~Kapitel 3: Unterricht - der Inbegriff der Langeweile~
Schrill und für seine Verhältnisse viel zu früh riss die Weckfunktion seines MP3-Players Ray aus seinen sorgenfreien und reich mit jeder Menge Abenteuer und Action gespickten Träumen. Seine Hand fingerte blind von seiner Bettedecke hinüber zu seinem Nachttisch, wo sein Wecker bereits darauf wartete, von seinem Besitzer zum Stillschweigen gebracht zu werden – mit Erfolg. Binnen eines Augenblickes war wieder absolute Ruhe eingekehrt. Eine trügerische Stille, die nur wenige Augenblicke wieder beendet werden sollte.
„Auch endlich wach? Sieh zu, dass du in die Gänge kommst.“ Ray linste verschlafen einen Spalt weit durch den Raum und konnte durch das grellblendende Morgenlicht die verschwommenen Umrisse Eagles, seines neuen Klammenkameraden, ausmachen. Bereits pikobello rausgeputzt, gestriegelt und gebügelt schwang er seinen Schulrucksack auf den Rücken. Eagles Blick traf die noch stark verkrusteten und tonnenschweren Augen Rays. „Oder mach was du willst. Im Grunde ist’s mir eh egal.“ Ohne seinen Stubenkameraden eines weiteren seiner Blicke zu würdigen, verließ Eagle das Zimmer.
Ray ließ seinen Kopf schlaftrunken in sein Kissen zurückplumpsen. Er fühlte sich zermalmt; konnte weder seine Arme noch seine Beine richtig spüren. Viel zu lange hatte er in der vergangenen Nacht noch wachgelegen und in Erinnerungen über seine Erlebnisse geschwelgt. 23:00 Uhr, 24:00 Uhr – er konnte nur mutmaßen, wann er sich endlich gänzlich seiner Müdigkeit hingegeben und Ruhe gefunden hatte. Auf jeden Fall war es so spät, dass es seiner Meinung nach absolut gerechtfertigt war, auf die heute anstehenden ersten zwei Stunden zu verzichten. Draußen war es sicherlich noch ganz ungemütlich. Kalt, neblig und eklig feucht. Ganz anders sein weiches, gemütliches und warmes Bett. Ray zog sich seine Bettdecke zurecht bis sie ihm ans Kinn reichte. Ja, die Schule konnte sicherlich noch zwei Stunden auf ihn warten.
„Ray? Bist du da?“
„Uff ...“
Ray hatte sich noch nicht richtig auf die Seite gewälzt, als es an die Tür pochte. „Hallo, Ray?“
„Sonja? Was’n los?“, murrte Ray schlafestrunken der Stimme seiner Freundin entgegen, die offenbar vor verschlossener Türe beharrlich auf ihn wartete.
„Was los ist?“, gluckte es überrascht hinter der Tür hervor. „Wir müssen in die Schule. Du willst doch wohl nicht an deinem ersten Schultag zu spät kommen, oder?“
Ray stöhnte leise in sein Kopfkissen hinein. Ein innerlicher Konflikt – und das bereits zu solch früher Stunde. Einerseits hatte Sonja mit ihrer Äußerung in gewisser Hinsicht einen Punkt. Außerdem hatte Ray seine neue Klassenkameradin bereits in ihrer ganzen seltsamen Art geradezu in sein Herz geschlossen. Doch auf der anderen Seite war da sein Bett; so kuscheligweich und warm ...
„Ray?“
„Nein, natürlich nicht ...“, log Ray und kämpfte sich mühselig aus den Federn.
Es war noch schrecklicher, als es sich Ray noch vor einer knappen Minute ausgemalt hatte. Eiskalt lief ihm der Schauer über den Rücken und ein jedes seiner Haare sträubte sich regelrecht empört, als seine nackten Füße den bitterkalten Boden berührten und sein ganzer Körper gleichzeitig von einem nicht weniger kühlen Luftzug von dem einen Spalt weit geöffneten Fenster erfasst wurde. Dieser Bestrafung für seinen guten Willen, den er zu dieser frühen Morgenstunde aufwand, noch nicht genug, wurde er sich im genau im selben Moment seiner höllisch vor Schmerzen ziependen Waden bewusst – wohl eine Folge seines langen Marsches, den er gestern zurückgelegt hatte. Betrübt schweifte Rays Blick auf sein warmes und einladendes Bett hinüber. Aber was half es? Seufzend warf er sich in Schale. Neue Socken, Unterwäsche und den selben Fummel, wie er bereits gestern getragen hatte. Zähneputzen musste natürlich auch sein, wenn er nicht unbedingt wollte, dass seine neuen Klassenkameraden aufgrund seines blumigen Mundaromas einen großen Bogen um ihn einlegten. Bewaffnet mit Zahnbürste und Becher öffnete er die Tür woraufhin er sofort von der seines Erachtens nach viel zu fidelen Sonja in Empfang genommen wurde.
„Ah, da bist du ja endlich. Hast dir aber ordentlich Zeit gelassen. Aber ...“ Sonja stoppte abrupt.
„Aber was? Stimmt was nicht?“, gähnte Ray auf Sonjas unklarer Aussage hin.
„Deine Uniform. Du kannst so nicht rausgehen. Ist gegen die Etikette, weißt du?“, antwortete Sonja.
„Ich hab aber keine Uniform“, erwiderte Ray schulterzuckend. „Wenn ich zaubern könnte, wäre ich in Hogwarts und nicht auf der Celebi-High und würde mit einem Zauberstab rumfuchteln. Außerdem glaube ich, dass Eagle auch keine Uniform anhatte, als er das Zimmer verlassen hatte ...“ Er wedelte dabei Sonja vielsagend mit seiner Zahnbürste vor dem Gesicht herum.
„Äh, Eagle? Wer soll das sein?“ Sonja wirkte verwirrt.
„Mein Stubenkamerad. Die gezähmte Bestie, du weißt schon“, antwortete Ray und kräuselte erstmalig an diesem Morgen seine Lippen zu einem Schmunzeln.
„Äh, lassen wir das Thema besser ...“, nuschelte Sonja. „Schau doch mal in den Schrank von ihm. Dürftest ja die selbe Größe haben.“
„Ich soll ihn beklauen?“ Ray betonte das letzte Wort mit äußerster Sorgfalt. Verblüfft suchte er den Blick Sonjas, die seinem aber vehement auswich.
„Er zieht sie so oder so nicht an ...“, murmelte Sonja kleinlaut, während sie mit ihren Augen Löcher in den Boden bohrte. „Jetzt beeil dich besser, sonst kommen wir wirklich noch zu spät.“
Ray schlurfte zurück in sein Zimmer und tat wie ihm geheißen. Und tatsächlich – im Schrank seines Stubenkameraden fand er eine scheinbar völlig unangetastete Schuluniform, so wie er sie bereits von seinen Hauskameraden her kannte. Eilig schlüpfte er in die gelben Hosen, das ebenso gelbe, freiärmelige Polohemd sowie in die Schuhe. Alles passte wie angegossen. Er konnte von Glück reden, dass Eagle und er tatsächlich die selbe Statur hatten. Eine Weile betrachtete er sich von allen Seiten im Schrankspiegel. Eigentlich ganz schick, zumindest um Längen besser als die Klamotten, die er von seinen ehemaligen Schulen her kannte. Jetzt, wo er mit den Farben seines Hauses in den Startlöchern stand, konnte es also wirklich losgehen. Sein erster Schultag hatte nun offiziell begonnen.