Leben und lernen - Die Celebi-High

Wir sammeln alle Infos der Bonusepisode von Pokémon Karmesin und Purpur für euch!

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  • Part 6: Sinnesfreuden


    Von dem einen auf den anderen Augenblick hatte sich die Zahl der Campingteilnehmer verdoppelt. Auf zwei oder auf vier Beinen, mit oder ohne Sohlen unter den Füßen, zu Lande und in der Luft - sie alle hatten das gleiche Ziel. Es ging westwärts; dorthin, wo gewaltige Bäume unheimliche Schatten warfen. Der Echwald war ein Moloch der Möglichkeiten, eine Bestie der Phantasien. Vom Raikou-Schulhaus genoss man den besten Blick auf die turmhohen Kiefern; ewige Wächter, deren Nadeln wie Schwerter und deren Zweige Schilde waren, das mysteriöse Innere bewachend. So jedenfalls sahen Träumer den Wald. Für Andersdenkende war er nichts weiter als ein Hort dornigen Gestrüpps, Brennnesseln und jeder Menge krabbelnden Ungeziefers. In einem gingen beide Parteien allerdings konform, nämlich, dass unterhalb des Gewirrs von Ästen und Zweigen und im Schatten moosbewachsener Felsen ein Paradies für Wald-Pokémon sein musste. Selbst den kühnsten Vorstellungen waren hier keine Grenzen gesetzt. Nicht selten machten sich darum Schüler höherer Jahrgangsstufen einen Spaß daraus, ahnungslose Grundstufler mit phantasievollen Abschlussprüfungen und exotischen Belohnungen aufs Kreuz zu legen.
    „Warum sollte Dimitri lügen?“
    „Weil er ein fetter Klebstoffschnüffler ist, der nur ans Fressen denkt,, darum! Echt jetzt, Topf voller Smarties - ziehst dir wohl dasselbe wie er durch die Nase, Valentine.“
    „Umgangston, Linsey!“, mahnte Professor Armadis, wobei er nicht verhindern konnte, dass sich seine Lippen zu einem Anflug eines Lächelns kräuselten.
    „Naah, ich brauch den Klebstoff für meinen nächsten Prank. Leihst du mir noch dein Tagebuch? Oh, never mind, hab’ schon.“
    Du Arsch! Gib das wieder her!“
    Auch die zweite Warnung des Lehrers ignorierend, zweckentfremdete Linsey das eben aus Rays Händen entrissene Eigentum als Knüppel. Dieser ließ sie - breit grinsend - gewähren.
    „Ich finde ja die Idee mit dem Bleistift interessanter. Wie nannte Dimitri ihn?“
    „Rechtschaffender Bleistift der Wollust“, antwortete Sonja auf Millers Frage. „Gib einer gewöhnliche Sache ein Präfix und ein Suffix, um es außergewöhnlich zu machen.“
    „Verwandelt uncoole Hausaufgaben in heiße Dampfnudeln mit Zuckergussglasur“, schwärmte Ray verträumt.
    „Sag ich doch: Er ist ein Fresssack. - Nur ein Wort davon, und du bist totes Fleisch, Valentine“, drohte Linsey knurrend, während sie ihr Tagebuch brutal in ihren Rucksack stopfte (diesmal ganz nach unten).
    Auf Anraten seines Lehrers hatte Ray die Hosenbeine hochgekrempelt, um nicht plötzlich darüber zu stolpern. Wie er zugeben musste, fühlte es sich auch gleich viel angenehmer an, viel natürlicher; ganz zu Schweigen davon, dass die unteren Enden seiner Hosen allmählich mit Tauwasser vollgelaufen waren. Inzwischen hatte Ray auch begriffen, was Professor Armadis damit meinte, ihm würde nur kalt werden, wenn er noch länger herumstünde. Nach den ersten 500 Metern hatte sich das Eis an den Füßen in ein angenehmes, warmes Kribbeln verwandelt, das wie ein brodelnder Vulkan langsam nach oben kochte. Doch statt Lava war sein Blut in Wallung geraten, das der Körper heiß durch die Adern pumpte. Nun schwitzte er so sehr, dass er auf Jacke und Pullover verzichtete. Ray hatte Spaß daran, das unterschiedliche Terrain zu entdecken. Jeder Grashalm, jeder Stein, jeder andere Untergrund waren neue Welten, die es nur unter Einsatz des Spürsinns neu kennenzulernen galt. Und an jeder dieser aufregenden Welten wollte er kompromisslos teilhaben. Auch dann, wenn es sich hierbei um eine schlammige Pfütze handelte, um die jeder andere im Normalfall einen Bogen gemacht hätte, und er nun sinnlich durchwatete. Und bereits nach wenigen Schritten hatte das feuchte Gras den Schmutz oberflächlich von der Haut geputzt. Die Natur wusste sich zu helfen.
    „Das Geheimnis ist zu wissen, wohin man treten muss. Nichts hilft einem mehr, seine Umwelt bewusst wahrzunehmen. Man erlebt erst wahre Verbundenheit mit dem Partner, wenn man die gemeinsame Welt auch körperlich teilt“, hatte Professor Armadis Jake, Lisa und Ray erklärt.
    Auf Rays Jux hin, ob dies bedeute, auch die restlichen Hüllen fallenzulassen, hatte der Naturkundelehrer dann aber doch lieber nur mit einem Lachen geantwortet.
    Kleinere und größere Grüppchen hatten sich zwischenzeitlich gebildet, jedes begleitet von den jeweiligen Partner-Pokémon. Lediglich drei Pokémon bildeten die Ausnahme, die mit akrobatischen Flugmanövern um die Vorherrschaft am Himmel konkurrierten. Mit anfänglicher Neugierde hatte Sheinux die ungewöhnliche Aufmachung seines Partners aufgenommen. So wie jede andere ihrer beiden Verrücktheiten hatte er Rays Auftreten letztendlich aber keiner großen Bedeutung zugeordnet. Mit sich und der Welt zufrieden, trottete er an der Seite seines Gefährten her, genoss das schöne Wetter und nutzte die Gelegenheit, mit ein paar seiner Artgenossen Geschichten auszutauschen. Besonderes Aufsehen erhielt Dian, Professor Armadis’ Partner, der mit seinen fast zwei Metern Höhe deutlich aus der Rolle fiel. Aus der Nähe erschien Dian noch viel imposanter und eindrucksvoller, als an dem Tag, als er Panzaeron beispiellos niedergestreckt hatte. Im schrillen Kontrast hatte er etwas Geruhsames, betont von seinem ausgehenden Geruch frischer Piniennadeln.
    „Im Ernstfall kann Dian die Blätter an den Armen und am Schwanz hart wie Eisen werden lassen.“ Als Armadis noch davor warnte, dass ein Schlag mit seinem Schweif sogar Bäume fällen könne, distanzierten sich einige Schüler - teils respektvoll, teils beängstigt - von dem grünen Koloss. Im Normalfall aber sei es, als berühre man hohes Gras, fügte der Lehrer dann noch rasch hinzu. Als Beweis streckte Dian Arme und Schwanz geduldig aus. Ray strich über das Geflecht m Schweif. Es war biegsam und raschelte wie eine Wiese im Wind - ein tolles Gefühl. Während all dem hatte Dian die Augen geschlossen. Er reckte die Nase gen Himmel und atmete sinnlich durch, als badete er just seine Sinne in heißem Wasser.


    Mit zunehmend zurückgelegter Distanz nahm das Landschaftsbild neue Formen an. Das Raikou-Schulhaus rückte in immer weitere Ferne und hatte nun mehr mit einem kleinen, schwach auszumachenden Punkt als mit einem Gebäude gemein. Dagegen schienen die Bäume am Waldesrand immer weiter an Höhe zu gewinnen. Die Wärme ging zurück, es wurde kälter. Holpriger, lehmiger Untergrund löste zusehends das üppige Grün ab, bis der Trampelpfad fast vollständig von einem schmutzigen Braun verschlungen wurde. Hier und da schob sich unebenes Geröll wie Pocken aus dem Untergrund, das mit Stolpermöglichkeiten nicht nur den Barfüßlern zu schaffen machte. Zwei Wackersteine, die wie nach einer Partie Riesenmurmeln dort versehentlich zurückgelassen worden waren, säumten den Wegesrand. Hoffnungsvoll schauten einige Schüler dem einladenden Granit nach, auf dem eine halbe Schulklasse bequem dort hätte Platz finden können.
    Professor Armadis zog stattdessen Nutzen von der neuen Landschaft. Noch im Weitergehen lud er seine Schüler auf einen Exkurs in den Bereich der Herbst- und Winterkräuter ein. Problemlos erkannte und ließ man die Brennnessel links liegen. Sonja ordnete die zapfenartige Krone und die gelben Blüten dem Spitzwegerich richtig zu, Elli landete mit Sellerie einen Glückstreffer und Ray erinnerte sich an die abführende Wirkung von Schaumkraut. Beiläufig fiel Ray auf, dass man fast immer richtig lag, wenn man vorschlug, aus der Pflanze einen Tee zuzubereiten oder vor dem bitteren Geschmack warnte.
    „Dafür reich an Vitamin C. - Wir sind da.“
    Es war eine überflüssige Bemerkung des Professors, aber eine folgenschwere. Die Peripherie des Echwalds lag vor ihnen. Professor Armadis und seine Begleitung trafen als Zweites am Waldesrand ein. Schneller waren nur Staralili und ihre beiden gefiederten Konkurrenten, die sich jeweils einen eigenen Ast desselben Baums teilten und mit wachsamen Blicken die Nachzügler musterten. Bei genauerem Hinschauen registrierte man allerdings, dass selbst Eagles sonst so hitzige Partnerin sich weniger als sonst aufplusterte; ja, sogar ihr Schnabel wirkte angesichts des unheimlichen Forsts etwas blässer. Als Eagle endlich eintraf, kehrte sie sofort zu ihm zurück. So kurz wie liebevoll nahm sie dessen Zeigefinger in den Schnabel und thronte auf der menschlichen Schulter, von wo aus sie - wieder mit frischem Mut und wachsendem Ego - den Wald finster taxierte.
    Es war noch kälter geworden, kälter und dunkler. Man wollte fast glauben, die gewaltigen Nadelbäume entzogen der Umgebung alles Licht und jegliche Wärme. Ray schüttelte es. Er spürte eine neue Saat Gänsehaut langsam an seinen Beinen aufkeimen. Jake und Lisa nutzte die kurze Verschnaufpause und legten ihr Schuhwerk wieder an. Die Wanderschuhe des Professors dagegen baumelten nach wie vor gut an dem Rucksack befestigt. Ray entschied sich für das Mittelmaß: Er streifte wieder seinen Pullover über, ließ die Füße aber unbekleidet.
    Immer mehr Nachzügler trudelten ein, einige von ihnen schwer atmend und mit Schweiß auf der Stirn und nach einer Pause lechzend.
    „Alle da? Jetzt nur keine Müdigkeit vortäuschen! Eine halbe Stunde noch, dann sind wir da.“
    Manch einer ächzte, aber es half nichts. Mit Professor Armadis als Kopf setzte sich die Schlange wieder in Bewegung - hinein in den Echwald.

  • Part 7: Geschichtsstunde


    Zwischen turmhohen Kiefern und wild wuchernden Farngewächsen zog der Pfad eine tiefe Schneise in den Wald. Die zurückliegenden Regentage hatten Nadeln und Zweige abgeerntet und achtlos auf dem Weg zurückgelassen. Mehr als zuvor gab der Boden unförmigen Felsbrocken Geburt, die in ewiger Agonie aus dem braunen Lehm quollen. Sie waren rettende Inseln vor meterlangen, schlammigen Pfützen, von denen sogar mittlerweile Ray Reißaus nahm. Erste Bedenken wurden laut, in welchem Zustand sich wohl der Campingplatz befinde und ob man nicht lieber ein Hausboot mieten solle. Professor Armadis’ Enthusiasmus stieß dabei nur auf mäßige Beteiligung. Auch das Fernbleiben exotischer Wald-Pokémon nagte an der Stimmung. Es war verdächtig ruhig.
    Nach fünf Minuten Slalomlauf verengte sich der Abstand zwischen den Bäumen zunehmend. Immer weniger des goldenen Herbstsonnenlichts schaffte es durch das Unterholz. Die Schatten der Bäume wurden kürzer, die Außenwelt kaum noch begreifbar. Nach fünf weiteren ereignislosen Minuten erreichte man eine Weggabelung, in der man die aktuelle Richtung beibehielt und dem leisen Geräusch fließenden Wassers folgte.
    Was als leises Plätschern begann, wuchs zu einem ausgewachsenen Fluss heran. Die langen Regenfälle hatten das knapp zehn Meter breite Flussbett hoch anwachsen lassen. Das im Normalfall durch die angrenzenden Farngewächse, Wasserpflanzen und Bäume leicht grünlich leuchtende Wasser schäumte nun milchig weiß, während es sich in wilder Leidenschaft der vorgeschriebenen Flusslaufrichtung südwärts bewegte. Die Wanderer wiederum zog es in die entgegengesetzte Richtung, über sporadisch aus dem Boden quellende Grasbüschel und an krumm an der Uferböschung wachsenden Pappeln und Weiden vorbei.


    „Endlich …“
    Wie aus einer Kehle löste sich Erschöpfung in einer Vielzahl erleichternder Atemzüge auf. Aus der Distanz war am anderen Ufer eine Hütte auszumachen. Unspektakulär, eine einfache Blockhütte eben, vielleicht etwas groß geraten, doch zweifelsfrei die symbolische Ziellinie der Reise. Instinktiv beschleunigte man die Schritte. Doch Vorfreude verwandelte sich rasend schnell in Skepsis, die sich wie Zementblöcke um die gematerten Füße legte. Es gab eine Brücke, nur führte der unverwüstliche, mattblaue Stahl nicht über das Gewässer, sondern wurde von mächtigen, zylinderförmigen Bolzen nach oben gestemmt. Eine Hebebrücke, mitten im Wald. Ray dachte laut, es sei „strange“, und stand mit dieser Meinung nicht allein da.
    „Ist es das? Wer möchte es erklären?“ Professor Armadis klatschte einmal in die Hände und rieb sie in Begeisterung. „Alles klar, ein Highfive für den Ersten, der es kann.“
    Mangelnde Beteiligung erbarmte ihn dazu, noch die „einzige Rolle Toilettenpapier im Umkreis von fünf Kilometern“ draufzulegen, was neben etlichen lautstarken Protesten auch zu einem Schnellfeuer bizarre Ideen anregte.
    „Der Fluss ist untypisch. Ich meine, er ist so schmal. Im Sommer gibt es bestimmt auch Niedrigwasser. Für die Schifffahrt ungeeignet.“
    Professor Armadis quittierte Sonjas Überlegung, indem er anerkennend auf sie deutete.
    „Gut! Was noch?“
    Sonja überlegte. Sie biss sich auf die Unterlippe, schüttelte dann den Kopf.
    „In welche Richtung fließt der Fluss?“, half Professor Armadis nach.
    Ray grinste. Mit seinem Daumen machte er die geläufige Pendlergeste.
    „Da lang.“
    Mit Überraschung stellte er fest, dass sein Lehrer ihm etwas Lob für kreatives Denken zollte.
    „Zum … Meer? Der Fluss mündet ins Meer?“, sagte Serina, mehr in Form einer Frage als in einer Aussage.
    „Bingo.“
    „Man fährt immer flussabwärts“, schlussfolgerte Sonja.
    „Es fahren aber keine Schiffe.“
    Man schaute zum Einzigen, der die Lösung wusste, aber der lächelte nur geheimnisvoll.
    „Man könnte ja auch mit etwas anderes runterfahren. Einem großen Pokémon vielleicht?“
    „Ein Kanu? Oder ein Floß?“, schlug Diana vor.
    „Knallrotes Gummiboot. Und mit diesem Gummiboot …“, trällerte Ray.
    „Mir gefällt die Idee mit dem Floß besser“, sagte Professor Armadis.
    Sonja klatschte sich auf die Stirn.
    „Oh! Ohhhh!“
    „Jetzt mach schon! Meine Füße bringen mich um!“, maulte Linsey.
    Währenddessen hatte Sonja auf das andere Ufer gespäht und lächelte nun siegessicher.
    „Der Wald wurde flussaufwärts gerodet. Statt die Bäume abzutransportieren, hat man die Stämme in den Fluss geworfen.“
    „Gut! Sehr gut!“, lobte Professor Armadis. „Aber sogar noch mehr: Man ist auf ihnen den Fluss runtergefahren. Von Beruf Wildwasserfahrer. Das sticht in jedem Lebenslauf hervor.“
    Mittlerweile war man an der Brücke angekommen. Unweigerlich registrierte man nun, wie breit und massiv sie eigentlich war; mit aller Wahrscheinlichkeit für schwere Landmaschinen. Gleichzeitig wirkte sie aber auch ungepflegt und in die Jahre gekommen. Wurde sie nur noch selten genutzt und noch seltener gewartet?
    „Also, ja: Der Echwald wurde abgeholzt, bevor die Schule überhaupt gebaut worden war. Damals hatte man noch kein so schweres Gerät wie heute. Und so sehr ich auch die kommerzielle Zerstörung von Leben missbillige, muss ich die Knochenarbeit anerkennen, die damals geleistet wurde. - Anbei dürft ihr euch ruhig einen stereotypischen Mann vorstellen: mit Holzspänen im langen Bart, Armen so dick wie Oberschenkel und Kreuzproblemen wie ein 100-Jähriger. Ernsthaft: Wenn diese Männer das Glück hatten, 40 Jahre alt zu werden, dann hatten sie deutlich mehr Tage hinter sich als vor sich. Zu dieser Zeit stand bereits die nächste Generation an seiner Stelle. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Niemals wurde mehr Wahrheit gesprochen.“ Professor Armadis seufzte. „Mit den Jahren änderte sich das Berufsbild. Schwerere Maschinen, schnelleres Abholzen, die Rücken machen es heute ein paar Jahre länger. Aber eine Tradition hielten die Holzfäller vom Eschwald am Leben: Wie schon damals nutzten sie den Fluss als Wasserstraße zum Abtransport der gefällten Bäume. Die Brücke hier wurde rauf und runtergelassen - damals noch mit Manneskraft wohlgemerkt -, entweder damit Leute über den Fluss kamen oder ihn runterfahren konnten.“
    „Es sieht aber nicht so aus, als ob hier noch Rodungen stattfinden“, stellte Sonja fest. Sie zeigte auf das andere Ufer, wo sich die Natur ungehindert das zurückholte, was ihr einst genommen worden war. Der Wald erholte sich.
    Ein selten bei Professor Armadis zu sehendes zynisches Lächeln kräuselte dessen Lippen. „Nur ein paar Jahre, nachdem sie dieses Ungeheuer“ - Professor Armadis gab dem Metall einen Klaps, das mit einem dumpfen „Klong“ antwortete - „gebaut haben, gab es einen Richtungswechsel in der Regierung. Zugeständnisse beim Umweltschutz. Eine Koalition mit den Grünen. Die Technokraten schmorten in der Oppositionshölle. Fünf Wälder zu Naturschutzgebieten erklärt. Der Rest ist Geschichte.“
    „Sozialkunde“, widersprach Ray und erntete für diese Bemerkung ein Highfive seines Lehrers.
    „Dann könnte man doch die Brücke heute immer unten lassen“, rätselte Jake.
    „Könnte man. Wegen Hochwassergefahr lässt man sie aber bei schweren Regenfällen oben.“
    „Staudamm“, murmelte Sonja.
    Der Professor nickte.


    Auf Knopfdruck erwachte die schlummernde Konstruktion zum Leben. Mit metallischem Ächzen arbeiteten sich die zylinderförmigen Bolzen langsam von einer schrägen zu einer horizontalen Position und schoben den Brückenboden zu einer geraden, darunterliegenden Linie, bis es schließlich mit lautem „Klong“ zum Stillstand kam. Gleichwohl er die kleine Geschichtslektion genossen hatte, zeigte sich Ray erleichtert endlich die letzten Meter der Reise anzutreten. Allmählich fühlte er sich, als trugen seine schmerzenden Füße das Dreifache des normalen Gewichts.
    Der mit Linienpaaren perforierte Metallboden war wie eine endlose Glasscheibe aus Eis, das mit jedem Schritt in tausend messerscharfe Scherben zersprang. Erleichtert ertastete er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder den lindernden Balsam eines lehmigen Untergrunds unter den Zehen. So angenehm die Anfänge seiner ersten Barfußwanderung auch gewesen waren: Für das Erste hatte er genug. Wie seine restlichen Klassenkameraden auch lechzte er nach einer Sitzgelegenheit - und nach einer Limo.
    Professor Armadis drückte den Knopf. Wie zuvor setzte sich das Getriebe in Bewegung. Doch auf dem Weg nach oben geriet die Elektronik plötzlich ins Stocken, die Bewegung der Bolzen wurde langsamer. Mit krausgezogener Stirn drückte Professor noch einmal den Knopf an der Konsole, dann noch einmal und noch einmal. Wie in einem mechanischen Schluckauf legte die Brücke noch einige Zentimeter zurück, bis sie in einem 45-Grad-Winkel vollständig zum Stillstand kam. Nur ein zum Leben erwachter, todesmutiger Evel Knievel mit viel Rückenwind und genügend Schwung hätte den Sprung zur anderen Seite zurücklegen können. Aus der Perspektive der Camper hingegen gab es keine Möglichkeit mehr, den Fluss zu überqueren.
    Professor Armadis atmete aus, die Hände in die Hüften gestemmt und mit ratloser Miene.
    „Wahrscheinlich ist die Batterie erschöpft.“
    „Das heißt, wir stecken hier fest.“
    Linsey äußerte keine Frage, keine Feststellung. Sie klagte an. Nach langer Zeit leise flackernden Unmuts fand sie endlich eine Basis, das Feuer neu zu schüren. Wirklich überspringen wollte der Funke aber nicht. Man reagierte mehr besorgt als verärgert darüber, dass die Lehrkraft die Kontrolle verloren haben könnte, was Linsey nur noch mehr auf die Palme brachte.
    „Zwei Kilometer flussaufwärts gibt es eine weitere Brücke“, sagte Professor Armadis ruhig.
    „Na, toll! Dürfen wir morgen zwei Kilometer weiter laufen!“
    „Vier“, korrigierte Sonja Linsey. „Zwei Kilometer flussaufwärts und zwei wieder runter.“
    „Super! Danke! Jetzt geht’s mir gleich viel besser!“
    „Bonbon? Für die Nerven“, bot Ray an und raschelte begeistert mit einer Bonbontüte.
    „Halt die Klappe!“
    „Dann lieber eine Luftpizza? Locker und flockig.“
    „Ich geb’ dir gleich …!“
    „Ich hätte gern ein Bonbon.“
    „Ich auch!“
    „Ich nehm’ drei!“
    „Wow! Noch nie so viele Freundschaftsanfragen. Ich muss Linsey wohl öfters ärgern.“
    „Ich töte dich!“
    „So, Ruhe jetzt!“ Lauter als unbedingt erforderlich schloss Professor Armadis den Batterie-Schließkasten. Ein strenger Blick lag auf seinem Gesicht, als er in die Runde schaute. „Linsey, Sie mäßigen sich jetzt bitte, und Ray, Sie verteilen bitte Ihre Bonbons. Anschließend halten wir uns an den Plan: Wir legen noch die letzten Meter zurück, schlagen unser Lager auf, machen uns einen schönen Abend, übernachten hier und gehen morgen zurück.“


    Etwa zweihundert Meter von der Brücke entfernt stand die Blockhütte. Mit schwindender Distanz wurde deutlich, dass der gewaltige Eindruck, den man aus der Ferne gehabt hatte, nicht gerecht gewesen war. Denn dadurch, dass das eigentliche Haus in gut zwei Meter Höhe auf einer oberschenkeldicken Holzplatte ruhte, büßte es gewaltig Wohnraum ein. Sechs stahlummantelten Stützpfeilern, drei links und drei rechts, verliehen die notwendige Stabilität. Am Fuße der Konstruktion gab es eine Treppe, ebenfalls aus Stahl, die - sechs Stufen in die eine und vier Stufen in die andere Richtung - zum oberen Ende der Plattform führte. Meterlange Holzstämme mit einem Durchmesser wie Essteller vertäfelten die Hütte, dazu ein weit hervorstehendes Vordach mit rostbraunen Ziegeln. An der Stirnseite gab es ein kleines Fenster mit urigen Brettverschlägen als Fensterladen. Linker Hand, vorbei an deutlich größeren und moderneren Fenstern, gab es eine kleine Terrasse mit dazugehöriger Abschlusstür. An dem Konstrukt grenzte schließlich das Campinggelände an; zu dieser Jahreszeit ein schlammiger Pfuhl, so löchrig, dass ein falscher Schritt genügte, um bis zu den Knöcheln im Morast zu versinken. Normalerweise. Denn nichts dergleichen war vorzufinden.
    Ungewöhnlich nachdenklich betrachtete Ray die Umgebung, bohrte einen Zeh etwas in die noch warme, lockere Erde. Es fühlte sich unwirklich an, nicht real. Ein Hauch von verbrannter Erde haftete unheilschwer auf dem Gelände, das etwa die Ausmaße eines halben Fußballplatzes besaß. Hier und da wiesen vage Kratzspuren darauf hin, dass der knochentrockene Boden frisch umgegraben und im Anschluss großflächig begradigt worden war. Ray entging nicht, dass Sheinux und einige weitere Vierbeiner ihre Nasen argwöhnisch nahe am Boden trugen, als versuchten sie, sich die vergangenen Stunden dieses Ortes begreifbar zu machen. Hatte irgendwer oder irgendwas nachgeholfen? Maschinen? Oder Pokémon? Wenn, dann mussten es viele an der Zahl gewesen sein; entweder das, oder aber besonders mächtige Exemplare gewesen sein. Nur wenige teilten Rays Interesse. Tatsächlich nahmen es die Meisten gleichgültig hin und rastete bereits dort, wo man ursprünglich eine Sumpflandschaft erwartet hatte. Besonders großen Andrang fand die Feuerstelle, um die vier Baumstammhälften quadratisch positioniert lagen. Linsey gehörte zu den Ersten, die sich dort zu einer Rast einfand. Auch Eagle besetzte einen Platz, jedoch auf dem von Linsey gegenüberliegenden Stamm, wo er seine über Kreuz geschlagene Arme auf den Oberschenkeln abgelegt hatte und lustlos zu Boden blickte.


    Einige Minuten verstrichen. Es lag die beunruhigende Erwartung in der Luft, dass Professor Armadis diesen Punkt der Ruhe und Eintracht jeden Moment mit einer neuen Welle seines unerschütterlichen Enthusiasmus wegspülen würde. Der kleine Kreis derjenigen, die Interesse für das Verhalten ihres Lehrers zeigten, wuchs rasant an. Nicht aber lag der Grund in Professor Armadis selbst, sondern war durch eine junge Frau veranlasst, mit der er sich in unmittelbarer Nähe zu der Blockhütte unterhielt. Sie war keine Fremde, ganz gewiss nicht, doch ihre Anwesenheit surreal und widersprüchlich. Rays Kopf war noch heiß von dem Mysterium um das Campinggelände, doch jetzt qualmte er förmlich. Er suchte Sonjas Blick, wo er jedoch nur auf dieselbe Fassungslosigkeit und dieselbe Frage stieß. Was zur Hölle machte die Schulleiterin hier?

  • Big Time Uff

    Hat das Thema aus dem Forum Fanfiction nach Archiv verschoben.
  • Part 8: Zeltlager


    Beide Erwachsenen unterhielten sich nur kurz. Professor Liva verschwand im Anschluss in einem abgetrennten Raum in der Hütte - kommentarlos. Der Großteil der Schüler sowie der Lehrer für Überleben in der Wildnis räumte derweil braune Zelttaschen hinaus ins Freie. Große Auswahl gab es nicht, lediglich Einser- und Zweierzelte. Während so manch ein Schüler mit der Entscheidung haderte, welchem Freund er zugunsten eines anderen eine Abfuhr erteilte, beschlagnahmten andere wie Eagle oder Linsey kompromisslos ihre Einzelzelle. Sonja gehörte zwar keinesfalls zu denen, die besonders viele Anfragen erhielt, trotzdem zögerte sie, als ihr barfüßiger Freund ein Zweierzelt hochhielt und vielsagend in ihre Richtung lächelte („Nur du, ich und die beiden Kleinen, na?“). Zu ihrem großen Missvergnügen befanden sich ausgerechnet Nea und Serina gerade in der Nähe und fingen auch sofort zu kichern an. Viele nicht zum Ende gebrachte Ausreden später und nach einem bösen Blick in Richtung ihrer beiden Freundinnen willigte Sonja schließlich unter glühender Stirn ein. Mit einem raschen Seitenblick signalisierte sie sowohl ihre Aufbruchbereitschaft als auch ihren Wunsch, so weit wie möglich Abstand von den beiden Kicherhennen zu gewinnen. Doch bereits nach wenigen Metern wurde Ray langsamer.

    „Geh’ schon mal vor, uns ein nettes Plätzchen suchen. Ich komme gleich nach. - Sheinux, bleib bitte bei Sonja, ja?“, sagte Ray und drückte Sonja die Tasche in die Hand. Diese schaute anfangs etwas verdutzt, begriff dann aber deutlich besser als Sheinux oder Evoli.

    Rays Weg führte weiter nach rechts, an die Peripherie des Camps, wo so manch ein Zelt bereits begreifbare Formen annahm - oder in einem Fall auch nicht.

    „Brauchst du Hilfe?“

    Ein Hammer wurde achtlos fallen gelassen. Die darunter liegenden Heringe läuteten ganz kurz hell auf. In wilder Wut packte eine Hand dann wieder das Werkzeug.

    „Wer bist du und was kann ich gegen dich tun?“

    Als er Ray anknurrte, blickte Eagle nicht auf. Vor ihm lag das Zelt ausgebreitet, oder vielmehr ein zerknüllter, fast nicht zu identifizierter Haufen. Allem Anschein nach war es wiederholt neu in Position gebracht worden und hatte dabei jedes Mal mehr und mehr unter den Wutausbrüchen seines Besitzers gelitten.

    „Was ich für dich tun kann, ist hier wohl eher die Frage“, antwortete Ray gelassen.

    Eagles Atemzüge waren ein Blasebalg, der Wellen in den Stoff des Zeltes brauste.

    „Kein Bedarf.“

    Ray verschränkte den Kopf und kreuzte die Arme. „So? Sieht mir aber nicht so aus.“

    „Dann mach’ die Augen auf!“

    „Ich seh’s.“

    Wieder schnaubte der Zeltbauer, diesmal aber schaute er Ray an.

    „Du nervst, weißt du das?! Und zieh’ dir endlich mal ein paar Schuhe an! Ist ja peinlich.“

    „Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“

    Eagle antwortete nicht und widmete sich wieder dem Durcheinander vor ihm.

    Ray seufzte. „Wenn ich Schuhe anziehe, kann ich dir dann helfen?“

    „Tu, was du nicht lassen kannst …“


    Gesagt, getan. Zu zweit ging der Zeltbau schnell vonstatten. Auch Eagles Laune besserte sich – zumindest für seine Verhältnisse. Bei Fertigstellung ließ sich Ray das halbherzige „Danke“ problemlos gefallen und interpretierte es gleichzeitig damit, dass er nun die längste Zeit geduldet gewesen war.

    Um ihn herum gedieh der Zeltwald derweil prächtig. Mit seinen Startschwierigkeiten schien Eagle die große Ausnahme gewesen zu sein. Auch Linseys Unterschlupf stand mittlerweile - und das ohne fremde Hilfe. In fürsorglicher Manier versorgte sie mittlerweile ihre Partnerin Marill mit einer Flasche Mineralwasser, als sie Ray bemerkte. Mund und Augen verloren schlagartig das Liebevolle und nahmen stattdessen einen bedrohlichen, dünnen Strich an, wie man ihn insbesondere von Professor Cenra her kannte.

    „Was glotzt du so blöd, du Freak? Nix Besseres zu tun, oder was?“

    Ray zuckte die Schultern. „Nur so.“

    Auf einen weiteren Kommentar verzichtete er und drehte der zänkischen Linsey den Rücken zu. In heimliche Gedanken aber fand er, dass sie und Eagle - so spinnefeind sie sich auch waren - eigentlich doch gut zusammenpassen müssten. Die Vorstellung, wie beide die Nacht in einem Zelt verbrachten, verscheuchte er aber gleich wieder.

    Während Ray zwischen den Zelten spazieren ging, hatte er endlich Zeit, über das ungewöhnliche Verhalten seiner Direktorin zu grübeln. Allerdings kreisten seine Gedanken immer wieder zum Ausgangspunkt zurück, nämlich, wie sehr er so etwas Profanes, wie Schuhe zu tragen, plötzlich bewertete. Ihm entfuhr ein sehnsüchtiger Seufzer. Er vermisste es. Er vermisste, wie das nasse Gras unter seinen Füßen schmatzte. Er vermisste, wie seine Zehen den kühlen, lehmigen Waldboden kneteten. Jetzt fühlten sich seine Füße heiß an. Sie kribbelten unangenehm, als rebellierten sie gegen die Ketten aus Kunststoff und Polyester, in der sie so unbarmherzig gezwängt worden waren.

    „Was soll das nachdenkliche Gesicht? – Hast ja endlich wieder Schuhe an.“ Sonja gehörte zu den wenigen, deren Zeltbau nur langsam vorankam. Dementsprechend groß war ihre Erleichterung bei Rays Rückkehr und dessen Hilfe.

    „Über dies und das. Professor Liva, Schuhe, Eagle, Linsey, et cetera“, zählte Ray auf.

    Sonja zog die Stirn kraus. „Eagle und Linsey? Ein explosives Gemisch. Die werden doch nicht …?“ Sonja legte eine peinliche Pause ein, während sie ihre Stimme senkte, „Du weißt schon …?“

    „Nicht in diesem Leben“, verneinte Ray. „Ist schon ein Wunder, dass die sich ein gemeinsames Dach teilen, geschweige denn, ein gemeinsames Zelt.“ Auf Sonjas Frage, was denn dann wäre, fuhr er schulterzuckend fort: „Eagle ist halt Eagle. Würde wohl eher im Freien schlafen, bevor er freiwillig Hilfe annimmt. Und Linsey bitcht schlimmer rum denn je.“

    „Linsey war von Anfang an kein großer Freund von dem Ausflug. Dass sie dieses Mal ihren Dickkopf nicht durchsetzen konnte, schlägt ihr wohl auf den Magen.“, erklärte Sonja. „Aber das Schlimmste an der Sache ist, dass sie noch nicht einmal merkt, wie Marill unter ihren Wutausbrüchen leidet.“

    „Marill sah vorhin tatsächlich etwas kränklich aus“, sinnierte Ray laut. Nachdem er die mittlere Stützstange durch das Nylon gequetscht hatte, warf er einen Blick über die Schulter und erhaschte Sheinux gerade dabei, wie er Evoli einen Regenwurm offerierte. Mit merklich angewidertem Gesichtsausdruck kehrte die Vierbeinerin dem Angebot den Rücken zu. Glucksend wandte sich Ray wieder seinem Werk zu. Mittlerweile durfte man mit Fug und Recht von einem Zelt sprechen. „Können Pokémon eigentlich krank werden?“, erkundigte sich Ray.

    „Mit so einer Zicke als Partnerin würde ich auch krank werden“, schnaubte Sonja.

    „Ich finde sie eigentlich ganz niedlich.“

    „Im Vergleich zu Linsey ist sogar eine Kettensäge niedlich.“

    „Ich meinte eigentlich Marill.“

    „Sei froh, dass du nicht im selben Zimmer mit ihr schlafen musst.“

    „Mit Marill?“

    „Och, Ray …!“

    „Ich mache doch Spaß.“

    Beide Zeltbauer erhoben sich schließlich und betrachteten ihr Nachtlager. Das moosfarbene Nylon war an mindestens einer Stelle notdürftig geflickt worden und an einer Seite hing eine Zeltschnur schlaffer an den Heringen als bei den anderen. Aber solange kein Wirbelsturm über die Insel fegte oder Eagle und Linsey aneinandergerieten und damit den Tag des jüngsten Gerichts auslösten, würde es halten.

    Merklich erschöpft wischte sich Sonja über die Stirn. „Aber um zurück aufs Thema zu kommen: Warum sollten sich Pokémon nicht auch etwas einfangen können?“, hakte sie nach.

    „Einfangen? Was einfangen? Einen Virus? Pokérus?“, grinste Ray.

    Ha, ha, ha“, lachte Sonja trocken. „Es ist doch nur logisch, dass Pokémon sich erkälten können. Du hast doch vorhin Armadis gehört: Pokémon sind auch nur aus Fleisch und Blut. Sie müssen essen, schlafen und wohl oder übel auch irgendwann ihre Notdurft verrichten.“

    „Warum redet ihr über Pokémon-Scheiße?“

    Ein Hauch von Rosarot rannte Sonja über das Gesicht, als sie Eagle nachsah, der gerade an ihrem Zelt vorbeigeschlendert war. „Das … Ich wollte damit sagen …“

    Ray antwortete mit einem stummen „Lass ihn einfach“-Augenrollen.


    Mit dem letzten vollendeten Zeltbau wurde es geruhsamer in dem Raikou-Camp. Mit der Geruhsamkeit aber kehrte auch recht schnell die Langeweile ein. Mangels medizinischer Versorgung waren Pokémon-Kämpfe tabu. Die Anwesenheit der Direktorin blieb auch weiterhin ein wohlgehütetes Geheimnis. Professor Armadis – mittlerweile auch mit festem Schuhwerk ausgerüstet - hielt sich zu seiner Vorgesetzen bedeckt und reagierte auf das Stochern seiner Schüler zunehmend genervt. „Direktoren-Kram. Und Brennnessel-Salat mit Disteln für euch, wenn ihr noch einmal fragt“, schmetterte er das Thema schließlich und endlich ab, während er das obligatorische Lagerfeuer in der Mitte des Lagers entzündete. Um die Feuerstelle herum hatten die Camper mit abgesägten Baumstammhälften und Findlingen einige provisorische Sitzgelegenheiten geschaffen. Ray vermutete, dass die Nähe dieser Fundstücke zum Lager kein Zufall war und dass darauf schon so manch ein Hintern geparkt hatte. In dem subtilen Schmunzeln seines Hauslehrers, als er dies beiläufig erwähnte, fühlte er sich bestätigt.

    Gegen späten Nachmittag verlagerte sich das Gesamtgeschehen immer mehr um die wärmende Feuerstelle herum. In der Celebi-High gab es einige Treffpunkte. Die Mensa, Aufenthaltsräume, das eigene Schulhaus oder der Schülertreff zählten zu den beliebtesten. Allerdings war ein Beisammensein meist mit einer entsprechenden Geräuschkulisse verbunden, unter deren Deckmantel man auch so manch eine intime Unterhaltung führen konnte. Hier, in den Eingeweiden des Echwaldes, gab es das nicht. Es gab kein schrilles Gelächter über ein Missgeschick auf der Mädchentoilette. Kein kratzender Bleistift, der noch schnell ein paar unerledigte Hausaufgaben kopierte. Keine Geheimnisse, die ausgetauscht, oder Pläne, die geschmiedet wurden. Nichts von alledem. Allenfalls Gemurmel oder das flüchtige Geräusch, wenn Elli in ihrem Roman blätterte. Dann noch das sanfte Rascheln des Windes, wenn dieser sich seinen Weg durch Douglasien- und Kiefernnadeln bahnte, das entfernte Flussplätschern und das Knistern und das Knacken des Lagerfeuers.

    „Was gibt’s eigentlich zum Essen?“ Millers Frage war ein Steinwurf, der das Kartenhaus der Stille brachial zum Einsturz brachte.

    Mit ihrem Vorschlag, eine Gemüsesuppe zu kochen, erntete Serina reichlich Missbilligung.

    „Zutaten sind bestimmt in der Hütte, und ein Kessel ist da. Wir bräuchten nur etwas Wasser heiß zu machen und“, maulte Serina.

    „Frier’s halt ein. Heißes Wasser kann man immer gebrauchen“, scherzte Ray.

    Die meisten Blicke ruhten auf dem Lehrer für Überleben in der Wildnis, der schweigsam in dem Feuer herumstocherte.

    „Also?“, hakte Miller nach.

    „Wenn du weiter nervst, gibt’s am Ende noch tatsächlich Brennnessel-Salat“, hauchte ihm Jake unheilvoll ins Ohr.

    Professor Armadis lehnte sich entspannt zurück. „Was gibt es daran auszusetzen?“

    „Brechreiz hoch drei?“, antwortete Eagle.

    „Jetzt mal ohne Flax“, bohrte Miller.

    „Wenn euch der Sinn eher nach etwas Ausgefallenerem steht: Ich habe vor Jahren eine Raupy-Dame getroffen – Susi hieß die. Was für eine Spitzenköchin, sage ich euch! Sumpfdotterpüree mit Eierklecks, Radieschenwurzelknödel mit gehacktem Stachelbeersalat, Grünkohlhefekuchen mit Kastaniensoße“, zählte Professor Armadis auf. Während er bei jedem weiteren Gericht seiner Faust einen Finger hinzufügte, mimten einige seiner Schüler bereits ein theatralisches Übergeben in eine fiktive Mülltonne. „Pfirsichquark-Omlette in gedünstetem Tannennadelsalat, Brennesselsuppe mit Tomatenklöschen … Aber euch sind wahrscheinlich Würstchen und Kartoffelsalat lieber. – Eure Pokémon lasse ich auch nicht verhungern, keine Sorge.“


    Die Stimmung unter den Campern stieg schlagartig. Freiwillige Helfer, um das Abendessen vorzubereiten, fanden sich schnell. Wie Serina richtig bemerkt hatte, gab die Küche in der Hütte alles Notwendige her, um keinen qualvollen Hungertod zu erleiden. Die Kartoffeln waren wie von Zauberhand bereits gekocht worden, mussten nur noch gepellt und geschnitten werden. Im Kühlschrank gab es Mayonnaise, Eier, Gurken und auch an Gewürzen mangelte es nicht. Während Professor Armadis den Grillrost richtete, stimmte Ray die zweite Strophe von „Von den blauen Bergen kommen wir“ an. Eagle und Ricarda Townley verdrückten sich klammheimlich von der Truppe, um unerlaubt einen Pokémon-Kampf auszuführen, den Eagle haushoch gewann. Linsey und ihre Partnerin Marill blieben selbst dann noch dem Geschehen fern, als gegen 19 Uhr die meisten Pappteller geleert und Bäuche gefüllt waren.

    „Ich werde nach unserer Nachtwanderung nach ihr sehen“, sagte Professor Armadis, nachdem das Thema um Linseys Fernbleiben kurz angesprochen worden war.

    Einige der Camper lachten spöttisch. Den meisten von ihnen aber klappte vor Entsetzen der Kiefer nach unten. Das abendliche Zwielicht setzte dem Lehrer für Überleben in der Wildnis eine undurchdringbare Maske auf. Ob er das gerade ernst gemeint hatte? Eine weitere Wanderung? Jetzt noch? Nach den Anstrengungen, um überhaupt hierher zu kommen?

    „Können wir darüber abstimmen?“, schlug Sonja vor, während ihr ein verzweifeltes Lächeln über das Gesicht rannte. Professor Armadis aber blieb eisern – mit einer Ausnahme.

    „Wer mitkommen will, kommt mit. Der Rest bleibt hier, macht die Küche sauber und verhält sich angemessen. Und keine Pokémon-Kämpfe mehr. Malcolm! Ricarda! Ja, ich weiß Bescheid“, warnte er mit deutlich strengerer Stimme, wobei sein Blick zwischen den beiden Ausreißern hin und her pendelte.

    Professor Armadis’ Partner-Pokémon machte sich unglücklicherweise zum selben Moment mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck auf den Boden verdächtig.

    „Verräter“, knurrte Eagle in Dians Richtung.

    „Ich meine es ernst, ihr beiden. Der nächste Fehltritt wird Konsequenzen nach sich ziehen“, drohte Professor Armadis. „Ich werde Mr. Figo informieren, dass er ein besonderes Auge auf euch hält, wenn er auf euch aufpasst.“ Er schaute auf die Uhr. „Er müsste eigentlich jeden Moment hier eintrudeln …“

    „Aufpassen? Sind wir hier im Kindergarten oder was?“, meldete sich Eagle brüskiert zu Wort.

    „Ich hoffe doch nicht“, antwortete Professor Armadis, „aber ob Kindergarten oder nicht: Das ändert nichts an meiner, das heißt, unserer Aufsichtspflicht.“

    „Dian kann auf uns aufpassen“, schlug Alexa vor.

    Das Pflanzen-Pokémon reckte sein Kinn etwas in die Höhe – aus Verlegenheit, oder vielleicht, als ob er in das ihm gesetzte Vertrauen badete. Seine Geste war nur schwer zu deuten. Professor Armadis klopfte ihm grinsend auf die Schulter.

    „Werd’ jetzt bloß nicht rot.“ Dann wandte er sich wieder seinen Schülern zu. Ein verschlagenes Grinsen umspielte seine Lippen. „Aber wer passt dann auf mich auf?“

    Die Zweisamkeit von Licht und Schatten tauchte so manch ein Gesicht in Sorge.

    „Ist es im Wald gefährlich?“, fragte Jake. Entgegen der plötzlich deutlich angespannteren Stimmung blieb Jake hörbar gelassen. Er schien von dem Nervenkitzel sogar angetan.

    Der einzige Erwachsene lächelte verschwörerisch. „Nicht gefährlicher als hier.“

    „Ich hab’ Rays Krächzen gehört; also lebensgefährlich“, sagte Elli.

    „Irgendwie muss ich ja den Verkauf meiner ,Ich habe das Raikou-Panikcamp überlebt’-Shirts ankurbeln“, erklärte Ray.

    „Dian kommt mit mir mit, und ich reiche das Zepter an Mr. Figo weiter - das ist Tradition“, beendete Professor Armadis die Debatte. Ihm entfuhr ein tiefer Seufzer. „Genau so ist es Tradition, dass mehr Schüler im Camp zurückbleiben. Ich hoffe, irgendwann mit dieser Tradition brechen zu können.“ Im Anschluss klatschte er einmal in die Hände, erhob sich und strahlte munter in die Runde. „Also, wer ist dabei?“

  • Part 9: Geheimnisse im Wald


    Ray brauchte sein ganzes diplomatisches Talent, um Sonja zum Mitgehen zu bewegen. Bei Eagle biss er dagegen auf Granit. So setzte sich die Nachtwanderung auch dieses Jahr mit Ray und Sheinux, Sonja und Evoli, Jake und Samurzel sowie Lisa und Sandan in überschaubarer Runde zusammen. Mr. Figo verspätete sich derweil um eine gute halbe Stunde, was insbesondere der nicht begehbaren Brücke geschuldet war. Als der Hausmeister auf seiner landwirtschaftlichen Maschine das Lager erreichte, stand ein ungewöhnlich bleicher Mond bereits hoch oben an Johtos sternengetränkten Nachthimmel.

    Es war kalt geworden; so kalt, dass der Atem im Taschenlampenlicht gespenstische Schemen formte. Weitaus unheimlicher und zugleich faszinierender war aber Dian, dessen Ober- und Unterkörper sowie die Extremitäten in ein strahlendes Neongrün gehüllt war und in einer Reichweite von etwa einem Meter den Weg erhellte. Es handelte sich hierbei um keine Biolumineszenz, wie Professor Armadis auf Sonjas Frage antwortete, sondern die Fertigkeit Blitz.

    Ray näherte sich dem Pflanzen-Pokémon vorsichtig mit seiner Hand. Es ging keine zusätzliche Wärme von Dian aus. „Kann das jedes Pokémon lernen?“, fragte er.

    „Nein, nicht jedes“, antwortete der Hauslehrer. „Evoli und Sandan können es beispielsweise nicht lernen. Aber Sheinux und Samurzel schon. Blitz wird in Auseinandersetzungen primär eingesetzt, um den Widersacher zu blenden. Außerdem ist die Fertigkeit bei Wanderungen ein unverzichtbares Utensil – zum Beispiel in Höhlen oder eben wie hier in der Nacht.“

    Ray sah nachdenklich zu Sheinux herab. Zur Abwechslung reagierte der Vierbeiner nicht auf den Blick seines Partners, sondern taxierte stattdessen Dian interessiert.

    „Die Umgebung zu erhellen, ist schon was Praktisches“, fand Sonja, „aber kann Blitz wirklich jemanden blenden? Ich kann Dian problemlos anschauen.“

    Das Pflanzen-Pokémon neigte den Kopf in Sonjas Richtung. Wie schon am Lagerfeuer zuvor war sein Blick schwer zu deuten. Ray aber vermutete insgeheim, dass Dian insgeheim durch Sonjas Skepsis etwas gekränkt fühlte.

    „Dian läuft gerade auf Sparflamme – 30 oder 40 Prozent. Da geht noch mehr“, sagte Professor Armadis.

    „Volle Pulle! Volle Pulle!“, skandierte Ray. Professor Armadis aber winkte lächelnd ab.

    „Wir sind zu Besuch hier und wollen niemanden belästigen. – Also, wollen wir?“


    Nach fünfminütigem Fußmarsch hatte der Wald die Sicht auf das Camp und alle Geräusche daraus verschluckt. Mit Dian an der Spitze folgten die Camper der Traktorspur, die Mr. Figo auf dem Hinweg in dem aufgeweichten Waldboden hinterlassen hatte. Ray bemerkte, dass ihm nun, da er Schuhe trug, die Wanderung bei Weitem nicht mehr so großen Spaß bereitete, als der Hinweg. Eine Pfütze war nun zu einem Hindernis geworden, und bei einem unvorsichtigen Schritt sogar ein Ärgernis, welches ihm eiskaltes Brackwasser in die Turnschuhe trieb. Jeder versuchte, sich möglichst mittig auf dem Pfad zu halten, um eine besonders unangenehme Berührung mit dornigen Sträuchern oder wild wuchernden Brennnesseln zu vermeiden. Weil sie nur langsam vorankamen, musste man nun außerdem penibel darauf achten, nicht versehentlich seinem Vordermann in die Fersen oder – noch schlimmer – einem Pokémon auf den Schwanz zu treten.

    Nach weiteren zehn Minuten kamen sie an eine Weggabelung. Mr. Figos Reifenspur führte nach links, von wo auch das entfernte Rauschen von Wasser zu vernehmen war. Die Wanderer aber schlugen einen Pfad nach rechts ein. Die Nadelbäume standen mittlerweile so eng und wuchsen so hoch, dass kaum noch das fahle Mondlicht den Waldboden berührte. Dians neongrünes Licht, die Taschenlampen in fröstelnden Händen und Professor Armadis’ Ortskenntnis waren zu unersetzbaren Utensilien geworden.

    „Vielleicht sollte ich Professor Armadis fragen, ob er Sheinux Blitz beibringen kann. Was meinst du?“, flüsterte Ray Sonja zu.

    „Du willst irgendwann Pokémon-Trainer werden, richtig? Dann wäre das schon praktisch. In einer Situation wie dieser hier würde mir nur ungern der Saft in meiner Taschenlampe ausgehen.“ Sonjas Augen wanderten zu ihrer Taschenlampe hinunter. Sie funktionierte einwandfrei. Dennoch machten sich sorgenvolle Schatten auf ihren Gesichtszügen breit.

    „Gell? Finde ich auch. Sheinux, versuch’s mal. Blitz!“

    Sheinux schaute irritiert zu Ray hinauf. Dieser nickte ihm zuversichtlich zu, er solle es probieren. Sheinux schloss daraufhin die Augen. Sein Fell richtete sich auf, ein paar vereinzelte Funken lösten sich in den Haarspitzen. Seine Schwanzspitze flackerte schwach.

    Flatsch!

    Sheinux stolperte durch eine Pfütze, die selbst einem Menschen über den Fußknöchel reichte. Wieder schaute das Elektro-Pokémon nach oben – diesmal sogar ein wenig vorwurfsvoll.

    Peinlich berührt rieb sich Ray über den Nacken. „Sorry, ich bin ein Idiot. Ich mache das morgen wieder gut …“

    Im selben Moment prallte Ray beinahe mit Jake zusammen, der es seinem Lehrer gleichgetan hatte und stehen geblieben war. Professor Armadis gebot mit hochgehobener Hand zum Stillstand auf. Mit der anderen zeigte er auf einen Baum, von wo zwei starre, rote Augen die Wanderer fixiert hielten.

    „Keine Taschenlampen“, mahnte er seine Schüler.

    Ray spürte seinen Herzschlag schneller schlagen, und auch Sonja neben ihm klammerte sich regelrecht an ihrer Taschenlampe fest. Dians mattes Licht fiel auf ein Vogel-Pokémon, dessen hell- bis dunkelbraunes Gefieder fast vollkommen mit dem Gehölz verschwamm. Über seinen krallenbewehrten Füßen thronte ein schlanker Oberkörper. Der starre, durchdringende Blick vermittelte etwas Unheimliches, während die breiten, beigefarbenen Augenbrauen, die in einer V-Pose sogar über den Kopf hinaus ragten, gleichzeitig etwas Uraltes und Weises ausstrahlten. Seit der Blickkontakt hergestellt wurde, hatte der Vogel nicht eine einzige Feder gerührt oder gar geblinzelt. Die Reaktionen der Partner-Pokémon konnten unterschiedlicher nicht sein. Während Sheinux mit sträubendem Fell, gesenktem Vorderkörper und steilem Schwanz eine frontale Abwehrhaltung einnahm, schmiegte sich Evoli ängstlich dicht an Sonjas Beinen. Samurzel hatte die kurzen Beine eingezogen und sich in einer deutlich defensiveren Position als Sheinux verhärtet, hingegen Sandan die Pause nutzte, um gleichmütig im Boden nach Regenwürmern zu scharren.

    Professor Armadis trat zur Seite, um seinen Schülern einen besseren Blick auf den Vogel zu gewähren.

    „Wer kann mir den Namen dieses Nachtschwärmers nennen? Irgendwer?“

    Unter Rays bebender Brust setzte mehr und mehr Ruhe ein. Erinnerungen lösten die anfängliche Panik ab; lebhafte Erinnerungen an eine Wanderung durch den Steineichenwald in seinem zweiten Schuljahr. Er war acht Jahre gewesen. Eine kühle Brise an einem warmen Sommertag. Licht, das wie Wasser durch einen löchrigen Sieb seinen Weg durch die gewaltigen Baumkronen bahnte. Ein ähnlicher Vogel formte sich vor seinem inneren Auge. Dieser aber war größer und hatte beide Augen geschlossen. Er schlief. Noch am selben Abend hatte Ray das Pokémon gezeichnet. Es war keine gelungene Zeichnung gewesen, aber dafür eine der wenigen Hausaufgaben, die er mit viel Enthusiasmus angefertigt hatte. Unter dem Bild hatte er den Namen in großen Blockbuchstaben geschrieben.

    „Noc…tuh“, murmelte Ray mit fragendem Unterton.

    Professor Armadis strahlte mit Dians Lichtschein um die Wette.

    „Sehr gut“, verkündete er. „Noctuh sind nachtaktive Flug-Pokémon und für ihr herausragendes Sehvermögen bekannt. Sie nutzen ihren fast lautlosen Flug für die Jagd, vorliebsam in Wäldern, Wiesen und Feldern, selten auch in Küstennähe. Auf ihrem Speiseplan stehen insbesondere Insekten und kleinere Käfer-Pokémon. Wir fallen also nicht unter das Beuteschema“, sagte Professor Armadis, wobei er speziell in Sonjas Richtung lächelte. Diese reagierte nur mäßig beruhigt und erlitt einen gewaltigen Schreck, als Noctuh plötzlich den Kopf fast um 180 Grad im Uhrzeigersinn drehte. Sogar Ray, Jake und Lisa erschraken merklich bei diesem obskuren Anblick.

    Professor Armadis senkte die Hand als Zeichen, dass keine Gefahr drohte. „Ein normales Verhalten und ein Zeichen dafür, dass es gerade nachdenkt.“

    „Haben sie sonst noch etwas vergessen?“, hauchte Sonja. Ihr stand Kreidenbleiche im Gesicht.

    „Nur, dass es auch mir unangenehm wäre, wenn man mich die ganze Zeit anschaut. Gehen wir weiter.“


    Selbst nach fünf weiteren schweigsamen Minuten ertappte sich Ray noch immer dabei, wie er flüchtige Blicke über die Schulter warf. Nach der Begegnung mit Noctuh löste jedes Rascheln und jedes Zweigknacken ein Gefühl von Gänsehaut aus. Zwischenzeitlich waren sie an zwei weiteren Weggabelungen vorbeigekommen und hatten beide Male einen anderen Weg eingeschlagen. Der Pfad verwilderte zunehmend. Lisa verfing sich zweimal am selben Hagebuttenstrauch und Sonja konnte sich nach einem unvorsichtigen Schritt nur mit rudernden Armen auf den Beinen halten.

    Atemringend fasste sie sich an die Brust.

    „Ich überlebe das nicht …“

    „Brauchst du ’ne Pause?“, fragte Ray.

    „Könnte mir angenehmere Orte für eine Pause vorstellen“, seufzte Sonja. Sie tätschelte Sheinux, der sie mit großen, mitfühlenden Bernsteinaugen ansah.

    Auch der Rest der Wanderer stoppte.

    „Es gibt nichts gegen eine Pause einzuwenden – hatte ich ohnehin gleich vor“, stimmte Professor Armadis überein. „Nur noch ein kleines Stückchen, dann erreichen wir ein ideales Plätzchen. Das dürfte insbesondere Sie interessieren, Sonja.“

    Die Schülerin blinzelte verständnislos. „Warum mich?“

    Der Hauslehrer lächelte geheimnisvoll. „Sehen wir gleich:“

    Einige ereignislose Minuten schleppten sich dahin. Um Professor Armadis’ angekündigten Rastplatz zu erreichen, mussten sie erstmals den Weg verlassen. Sie kletterten über knochige Baumwurzeln und schlugen sich durch ein dichtes Netz aus widerborstigen Zweigen, Tannennadeln und -zapfen hindurch. Die Mühe aber lohnte sich. Aus sprachlosen Mündern löste sich ein ehrfürchtiges Seufzen.


    Mitten in diesem fast undurchdringlichen Geäst fanden die Wanderer eine in sanftem Gras gebettete Lichtung. Es war einen Hauch wärmer als im restlichen Wald, was im Grunde schon ungewöhnlich genug war. Die Mixtur aus sternenklaren Nachthimmel, frischem Gras und dem Harz der angrenzenden Nadelbäume glich einem aromatischen Kräuterbad. Hier und da buckelten sich Findlinge aus dem Waldboden. Ein besonders stattliches Exemplar, ein mannshoher Felsbrocken, trug einen Schopf aus frischem Moos auf seiner rundlichen Oberfläche. Am Rande der Lichtung hatte scheinbar die Zeit selbst einen einzelnen alten Baumstumpf zurückgelassen. Schlaksige, gelbe weiße und braune Pilze sprossen auf dem Rand des ausgehöhlten, moosbewachsenen Stumpfes, in dessen Hohlraum sich das klarste und reinste Regenwasser, das man sich nur vorstellen konnte, angesammelt hatte. Über all dem schwebte der bleiche Vollmond, dessen fahles Licht wie die silbrige Locken der Nachtgöttin persönlich war. Auf der Lichtung war es gerade so hell genug, dass Dian für kein weiteres Licht sorgen musste.

    „Ich muss euch bitten, eure Schuhe auszuziehen.“Ein selten zu vernehmender Nachdruck ummantelte Professor Armadis’ Stimme, dem selbst Sonjas „Muss-das-wirklich-sein“-Gesichtsausdruck nichts entgegenzusetzen hatte. Anders als bei ihrer Wanderung von der Celebi-High zum Wald, bei der der Hauslehrer diese Erfahrung angeboten hatte, stand dieses Mal ein Nein nicht zur Debatte. Es war ein Gebot, keine Option, fast so, als ob man einer Personifizierung des Waldes aufrichtig seine Demut zeigen musste.

    „Bitte lasst nichts zurück außer euren Fußabdrücken. Nehmt nichts mit außer euren Erinnerungen. Und keine Löcher!“, betonte Professor Armadis mit nachdrücklich in Sandans Richtung, denn das Boden-Pokémon hatte bereits mit einer seiner Klauen neugierig im Waldboden gestochert.

    Das Gras war feucht, nicht nass. Das anfängliche Gefühl, über einen eisigen Scherbenhaufen zu wandern, verschwand nach nur kurzer Dauer und wurde durch einen Gang wie über Engelswolken abgelöst.

    Professor Armadis hatte darauf bestanden, zusammen mit Sonja, Dian und Evoli vorauszugehen. Unmittelbar dahinter folgte der Rest. Während sich Ray noch den Kopf über das plötzliche Interesse seines Hauslehrers an Sonja zerbrach, neigte Lisa etwas den Kopf in seine und Jakes Richtung und flüsterte: „Sieht so aus, als ob noch jemand was zurückgelassen hat.“

    Mit ihrer Taschenlampe folgte sie einer Spur auf dem Gras. Das zusätzliche Licht machte deutlich, dass an manchen Stellen das Gras auffällig eingedrückt war; viel zu regelmäßig, als dass es ein bloßer Zufall sein konnte. Hatte jemand den Ort vor ihnen betreten? Ray suchte die Lichtung ab, als glaubte er, dass sich jeden Moment eine weitere barfüßige Gestalt aus der Umgebung schälen würde. Doch da war niemand. Nichts.

    „Ein Pokémon vielleicht?“, meinte Ray, wobei er aber selbst nicht überzeugt war.

    Professor Armadis folgend, machten sie einen auffällig weiten Bogen um den großen moosbewachsenen Felsen. Als sie stoppten, legte er seine rechte Hand auf Sonjas linke Schulter. Schülerin und Lehrer tauschten Blicke. Sonja zitterte ein wenig. Vielleicht vor Kälte, vielleicht auch, weil ihr die Berührung nicht behagte, vielleicht auch beides.

    „Wissen Sie, was das ist, Sonja?“, wollte Professor Armadis wissen.

    „Ein … Stein … nehme ich an …“ Es sah ihr nicht ähnlich, eine Antwort hinauszuzögern, und schon gar nicht, mit einem fragenden Unterton zu antworten. Gar wirkte sie etwas gekränkt darüber, dass wahrscheinlich jedes Kindergartenkind schneller auf genau dasselbe Ergebnis gekommen wäre.

    Professor Armadis zog ein „Mhhmm“ in die Länge. Dann lächelte er. „Ja, das ist richtig. Können Sie sich vorstellen, warum das gerade für Sie interessant sein könnte? Oder für Evoli?“

    Ohhh!“, machte Sonja nach kurzer Pause. Die Furchen der Verzweiflung auf ihrer Stirn verschwanden. Zurück blieb ein strahlendes Gefühl der Erkenntnis.

    „Mach’s nicht so spannend“, brummelte Jake.

    „Ja, sag’ an“, forderte Ray.

    Sonja schmunzelte ihren Klassenkameraden zu. Dann wandte sie sich direkt an Ray. „Erinnerst du dich noch an den Tag, als wir unsere Partner bekamen? Linsey war doch so aufgedreht damals. Und Pam. Und Kathrin. Und …“

    „Wir alle waren ziemlich aufgedreht. War ein besonderer Tag“, sagte Ray und ging auf in die Hocke, um Sheinux am Nacken zu kraulen. Ray lächelte breit, als er an den Tag zurückdachte, als ihm Sheinux als Partner zugeteilt worden war. Er versuchte es gar nicht erst, einen glücklicheren Tag in seinem Leben zu finden – es gab keinen. Aber … ja, er erinnerte sich auch, dass auch viele seiner Mitschüler ausgerechnet wegen Sonja aus dem Häuschen waren. „Du meinst, wegen Evoli?“, schlussfolgerte er schließlich.

    „Richtig“, nickte Sonja. „Ich wusste am Anfang gar nicht, was alle von mir wollten, oder von Evoli. Fakt aber ist, dass Evoli eine kleine Sensation ist. Ich habe noch in derselben Woche etwas wegen dieser Sache recherchiert … Und da gab es auch noch neulich diesen interessanten Artikel in der Johtos Tägliche über Entwicklung als eine Form der Epigenetik…

    „Oh! Ist das dann einer dieser Entwicklungssteine?“, fragte Lisa an Professor Armadis gerichtet. Dieser nickte.

    „Was ist mit dem Stein? Bin ich hier der Einzige, der auf dem Schlauch steht?“, fragte Ray. Er suchte diesmal Jakes Blick. Der antwortete mit einem langen „Ähm …“

    „Ich will es Ihnen erklären. Ihnen allen“, sagte Professor Armadis. „Wie Sie vielleicht alle wissen, besitzen Pokémon – manche Pokémon – die Veranlagung, sich weiterzuentwickeln. Einfach ausgedrückt, ist es nur ein weiteres Stadium ihres Lebens, so wie bei uns die Reife vom Kind zum Erwachsenen. Aber ganz so einfach ist es dann doch wieder nicht.“ Es lag ein Seufzen in der Stimme des Lehrers, als er den Satz beendete. Nach kurzer Pause fuhr er fort. „Bei der Weiterentwicklung durchleben Pokémon sprunghaft eine massive Veränderung. Größe, Aussehen, ja sogar die Stimme und manchmal der komplette Körperbau. Ihnen erschließen sich ab diesem Moment ganz neue Möglichkeiten. Sie lernen schwimmen oder fliegen, spüren gewaltige Körperkräfte in sich aufkeimen oder fangen an, ihre kognitiven Kräfte zu begreifen. Manchmal erlernen sie den aufrechten Gang oder tauschen diesen stattdessen für den Rausch der Geschwindigkeit ein. Die Entwicklung gehört wohl zu den größten und aufregendsten Geheimnissen. Menschen und Pokémon leben mittlerweile schon so lange zusammen – tausende von Jahren. Und trotzdem gibt es noch so viel, was wir nicht wissen, so viel, was wir voneinander lernen können.“ Mit seiner rechten Hand auf Sonjas Schulter und der linken auf Dians wirkte Professor wie eine fleischgewordene Verbindung beider Spezies. Beiden lächelte er zu, dann ließ er von ihnen ab. „Wenn Pokémon heranwachsen, kann eine Weiterentwicklung eintreten – oder auch nicht. Manchmal bedarf es Lebenserfahrung, manchmal auch die Bewältigung großer körperlicher Anstrengungen, und manchmal“ – der Lehrer betrachtete den moosbewachsenen Felsen – „auch eine besondere Umwelt. In dieser Beziehung ist Evoli etwas ganz Besonderes. Je nach Umwelteinfluss kann eine spezifische Reaktion in Evolis Körper ausgelöst werden, die zu einer Weiterentwicklung führt. Und davon gibt es eine Menge. Doch wie viele sind es? Und warum ist Evoli so außergewöhnlich? Sind Evoli vielleicht sogar der Schlüssel, um das Rätsel der Entwicklung zu knacken? Selbst heute noch, vielleicht gerade in dieser Sekunde, werden ganz neue Entwicklungszweige entdeckt. Ihr könnt euch deshalb sicher vorstellen, dass Evoli nur noch selten in natürlicher Umgebung und dafür mehr und mehr zu Forschungszwecken in Käfigen angetroffen werden. Berühmtheit hat einen scheußlichen Beigeschmack.“

    Ray erschauderte bei dem Gedanken daran, wie vielleicht gerade in diesem Augenblick Evolis Artgenossen in einer mit Käfigen vollgestapelten Halle zusammengepfercht wurden. Jedes ungewöhnliche Wimpernzucken, jedes ausgefallene Härchen, jedes Muskelzucken und jedes gegebene Leben, das im Namen der Wissenschaft dokumentiert wurde, widerte ihn regelrecht an. Das bedrückende Schweigen seiner restlichen Klassenkameraden sprach Bände. Das Schicksal ihrer Artgenossen ging auch an Evoli nicht spurlos vorbei. Ihr flauschiger Schwanz, die spitzen Ohren und ihre großen, braunen Kulleraugen hingen allesamt in schwermütigen Tiefen.

    „Und dieser Stein löst in Evoli eine Entwicklung aus?“, fragte Jake, der unter seinen Klassenkameraden als Erstes seine Stimme wiederfand.

    „Er kann bewirken, dass sich Evoli zu Folipurba weiterentwickelt, ein Pflanzen-Pokémon mit sowohl offensiven als auch defensiven Eigenschaften“, nickte Professor Armadis.

    „Ist das erlaubt? Ich meine … Darf … also …“, stotterte Sonja verlegen.

    „Wir alle wachsen an unseren Herausforderungen und lernen aus jeder neuen Erfahrung. Es ist Teil unserer Existenz“, erklärte Professor Armadis. „Lehrer wie Professor Cenra, Finch oder ich können unseren Schülern Entscheidungen nicht abnehmen, noch können wir ihnen Ketten anlegen oder sie zwingen. Denn es ist nicht an uns, darüber zu richten, welchen Weg Sie alle hier und Ihre Klassenkameraden einschlagen. Wir stellen lediglich die Weichen und helfen Ihnen, Ihren Weg zu gehen.“

    „Stärker zu werden, ist schon cool. Aber ich würde nicht über Sheinux’ Kopf hinweg bestimmen.“ Ray und Sheinux tauschten Blicke. „Das ist keine Entscheidung, die einer allein treffen sollte, finde ich.“

    „Sehe ich ähnlich“, pflichtete Jake bei. Lisa nickte. Nur Sonja verharrte in nachdenklichem Schweigen.

    Professor Armadis quittierte die Antwort seiner Schüler mit einem anerkennenden Nicken. „Das ist eine sehr reife Einstellung von Ihnen. Die Wahrheit ist, dass es Trainer vorziehen, ihre Pokémon weiterzuentwickeln, und auch deren Pokémon streben in aller Regel nach der nächsten Entwicklungsstufe, insbesondere, um den wachsenden Anforderungen gerecht zu werden. In der Wildnis dagegen sind weiterentwickelte Pokémon seltener. Man mutmaßt, dass der höhere Energiebedarf ein Kriterium sein könnte. Schließlich sind Pokémon in freier Wildbahn Selbstversorger. Revierverhalten könnte als Erklärung dienen, warum mancherorts mehr ausgewachsene Pokémon anzutreffen sind als anderenorts. Das alles ist aber bloß Theorie.“ Er legte eine kurze Atempause ein. „Wir machen zehn Minuten Pause und gehen dann zurück. Denken Sie einfach darüber nach, Sonja, und sprechen miteinander. Wie Sie sich auch entscheiden mögen: Ich bin sicher, Sie bleiben Ihren Idealen treu – Sie beide.“

    Professor Armadis entfernte sich ein wenig von der restlichen Gruppe und setzte sich zu Dian ins flache Gras. Seine Schüler und deren Partner blieben zurück. Ehrfürchtig. Schweigsam. Nachdenklich.

    „Was wirst du tun“, fragte Ray nach einiger Zeit.

    „Ich weiß es nicht“, gestand Sonja offen und ehrlich. Sie schaute hinab. Im gleichen Moment schaute Evoli hinauf. Als sich ihre Blicke kreuzten, lächelten sie einander sacht zu. „Aber egal, wie wir uns entscheiden: Ich bin sehr froh, mitgegangen zu sein, um diesen Ort zu sehen.“

  • Part 10: Aufruhr im Camp


    Evoli blieb Evoli. Es war eine gemeinsame Entscheidung, eine schwierige, eine umstrittene. Jake beschrieb es als „echten Stimmungsdämpfer“. Professor Armadis dagegen hüllte sich in einem Mantel des Schweigens.

    Insgesamt blieb es fast auf dem gesamten Rückweg ruhig. Wieder bildete Dian – in seinem neongrünen Lichtschein gehüllt – die Spitze der Prozession, begleitet von dem Lehrer für Überleben in der Wildnis. Ein wenig dahinter kamen Jake, Lisa und deren Partner. Ray und Sheinux bildeten das Mittelfeld. Abgeschlagen dahinter kamen Sonja und Evoli, sogar für ihre Verhältnisse ungewöhnlich nachdenklich. Die beklemmende Stille hatte den Wald in einen Ort verwandelt, in dem jedes menschengemachte Geräusch geradezu verboten falsch wirkte. Ray mochte die Stille nicht leiden. Es war einer dieser Momente, an denen er am liebsten die Stimmung mit einer seiner Blödeleien hob; entweder das oder seinen MP3-Player aufdrehte. Aber nicht in diesem Moment. Eine seiner Lieblingsvandalinnen aus einem Videospiel hatte es einmal als „pietätslos“ beschrieben, die Grabesruhe eines Verstorbenen mit irgendwelchen Albernheiten zu stören. Irgendwie fand er den Vergleich passend - diese Grabesstille. Ihm war unangenehm zumute, wie auf einem Friedhof. Das Knacken der Zweige, der ferne Ruf von Noctuh, ein verirrter Ausläufer des Westwindes, der durch das Geäst säuselte … Sie waren zu einem Totenlied des Waldes geworden, zu einem Requiem der Nacht.

    „Meinst du, es war ein Fehler?“

    Als er Sonjas Murmeln unmittelbar hinter sich hörte, zuckte Ray erschrocken zusammen. Im Schulterblick wartend, ließ er sich das kurze Stück noch zurückfallen, damit Sonja zu ihm aufschließen konnte. Diese lächelte ihn gequält an. „Wollte dich nicht erschrecken, sorry …“

    „Das lässt dir heute Nacht keine ruhige Minute, hm?“, lenkte Ray von der Frage ab.

    „Ich finde es nicht fair, in nur zehn Minuten eine Entscheidung zu fällen, die das ganze Leben verändert“, erklärte sich Sonja.

    „Wenn sich Pokémon einfach so in einem Kampf entwickeln, gibt es keine zehn Minuten“, erwiderte Ray.

    „Das ist etwas anderes! Das ist … ist … richtig“, hauchte Sonja am Ende frustriert aus. Erst nach einigen Schritten fand sie ihre Stimme wieder. „Wie hättest du dich entschieden?“

    Ray hatte befürchtet, früher oder später mit dieser Frage konfrontiert zu werden, und das nicht nur in seinen eigenen Gedanken, sondern mit offenen Karten, ohne Scheu und dem Herz auf der Zunge. Wie er sich entschieden hätte? Entwickeln oder nicht? Bevor er Schüler an der Celebi-High wurde, hatte er es nur einige Male am Rande gehört, dass sich Pokémon entwickeln konnten. Was dies bedeutete, davon hatte er sich nur ein grobes Bild machen können. Entwickeln hieß, stärker werden. Nicht grundsätzlich falsch, aber nur eine sehr profane Beschreibung, wie er seit heute wusste. Hätte man ihn noch letzten Winter gefragt, als ihn seine Eltern an der Celebi-High eingeschrieben hatten, hätte es wohl keine Zweifel gegeben. Entwickeln? Natürlich würde er jedes Pokémon entwickeln, um den wachsenden Anforderungen in einem Leben als Trainer gerecht zu werden – genau so wie es Professor Armadis gesagt hatte. Jetzt aber, wo er endlich Schüler an der Celebi-High war und er Sheinux kennengelernt hatte, war er sich da nicht mehr so sicher. Eine Entwicklung bedeutet auch einen Abschied und einen Neuanfang, fast so, als ob man mit einem Schlag alles Kindliche zurücklässt und ins Erwachsenenleben eintritt. Und diese Uhr konnte nicht zurückgedreht werden. Wahrscheinlich hätte er den Löwenanteil der Entscheidung auf Sheinux abgewälzt. Nicht, um sich vor der Eigenverantwortung zu drücken, sondern fand er das nur gerecht. Das jedenfalls versuchte er, sich selbst einzureden, und ekelte sich im gleichen Moment vor seinem Mangel an Rückrat.

    „Ich bin … ehrlich gesagt überrascht, dass du und Evoli euch dagegen entschieden habt“, sagte Ray langsam und lenkte damit das Gespräch auf diplomatischem Wege wieder auf günstige Bahnen. „Du warst so frustriert, als wie das Abblocken von Attacken geübt hatten, weil Evoli als Normal-Pokémon Probleme gegen Sheinux’ Elektro-Angriffen hatte. Als Pflanzen-Pokémon hätte es Evoli bestimmt leichter, weil sie dann ganz neue Tricks auf Lager hätte.“

    Protestierend schüttelte Sonja den Kopf. „Das stimmt, aber davon kann man doch eine solche Entscheidung nicht abhängig machen! Das wäre leichtfertig … und unüberlegt … und … und …“ In ihrer Not suchte Sonja Evolis Unterstützung. Ihre Partnerin aber beschränkte sich schweigsam und mit hängendem Kopf auf den Weg vor ihr.

    „Brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich denke auch, dass man das nicht einfach so übers Knie brechen sollte“, erklärte Ray.

    Sonja tat es ihrer Partnerin gleich und ließ den Kopf hängen – trotz Rays motivierender Worte. Nach etwa einer Minute bedächtiger Stille murmelte sie: „Wir haben darüber gesprochen, Evoli und ich, und wir sind der Meinung, dass wir einfach noch nicht soweit sind.“ Ein eindringliches Verlangen lag in ihrem Seitenblick, mit dem sie Ray plötzlich fixierte. Es war wie verzweifelte Suche nach Vergebung für ein Verbrechen, das sie nie begangen hatte.

    „Verständlich. Aber …“ Ein Stirnrunzeln ging Rays weiteren Worten voraus. „Mal ganz ehrlich: Geht es dir eigentlich um dich und Evoli oder um das, was die anderen Leute denken?“

    „Was meinst du damit?“ In Sonjas Stimme lag das Zittern eines Kartenhauses, das nur noch Bruchteile davon entfernt war, zusammenzubrechen.

    „Eines vorweg: Ich glaube dir, dass du felsenfest davon überzeugt bist, noch nicht soweit zu sein. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, stimmt’s?“ Ohne es zu wollen, wurden Rays Worte lauter; so kräftig und sogar ein wenig unbeherrscht, dass er sich in seiner eigenen Stimme nicht wiedererkannte. „Du und Evoli, ihr beide steht nicht gerne im Rampenlicht. Das wollt ihr nie. Aber es kommt immer anders als geplant. Als wir unsere Pokémon bekamen, erregte Evoli viel mehr Aufmerksamkeit, als dir lieb ist. Dann die Sache mit dem Turnier, in das dich Fabien reingezogen hat. Dann kam Zorua. Und jetzt die Sache mit der Entwicklung. Und wieder gibt es keinen Ausweg. Ob sich Evoli weiterentwickelt hätte oder nicht – ihr beide stündet schon wieder im Rampenlicht. Und jetzt ist euch Angst und Bange, was die anderen im Camp oder sogar in der ganzen Schule über euch denken.“

    Auf seine kleine Ansprache hin erwartete Ray alles. Ein unendliches Schweigen. Ein wildes Kopfschütteln. Ein Sturm der Entrüstung. Was er sich einbilde, so etwas zu behaupten. Sogar eine Backpfeife. Am Allerletzten aber, dass Sonja lächelte. Doch genau das tat sie: Sie lächelte. Gequält, aber sie lächelte.

    „Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen?“

    „Nur für den gesamten Rest der Welt. Ich dagegen brauche immer etwas länger“, schmunzelte Ray zurück.

    Während ihre Schritte wieder etwas schneller und beherzter wurden, warf Sonja den Kopf nachdenklich in den Nacken. „Es stimmt, ich bin keine Rampensau, habe ich nie gewollt und werde ich nie sein. Aber irgendwie ziehe ich den Ärger regelrecht an. Alles, was ich will, ist, normal zu sein.“

    „Normal ist langweilig. – Huch! War nicht so gemeint“, entschuldigte sich Ray stolpernd bei Evoli, die ihm soeben sanft aber nachdrücklich ins rechte Wadenbein gerempelt war. „Was ich sagen wollte“, keuchte Ray“, ist, dass gerade die Leute, die behaupten, normal zu sein, doch den größten Knall in der Birne haben. Äh, das kam jetzt auch irgendwie nicht wirklich gut rüber - Hilf’ mir doch mal, Sheinux!“

    Sheinux aber schmunzelte nur verschmitzt, während sich sein Trainer mit einem beherzten Seitensprung noch einmal vor einem weiteren Rempler Evolis rettete.

    „Irgendwie komme ich mir wie ein Bremsklotz vor …“, sagte Sonja plötzlich.

    Ray rückte vorsichtig wieder etwas näher. „Du hast aber gesagt, ihr beide habt euch ausgesprochen, Evoli und du, und ihr habt gemeinsam gegen eine Entwicklung entschieden. Ich sehe daher kein Problem.“

    „Schon, aber …“

    Sonja stoppte abrupt. Sie schaute hinab, wo sich Evoli am Hosenbein ihrer Jeans festgebissen hatte und ihre Partnerin mit großen, treuen Kulleraugen anschaute.

    „Vovee Voi“, fiepte ihr die Vierbeinerin zu.

    „Ach, du …!“ Sonja schloss ihre Partnerin dankbar in die Arme, die ihr gleich darauf die Wange leckte.

    „Was ist? Was hat sie gesagt?“, erkundigte sich Ray.

    „Wir bremsen zusammen.“


    Wenn es stimmte, dass der Moosstein nur einen kleinen Tropfen im Meer der Möglichkeiten darstellte, würden sich irgendwann sicherlich noch weitere Gelegenheiten für Sonja und Evoli ergeben. Mit dieser Einschätzung der Dinge war die Angelegenheit nun endgültig vom Tisch. Von hier an verloren sie auf dem gesamten weiteren Rückweg kein Wort mehr darüber. Sonja fand es furchtbar interessant, als Ray sie beiläufig auf die Fußspuren auf der Lichtung aufmerksam machte. Pokémon, die ab und zu die Lichtung aufsuchten, hielt sie für am naheliegendsten. Für Rays Theorie von einer buckeligen Schrumpelfrau, die tief im Wald allein in einem Hexenhäuschen hauste und dort ungeduldig auf den Pilz im Wald wartete, hatte sie hingegen nur ein müdes Augenrollen parat. Die Lichtung blieb auch weiterhin das Gesprächsthema Nummer eins. Ray fand es enttäuschend, keinen Schnappschuss als Erinnerung mitgenommen zu haben. Sonja aber deutete den Versuch an, die Kulisse im Kunstunterricht nachstellen zu wollen. Keine leichte Aufgabe, wie sie betonte.

    Nach etwa fünf Minuten erreichten sie eine Weggabelung und nach einigen weiteren eine zweite. Zackige Traktorspuren markierten den weiteren Weg; sie befanden sich auf der Route, die Mr. Figo auf seinem Hinweg zum Camp genommen hatte. Das Geäst wurde zunehmend lichter, bis sogar der bleiche Mond durch die Baumkuppen durchblitzte. Die Müdigkeit steckte mittlerweile unheilsschwer in Rays Gliedern und der Schlaf brannte ihm in den Augen. Mittlerweile kam es ihm wie eine Ewigkeit vor, seit sie das Lager verlassen hatten. Der alte, abgenutzte Schlafsack, der dort auf ihn wartete, wirkte plötzlich so unglaublich einladend, dass die Erwartung darab seine Schritte beflügelte.

    Bei ihrer Ankunft lag eine unnatürliche Stille auf dem Zeltlager. Niemand war da, der im Taschenlampenschein den Weg zu seinem Zelt suchte, keine Camper, die sich um das wärmende Lagerfeuer drängten. Der fragende Ausdruck auf Professor Armadis’ Gesicht beseitigte auch den letzten Zweifel, dass dies unüblich war. Ray und die anderen tauschten nervöse Blicke.

    „War ein langer Tag“, meinte Professor Armadis mit einem Schulterzucken. „Ihr macht euch am besten auch bettfertig.“

    Die Gruppe war bereits im Begriff, sich in alle Winde zu zerstreuen, als hastige Schritte und das wilde Flackern einer Taschenlampe eine Person ankündigten. Gleich darauf schälte sich ihre Hauskameradin Chloe aus den Schatten, die einen beeindruckenden schnellen Slalom zwischen drei Zelten hinlegte.

    „Professor …!“, kam sie schwer atmend zum Stillstand. „Professor! Marill ist … in den Fluss gefallen. Alle anderen sind … unten am Fluss und suchen. – Warum glüht Dian eigentlich so?“

    Professor Armadis stellte keine Fragen, verplemperte keine Zeit.

    „Alle mitkommen!“, ordnete er an.

    Strammen Schrittes bahnten sie sich den Weg durch das verworrene Dickicht aus Rucksäcken, Zelten und Schnurspannern. Dahinter kam in einiger Distanz die blockierte Elektrobrücke zum Vorschein. Immer mehr Details der letzten beiden Stunden sickerten währenddessen hindurch. In Schnappatmung berichtete Chloe über das ganz normale Lagerleben, dann aber auch, wie Linsey mit ihrer Pokémon-Partnerin unangekündigt zum Fluss gegangen sei, da sich Marill nicht wohl gefühlt habe. „Möglicherweise Fieber“, erläuterte Chloe.

    Ihr weiterer Weg führte flussabwärts. Kaum hatten sie den Lagerplatz verlassen, wurde das Gelände zunehmend wilder und unwegsamer. Anders als auf dem anderen Flussufer säumte sich hier kein Weg, sondern gab es nur Stock und Stein, die das Vorankommen erschwerten. Der Fluss war ein trüber, wild schäumender Hexensud. Die Aussicht, hineinzufallen, kam einem Todesurteil gleich.

    „Abstand halten vom Wasser! Passt auf eure Pokémon auf!“, bellte Professor Armadis gegen die laute Strömung an.

    In der Ferne kamen erst einige hohe Eichen in Ufernähe zum Vorschein und davor das Flackern unzähliger Taschenlampen und gleich darauf auch die eine Vielzahl an Menschen und Pokémon. Die gesamte Klasse schien sich an einem Punkt versammelt zu haben. Auch zwei größere Figuren waren zu erkennen – Mr. Figo und Professor Liva. Hatten sie Marill gefunden? Instinktiv beschleunigte Ray seine Schritte und stemmte sich ein letztes Mal gegen die feuchtkalte Nachtluft. Die anderen taten es ihm gleich.

    Die Menge machte für die Neuankömmlinge Platz.

    „Wie sieht’s aus?“, fragte Professor Armadis.

    Eine Antwort war überflüssig, denn die Sorge tropfte wie kalter Schweiß von den Gesichtern der Anwesenden. Die gebündelten, dünnen Lichtstrahlen der Taschenlampen, die an den Eichen vorbei längsseits auf den Fluss gerichtet waren, besaßen gerade noch genug Kraft, um ein kleines, blaues Etwas zum Vorschein zu bringen, das sich verzweifelt an einem schroffen Felsen in mittiger Flusslage festklammerte. Marill kämpfte ums Überleben.

    „Wir haben anscheinend kein Pokémon, das Psychokinese beherrscht“, erklärte Professor Liva rasch, „auch nichts wie ein Seil oder Ähnliches. Mr. Granger schlug vor, Marill aus der Luft rauszufischen, aber das halte ich für zu riskant, genau wie eine Menschenkette.“

    Professor Armadis tastete sich vorsichtig am Ufer entlang, bis ihm die großen Eichen den Weg versperrten, deren breite Wurzeln sich wie Vogelkrallen am Land festklammerten. Nur wenige Fingerbreit fiel die Uferböschung steil hinab, darunter nichts als eisige, mitleidslos reißende Fluten.

    „Warum benutzt du nicht deinen Pokéball?“, fragte Jake Linsey. Doch aus ihrem bleichen, von Tränen verquollenen Gesicht kam außer einem heißeren, wässrigen Schluchzen kein anderer Ton hervor.

    „Die Idee kam uns auch schon, aber aus dieser Distanz und bei dieser Dunkelheit ist die Gefahr groß, dass Marill auf halbem Weg aus dem Fangstrahl rauskatapultiert wird“, warnte Mr. Figo.

    „Mit einem Rankenhieb kämen wir vielleicht ran“, überlegte Professor Armadis laut. Wieder überlegte er, diesmal eingekehrt, dafür nur sehr kurz. „Nea? Wo ist Nea?“

    „H-hier bin ich!“

    Sonjas Zimmerkameradin Nea Banner schob sich verunsichert von den hinteren Reihen nach vorne.

    „Nea, Sie haben in der Safari-Zone ein Bisasam gefangen. Los!“ Mit ausgebreiteten Armen gestikulierte Professor Armadis, Platz zu schaffen, und auch er räumte das Feld.

    Mit dem gewohnten weißen Lichtblitz und dem lauten Plop materialisierte sich Bisasam auf der freien Fläche. Die mit dunkelgrünen Flecken auf minzgrüner Haut gemusterte Vierbeinerin mit der großen zwiebelförmigen Samenkapsel auf dem Rücken blinzelte und und starrte argwöhnisch in die Runde.

    Ray hatte sich einen der vordersten Plätze erkämpft, als sich Nea und Bisasam dem Rand des Flussbettes näherten. Aus dem Unterricht hatte er gelernt, dass es sich bei Rankenhieb um einen geläufigen Angriff aus der Familie der Pflanzen-Pokémon handelte. Der Anwender attackierte hierbei sein Ziel mit einer schnellen, meist peitschenen Ranke, was insbesondere bei Gegnern des Typs Wasser oder Gestein besonders starke Wirkung zeigte. Aber das war nur eine Seite derselben Medaille. Rankenhieb diente auch als verlängerter Arm; ein Werkzeug, mit dem Pflanzen-Pokémon Dinge aus großer Distanz greifen oder sich diese auch vom Hals halten konnten.

    Alsbald wucherte eine Ranke unter Bisasams Keimling hervor. Sie war geschmeidig und glatt, ohne Dornen oder Widerhaken bewehrt. Schlangengleich tanzte sie durch das Taschenlampenlicht schräg an den Eichen vorbei und ihrem Ziel entgegen - ein gespenstisches Balett mit nichts als Hohn für die wütend grollenden Fluten darunter. Ein Meter, zwei, drei. Sie schien endlos. Doch je weiter sie in die Länge wuchs, umso unbeständiger wurde das vordere Ende. Bisasams Beine zitterten, Furchen der Anstrenung auf ihrem Gesicht.

    Ein verzweifeltes Stöhnen ging durch die Menge, nicht wenige fluchten. Es ging nicht mehr weiter. Unter enormem Kraft- und Willensaufwand hielt Bisasam die Ranke in der Luft schwebend. Ihre Zehen tasteten sich auf dem letzten bisschen Untergrund nach vorne, während sich sich dem Fluss entgegenbeugte. All das für wenige Millimeter. Es reichte nicht. Wie viel fehlte, war aus der Distanz schwer abzuschätzen. 20 Zentimer? Vielleicht 30? Nicht viel.

    „Von der anderen Seite könnte es reichen …“ Im selben Augenblick strafte Professor Armadis die hochgezogene Brücke mit vernichtendem Blick. „Sam, du musst Bisasam rüberbringen!“, rief er Mr. Figo zu.

    Der Hausmeister sagte nichts. Doch sein halb geöffneter Mund und der versagende Blick aus versteinernder Miene sprachen Bände. Mit seinem Traktor war er zweifellos am schnellsten unterwegs. Der Umweg durch den Wald aber war lang; zu lang. Marill blieb wahrscheinlich nicht mehr genug Zeit.

    „Sam! Reiß dich zusammen! Los!“, donnerte Professor Armadis.

    Wildes Gemurmel. Linseys verzweifeltes Schluchzen. Der wachgerüttelte Mr. Figo eilte auf Nea und Bisasam zu. Das alles schien sich wie in Zeitlupe vor Ray abzuspielen. Seine Muskeln waren verkrampft, seine Kehle ausgetrocknet, die Lippen spröde. Er hatte eine Idee. Sie war waghalsig, vielleicht auch nur dumm und eine Zeitverschwendung. Und Marills Zeit rannte aus. Er musste es versuchen.

    Nea erschrak und wehrte sich verbissen gegen Ray, der sich plötzlich an Mr. Figo vorbeigezwängt, sie an der Hand nahm und in seine Richtung zog.

    „Los! Komm mit!“, rief Ray.

    Das Gerangel war von kurzer Dauer. Als Mr. Figo einzugreifen versuchte, trafen sich die Blicke der Klassenkameraden. Ray nickte ihr eindringlich zu, lockerte seinen Griff aber kein Bisschen. Nea verstand, denn ihre widerspenstige Haltung erschlaffte. Dann rannten beide los.


    Hinter ihnen hallten die lauten Stimmen der Erwachsenen, dass sie augenblicklich zurückkommen sollten. Ray blickte über die Schulter. Da waren Neas Partnerin Yorkleff, Bisasam und Sheinux. Weiter dahinter folgen einige seiner Mitschüler und Professor Armadis. Ray wandte sich wieder ab. Kalter, eisiger Nachtwind peitschte ihm entgegen und das Rauschen des Flusses donnerte ihm in den Ohren. Ray achtete nicht auf das Stechen in seiner Brust, die eiskalten Hände oder auf den Knoten, der sich immer enger um seine Lunge schnürte, auch nicht die Rufe hinter ihm. Er sprang über einen kleineren Felsbrocken und setzte stolpernd und mit heftig schmerzendem Fußknöchel die Hast fort.

    Ray erreichte die Brücke als Erstes, unmittelbar dahinter Nea und die Pokémon. Er klemmte die Taschenlampe zwischen seine Zähne, während er mit zitternden Händen die rechteckige Batterie aus der Vorrichtung wuchtete. Dafür, dass sie bequem in zwei Hände passte, war sie schier schwer wie Blei – aus was sie wahrscheinlich auch bestand. Die Batterie hatte jeweils einen zylinderförmigen Plus- und einen Minuspol, gekennzeichnet in den Farben rot und blau. Ray nahm die Taschenlampe wieder in die Hand.

    „Sheinux, gib dem Ding eine Ladung, genau hier“, ordnete er an und deutete auf den blauen Minuspol.

    Es knisterte und knackte, als Sheinux’ Funkenstöße in das Metall eindrangen. Erst geschah nichts. Dann plötzlich stieg Rauch auf und wenig später breitete sich ein übelriechender Gestank aus, dazu lag ein hässliches Zischen in der Luft. Säure leckte aus dem Boden.

    „Vorsicht!“ Ray zog Sheinux am Schwanz von der Batterie weg. „Leck doch die …“ Fluchend riss er sich seine Jacke vom Leib, mit der er dann wiederum das äußere Ende der Batterie bedeckte, um sich vor der ätzenden Flüssigkeit zu schützen. Als er das Ungetüm wieder in die Vorrichtung rammte, kamen die ersten seiner Mitschüler an. Ray ignoriere sie, auch Professor Armadis, der ebenfalls eingetroffen war.

    „Komm schon!“ Ray hämmerte gegen den Knopf. Und tatsächlich: Stöhnend und ratternd erwachte die Brücke zum Leben.

    In den wenigen Sekunden, die die Brücke nach unten brauchte, fiel ihm eine unglaubliche Last von den Schultern. Die Nachtluft, mit der er seine heißen Lungen flutete, fühlte sich an, als atmete er pures Glück. Dazu kam Professor Armadis, der ihm strahlend auf die Schulter klopfte. Es hatte tatsächlich funktioniert!

    Der Rückweg auf der anderen Uferseite kam Ray doppelt so lange vor. Jeder Atemzug war zu einem Messerstich zwischen die Rippen geworden, jeder Schritt ein wackeliger Balanceakt. Aus der Ferne durchbrachen Jubelrufe die Nacht, feuerten ihn und seine Begleiter an. Sie mussten weiter. Marill kämpfte ums Überleben. Es war nicht mehr weit.

    Bei seiner Ankunft sackte er unter schweren, heiseren Atemzügen auf die Knie. Nea brachte kein Wort mehr heraus, also übernahm Professor Armadis und führte Bisasam an das Flussbett. Die Jagd von einer Seite des Flusses zur anderen hatte auch Spuren bei dem Pflanzen-Pokémon hinterlassen. Bisasams Schritte waren wackelig, ihre Atemzüge beschleunigt. Professor Armadis ging auf die Knie und begann ihr zuzuflüstern. Ray verstand nur Bruchstücke. „… wenn du bereit bist …“ und „… kein Druck …“

    Wie schon zuvor wuchs die Ranke hervor. Doch schon am Anfang war sie unstetig, verlor wiederholt an Höhe. Bisasam schnaubte vor Anstrengung, die roten Augen funkelten vor Wut. Sie verlagerte das gesamte Körpergewicht in ihre vier Beine, dass sich die Krallen in den weichen Boden bohrten. Die Ranke wurde wieder stabiler. Sie legte den letzten Meter zurück, die letzten Zentimeter, die letzten Millimeter. Sie war in Reichweite. Menschen und Pokémon brüllten wie aus einer gemeinsamen Kehle.

    Greif zu!

    Bisasam stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus. Marill hatte sich erst mit einer, dann schließlich mit beiden Händen an dem Ende der Ranke festgeklammert. Das plötzliche Gewicht besaß die Wirkung eines Hebels, unter dessen Last Bisasams Beine einbrachen. Marill baumelte in der Luft wie eine Seiltänzerin, die sich bei orkanartiger Windstärke an ihrem Seil klammerte.

    Zurückbleiben!“, brüllte Professor Armadis seinen Schülern zu. Er lag bäuchlings auf dem Boden und hatte seine Arme um Bisasams Körper geschlungen. Er rammte seine Wanderschuhe in den lehmigen Boden, robbte mit geschmeidigen Bewegungen zurück und zog Bisasam immer weiter vom Ufer weg – Zentimeter für Zentimeter. Derweil zog Bisasam ganz langsam die Ranke zurück, an der sich Marill verzweifelt festhielt.

    Mädchen, halt deinen Pokéball bereit, falls etwas schiefgeht! Nur – falls – etwas - schiefgeht!“, brüllte Mr. Figo von der anderen Flussseite Linsey zu.

    Die Sekunden verstrichen. Professor Armadis hatte einen guten Meter zurückgelegt. Bisasams Ranke schlingerte, wenn auch nicht mehr so stark wie zu Beginn. Der letzte Meter. In fiebrigen Händen hielt Linsey ihren Pokéball im Anschlag. Sie blinzelte nicht, schien nicht zu atmen. Dann: Land. Marill landete auf sicheren Boden. Sofort brach Frenetischer Jubel aus, überschattete sogar das wilde Wasserrauschen bei Weitem. Professor Armadis’ Brustkorb blähte sich auf wie ein Blasebalg, während er - nun nicht mehr bäuchlings, sondern rücklings – in den Himmel starrte – und schließlich lachte. Mehrere seiner Schüler vielen ihm um den Hals, bis es irgendwann so viele waren, dass sich ein buntes, lachendes Menschenhäufchen auf dem Boden bildete.


    Es blieb eine denkwürdige Nacht. Marill, die tatsächlich unter hohem Fieber litt, brach zusammen mit Linsey, Professor Liva und Mr. Figo zur Celebi-High auf. Ans Schlafen dachte von den Zurückgebliebenen niemand mehr. Folglich dauerte die Feier fast die ganze Nacht. Abwechselnd wurden Professor Armadis, Ray und Bisasam hochleben gelassen. Das Lagerfeuer wurde angefacht und die Küche für ein zweites Abendessen restlos geplündert. Niemand störte es, als Ray zum gefühlten 100. Mal „Von den blauen Bergen kommen wir“ jodelte. Sonja war nach dem zurückliegenden Stress so motiviert, dass sie es selbst war, die über die wundersame Lichtung, den Moosstein und Evolis möglicher Entwicklung berichtete. Nach rund drei Stunden kehrte Mr. Figo mit der guten Botschaft zurück, dass Marill über den Damm sei. Außerdem brachte der Hausmeister zwei Kasten Cola und mehrere Tüten Knabberzeugs mit.

    Als Emma mit ihrem Schlafanzug mit Krümelmonster-Motiv als Siegerin des Peinlichsten-Pyjama-Wettbewerbs hervorging, war es mittlerweile nach drei Uhr. Damit zogen sich nun auch die hartgesottensten Camper schließlich in ihre Zelte zurück – all das beobachtet von einem bleichen Mond, der hoch oben am Himmel stand.

  • ~Kapitel 15: Veränderungen~




    Part 1: Eine neue Perspektive


    Professor Joy ließ sich weder auf Versprechen noch Diskussionen ein, was den Zeitpunkt von Marills Entlassung aus dem Krankenflügel betraf. Folglich war selbst am Dienstagmorgen noch strikte Bettruhe für die Fieberpatientin angesagt. In dieser Zeit war Linsey vom Unterricht befreit, welche diese zum überwiegenden Teil an Marills Bett verbrachte. Höhepunkte waren, wann immer eine der Schlüsselfiguren des Abends einen Besuch abstattete. Dazu gehörten insbesondere Nea und Bisasam, Professor Armadis und auch Ray, der sich plötzlich völlig sprachlos in Linseys warmer Umarmung wiederfand.

    Das Schulleben ging in dieser Zeit seinen Weg – mehr oder weniger normal. Wie es in der Celebi-High zum guten Ton gehörte, verbreitete sich die Geschichte über Marills Rettung standartgemäß schnell. Folglich wusste spätestens nach 24 Stunden jeder über die heroische Tat Bescheid. Ray hatte plötzlich alle Hände damit zu tun, mit ihm völlig wildfremden Mitschülern Highfives auszutauschen, während sein Rücken bei allen Gelegenheiten für Schulterklopfer herhalten musste. Anfangs hatte es ihm noch Spaß gemacht, mit künstlerischen Übertreibungen anzugeben und die Sache immer weiter auszuschmücken. Aber nach gefühlten 50 Mal gingen ihm dann nicht nur die Ideen aus, sondern die Sache auch langsam auf den Geist. Sonja wollte nichts davon wissen, die Sache kurzfristig in der Schülerzeitung zu thematisieren, damit er aus dem Schneider war („Wir müssen uns jetzt mit Diana arrangieren, schon vergessen?!“) und verschob die Sache auf unbestimmte Zeit. Hinzu kam ein ganz anderes Thema in Rays Sorgenkiste: Der Lehrer für EDV, Professor Badham, hatte in den ersten Unterrichtsstunden des Dienstagmorgens angekündigt, ihn nach dem Unterricht sprechen zu wollen. Wenn die Vergangenheit ihn eines gelehrt hatte, dann, dass ein Vier-Augen-Gespräch mit einem Lehrer nie in etwas Gutes mündete. Meist waren es mit zeitraubenden Zusatzarbeiten verbunden; entweder das oder sogar mit einer peinlichen Rede und Antwort zu einem zurückliegenden Tabubruch.

    Es war kurz nach 16 Uhr – Unterrichtsende. Schüler aller Jahrgangsstufen strömten durch die Korridore. Sie waren auf dem Weg zur Mensa, zu ihrem Haus, zum Schülertreff. Wehmütig schaute Ray ihnen nach. Pläne hatte er zwar keine, doch alles war besser als nach dem letzten Glockenschlag in der Schule zu sitzen. Im Vorbeigehen grüßte seinen Hauskameraden Andy mit einem unmotivierten Highfive und erreichte im Anschluss den Mehrzweckraum I. Er zögerte kurz, dann klopfte er an und trat unaufgerfodert ein.

    „Ah, da sind Sie ja, Mr. Valentine. Nur keine falsche Scheu, nehmen Sie Platz.“

    Ray stand wie angewurzelt zwischen Tür und Angel. Wäre er nicht soeben von Professor Badham gegrüßt und an den Tisch gebeten worden, hätte er geglaubt, im falschen Film zu sein. Neben ihm und dem Lehrer für EDV waren außerdem noch Professor Armadis, der ihm fröhlich zuwinkte, und – zu seinem großen Missvergnügen – auch der Hauslehrer der Enteis, Professor Finch, anwesend. Zwei Tische waren für diesen Anlass zusammengeschoben und insgesamt fünf Stühle bereitgestellt worden. Außer ihm fehlte also noch eine weitere Person in der Runde. Mit flauem Gefühl in der Magengrube nahm er an dem Tisch Platz.

    Professor Badham nickte ihm fröhlich zu. „Danke für ihr Kommen. Wir warten noch auf Professor Cenra, wenn es Recht ist.“

    Ray verstand die Welt nicht mehr. Was war ihm Recht? Warum auch noch Professor Cenra? Sie hatten sich doch gerade noch im Kunstunterricht gesehen. Warum war er überhaupt hier?

    „Äh, okay?“, sagte er. Der verzweifelte Versuch, cool und lässig zu wirken, scheiterte und mündete stattdessen in einen fragenden Unterton.

    Ein Sandkorn musste sich im Stundenglas der Zeit verirrt haben, denn die nachfolgende Minute schien kein Ende nehmen zu wollen. Die drei Professoren saßen schweigsam am Tisch. Ray hatte keine andere Möglichkeit, als es ihnen gleichzutun. Er fühlte sich unwohl, starrte ausdruckslos auf die Tischkante, die Stirn kochend vor Schamgefühl, betete zum Allermächtigsten, er möge doch diesen peinlichen Moment endlich vorüberziehen lassen. Schließlich trat auch Professor Cenra ein, schenkte den Herren ein kurzes „Hallo“ und beanspruchte den letzten freien Stuhl für sich.

    „Dann wären wir jetzt alle hier, gut.“ Professor Armadis faltete die Hände. Er lächelte nicht mehr, blickte Ray stoisch an. „Sie können sich wahrscheinlich den Anlass vorstellen, warum wir heute hier sind. Es geht natürlich um ihr beispielloses Verhalten vom Samstagabend.“

    Es war nur eine unzufriedene Erklärung und wirbelte nur noch mehr Fragen in Rays Gedanken auf. War das hier nun eine Feier? 20 Punkte für Slytherray? Ernennung zum Schüler des Jahres? Wo waren obligatorischen die Ballons, wo der Geschenkkorb mit exotischer Butter? Was sollte das alles hier?

    „Unser Kollegium hat sich eingehend mit der Frage beschäftigt, wie wir mit der Sache umgehen sollen“, fuhr Professor Armadis fort. „Wie Sie sich sicher vorstellen können, Ray, haben die jüngsten Ereignisse um ihren Klassenkameraden Malcolm kein gutes Licht auf die Schule geworfen. Der Schulträger ist immer noch dabei, den Schaden zu beheben, außerdem, aus den vergangenen Fehlern zu lernen und Maßnahmen zu ergreifen, die einen vergleichbaren Zwischenfall verhindern sollen. Daher ist das Letzte, was die Celebi-High im Moment braucht, einen neuen Skandal. Dennoch können und wollen wir nicht über den Vorfall am Samstagabend hinwegschauen und ihren unschätzbaren Beitrag ignorieren, der eine weitere Katastrophe verhindert hat.“

    Ray wollte gerade fragen, was dies allen nun für ihn bedeute, als ihm Professor Finch ins Wort fiel.

    „Die ganze Sache wäre natürlich nie zustande gekommen, hätte Mr. Figo seine Aufsichtspflicht nicht verletzt. Mir fiele es leichter, darüber hinwegzusehen, hätte er seinen Fehler selbst bereinigt. Die Möglichkeiten standen ihm schließlich zur Verfügung.“

    „Ich glaube“, sagte Professor Cenra mit einem an Professor Finch adressierten Gesichtsausdruck, den sie üblicherweise trug, wenn sie einen ihrer Schüler tadelte, „dieses Thema haben wir bereits lange genug debattiert.“

    Doch Ray war neugierig. „Was hätte Samuel tun können?“, fragte er Professor Finch.

    Mr. Figo“, betonte der Hauslehrer der Enteis, wobei seine Stimme den üblichen öligen Glanz nicht verlor, „standen eigene Mittel und Wege zur Verfügung, wie er zu Marills Rettung hätte beitragen können, von denen er aber keinen Gebrauch machte. An jenem Abend trug er Pokémon bei sich, mit deren Hilfe er Bisasam hätte über den Fluss befördern können.“

    Professor Cenra schürzte missbilligend die Lippen. „Also wirklich …!“

    Auch Professor Armadis warf seinem Kollegen einen äußerst kritischen Blick zu. „Hier werden keine Pokémon geworfen!

    „Ich antworte lediglich auf Mr. Valentines Frage“, erklärte sich Professor Finch trocken.

    „Natürlich“, schnaubte Professor Cenra.

    Der peinlich berührte Gesichtsausdruck blieb noch an Professor Badham haften, als er das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zurücklenkte. „Also, wie Professor Armadis bereits erwähnt hat, hat sich unser Kollegium am gestrigen Abend gründlich mit dem von Ihnen an den Tag gelegten Verhalten beschäftigt. Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass es das Beste wäre, Ihr Talent zu fördern. Darum sitzen wir jetzt an diesem Tisch. Weil wir mit Ihnen über Ihre Zukunft sprechen wollen.“

    Rays Herz machte einen Hüpfer. Er war es nicht gewohnt, dass ausgerechnet Lehrer positiv von ihm dachten. Es war kein schlechtes Gefühl. Und dennoch … Er konnte die kritische Stimme in seinem Kopf und das mulmige Gefühl in seiner Magengegend nicht ignorieren. Talent? Er? Was hatte er schon groß getan? Den Löwenanteil hatte Bisasam geleistet. Er selbst besaß keine Kräfte dieser Art. Ihm wuchsen keine Ranken aus den Händen. Auch konnte er keine Dinge durch den bloßen Willen schweben lassen oder Bisasam mit reiner Körperstärke über den Fluss befördern.

    „Was für Talent?“, fragte Ray.

    „Kreatives Denken zum Beispiel“, antwortete Professor Cenra. „Sie wurden unvorbereitet mit einem Problem konfrontiert und haben intuitiv eine Lösung ausgearbeitet.“

    „Hinzu kommt ihr technologisches Verständnis. Sie wussten Ihr Umfeld geschickt mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu manipulieren“,

    ergänzte Professor Badham.

    „Ray, haben Sie schon einmal über Ihre Pläne für die Zukunft nachgedacht?“, wollte Professor Armadis wissen.

    „Zukunftsplanung ist die Kunst sich zu kratzen, bevor es juckt. Und mich hat es immer gejuckt, ein Pokémon-Trainer zu sein“, schulterzuckte Ray.

    „Das ist ein ernstes Thema, Valentine! Wir sind nicht zum Spaß hier!“, grollte Professor Finch.

    Professor Armadis nickte zustimmend. „Das stimmt. Deshalb sollten wir auch endlich zur Sache kommen. Ray, wissen Sie, was ein Pokémon-Ranger ist?“

    Pokémon-Ranger? Natürlich wusste Ray, was Pokémon waren. Und wenn seine jahrelang gereifte Leidenschaft für Computerspiele nicht irrte, waren Ranger Bogenspezialisten, kampferprobte Fernkämpfer, denen man aber auch gerne mal einen klobigen Hammer oder scharfe Klingen in die Hände geben konnte. Allerdings bezweifelte Ray, dass dies auch auf „Pokémon-Ranger“ zutraf. Außerdem machte Professor Finch den Eindruck, als könnte er schon jetzt keinen weiteren von Rays Kalauern vertragen. „Ehrlich gesagt, nein“, antwortete er schließlich wahrheitsgemäß.

    Professor Armadis ergriff das Wort. „Die Ranger-Vereinigung ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in der Almia-Region. Sie dient dem Erhalt und dem Schutz von Leben und der Bewahrung des Friedens. Ihnen sind die sogenannten ‚Pokémon-Ranger’ unterstellt, wobei es sich um eine verallgemeinerte Berufsbeschreibung handelt. Tatsächlich gehen unterschiedliche Spezialisierungen aus dem Begriff hervor. Die Pokémon-Ranger gehören zu den bekanntesten.“

    „Und was tun die? Klingt jedenfalls nicht so, als würden sie Pokémon trainieren, in Arenen kämpfen und Orden sammeln“, stellte Ray fest.

    „Sie tragen nicht zum Unterhaltungsprogramm bei, falls Sie das meinen“, antwortete der Entei-Hauslehrer. Er klang sarkastisch, kehrte aber gleich wieder zu seinem einschläfernden Selbst zurück. „Wie Professor Armadis schon sagte: Die Mitarbeiter der Ranger-Vereinigung sind Bewahrer des Friedens. In Notsituationen gehören sie zu den Ersthelfern vor Ort und arbeiten Hand in Hand mit den Behörden, Hilfswerken und Rettungsdiensten – oder situationsbedingt auch unabhängig.“ Er stoppte und ließ seinen Blick auf Ray harren. „Sie wirken nicht überzeugt“, stellte er fest.

    „Es ist nicht ganz die Berufslaufbahn, die ich mir bislang vorgestellt habe“, antwortete Ray sehr langsam. Er versuchte, diplomatisch und nicht unhöflich zu klingen. Schulterzuckend fuhr er fort: „Ich wollte eigentlich immer Trainer werden, deshalb bin ich verunsichert. Der Gedanke, anderen zu helfen, klingt aber zugegebenermaßen reizvoll. Was braucht man so, um Ranger zu werden?“

    „Pokémon-Ranger werden in aller Regel von der Ranger-Vereinigung mehrjährig ausgebildet“, erklärte Professor Armadis. „Sie können aber auch hier an der Celebi-High die Grundausbildung, also zwei Jahre, durchlaufen, und dann für ein weiteres Ausbildungsjahr zu einer Einrichtung der Ranger-Vereinigung wechseln. Voraussetzungen ist natürlich, dass die Zensuren stimmen.“

    „Sie bringen hervorragende Leistung in Datenverarbeitung. – Ja, Pokémon-Ranger müssen stets auf dem neusten technologischen Stand sein“, lächelte Professor Badham auf Rays ungläubigen Blick.

    „Es werden überdurchschnittliche Kenntnisse in Überleben in der Wildnis gefordert. Auch hier schneiden sie ausgezeichnet ab“, sagte Rays Hauslehrer.

    „Ihre Arbeit im Fach Pokémon-Studium ist ordentlich“, resümierte Professor Cenra, „schludern allerdings wiederholt bei den Hausarbeiten. Hier besteht Verbesserungsbedarf.“

    Dann folgte eine schweigsame Pause. Seitenblicke, die an den Letzten in dieser Runde gerichtet waren, verharrten unheilschwer. Professor Finch räusperte sich.

    „Ich werde Ihnen wahrscheinlich nichts Neues erzählen, wenn ich Ihnen sage, dass Ihre Leistung in Pokémon-Training bislang schwer zu wünschen übrig lässt. Dennoch“, sagte er laut, als er merkte, dass ihm Ray ins Wort fahren wollte, „will ich nicht ausschließen, dass Sie es mit genügend Fleiß und Willenskraft auf ein … akzeptables Niveau schaffen können. Und wenn nicht mehr in diesem Schuljahr, dann vielleicht im nächsten.“

    „Leben stehen auf dem Spiel, aber hey: Erst einmal zwei Stunden lang Differentialrechnungen durchführen, dann zur Tat schreiten. Sicher ist es das, was die Leute sehen wollen“, spottete Ray von oben herab. Er versuchte es erst gar nicht, nicht unhöflich zu klingen. Es war geradezu lächerlich, Finchs Unterricht war es. Die anderen Lehrer mussten das doch einsehen, hoffte er.

    Professor Finch aber verzog keine Miene, und so auch kein anderer am Tisch. Mit gefalteten Händen beugte er sich etwas in Rays Richtung. „Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie in einer Notfallsituation mit Klemmbrett und Taschenrechner komplizierte Gleichungen lösen“, antwortete Professor Finch kühl. „Das heißt aber nicht, dass Sie sich Hals über Kopf in irgendwelche Abenteuer stürzen können, ohne die Konsequenzen Ihres Handelns abzuschätzen. Als Pokémon-Ranger müssen Sie die Fähigkeit besitzen, Ihr angesammeltes theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen, und dabei alle Variablen berücksichtigen – auch unter Zeitdruck. Nicht jeder ist dieser Herausforderung gewachsen, denn bedarf es dazu eines gesunden Menschenverstandes und eines kühlen Kopfes. Dass Sie diese Gaben ganz oder zum Teil besitzen, haben Sie jüngst bewiesen, sonst wären Sie wohl am vergangenen Samstag ins Wasser nachgesprungen. Mein Unterricht soll Sie unterstützen, auch zukünftig die richtigen Entscheidungen zu treffen; rational handeln, nicht emotional.“

    „Professor Finch hat Recht, Ray. Als Ranger sind Sie eine Respektsperson und ein Vorbild für Jung und Alt. Sie repräsentieren die Ranger-Vereinigung und alles, für das diese steht“, stimmte Professor Armadis zu.

    Ray lehnte sich ernüchtert zurück. Es war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Und dass ihm sein Hauslehrer oder niemand der anderen Anwesenden zur Seite stand, fand er ungerecht. „Und wie geht es jetzt weiter? Wenn ich das richtig verstanden habe, betrifft mich das jetzt ohnehin noch nicht, außer, dass ich an meinen Noten feilen müsste.“

    „Normalerweise stimmt das, ja, aber in Ihrem besonderen Fall würden wir eine Ausnahme machen“, sagte Professor Badham. „Das Kollegium ist sich einig, Ihr Talent frühzeitig fördern zu wollen. Aus diesem Anlass ist unsere Empfehlung, dass Sie sich übermorgen in der Ranger-AG mit der Bezirks-Rangerin von Celebi-Island treffen. Zweifellos weiß diese mehr über den Berufsstand zu erzählen, als es irgendjemand anderes hier am Tisch könnte. Alles Weitere liegt bei Ihnen, Ray.“


    Damit endete das Gespräch. Als sich Ray auf dem ausgestorbenen Korridor wiederfand, wirkte die restliche Welt um ihn herum surreal. Die Lehrer, die sich hinter der verschlossenen Tür leise unterhielten. Schüler aller Jahrgangsstufen, die ein Stockwerk tiefer schwatzend aus der Mensa kamen. Die defekte Deckenleuchte, die mürbe flackerte. Ray wusste nicht, wie lange er nur so dastand und das unregelmäßige An und Aus der Lampe beobachtete. Eine Ewigkeit. Vielleicht aber auch nur eine Minute. Er wusste nur: Je länger er darüber nachdachte, umso neugieriger machte es ihn – dieses Dasein als Ranger.

  • Part 2: Die Pokémon-Ranger


    Als Ray am nächsten Morgen erwachte, wirbelten ihm hundert Gedanken durch den Kopf. Die Hälfte davon waren Satzanfänge; einer schlechter als der andere. Wie sollte er Sonja schonend beibringen, dass er eine Auszeit von der Schülerzeitung nahm, um in die Ranger-AG hineinzuschnuppern? Und das ausgerechnet jetzt, wo Sonjas wohlüberlegtes Konzept von ihrer Klassenkameradin Diana brachial über den Haufen geworfen wurde? Er fand sein Verhalten gegenüber Sonja ungerecht, gleichzeitig wollte er aber diese Gelegenheit auch nicht versäumen. War dies so schwer zu verstehen?

    „Nein, ist es nicht.“

    Sonjas Antwort wirkte ehrlich, doch der letzte Ton fiel in unüberhörbare Tiefen der Enttäuschung. Für den Rest des Morgens vergrub sie sich in ihre Bücher und beteiligte sich auch am Unterricht kaum. Wann immer Ray sie ansprach, fielen ihre Antworten kurz und lustlost aus. Ray war über Sonjas Verhalten so frustriert, dass er prompt seine Erdkunde-Ex in den Sand setzte.

    Die Situation änderte sich erst am nächsten Tag, als sich Sonja unerwartet für ihr „zweifelhaftes Verhalten“, wie sie sich selbst erklärte, entschuldigte.

    „Schau mal, das habe ich heute Morgen aus der Bibliothek gefischt. Vielleicht interessiert’s dich ja?“

    Im selben Moment als Professor Finch den Klassensaal zum Mathematik-Unterricht betrat, schob sie ihm eilig einen leicht zerfledderten Comicband unter dem Tisch zu. Das Cover zierte fünf in knallbunten Kostümen verkleidete Menschen in typischer Superheldenmanier abgelichtet. Darüber hieß es Hoenn-Ranger - Miteinander für den Frieden.

    „Glaube aber kaum, dass das wirklich authentisch ist …“ schulterzuckte Sonja leise.

    Ray strahlte. „Das ist cool! Danke!“

    Von da an ging es aufwärts. Nun, mit dem verlockenden Comic in Griffreichweite, fiel es Ray zwar noch schwerer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, aber irgendwie schaffte er es dann doch zur Frühstückspause, wo er das Heft gleich zweimal von vorne bin hinten durcharbeitete. Die Idee hinter den Hoenn-Rangern war simpel. In den zwei Geschichten „Ein Eierdieb auf der Flucht“ und „Rettungsmission Salzwassergrotte“ stießen die wiederkehrenden Figuren unverhofft auf unterschiedliche Probleme, die sie mit Witz und Spannung lösten. Im Mittelteil hielt der Comic noch Bastelideen und kindgerecht aufbereitetes Wissen zum Thema Umweltschutz parat. Als Eagle Ray beim Lesen bemerkte, kommentierte er herablassend, dass er sich bereits mit acht Jahren zu alt für diesen Ramsch gefühlt habe. Ray aber war es egal, auch, dass es wahrscheinlich teilweise hoffnungslos überzogen war und wenig mit der Realität gemein hatte. Die Botschaft dagegen war klar und spiegelte die uneigennützige Mentalität der Ranger wider, so wie es ihm die Professoren kürzlich erklärt hatten.


    Pünktlich zur fünften Schulstunde traf Ray am Hinterausgang der Schule ein – der Treffpunkt der Ranger-AG. Einige seiner Mitschüler waren bereits da, die wenigsten aber kannte er, und wenn dann nur flüchtig. Die meisten von ihnen gehörten zur zweiten Jahrgangsstufe. Ein hochgewachsener, stämmiger Suicune mit kurzen, rötlichen Haaren, der gerade allerlei Apparaturen aufbaute, gehörte sogar der dritten Jahrgangsstufe an. Eine Person stach ganz besonders heraus, und das nicht nur wegen ihrer langen, grauen Cargohosen und dem roten Oberteil, die in Kombination wie eine exotische Uniform wirkten. Auch war die Frau mit den feurigen roten Haaren und dem Meer aus Sommersprossen im Gesicht mindestens zehn Jahre älter als die restlichen Anwesenden.

    „Oh, hi! Du musst Ray sein, der Wunderknabe.“

    Die Rangerin reichte Ray die Hand. Dieser erwiderte den Gruß verlegen.

    „Ersteres ja. Zweiteres kann ich so nicht bestätigen. Wer sagt das von mir?“

    „Normalerweise neigt der gute Armadis ja nicht zu Übertreibungen. Aber als er mich vor ein paar Tagen angerufen und gefragt hat, ob ich einen ‚besonderen Schüler’ noch in die AG aufnehmen würde, klang das irgendwie nach einem Wunderknaben. Ansonsten wärst du ja jetzt nicht hier“, sagte die Rangerin grinsend.

    „Wunderlich bin ich auf alle Fälle. – Sie kennen meinen Hauslehrer?“, fragte Ray.

    „Das mit dem ,Sie’ vergessen wir gleich wieder“, lehnte die Frau entschieden ab. „Jennifer Bonnet, die Rangerin vom Dienst. Die Flut hat mich vor drei Jahren hier angespült und seitdem komme ich von der Insel nicht mehr weg. Spaß natürlich“, zwinkerte sie. „Ich kann mir schon gar kein anderes Leben mehr vorstellen. Und ja: Ich kenne Armadis. Hat mir alles beigebracht, was ich weiß. Jedenfalls einiges. Die Basics eben. Du verstehst schon …“

    „Joa, er ist ’ne Wucht. - Du warst also auch hier Schülerin?“

    „Ja, zwei Jahre in Raikou, so wie du. War eine feine Zeit, vielleicht sogar die beste meines Lebens“, seufzte Jennifer nostalgisch. „Aber genug von diesem sentimentalen Geplänkel. Du bist hier, weil du das Zeug zu einem Ranger hast. Was weißt du schon so über uns?“

    „Wenn die Hoenn-Ranger authentisch sind, ein bisschen was. Ansonsten so gut wie nix“, erklärte Ray.

    Wieder seufzte Jennifer. „Ahh, die Hoenn-Ranger. Als Kind hab’ ich sie geliebt. Das war auch der Grund, warum ich letztendlich eine Rangerin wurde. Leider werden sie mittlerweile nicht mehr produziert. Und mit der Realität haben sie auch nur wenig zu tun, wie du dir vielleicht vorstellen kannst. Das ganze Superhelden-Getue, Streiter für Frieden und Gerechtigkeit, und am Ende gab’s immer eine Pizza-Party. Hah, schön wär’s …“ Entschlossen stemmte sie ihre Hände in die Hüfte. „Was hältst du von einem kleinen Spaziergang. Unterwegs kannst du mich alles fragen.“

    „Sicher, warum nicht“, schulterzuckte Ray. „Was ist mit den anderen? Kommen die auch ohne dich zurecht?“

    „Logo. Würde mir mehr Gedanken über unser Wohlergehen machen, stimmt’s, Jason?“, zwinkerte sie verschwörerisch und winkte dem hochgewachsenen Suicune zu.

    „Hey, Champ! Was auch immer Jenn dir gerade eingeflüstert hat, ist gelogen“, rief der Suicune mit Namen Jason zurück. Diese grinste Ray breit an.

    „Ne, Spaß beiseite. Jason ist natürlich toll. Er ist unser Technik-Freak hier in der AG. Wenn mal was nicht hinhaut, drücken wir ihm zwar immer gerne die Schuld in die Schuhe, aber er könnte den Laden wahrscheinlich alleine schmeißen.“

    Jennifer sammelte einige Utensilien aus dem technischen Bestand ein. Dann ging es im Schlendergang um das Schulgelände. Ray hatte Fragen – unendlich viele. Allerdings hatte er gehofft, die Ranger im Einsatz beobachten zu können. Sicherlich hätten sich dadurch die meisten von alleine beantwortet. Und Jennifers herausforderndes „Also?“ half ihm da nicht weiter. Nun überlegte er fieberhaft, womit er beginnen sollte.

    „Ich war ziemlich überrascht“, überlegte Ray laut, „dass man als Ranger ohne Computerkenntnisse nicht weit kommt. Ich hab’ mir bei dem Begriff eher was Traditionelles vorgestellt, Natur pur oder so. Ist das wirklich ein Ding?“

    „Oh, ja! Auf jeden Fall. Bin immer wieder erstaunt, was unsere Wissenschafts-Abteilung aus dem Ärmel zaubert. Man hat sich kaum an die alte Ausrüstung gewöhnt, schon rückt was Neues nach. Aber zugegeben: Wir reine Ranger haben’s da einfacher. Meistens reicht ein kurzer Lehrgang und wir sind wieder auf dem neuesten Stand. Wenn ich da aber so an unsere Techniker und Mechaniker denke …“

    „Wo ist da der Unterschied? Ranger, Techniker und Mechaniker, meine ich? Letzteres klingt ziemlich gleich“, sagte Ray.

    „Sehr gute Frage, und meistens auch eine der ersten, die ich jedes Jahr von unseren Frischlingen in der AG zu hören bekomme. Also, wie du sicher bereits weißt, schickt die Ranger-Vereinigung ihre Mitarbeiter in die Welt hinaus. Überall haben wir kleinere und größere Stützpunkte, quasi Brückenköpfe, von denen wir agieren, zu unseren Missionen aufbrechen und Areale verwalten. Der nächste und einzige hier auf der Insel liegt in Green Ville. Die reinen Pokémon-Ranger sind die meiste Zeit im Feld unterwegs. Aber natürlich muss die Basis auch immer besetzt sein. Wir brauchen Leute für die Kommunikation mit den örtlichen Stellen und dem Hauptquartier, Personal für die Wartung und Pflege unserer Ausrüstung und natürlich muss auch jemand die Tür aufmachen.“

    „Das machen dann die Techniker und Mechaniker?“, schlussfolgerte Ray mit fragendem Unterton.

    „Fast“, nickte Jennifer. „Techniker sind in aller Regel im Hauptquartier in der Almia-Region und in den größeren Stützpunkten anzutreffen, nicht aber in den kleineren. Sie regeln die weltweite Kommunikation, entwickeln neue Ideen und Ausrüstung und bereiten diese für den Einsatz in unseren Brückenköpfen vor. Ein wenig Verwaltung gehört auch noch dazu. So viel zu den Technikern also zu den Technikern.“ Jenny machte eine kurze Pause. „Wir Ranger werden von unserem Hauptquartier mit Ausrüstung versorgt und brechen von den Brückenköpfen zu Missionen auf und patrouillieren routinemäßig in den Revieren.“

    „Ihr macht euch also draußen die Hände schmutzig, während die Techniker sich drinnen einen faulen Lenz machen“, scherzte Ray.

    „Sozusagen“, zwinkerte die Rangerin, schüttelte dann aber gleich wieder den Kopf. „Naah, so leicht haben es die Techniker aber auch nicht. Wir wären übel dran, wenn sie nicht da wären, oder ohne unsere Mechaniker. Zugegeben: Vielleicht haben’s die Techniker vergleichsweise einfacher. Aber das hast du nicht von mir.“ Wieder zwinkerte sie, diesmal verschwörerisch.

    „Und die Mechaniker?“, fragte Ray.

    Jennifer atmete erschöpft aus. „Mechaniker sind unsere Alleskönner. Sie sind quasi Techniker und Ranger zusammen in einer Person. Als solche machen sie auch genau das. Sie regeln die Kommunikation in unseren kleineren Basen, warten die Ausrüstung, bereiten diese für Einsätze vor und bedienen diese in unseren vorgeschobenen Basiscamps. Ferner sind sie auf den Gebrauch unterschiedlicher Fortbewegungsmittel zu Land, im Wasser und in der Luft spezialisiert. In Ausnahmefällen verrichten Mechaniker auch mal den ein oder anderen Außeneinsatz, wenn gerade kein Ranger zur Verfügung steht. Keine Frage, dass die Ausbildung ein Knochenjob ist. Das kannst du mir ruhig glauben.“

    „Ranger sind im Außeneinsatz tätig. Sie werden vom Hauptquartier zu Missionen abkommandiert oder patrouillieren durch ihre Reviere für Spontaneinsätze. Techniker und Mechaniker unterstützen die Ranger aus der Ferne oder direkt vor Ort“, rekapitulierte Ray. „Aber wo genau kommen jetzt Pokémon mit ins Spiel? Der Job heißt ja ,Pokémon-Ranger’.“

    „Guter Punkt, dazu komme ich jetzt. Du weißt ja: Wo Menschen zusammenleben, gibt’s auch mal Probleme. Das ist bei Pokémon nicht anders. Und wenn dann Menschen und Pokémon zusammentreffen, kann es auch mal richtig krachen. Wir Ranger fundieren als Sprachrohr zwischen unseren beiden Rassen. Auch unterstützen wir uns gegenseitig, wenn beispielsweise höhere Gewalt im Spiel ist - Sturm, ein Brand, Hochwasser und so weiter. Wenn es die Situation erfordert oder es sie vereinfacht, setzen wir Pokémon zur Lösung ein. Jeder Ranger hat einen Pokémon-Partner, ähnlich wie auch hier jeder Schüler an der Celebi-High. Wo ihr euch aber gerne mal für einen Kampf verabredet, um eure Kräfte zu messen oder Differenzen beizulegen, streben wir Ranger jedoch eine gewaltfreie Lösung an.“

    „Das klingt jetzt so, als wären wir hier alle notorische Brutalos ohne Sinn und Verstand“, monierte Ray. „Du warst selber hier an der Schule, also müsstest du wissen, wie’s läuft. Viele wollen Trainer werden, und das ist halt kein Kaffeekränzchen. Aber das heißt ja noch lange nicht, dass wir unsere Pokémon zu Kampfmaschinen entwickeln. So jedenfalls habe ich das nie empfunden.“

    „Ne, schon klar. Wollte ich damit auch nicht andeuten“, entschuldigte sich Jennifer. „Aber die Unterschiede müssen dir bewusst sein. Ranger gehen einer Konfrontation nicht aus dem Weg, versuchen diese aber stets, friedlich zu lösen, und greifen nur im absoluten Ausnahmefall zu harten Bandagen. Zweifellos gibt es auch unzählige altruistische Trainer, die tagtäglich ihr Leben riskieren, wo eigentlich wir Ranger mit unseren ganz eigenen Mitteln und Wege gefragt wären. Aber wir können halt auch nicht überall gleichzeitig sein. Darum sind wir natürlich immer über jede Hilfe dankbar.“

    Ray ahnte, dass sie im Gespräch an einem Punkt angekommen waren, wo es erst richtig interessant würde. Er schielte auf den grünen Apparat, den Jennifer bei ihrem Aufbruch aus dem Schulbestand aufgesammelt hatte und nun wie einen übergroßen Armreif zwischen Handgelenk und Ellenbogen trug. Das Gerät besaß eine rechteckige Form, die Kanten aber waren rund und unsymmetrisch. In der oberen Armhöhe gab es ein leuchtendes Bedienfeld, Knöpfe oben und unten sowie etwas, das wie ein Audioein- oder –ausgang aussah. Darunter, etwas in dem Zwischenraum versunken, hatte das Gerät einen stark abgegriffelten Touchscreen. Dort, wo das Handgelenk begann, war etwas eingebaut, das auf den ersten Blick wie die Linse eines Kaleidoskops aussah.

    Jennifer, die Rays ungeteiltes Interesse bemerkte, grinste. „Ja, das ist so etwas, was ich mit ,Mitteln und Wege’ meine. Das hier“, sie possierte mit senkrecht erhobenem Arm, „ist ein Athena. A wie Aufklärung, T wie Tranmission, H wie Hilfsbereitschaft, E wie Empathie, N wie Navigation und A wie Armreif; der griechischen Göttin der Weisheit nachempfunden. Ein Wunderwerk der Technik. Und ein echtes Wunder, wer sich dieses Apronym ausgedacht hat … Apronym, oder? Akronym?“

    Ähh“, machte Ray.

    „Egal. Jedenfalls“, fuhr Jennifer nach kurzer Pause fort, „ist das ein so ein Gerät, mit dem wir arbeiten, beziehungsweise gearbeitet haben. Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, hat dieses Teil hier schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Das ist ein Modell 5.1. Bei der Ranger-Vereinigung sind wir mittlerweile im zweistelligen Bereich angelangt.“

    „Und was kann das so?“, fragte Ray. „Karte und Funk?“

    „Zum Beispiel. Das allein wäre aber nichts Besonderes“, sagte die Rangerin. „Mittels eines schwachen elektromagnetischen Impulses tastet das Athena die unmittelbare Umgebung ab. Diese Daten wandern in Echtzeit zu unseren Basen, wo sie ausgewertet und anschließend an das Athena zurückgesendet werden. Auf dem Display sehen wir dann, wo und welche Pokémontypen sich der Nähe befinden – ,Umgebungsdaten’ nennen wir das. Komm’, ich zeig’s dir.“

    Einige gezielte Knopfdrücke später schaute man gespannt auf das Display, auf dem mittlerweile eine Karte von dem Schulgelände zu sehen war. Da war die Celebi-High als großes, halbkreisförmiges Gebäude abgebildet, dazu die Mensa und die Arena links und rechts. Die Turnhalle war zu sehen und Pausenhof sowie Sportplatz hoben sich ebenfalls sehr gut von der restlichen Umgebung hervor. Doch so akkurat die Karte auch war: Es gab keine Anzeichen von Pokémon auf ihr.

    Die Erwachsene atmete frustriert aus. Nach einigen Knopfdrücken rief sie anschließend mit theatralisch brüskierter Stimme in das Athena: „Jason! Wo sind meine Umgebungsdaten?“

    Schon nach wenigen Augenblicken mischte sich Jasons gemütlicher Tenor unter das statische Rauschen. „Augenblick, haben wir gleich … Hm, sollte jetzt funktionieren.“

    Jennifer schaute auf das Display und nickte. „Danke.“ So wie sie die Funkverbindung kappte, drehte Jenny ihren Kopf Ray zu und lächelte. „Sag’ ich doch: Jason ist der beste.“

    Rays Augen weiteten sich vor Aufregung. Auf dem Bildschirm waren inzwischen verschiedenfarbige und -förmige Symbole aufgetaucht. Sie waren grün, weiß, blau, gelb, türkis und noch mehr, manche zackig, manche gewölbt, manche rund. Die meisten davon befanden sich in der Arena, wo gerade die Trainings-AG tagte. Aber auch draußen rund um das Schulgelände. Waren das alles Pokémon?

    Jennifers Lächeln wurde breiter. „Gut, was? Der Scanradius beträgt rund 500 Meter und durchdringt fast jedes Material. Pokémon, die sich in Pokébällen befinden, werden allerdings nicht erfasst. Die Idee wäre vielleicht nicht verkehrt, hier stößt aber unsere Wissenschaft an ihre Grenzen. Außerdem bekämen wir dann natürlich früher oder später alle Behörden auf den Hals – Spionage, Datenschutz usw. Das hier“, sie deutete auf den Bildschirm, wo ein türkisfarbiges Symbol einen weiten Schlenker um das Schulgebäude machte, „ist Tauboga, aka Niri, meine Partnerin und Auge am Himmel. Hier haben wir ein Pokémon mit der Typenkombination Pflanze-Gift, eins vom Typ Normal und zwei vom Typ Wasser in der Arena – scheint ein Doppelkampf zu sein. Wenn mich nicht alles täuscht, genehmigt sich außerdem ein Pokémon vom Typ Normal gerade in der Mensa einen Happen. Und hier draußen kreucht und fleucht natürlich auch eine Menge rum, wenn man nur genau hinsieht.“

    Ray verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Wenn der Radar nicht log, hielt sich ein Pokémon in unmittelbarer Nähe zu ihrer Position auf. Das Symbol dazu schimmerte abwechselnd gelb und türkis und war rund gezackt. Er fühlte sich plötzlich nicht mehr wohl in der Haut; nun, da er wusste, dass er beobachtet wurde.

    „Kein Grund, nervös zu sein. Hier, schau.“ Jennifer deutete auf den Kirschbaum an der äußersten Peripherie des Schulhofes. Zwischen den Zweigen und den wenigen orangefarbenen Blättern erkannte Ray plötzlich ein paar vertraute Knopfaugen.

    Ruhe ließ seine nervös angespannten Muskeln erschlaffen. „Ach, das ist nur Emolga“, atmete er aus.

    „Oh, ihr kennt euch?“, fragte die Rangerin überrascht. „Ich habe noch nie ein Emolga hier auf der Insel gesehen. Sieht noch ziemlich jung aus.“

    „Flüchtig“, antwortete Ray. „Es gab da diesen Zwischenfall, als wir die Eier ausbrüten mussten …“

    Jennifer lachte kurz spöttisch auf und wiederholte: „,Diesen Zwischenfall’? Ich hab’ gehort, es gab da eine ganze Menge Zwischenfälle …“

    „Jedenfalls“, fuhr Ray fort, „hat sich Emolga damals selbständig gemacht und dabei eine Fensterscheibe auf dem Gewissen. Seitdem stromert sie hier rum, klaut Hausaufgaben, sorgt für Unruhe etc.“

    „Interessant“, murmelte Jennifer. Plötzlich hatte sie ein herausforderndes Lächeln auf dem Gesicht. „Normalerweise gehen wir mit der Befreundung nicht leichtfertig um, schließlich haben Pokémon auch ihre Rechte, aber im Falle eines solchen Früchtchens können wir ruhig mal eine Ausnahme machen. Außerdem ist das eine gute Gelegenheit, dir zu zeigen, was das Athena sonst noch so kann. ,Befreundung’“, fuhr sie auf Rays verdutzten Gesichtsausdruck hin fort, „nennen wir den Prozess, bei dem wir mithilfe unseres Athenas mit wilden Pokémon kommunizieren. Insbesondere dann, wenn Worte allein nicht ausreichen, schlägt unsere Technik die notwendigen Brücken. Nicht nur können wir so das friedvolle Zusammenleben zwischen Pokémon und Menschen fördern, auch lassen sich so Gefahrensituationen entschärfen, zum Beispiel, wenn Revierkämpfe außer Kontrolle geraten oder wenn im Ernstfall ein Gebiet evakuiert werden muss. Manchmal leihen wir uns auch die Kräfte von Pokémon, um unser Umfeld zu manipulieren, so wie du am Wochenende.“

    Ray verstand, wenn auch bei Weitem nicht alles. Er vermochte sich ein gutes Bild davon zu machen, wie schwierig es war, wildlebende Pokémon von guten Absichten zu überzeugen. Nicht nur einmal hatte er versucht, sich mit herumstrochelten Stadt-Pokémon anzufreunden – mit mäßigem Erfolg. So wie er keine Brotkrumen mehr bei sich trug, hatten sich die Taubsi verabschiedet und eine kleine Narbe am rechten Zeigefinger zeugte stumm von einer Begegnung mit einem Rattfratz-Schneidezahn. Und Ranger hatten es zweifelsohne auch mit weitaus größeren Brocken zu tun, die möglicherweise noch nie zuvor Kontakt mit einem Menschen hatten. Umso neugieriger war er, als sich Jennifer etwas von seiner Seite löste und Emolga ansteuerte. Noch gute 20 Meter von ihrem Ziel entfernt blieb sie schließlich stehen.

    „Hey, Emolga, möchtest du nicht kurz zu uns rüberkommen? Wir würden gerne ein paar Takte mit dir reden“, rief sie dem Pokémon zu und erntete gleich daraufhin einen abweisenden Blick mitsamt eisiger Schulter. Die Rangerin drehte sich augenrollend Ray zu. „Diese Reaktion hatte ich erwartet. Also, pass jetzt gut auf.“ Mit dem ausgestreckten Arm, an dem sie das Athena trug, peilte Jennifer Emolga an. Ein in gelben Farbtönen blinkendes, wild um die eigene Ache rotierendes Projektil löste sich aus der Spitze des Geräts, fast so groß wie ein Golfball und so schnell wie ein geschlagener Tennisball. Mit jeder Bewegung ihres Arms navigierte die Rangerin das Geschoss in die gewünschte Richtung. Bereits die kleinste Winkelanpassung änderte die Flugbahn entsprechend. Dabei zielte Jennifer nicht direkt auf das Pokémon, sondern konzentrierte sich, einen zunehmend enger werdende Zirkel um die Baumkrone zu halten. Mehr neugierig als verängstigt beobachtete Emolga die Bewegung der Maschine. Als sich diese aber dann doch irgendwann dem Pokémon zu sehr näherte, wehrte sich Emolga mit elektrischen Entladungen, die von ihren gelben Backentaschen gespeist wurden. Jennifer reagierte prompt, zog das Athena in die entgegengesetzte Richtung, woraufhin sich die Bahn um die Baumkrone wieder deutlich vergrößerte. Emolgas Blitze zuckten weiterhin umher, wenn auch ins Leere, denn schien sie mittlerweile Gefallen an der Zielübung gefunden zu haben. Inzwischen blinkte die umherrasende Maschine abwechselnd gelb und grün, dann nach einigen Runden um den Baum nur noch ganz wenig gelb und schließlich völlig grün. Ab diesem Moment hörten auch Emolgas Angriffe auf. Nach einer letzten Runde um die Baumkrone kehrte das Geschoss schließlich zielgerecht in das Athena zurück. Zum selben Zeitpunkt glitt Emolga von ihrem Ast herunter und landete handzahm auf Jennifers rechter Schulter.

    „Siehst du, keine große Sache“, lächelte Jennifer der Himmelsstürmerin zu. Einige Streicheleinheiten und noch mehr Leckerlis später kehrte sie mitsamt Emolga zu Ray zurück. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen“, stellte sie fest.

    „Das sagst du wahrscheinlich zu jedem, dem du das das erste Mal zeigst“, antwortete Ray mehr in Emolgas als in Jennifers Richtung. „Hast du Emolga mit dem Ding jetzt gefangen?“

    „Nein, wir fangen keine Pokémon, wir kommunizieren. Bei der Befreundung übertragen wir unseren guten Willen und senken dadurch negative Gefühle, die den Kontakt erschweren so wie Scheu oder Angst. Gleichzeitig erfahren wir mehr über sein Wesen und mit welchen Gedanken und Gefühlen es sich beschäfigt. Emolga hier zum Beispiel“, Jennifer liebkoste Emolgas Nacken, „besitzt ein starkes Selbstbewusstsein. Dennoch mag sie Streicheleinheiten, auch wenn sie es niemals offen zugeben würde. Außerdem schiebt sie gerade im Moment einen Mordshunger, was, ehrlich gesagt, in neun von zehn Fällen der Fall ist. ,Willst ein guter Freund du sein, dann iss dein Brot nie allein’, wie man bei uns so gerne sagt.“ Sie zeigte Ray das Display ihres Athenas, auf dem einige Informationen abgebildet waren. Darunter befanden sich die von Jennifer aufgezählten Einzelheiten, aber auch Dinge wie Emolgas Spezies, Größe und Gewicht. Gleichzeitig zeigte sich Jennifer aber etwas ratlos darüber, welche Bedeutung ein Buch und etwas, das wie eine Obstschale aussah, hatten. „Vielleicht Wissbegierigkeit und noch mehr Hunger“, interpretierte die Rangerin. Ray aber gluckste. Er hatte Emolgas erdbeerholunderquark-verschmiertes Gesicht und Julias zerfleddertes Mathematikheft noch lebhaft vor Augen.

    „Naah. Emolga steht auf Erdbeeren und alles, was auch nur ansatzweise danach riecht.“

    „Die wachsen aber nicht auf Bäumen, und schon gar nicht zu dieser Jahreszeit. Na, wir finden schon was für dich.“ Mit strahlenden Augen nahm Emolga ein weiteres Leckerli entgegen. „Die neueren Athenas bringen noch mehr Informationen auf den Schirm und sind in ihrer Handhabung noch ein gutes Stück einfacher. Schon seit einigen Jahren arbeiten unsere Techniker außerdem an einer Methode, ein direktes Interface mit den Pokémon herzustellen, also quasi ein simultaner Gedankenaustausch. Das ist unglaublich spannend. - Wenn du noch weitere Fragen und Lust nach mehr Input hast, können wir uns ja noch weiter unterhalten.“

    „Und ob!“, stieß Ray begeistert aus.

    Jetzt erst recht.


    Hinweis: An dieser Stelle werde ich eine Pause einlegen, um mich wieder anderen Projekten zu widmen. Bis auf Weiteres ruht diese Geschichte.