schien für Feurigel bereits in den Sternen zu stehen, als Stans unsichere Stimme plötzlich erneut über das Schlachtfeld fegte.
    „Flammenwurf, schnell!“
    Ich kniff die Augen fest zusammen und neigte den Kopf resignierend zur Seite. Ich konnte mir das Massaker einfach nicht weiter ansehen. Feuer gegen Wasser. Das konnte doch gar nicht gut ausgehen...
    Die Tribüne schien förmlich vor Jubel und Begeisterung zu explodieren. Was war geschehen? Hatte Marill inzwischen Feurigel in alle Stücke zerlegt? Ich wagte einen kurzen Blick in den Ring, doch im Grunde wusste ich bereits, was mich gleich erwarten würde: Feurigel bewusstlos und völlig durchgeweicht am Boden, Colin auf der gegenüberliegenden Seite kräftig am Feiern und Stan völlig am Boden zerstört. Kein schöner Gedanke, aber was sollte es... Verstohlen linste ich in die Arena. Nur Sekunden später klappte mir plötzlich, ungläubig über das, was ich sah, der Kiefer runter.
    Feurigel, weder mit blauen Flecken übersäht, noch pitschnass stand solide auf allen vier Beinen. Marill dagegen... Wo war sie eigentlich?
    Meine Augen huschten verwirrt über den Kampfring. Verschwunden? Hatte sie sich etwa in ein Häufchen Asche verwandelt und war bereits in alle Winde verweht? Nein, da war sie, oder besser gesagt, was von ihr übrig war. Meine scharfen Augen hatten die regungslose Gestalt von Feurigels Gegnerin ausgemacht. Die Wucht der Attacke meines feurigen Freundes hatte sie aus dem Ring, und gegen die nächst beste Wand geschleudert. Regungslos und knusprig braungebrannt, lag sie bewustlos am Boden.
    „Haben Sie das gesehen, hoch verehrtes Publikum?“, tönte die begeisterte Stimme des Ringrichters durch die Halle. „Mit einem einzigen Angriff hat Feurigel nicht nur die Attacke seines Gegners abgewehrt, nein auch diesen gleichzeitig auf die Bretter geschickt! Und das obwohl Feurigel völlig mit dem Rücken zur Wand stand. Für seiner Unerschrockenheit möchte ich noch einmal einen kräftigen Applaus hören. Na los!“
    Die Menge tat wie geheißen und überschwemmte Feurigel mit einer Welle von Begeisterung.
    „Somit geht die erste Runde an Stan und Feurigel.“

    „Marill, komm zurück!“, hörte ich Colin rufen, bevor ein roter Strahl Marill in die Tiefen ihres Pokéballs zurückbeförderte.
    Ich konnte es noch immer nicht glauben. Niemals hätte ich erwartet das ausgerechnet der ewig müde und nimmersatte Feurigel, der wahrlich niemals den Anschein eines Kämpfers machte, zu solcher Kraft in der Lage wäre. Auch Stan schien von Feurigels Stärke mehr als nur verblüfft. Ungläubig und mit weit offener Futterlucke, starrte er in den Kampfring.
    Es war beinahe schon beängstigend. Aber auch nur beinahe...

    Der Kampf aber war noch nicht vorbei. Stan war zwar dank Feurigels Einsatz im Vorteil, doch unser Gegner schien sich nicht so ohne weiteres zu schlagen zu geben. Ein wenig selbstkritisch dreinblickend, verstaute er Marills Pokéball an seinem Gürtel und zupfte sofort einen weiteren von seinem Gurt.
    „Ich zähle auf dich. Los, Pikachu!“
    Zum dritten Mal flog ein kreiselnder Pokéball in den Ring und enthüllte, ähnlich wie die anderen Male zuvor, ein kleines gelbes, Mausähnliches Pokémon. Er hatte an beiden seiner Wangen orangerote Backentaschen, einen blitzförmigen Schweif und zwei funkelnd-schwarze Knopfaugen. Ein wenig frech blickte er zu Feurigel hinüber.
    Wie aus einem Mund ertönte plötzlich ein gigantischen Seufzen von der Tribüne.
    „Jaaa“, sagte der Ringrichter und klang dabei, als der Neutrale soeben Partei ergriffen. „Das ist natürlich Pikachu. Klein, süß und energiegeladen. Einfach jedermanns Liebling.“
    Pikachus Gesicht verformte sich zu einem Grinsen. Er gab einen zirkusreifen Rückwärtssalto zum Besten. Abermals seufzte das Publikum auf.
    „Eingebildeter Fatzke...“, schoss es mir durch den Kopf, während ich mit an sah, wie Pikachu förmlich im Ruhm badete.
    „Aber mit Niedlichkeit allein wird Colin mit Pikachu an seiner Seite den Kampf nicht gewinnen können. Wir dürfen gespannt sein. Ring frei!“


    „Hey, darf ich auch mal? Ich will’s diesem Angeber zeigen!“, rief ich mürrisch zu meinem Trainer hinauf.
    „Pikachu los, Ruckzuckhieb!“, rief Colin und verbaute mir so unbeabsichtigt die Chance auf einen halbwegs fairen Kampf.
    Blitzartig und mit einem nach wie vor breiten Grinsen im Gesicht, sprang Pikachu auf alle Viere und rannte mit einem Affenzahn auf Feurigel, seinen Widersacher zu. Selbst für meine geschulten Augen, war Pikachu nur noch als gelber Schleier zu erkennen, der sich blitzschnell auf Feurigels Position zubewegte.
    „Einigler, schnell!“, brüllte Stan.
    Abermals rollte sich Feurigel, und diesem Mal in wirklich aller letzter Sekunde, zu einem schier undurchlässigen Wall zusammen.
    „Pikachu! Nein zurück...“, hörte ich Colins Stimme von der anderen Seite ertönen, doch es war bereits zu spät: Ungebremst prallte Pikachu gegen die scheinbar plötzlich steinharte Gestalt Feurigels. Dieses Mal war es Colins Pokémon, welches unter klagenden Schmerzensrufen, meterweit zurückpurzelte.
    „Ja, so setzt man einen Einigler ein!“, erklang die begeisterte und akustisch verstärkte Stimme des Ringrichters. Auch die Menge war völlig aus dem Häuschen, auch wenn einige eindeutig mit Pikachu mitlitten.

    Pikachu rappelte sich mit schmerzerfüllter Miene auf. Sein Grinsen war völlig verschwunden. Wut loderte in seinen schwarzen Käferaugen, während aus seinen Backentaschen einzelne Funkenladungen strömten.
    „Nur nicht unterkriegen lassen, Pikachu!“, feuerte Colin seinen Partner an. „Donnerschock!“
    Die sporadisch, aus Pikachus Backentaschen auftauchenden Blitzstöße, formten sich plötzlich zu einem einzigen, gewaltig knisternden Funkenstrom, der sich gefährlich seinen Weg zu Feurigel bahnte.
    „Ausweichen, mit Ruckzuckhieb!“, brüllte Stan.
    Nun war es Feurigel, der seine Schnelligkeit unter Beweis stellte. So wie er es vor wenigen Stunden beim Frühstück getan hatte, flitzte er, als orangeroter Schleier, in Zickzacklinien durch den Raum, wich dabei leichtfüßig Pikachus Angriff aus und steuerte dabei genau in seine Richtung.
    „Pikachu, noch einmal Ruckzuckhieb! Schnell!“, ertönte Colins immer nervöser klingende Stimme.
    Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern tat er es seinem Gegner gleich und legte einen weiteren, olympiareifen Spurt hin.

    Obwohl die Beiden sich so wahnsinnig schnell bewegten, kam es mir auf einmal vor, als würden sie beide in Zeitlupe aufeinander zurennen. Wer war schneller? Wessen Wille war stärker? Die Anspannung schien förmlich zum Zerreisen zu sein.
    Mit einem heftigen Knall prallten beide Kontrahenten aufeinander. Ihre Bilder hatten sich aus längst aus dem schleierhaften Zustand gelöst, als sich die Beiden zähneknirschend, Körper an Körper, gegenüberstanden. Ihnen war die Anstrengung förmlich ins Gesicht geschrieben. Feurigel atmete bereits schwer und auch Pikachu schien bereits aus dem letzten Loch zu Pfeifen. Lange konnte der Kampf nicht mehr dauern.
    „Pikachu, jetzt! Donnerblitz!“
    „Feurigel, Flammenrad!“
    Pikachu wollte offenbar gerade zum entscheidenden Schlag ausholen. Sein ganzer Körper war bereits in ein grelles Licht gehüllt, während immer mehr unheilvoll knisternde Blitze aus seinen roten Backentaschen strömten, als Feurigel die ganze Gewalt seiner Attacke Preis gab. Die kleine Fellkugel schien von lodernden Flammen gänzlich verschlungen zu sein. Er war nur noch als ein gigantischer, brennend heißer Feuerball zu erkennen, der, zu Pikachus Unglück, genau vor ihm schwebte. Seine Elektroattacke schien förmlich wirkungslos in der Luft zu verpuffen, als sie wenige Augenblicke später auf das Feuergeschoss traf.
    „Pikachu! Weg da! Schnell!“, hörte ich Colin verzweifelt rufen, doch es war bereits zu spät. Feurigel in seiner neuen, mehr als nur gefährlichen Erscheinung, krachte pfeilschnell auf die wehrlose Gestalt Pikachus und katapultierte diesen im hohen Bogen aus dem Kampfring.
    Der Kampf war entschieden.