Kapitel 6: Geteiltes Bett ist halbes Bett
Part 1: Nostalgische Gefühle
Diese Menschen... Ich würde sie wohl nie verstehen... Ich meine, wie konnte man überhaupt nur Ansatzweise darüber nachdenken, die Nacht hier draußen im Regen zu verbringen, wenn man keine fünf Minuten weiter sicher und wohlbehütet im Trockenen sitzen kann?
Stan lieferte mir, warum auch immer, verbissenen Widerstand, als ich ihn mit aller Kraft in Richtung des Menschengebäudes zog. Es verlangte mir tatsächlich meine allerletzten Kraftreserven ab, ihn zum Eintreten zu bewegen. Stan zog mit seiner engstirnigen Unbeweglichkeit bereits eine meterweite Schneise in den Schlamm.
„Jetzt mach schon!“, fluchte ich, als wir nur noch wenige Meter von der einladenden und wärmespendenden Fassade des Gebäudes entfernt waren.
Die anderen wetterflüchtigen Menschen warfen uns beim Vorrübergehen neugierige Blicke zu. Die meisten von ihnen schirmten sich mit Kleidungsstücken oder anderen Stofffetzen, die sie über ihren Köpfen hielten, vor dem prasselnden Nass ab.
„Das ist ja peinlich. Mit dir kann man sich nur schämen...“, murrte ich, während scharenweise Menschen kopfschüttelnd an uns vorbeiströmten. „Nun komm endlich!“
Stan schaute nervös in alle Richtungen. Er schien von Sekunde zu Sekunde schwerer zu werden.
„Hier ist soviel los... Die haben eh für uns nichts frei... Lass uns woanders weiter suchen... Oliviana kann auch nicht mehr soweit sein...“, stammelte Stan und machte doch tatsächlich Anstalten wieder kehrt zu machen.
Sofort stellte ich mich meinem Trainer in den Weg und ging wie ein Raubtier, dass seine Beute fixierte, langsam auf ihn zu.
„Wenn du nicht gleich da rein gehst, ziehe ich andere Seiten mit dir auf!“, bellte ich.
Stan stolperte erschrocken die drei hölzernen, schlammübersäten Treppenstufen rücklings hinauf.
„Marsch rein mit dir“, rief ich und drückte ihn mit meiner puren Körperkraft durch die von unseren freundlichen Vorgängern bereits geöffnete Tür.
Ich schüttelte meinen schlammbeschmierten Körper ausgiebig und besprenkelte dabei meine maulenden Nachbarn mit Dreck und Regenwasser.
Ein vertrauter Anblick bot sich mir, als ich die Augen nach dieser Wohltat öffnete: Wir fanden uns in einem weiten, mit braunen (wahrscheinlich waren sie weiß, doch da mittlerweile mindestens die Hälfte des Schlamms hier im Haus war, konnte man das nicht mehr erkennen) Keramikplatten bepflasterten Raum wieder. Das Haus glich dem Pokèmon-Center von heute Morgen wie aus dem Haar. Ja selbst der Geruch war nahezu identisch, auch wenn gleichzeitig das dezente Aroma von durchnässten Kleidungsstücken und Dreck in der Luft lag. Ein weiterer Unterschied lag natürlich auch an der Vielzahl der Menschen, die hier offenbar, genau wie wir, Schutz vor dem Unwetter suchten. Gut zwei Dutzend tummelten sich hier im Eingangsbereich bei uns.
Stan wirkte nervöser denn je. Seine Augen huschten fast schon panisch von einer Seite des Raumes zur nächsten. Zweimal sogar blickte er direkt zum Ausgang hinter uns hinüber.
„Bitte hier anstellen“, sagte ein etwas müde aussehender Mensch freundlich zu uns und wies uns an das Ende einer Menschenschlange ein.
„Nicht nötig... Wir wollten eh gerade gehen...“, murmelte Stan und zwang sich krampfhaft zu einem Lächeln.
Ein heller Lichtblitz suchte sich seinen Weg durch das uns am nächsten liegende Fenster. Nur Sekunden später hallte ein kraftvolles Donnern durch den Raum. Windböen pfiffen unheilbringend und rüttelten kraftvoll an den Fensterrollläden. Der Sturm war auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Stan winselte leise auf und reihte sich zittrig als Schlusslicht in die Schlange ein.
Der Mann musterte uns noch einige Sekunden neugierig, doch nahm er bereits wenige Augenblicke später die nächste Ladung Neuankömmlinge in Empfang, die sich hinter uns einordneten.
Irgendwie konnte ich mir aus Stans Verhalten immer noch keinen Reim machen. Doch im Moment interessierte mich nur, dass wir endlich ein Dach über dem Kopf hatten. Über Stan hatte ich leider noch mehr als genug Zeit zum Nachdenken...
Die Menschenschlange vor uns wurde von Minute zu Minute kleiner. Hinter uns jedoch fanden sich immer mehr Wetterflüchtige ein und ich musste doch sehr aufpassen, dass mir niemand auf meinen vom Wetter gebeutelten Schwanz trat. Wasser perlte von meinem Fell langsam gen Boden hinab, während das Ende der Schlange nun in sichtbare Nähe kam: Eine völlig übermüdete Krankenschwester, die der Pflegerin aus dem Pokémon-Center des letzten Tages wie aus dem Gesicht geschnitten war, trug die reisenden Besucher in ein kleines Buch ein und verwies sie allem Anschein nach auf ihre Zimmer. Stan stolperte unruhig von einen seiner Füße auf den anderen, während die Gestalt der Krankenschwester immer näher kam.
„Hallo“, begrüßte sie uns mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Nun sag schon was...“, zischte ich und stieß Stan in die Kniekehle.
„Äh, Hallo... Ein Zimmer für... Ich meine, ein Einbettzimmer bitte“, stotterte Stan.
„Und etwas ordentliches zum Essen, mit Verlaub“, hakte ich nach.
„Tut mir leid, aber Einbettzimmer sind alle bereits vergeben“, antwortete sie freundlich. „An Tagen wie diesen sind unsere Kapazitäten leider etwas ausgeschöpft. Ich hoffe es macht dir nichts aus, dein Quartier mit anderen zu teilen.“
„Äh...“
„Nehmen wir“, schnitt ich Stan ins Wort.
„Ich weiße dich in ein Vierbettzimmer ein. Zimmer elf, wäre es dann für diese Nacht“, sagte sie und überreichte Stan einen kleinen silberfarbenen Schlüssel.“
„Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden...“, brummte Stan zu mir hinab, seinen Blick fest auf den Schlüssel geheftet.
„Voll und ganz“, entgegnete ich ihm zufrieden und befreite meinen Körper von der restlichen Nässe; sehr zum Leidwesen meiner Nachbarn.