Part 4: Hornissennest
Wie passierten das letzte auf der Straße leerstehende Auto, ließen die stetig kleiner werdenden Wohnhäuser Laubwechselfelds wieder hinter uns. Warum auch immer, hatte es Colin plötzlich sehr eilig, seine Heimatstadt zu verlassen. Nie zuvor hätte ich es mir träumen lassen, dass ich Colin einmal dazu aufforderte, zu reden.
„Ich knall dir gleich einen von diesen Steinen gegen den Hinterkopf, wenn du nicht gleich sagst, was Sache ist!“, rief ich Colin nach.
Wir hechteten über die klobigen Felder, die hinter Laubwechselfeld lagen. Der Ascheregen hatte längst aufgehört, das von unzähligen Füßen und Autoreifen plattgewalzte Gras verfärbte sich mit jedem weiteren Schritt und nahm wieder ein halbwegs gesundes Grün an, dafür aber verunstalteten unförmige Gesteinsbrocken in allen Größen – manche faustgroß, andere wie ein Autoreifen gewachsen – das ohnehin pervertierte Landschaftsbild.
„Das sind keine einfachen Steine - das sind Meteoriten.“
„Meteoriten ...?“ Ich zermürbte mir Schädel. „Da war doch was ...“
„Deoxys war damals aus einem Meteoriten gekommen. Den Meteorit, den ihr zerdeppert habt, du erinnerst dich?“, sagte Colin.
„Stan hat ihn zerlegt und in Stücke geschlagen, nicht ich, aber ja, ich erinnere mich natürlich ...“, erwiderte ich. Stan fiepte auf meine Wort hin empört auf. Ich wandte mich noch im Weiterrennen ihm zu. „Beweis mir das Gegenteil, kleiner Mann.“ Ein knisternder Funke aus seinem Fell verfehlte nur knapp mein rechtes Ohr. „Ja, schon gut ... Ich war vielleicht auch nicht ganz unschuldig“, brummte ich einsichtig mit den Bildern im Kopf, wie ich in den Armen meines Trainers wild um mich herum geschlagen und ihn so – unbeabsichtigt natürlich – zu Fall gebracht hatte. „Aber was heißt das, was will es hier?“, lenkte ich das Gespräch wieder auf die richtige Bahn.
„Ich nehme an, Deoxys fühlt sich von Meteoriten magnetisch angezogen und wie du siehst, gibt es davon eine Menge hier“, meinte Colin.
„Deoxys ist also nicht in der Stadt“, schlussfolgerte ich, „sondern irgendwo hier! Wo?“ Einem fieberhaften Wahn gleich, warf ich Blicke in alle Richtungen, auch in den Himmel empor.
„Wahrscheinlich nicht hier; lass mich ausreden!“, fiel mir Colin jäh ins Wort, als ich bereits entrüstet den Mund aufgemacht hatte. „Die höchste Konzentration von Meteoriten gibt es in einer Höhle in der Nähe - sie ist berühmt.“
Dem Knirschen des Sandes unter unseren Füßen schloss sich ein schnell wachsendes Stimmengewirr an. Es kam einem aufgebrachten Bienenschwarm gleich. Etwas wartete hinter der Bergkuppe auf uns ...
„Und dahin sind wir unterwegs?“, wollte ich wissen.
„Genau, da vorne ist sie gleich ... Oh, verdammt ...!“
Wir meisterten nach kurzem Aufstieg den vor uns liegenden Hügel – und erstarrten noch auf der Spitze des Bergrückens regelrecht zu Salzsäulen.
Kein Wunder, dass Laubwechselfeld fast ausgestorben hinter uns lag. Wer sich nicht in den Mauern seines Hauses verbarrikadiert hatte, war hier als einer von hunderten – oder waren es tausende? – vorzufinden; ein Albtraum für mich, selbst noch dann, obwohl ich nicht mehr ganz so menschenabgeneigt war, wie einst. Noch nie zuvor hatte ich einer solchen Armee von Menschen gegenübergestanden, die obendrein noch an einem Ort versammelt waren. Junge wie auch alte; Frauen und Männer; von strebsamen Müllmännern bis hin zu arbeitsfaulen Schreibstuhlhockern – hier war einfach alles vertreten. Und hinter all dem; hinter einem ganzen Fuhrpark an Metallkarosserien; hinter den Heerscharen von Zweibeinern, hinter blinkenden Absperrungen, hinter denen noch weitere wichtigtuerische, uniformierte Menschen standen, war sie, die Höhle.
„Wir müssen da rein!“, sagte ich, schaffte es aber nicht, die Verunsicherung in meiner Stimme zu unterdrücken. Ebenso auch Colin.
„Ich weiß ...“, murmelte er. „Lass aber erstmal schauen, was eigentlich Sache ist.“
Wir kämpften uns den Hügel herab und fanden uns schnell inmitten des Farbenmeers von Colins Artgenossen wieder. Ein wenig des alten Stans, wie ich ihn auch kannte, rückte wieder ans Tageslicht. Mit einem leichten Anstubsen und dem dazu passenden leidigen Ausdruck auf seinem Gesicht signalisierte er mir unmissverständlich, dass er keine sonderlich große Lust verspürte, sich pausenlos auf Schwanz und Pfoten treten zu lassen – woher kannte ich das bloß ...?
Ich hatte es mir bereits aus der sicheren Distanz schrecklich vorgestellt, Teil dieses gigantischen Schwarms zu sein. Nun aber, im Zentrum des Stocks, wurde mir erst richtig Klarheit verschafft, wie schrecklich es in Realität war. Stimmen, abertausende von ihnen, sie redeten unaufhörlich, kannten kein Erbarmen; sie summten und brummten. Es war eng, ich kämpfte mich ellebogenrudernd durch die Masse hindurch. Es war heiß, klebriger Schweiß rann mir in Strömen an Kinn Armen und Hintern hinab, unbeabsichtigt streifte ich ihn von meinen Gliedern zu meinem Nachbar, andere wieder an mir. Es war die Hölle, ich musste hier raus, drückte Stan ganz dicht an meinen Leib, nur seine Anwesenheit – war er auch noch so stumm und war er selbst ebenso eingeschüchtert, als ich es auch war – half mir dabei, nicht den Verstand zu verlieren und halbwegs einen kühlen Kopf zu bewahren, während ich auf meinem Streifzug durch die Menschenmassen scharenweise böse und missbilligende Blicke erntete.
„Das sind sie! Mum! Dad! – Entschuldigung, darf ich mal bitte ...?“
Wie es Colin in diesem Getümmel gelang, seine Eltern ausfindig zu machen, war mir ein Rätsel. Ich arbeitete mich ebenfalls nach vorne durch – nicht ohne reichlichen Einsatz meiner Ellenbogen zu machen. Endlich wurde mir Klarheit verschafft, wem Colin seinen Vorgartenzwergenwuchs zu verdanken hatte: Mr. und Mrs. Knox waren beide kaum größer, als es mein Leihkörper war.
„Colin! Schatz!“ Mrs. Knox schloss ihren Sohn zärtlich in ihre Arme. „Du bist wieder da.“
„Hallo, Colin!“, grüßte Mr. Knox seinen Sohn zufrieden lächelnd. Colin war ihm sehr ähnlich – Augen, Gesichtszüge, der Kurzhaarschnitt, nur die kastanienbraune Haarfarbe, die hatte er von seiner Mutter vererbt bekommen. „Wie war es? Haben sich deine Großeltern gefreut? Sie sehen dich ja sonst nur so selten.“
Colin löste sich aus der Umarmung seiner Mutter. „War schön, und die Reise erst ...“ Colin fing meinen missbilligenden Blick auf. Er räusperte sich. „Äh, was ist hier eigentlich los?“
„Hast du es nicht mitbekommen? Hier hat sich gestern Nacht ein seltenes Pokémon niedergelassen. Es ist aus dem Raumfahrtzentrum in Moosbach City ausgebrochen. So etwas sieht man ja nicht alle Tage“, meinte Mrs. Knox.
Colin und ich tauschten Blicke, dann sah ich Stan an. Mein Puls raste. Deoxys war tatsächlich da. (*4)
Angetrieben von dem überirdischen Verlangen, diesem Albtraum endlich ein Ende zu bereiten, kämpfte ich mich immer weiter nach vorne durch, ließ meinen spitzen Ellenbogen sprechen, wenn man mir keinen Platz verschaffen wollte und unterbrach dabei alberne und sinnfreie Gespräche von Dosenravioli bis hin zu den aktuellen Pokémon-Meisterschaften auf dem Indigo-Plateau. Alberne Menschen ... Konnten sie nicht woanders tratschen? Mussten sie mir hier im Weg stehen? Hier ging es um mehr, um viel mehr. Und nichts konnte mich von meinem Vorhaben abhalten, auch nicht diese wackelige Absperrung. Viel zu lange hatte es gedauert ...
„Augenblick, junger Mann!“
Ich war bereits unter dem lächerlichen Hindernis hindurchgeklettert, welches die Menschenscharen von der Höhle trennten, als sich plötzlich ein schwarz uniformierter Mann zwischen mich schob und kraftvoll seine Hand auf meine Schulter legte.
„Was ist los?!“, fuhr ich ihn unwirsch an.
„Zurück hinter die Barrikade!“
„Warum?“
„Zu deinem Schutz. Jetzt mach schon.“
„Danke, mir geht es auch ohne deine Hilfe sehr gut.
„Schluss jetzt!“
„Geh mir aus dem Weg!“
„Mach, dass du zurückkommst!“
„Ich denk ja nicht dran!“
Ich hatte bereits die Fäuste geballt, auch wenn mir insgeheim klar war, dass ich gegen diesen muskulösen Mann wohl keinen Sieg erringen konnte. Doch sich jetzt einfach geschlagen zu geben, kam gar nicht in Frage. Ich röntgte die Sicherheitskraft, hatte nur Augen für eines – die Höhle. Zwei weitere Männer, in denselben Farben gehüllt wie auch die Nervensäge vor mir, stießen zu mir und drängten mich nun mit Gewalt hinter die Absperrung zurück. Ich protestierte lautstark, ohne aber Erfolg zu verzeichnen. Ich war stocksauer. Ich musste da rein, wenn es sein musste, auch mit Gewalt.
„Das kannst du vergessen. Das wird nichts.“ Colin hatte zu mir eingefunden. „Meine Eltern meinen, die wollen mit einem Sondereinsatzkommando anrücken, die Höhle versiegeln und zum Sperrgebiet erklären. Da kommt dann nichts mehr rein und auch nichts mehr raus.“
„Du glaubst doch nicht, dass ich jetzt einfach abziehe?!“, rief ich unter schnell steigenden Blutdruck. „Ich geh da rein, und wenn hier erst Köpfe rollen müssen!“
Abermals stahl ich mich unter der Absperrung hindurch – wieder wurde ich grob zurückgedrängt.
„Die Leute gucken schon ...“, zischte Colin, nachdem man mich zum zweiten Mal auf meinen Platz verwiesen hatte. Ich ignorierte ihn.
„Ich lasse dich gleich gewaltsam entfernen, wenn du weiter Ärger machst! – Letzte Warnung!“, mahnte der Sicherheitsbeamte, der mich nun drei Mal in Folge zurückgeschoben hatte. Ungeheurer Nachdruck lag in seiner Stimme.
„Komm runter“, zischte mir Colin zu.
„Ich muss da rein, verdammt!“, tobte ich.
„Ich weiß ...“
„Lenk sie ab, mach was!“
„Und wie?“
„Mir doch egal! Mach ’nen Handstand, jonglier mit Mülltonnen, sag, du hättest ’nen Wachstumsschub – nur mach was!“
„Das sagst du so leicht ...“
„Du bist auch für nix ...“
„Weinst du?“ Colin wirkte erstaunt. Die Frust hatte mir tatsächlich Tränen in die Augen getrieben, mein Herz lag in Trümmern, die Hoffnung war in Scherben geschlagen. Eiligst fuhr ich mir mit dem Arm über das Gesicht.
„Natürlich nicht!“, entgegnete ich. „Ich hab nur Dreck im Auge - spielt ja keine Rolle. Ich muss da rein“, wiederholte ich abermals.
Colin hüllte sich in Schweigen. Ich lehnte mich begierig über die Absperrung hinweg. Niemand beobachtete mich gerade. Wenn ich mich beeilte, dann vielleicht ...“
„Warte! Ich glaub ... ich hab da was ....“ Colin hatte mir seine Hand auf die Schulter gelegt. Auch wenn ich nicht glaubte, dass Colin etwas Besonderes aus seinem mickrigen Ärmel schütteln konnte, kehrte doch ein Funken Hoffnung wieder zurück.
„Danke“, sagte ich.
„Bedank dich nicht so früh ... Such dir lieber erst einmal ein schattiges Plätzchen, ich muss weg.“
„Ein schattiges Plätzchen?“ Verwirrt sah ich Colin nach, wie er schnell in den Menschenmassen hinter mir unterging. Wo wollte er hin, was hatte er vor? Wie sollte er überhaupt so viel Unruhe stiften? Das war unmöglich ...
Die Minuten verstrichen. Kein Colin und auch kein von ihm heraufbeschworenes Wunder. Rastlos patrouillierte das Wachpersonal vor meinen Augen auf und ab, warfen mir immer und immer wieder argwöhnische Blicke zu, verwiesen andere Störenfriede auf ihren angemessenen Platz. Ich vergrub die Fingernägel meiner Hand, die nicht Stan umklammert hielt, in das Metall der Absperrung. Dieses lächerliche Stück Schrott. Wie konnte ich mich nur so zum Narren halten? Stan und ich tauschten Blicke. Ich seufzte, er sah mich ratlos an.
„Was tun ...?“, flüsterte ich ihm leise zu.
Stan verzog nachdenklich das Gesicht, antwortete aber nicht.
Wie lange sollte ich noch warten? Ich hasste es. Abermals schwenkte mein Blick an der Absperrung vorbei in Richtung der Höhle. Sie lag keine zweihundert Meter von mit entfernt. Es war so lächerlich ...
Stan begann plötzlich in meinem Arm heftig zu zittern, sein Schweif vibrierte bedrohlich. Ich sah zu ihm hinab. Sein Fell stand ihm zu Berge.
„Was ist los?“
Unruhe breitete sich hinter meinem Rücken aus, das Stimmengewirr hatte eine ganz neue Tonlage angenommen, ängstliche und panische Schreie lagen in der Luft; ein Windstoß fuhr mir über den Kopf, heulte bedrohlich; die Kleider an meinem Leib und auch bei meinen Nachbarn begannen heftig zu flattern, abermillionen Staubkörner wirbelten ziellos umher; ich schluckte Sand, musste kräftig husten.
„Ein Sandsturm!“, hörte ich aus dem undeutlichen Stimmengewirr heraus. „Auf den Boden!“ (*5)
Nun hatte ich tatsächlich Sand in den Augen. Der Druck von Schulter an Schulter stehenden Menschen löste sich immer mehr. Mit zugekniffenen Augen warf ich einen Blick über die Schulter. Wer sich nicht schützend auf den Boden geworfen hatte, der rannte Hals über Kopf zu seinem parkenden Auto und suchte dort Schutz. Ich blickte nach vorne - ich hatte freie Bahn. Colin hatte es geschafft ... irgendwie.