Part 4: Die Dornen einer Rose
„Luscinia Blakewaters menschliche Gestalt starb an diesem Tag. Ihre niederträchige Seele aber überlebte und nahm in einem jahrhundertelang andauernden Prozess schließlich eine neue Form an.“
„Darkrai“, hauchten Stan und ich simultan.
Shaymin nickte. „So wie der Fluch meinen Vorfahren zum Pokémon hatte werden lassen, geschah etwas Ähnliches auch mit der Gräfin von Blakewater. Fortan streifte das verfluchte Wesen aus Bosheit und Schatten, zu dem sie geworden war, rastlos durch die Welt und befriedigte seine mörderischen Gelüste, indem es sich an den Träumen der Menschen und Pokémon verging.“
Die Erzählerin stoppte kurz und taxierte Darkrai. Nachdem sie festgestellt hatte, dass dieser keine Anstalten machte, erzählte sie weiter: „Darkrais Wanderung führte ihn eines Tages zufällig in das Land meiner Ahnen, wo meine Sippe lebte, seitdem der Erste von uns seinen Fuß auf den heiligen Boden gesetzt hatte. Wir hatten das Land kultiviert und es für die nachfolgenden Generationen fruchtbar gemacht, sogar einige Menschen erlaubten wir in unserer Mitte, denen wir Generation über Generation unsere Geschichte lehrten. Darkrai aber erkannte das Blut, das in unseren Adern floss, wieder. Sein Hass löschte an diesem Tag beinahe unseren gesamten Clan aus.“ Shaymins Stimme wurde brüchiger, ihre Augen feuchter. „Die, die wie durch ein Wunder von seinem Feldzug verschont blieben, verließen das Land unserer Ahnen aus Angst, Darkrai könnte eines Tages den Rest von uns auslöschen. Und es geschah tatsächlich so: Darkrai kehrte eines Tages wieder. Er löschte die letzten meines Clans aus und auch die verbliebenen Menschen, die das Land bevölkerten, müden Reisenden ein Obdach gaben und unsere Geschichte lehrten.“
„Miriam und ihre Oma“, murmelte ich leise. Ich brauchte keine weitere Zustimmung, ich wusste, wer gemeint war.
„Im Laufe der Zeit verfiel das Land. Stück für Stück nahm sich die Wüste wieder, was einst ihr gehörte. Ich, die einzige Überlebende, hatte Darkrais Angriffen getrotzt. Mehr sogar: Aus Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die niemals aufgehört hatten, den heiligen Boden zu ehren und Darkrai Widerstand zu leisten, tat ich es ihnen gleich. Ich schuf Illusionen und schenkte den Reisenden ein Obdach über Nacht. Nicht ganz uneigennützig, wie ihr wisst, denn auch die Legende von der Rose der Wüste und meinem Vorfahren hielt ich so am Leben. Doch alles änderte sich, als eines Tages eine Gruppe Reisende das Land meiner Ahnen durchquerte. Denn diese Gruppe war allen vorherigen völlig unähnlich.“
„Sheinux und ich hatten die Körper getauscht“, schlussfolgerte Stan.
„Das war nur eine Ungereimtheit, die ich an jedem Tag wahrnahm“, entgegnete Shaymin. „Aber es gab noch etwas. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wärt ihr drei Reisende. Bei genauerem Hinsehen stellte ich aber fest: In Wirklichkeit wart ihr zu viert.“
Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, dass Shaymin eine Pause gemacht hatte, denn die Dinge in meinem Kopf waren außer Kontrolle geraten. „Was? Nein, wir waren ... wir waren zu dritt. Stan, Colin und ich.“
„Das glaubte ich erst auch. Aber mein Gespür täuschte mich nicht. Dich Stan“, sie schielte in die Richtung des Angesprochenen, „oder sollte ich vielmehr sagen, dein Körper umgab eine dunkle Präsenz. Und ich, ich erkannte die Signatur wieder. Darkrai. Er begleitete euch auf eurem Weg - die ganze Zeit“, fütterte Shaymin unsere halb offenen Münder weiter. „Wie lange, weiß ich jedoch nicht. Darkrai war wie ein Schatten, der seinen eisigen Umhang über eure Gruppe legte, denn er war nie darüber hinweggekommen, dass Stan sich seinem Einfluss widersetzte.“
„Völliger Unsinn!“
Wir schreckten auf. Darkrais wütender Einwurf hatte selbst Shaymin kurzzeitig einen Dolchstoß zwischen die Rippen versetzt. Er verengte sein sichtbares Auge zu einem Schlitz.
„Im Gegenteil!“, entgegnete Shaymin. „Warum sonst hast du dem Jungen aufgelauert wie keinem anderen? Warum sonst hast du so viel Zeit in dein dreckiges Spiel investiert?“
„Du bist vermessen, zu glauben, dieser Mensch wäre etwas Besonderes. Von Anfang an war er nur eine weitere Mahlzeit.“
„Ich kenne dich, Darkrai, besser sogar, als du dich selbst kennst“, parierte Shaymin spitz. „Schon zu deiner Zeit als Mensch warst du ein verbittertes, rachsüchtiges Wesen. Du kamst niemals darüber hinweg, dass der Herrscher damals deinen Antrag abgelehnt hatte, also versuchtest du zu zerstören, was ihm am liebsten war. Du kamst zweimal in das Reich meiner Ahnen und ließt sie, ohne mit der Wimper zu zucken deine Rachegelüste, spüren; nicht einmal die Menschen verschontest du, obwohl sie dir kein Leid zugetragen haben. Und schließlich: Stans Geist leistete dir Widerstand, also unternahmst du Versuche, ihn ununterbrochen von innen und außen zu zerstören.“
„Zerstören? Wie?“, fragte Stan mit zitternder Stimme.
„Der Grund, warum Darkrai sich nicht an deinen Albträumen nähren konnte, Stan, war die knospende Beziehung zwischen dir, Sheinux und eurem Freund Colin. Seit langer, langer Zeit fühltest du dich endlich wohl in deiner Haut. Du warst glücklich, Stan, glücklich. In diesen Momenten schirmte das Glück dich von Darkrais Einfluss ab, denn seine Waffen sind Angst, Schmerz und Kummer. Mit Sheinux und Colin jedoch an deiner Seite konnte Darkrai dich nicht erreichen. Alles schien überstanden. Doch dann geschah etwas Unvorhergesehenes.“
Darkrai reagierte auf Shaymins herausfordernden Blick. „Ich weiß, auf was du hinaus willst, Shaymin, aber ich muss dich leider enttäuschen: Mit den vertauschten Seelen hatte ich nichts zu tun.“
„Aber du hast die Situation schamlos ausgenutzt!“, stellte Shaymin mit ernster Stimme klar.
Ich war mir sicher: Wenn ihr Gegenüber ein Gesicht gehabt hätte, es hätte in diesem Moment wohl hässlich gegrinst und Shaymin recht gegeben.
„Eure Seelen steckten im anderen Körper. Endlich fand Darkrai fruchtbaren Boden für seine Intrigen, denn es machte dich verwundbarer denn je, Stan, und auch dich, Sheinux. Darkrai hatte mittlerweile erkannt, dass insbesondere du, Sheinux, maßgebend daran beteiligt warst, den Charakter deines Freundes Stan zu festigen. Also begann er, Zwietracht zu säen und einen Keil zwischen euch beiden zu treiben. Er nutzte seinen unsichtbaren Einfluss, torpedierte dich mit negativen Gefühlen und vergiftete deine Gedanken. Darkrai ist ein Katalysator negativer Emotionen. Wenn er erst seinen Mantel über ein Opfer legt, fördert seine bloße Präsenz die tiefsten und dunkelsten Gefühle. Stan reagierte in solchen Phasen schreckhafter und ängstlicher denn je, hingegen du, Sheinux, besonders egozentrisch und aggressiv gegen dein Umfeld wurdest. Je länger die Depression anhielt, desto stärker kamen jene Gefühle zum Ausdruck. Als ich euch begegnete, besaß Darkrais Einfluss beinahe vollständig über Sheinux Besitz.
„Ich - ich war kurz davor, Stan zu verstoßen“, erinnerte ich mich mit dem unangenehmen Gefühl, als ob mir soeben gewaltsam die Augen geöffnet worden waren. „Und dann ... im Krankenhaus. Ich hörte immer wieder diese Stimme, diese eine hässliche Stimme in meinem Kopf. Und damals im Wald ... als ich mit Stan in Streit geriet und fortgelaufen bin ... da war sie auch. - Du warst es! Du! Die ganze Zeit!“
Ich konnte mich kaum noch mehr beherrschen. Ich fühlte mich so dumm und gleichzeitig so erfüllt mit Hass. Ich hörte Igelavars Stimme mir etwas zuflüstern, verstand es aber nur als ein undeutliches Rauschen. Von den Krallen bis zur Schwanzspitze flutete das Verlangen, dieses Feindbild vor mir zu zerschmettern. Nur Shaymins tröstende Stimme hielt in diesem Moment noch meinen Verstand zusammen, bevor ein Unglück geschah.
„Doch ihr fandet wieder zueinander. Mehr sogar noch: Die unsichtbare Bande eurer Freundschaft blühte stärker denn je. Erneut hattet ihr Darkrai aus euren Köpfen gesperrt und das Undenkbare geschafft: Ihr kehrtet wieder in eure eigenen Körper zurück, selbst ohne mein weiteres Eingreifen. Endlich schien alles auf ein glückliches Ende hinzulaufen. Doch was Stan betraf, war sein Geist nach der Seelenumkehr enorm angeschlagen. In den kommenden Tagen verwurzelte Darkrai seinen Einfluss tiefer in Stans Psyche als jemals zuvor. Tag für Tag welkte er ein Stück mehr. Vorsorglich schloss ich mich eurer Gruppe an, denn ich wusste, dass Darkrai nur noch genügend weitere angeschlagene Seelen brauchte, um den nächsten stabilen Limbus zu schaffen. Und jetzt, jetzt sind wir hier.“
„Jetzt seid ihr hier“, wiederholte Darkrai mit tiefer, buttriger Stimme. „Ich muss zugeben, ich bin überrascht, Shaymin. Du hast viel für deine Nachforschungen riskiert, die sogar im Großen und Ganzen zutreffend sind. In diesem Punkt habe dich vielleicht unterschätzt. Aber am Ende sind es eben nur Nachforschungen. Du hast nichts unternommen, um all dies zu verhindern. Stattdessen hast du deine Tarnung grundlos aufgegeben und dich mir auf einem Silbertablett serviert. Jetzt seid ihr alle hier, gefangen in meinem Limbus. Am Ende hast du alles riskiert und alles verloren.“
Zutiefst beunruhigt schweifte mein Blick zwischen den beiden unterschiedlichen Pokémon hin und her. Tatsächlich schien Darkrai sämtliche Trümpfe in der Hand zu haben, während wir nichts außer Shaymins angesammeltes Wissen besaßen. Sie hätte doch wissen müssen, worauf es am Ende hinsteuern würde. Warum also hatte sie nichts dagegen unternommen? Jetzt war es zu spät. Wie Darkrai richtig behauptete: Sie war ebenso gefangen wie wir. Warum machte sie nur so einen selbstsicheren Eindruck?
„Das sehe ich anders. Nichts ist verloren, Darkrai. Du wirst uns gehen lassen - uns alle.“
„Du stellst Forderungen? Du? Mit welchem Recht stellst du Forderungen?“, lachte Darkrai.
Shaymin erwiderte mit einem süßsauren Lächeln: „Entweder du lässt uns freiwillig gehen, oder ich reiße ein Loch in deinen Limbus. So oder so kommen wir am Ende frei. Was ist dir lieber?“
Jetzt schaute ich sogar ich wieder siegessicher. Shaymin hatte ihre Kraft bereits mehrere Male unter Beweis gestellt. Sie war gleichauf mit Darkrai, vielleicht sogar stärker. Vielleicht war es nicht nur der Hass einer verschmähten Liebesbeziehung, der Darkrai so hatte handeln lassen. Vielelicht fürchtete er sogar insgeheim die Stärke von Shaymins Clan und hatte diesen deshalb vorsorglich ausgelöscht. Es war nur eine Vermutung, aber der feste Glaube daran ließ mich endlich wieder hoffen.
„Meinen Limbus zerstören? Du willst meinen Limbus zerstören? Mein liebes Mädchen, du steckst zu hohe Erwartungen in deine Worte. Mit welcher Kraft auf dieser Welt willst du meinen Limbus zerstören?“
„Ich werde ihn nicht zerstören, denn das wäre unserer aller Untergang. Aber ich kann in ihm einen Spalt öffnen. Mit ein wenig Gewalt!“, antwortete Shaymin.
„Mit Gewalt!“, antwortete auch ich und tat einen Schritt an Shaymins Seite. Sie schenkte mir ein Lächeln.
„Mit Gewalt!“, Igelavar schloss sich uns an. Das Feuer auf seinem Rücken flackerte hell und warm.
Darkrai lachte. Er lachte laut und diabolisch. Obwohl es keine Wände gab, kein Boden, keine Decke, schien der infernalische Klang seiner Stimme uns von allen Seiten zu torpedieren. Es war eine Geste, die mir schlagartig den ganzen Mut nahm und ein unangenehmes Gefühl von Hilflosigkeit injizierte.
„Ihr zittert und windet euch vor dem Unausweichlichen und überschätzt maßlos eure Fähigkeiten; insbesondere du, Sheinux.“ Er betonte meinen Namen scharf, was meine Aufmerksamkeit erregte.
„Was meinst du damit?“
„Ist dir eigentlich bewusst, Sheinux“, flüsterte Darkrai, „dass dir in letzter Zeit nichts mehr gelingt? Du fühlst dich, als wärst du nur noch ein Schatten deiner selbst, nicht wahr?“ Darkrais Worte waren ein Gift, das mich völlig lähmte. Ich konnte meine Ohren nicht vor seinen hässlichen Worten verschließen, meine Augen nicht den unabstreitbaren Tatsachen verschließen. Im Kampf gegen Sky war ich nicht mehr ich selbst gewesen. Kraft- und atemlos, keine Finesse, völlig unterlegen. Es reichte gerade so, um einigen Grillen das Leben schwer zu machen. Das aber war bereits alles. Ich war ...
„Schwach?“
Shaymin riss den Kopf abrupt zur Seite. „Hör nicht hin, Sheinux!“
„Wo ist der Rebell in dir geblieben, Sheinux? Wo ist dein Wille? Dein Trotz? Deine Hartnäckigkeit? Verschwunden. Alles, was dich ausgemacht hat. Dein lieber Freund Stan domestizierte dich. Am Ende warst du ihm völlig gefügig. Stan spuckte auf deinen Stolz. Er ließ dich vergessen, wer du eigentlich bist, Sohn des Sechsten Hauses, er ließ dich deine Heimat vergessen und deine Ehre. Jetzt bist du nur noch sein Haustier. Unterwürfig! Schwach!“
„Darkrai!“, schrie Shaymin mit furchtverzerrter Stimme.
„Wer gab dir die Kraft, dich endlich gegen deinen sogenannten Freund aufzulehnen und dein altes Selbst wiederzufinden? Das war ich!
Wer hat dir die Kraft gegeben, deine Feinde in der Feuersbrunst zu bezwingen? Das war ich! Ohne mich bist du ein Nichts, Sheinux! Ein Nichts!“
„Sheinux ist mein Freund und viel stärker, als du ihm Glauben schenken willst!“ Ich erwachte wie aus einem langen Koma. Stan trat vor in unsere Reihen. Seine Stimme war an Darkrai gerichtet, sein Blick aber strahlte mich voller Stolz an. „Du fragst, wo Sheinux’ Trotz ist, sein Wille, seine Hartnäckigkeit. Solange ich ihn kenne, hat er nie aufgegeben. Er hat nie aufgegeben, egal wie schlecht es um uns stand. Er hat sich nie aufgegeben und auch mich nicht. Ich hätte nie geglaubt, dass mich irgendjemand mögen könnte. Sheinux aber hat mir aber gezeigt, was für ein Spinner ich eigentlich war. In Wahrheit war er so stark, dass auch ich irgendwann stark sein konnte. Seine unglaubliche Überzeugung gab ihm die Kraft, diese Reise anzutreten. Und diese Kraft steckt in ihm. Die Kraft, für seine Freunde da zu sein, die Kraft, stets für seine Überzeugung einzutreten, die Kraft, alles zu erreichen, was er sich vornimmt, und immer wieder seine Grenzen zu übertreffen. Sheinux hat mir zwei Mal das Leben gerettet, nicht du. Er hat Voltenso bezwungen. Er hat das Pokémon-Rudel in die Flucht geschlagen. Er hat Eagle immer wieder Paroli geboten. Und er hat dir erfolgreich getrotzt. Was sagt das über dich aus, Darkrai? Du kannst es drehen und wenden, wie du willst: Sheinux hat nicht nur seine Pflicht erfüllt, sondern auch sich und seiner Familie alle Ehre gemacht.“
Mein Herz schlug Purzelbäume. Stan strahlte mich an und ich strahlte zurück. Shaymin nickte stumm, aber annerkennend. In diesem Moment fühlte ich mich, als könnte ich es gegen zehn Darkrais aufnehmen.
„Rührend ... Entschuldigt, dass ich mich nicht auf der Stelle übergebe“, spottete Darkrai angewidert. „Doch, Stan, du scheinst etwas völlig vergessen zu haben, etwas Wichtiges.“
Neben mir wurde fühlte ich Stans gewaltige Präsenz abnehmen. Was wusste Darkrai?
„Du lobst Sheinux so sehr in den Himmel, sagst, was für ein guter Freund er doch wäre, aber die Wahrheit sieht doch wieder ganz anders aus, nicht wahr? Ich weiß, welche Motive Sheinux überhaupt gezwungen haben, diese Reise anzutreten. Ich weiß, wohin euch euer weiterer Weg führt. Und ich weiß, wie es um deine Ängste bestellt ist!“
„Nicht!“, schrie Shaymin. Eine Blase öffnete sich um Shaymin, doch es war bereits zu spät. Diesmal schaffte sie es nicht, Darkrais Einfluss zu stoppen.
Wir fielen in ein buntes Farbenmeer, das die tiefe, dunkle Leere des Albtraums mit hellen, frohen Farben übertünchte. Ein grünes Idyll erstreckte sich vor unseren Augen. Von dem wolkenlosen Himmel lachte eine angenehme Flürlingsonne auf das Land herab. In dem landeinwärts gerichteten, warmen Luftzug schaukelten die Blumen und Grashalme gleichermaßen taktvoll. Er wisperte von Freiheit und Glück, während er sanft über die die Gesichter eines Renterpaares streichelte, die auf einer Bank gedankenverloren in die Ferne schweiften. Er trug den Duft der Bäume, die in voller Blüte standen, zu einem Mädchen, das am geschotterten Wegesrand fröhlich Blumen pflückte. Wasser plätscherte melodisch von einem zweistöckigen Springbrunnen und benetzte zwei badende Vogel-Pokémon auf der ersten Ebene mit kühlem Nass. Im schrillen Kontrast zu all der Unbeschwertheit und Heiterkeit stand ein schlaksiger Junge, auf dessen schwermütigen Gesicht das ganze Frohlocken um ihn herum wie blanker Hohn klang. Anders das Pokémon an seiner Seite, das begierig in die satte, grüne Weite stierte. Stan und ich.
Fassungslos schaute der echte Stan sein Ebenbild an.
„Stan, du darfst dich nicht auf Darkrais Lügen einlassen! Schau weg! Schließe Augen und Ohren! Bitte!“, flehte Shaymin.
„Stan! Das bist nicht du! Das bin nicht ich! Schau weg!“, bettelte auch ich.
„Sheinux würde das nie tun, Stan!“, schwörte Igelavar.
Doch unsere Stimmen schienen ganz weit weg zu sein.
Die von Darkrai geschaffene Illusion meines Freundes atmete die warme Frühlingsluft ein. Niedergeschlagen schaute er zu seinem Pokémon herab, doch dieses besaß überhaupt kein Interesse mehr für ihn ... oder seine Tränen, die ihm in den Augen glitzerten.
„Geh schon ...“, flüsterte Stan.
Und Sheinux rannte los. Er rannte, ohne ein Wort des Abschieds, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
„Du musst ihn gehen lassen, Junge. Es ist besser für euch beide“, bekräftigte der männliche Rentner Stans Handeln.
„Was man liebt, lässt man los“, meinte das Mädchen im verträumten Singsang.
„Ihr seid viel zu verschieden, nicht so wie wir“, zwitscherte eines der beiden Vogel-Pokémon.
Der Last seines Kummers drückte Stan, den echten Stan, auf den Boden, wo sein bitteres Wehklagen die Harmonie der Umgebung zerriss.
Machtlos schaute ich auf Stan herab. Was sollte ich tun? Was konnte ich tun? Ich spürte Igelavars Blick und Shaymins Eindringlichkeit. Ich durfte und wollte meinen besten Freund nicht verlieren! Unter keinen Umständen! Aber eben das war seine Angst, seine größte Sorge. Seit er seinen Entschluss gefasst und Laubwechselfeld verlassen hatte, wusste er, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Dieser Tag, vor dem er sich so sehr fürchtete - und ich mich.
„Stan! Stan, hör mir zu! Hör mir zu! Ich werde dich nicht verlassen! Ich will dich nicht verlassen! Nie mehr!“
So wie es bei Claire und Eagle der Fall war, stellte Stan abrupt sein Wehklagen ein. Es war still. Der Wind säuselte sanft, der Springbrunnen plätscherte rhytmisch. Jeden Moment musste sich Darkrais Illusion auflösen. Stan schaute nach oben. In seinen feuchten Augen spiegelte ich mich, ebenfalls mit Tränen in den Augen.
„W-wirklich nicht?“
„Wirklich nicht!“
In der Ferne explodierte Darkrais Stimme zu einer exorbitanten Kakofonie. Die Illusion, die der Ränkeschmied geschaffen hatte, löste sich nicht auf, sondern zersprang wie eine Glasscheibe in tausend schwarze Stücke. Wir waren zurück, zurück in der unendlichen Dunkelheit des Limbus. Doch wir waren noch immer zusammen. Shaymin und Igelavar jubelten, während Stan mir mit Freudentränen um den Hals fiel. Doch unsere Freude war nur von kurzer Dauer. Darkrai hatte seinen Thron verlassen. Die schwarzen Schatten, die seinem Körper Form gaben, wurden von einer noch schwärzeren, glühenden Aura überschattet.
„Wenn ich nicht von eurem süßen Nektar des Schmerzes kosten kann, dann werde ich euch eben zerstören!“
„Wenn Darkrai unsere Gedanken im Limbus vernichtet, sind alle darin verloren! Kämpft!“