Kapitel II: Allein unter Fremden »„Bist du so naiv, Absolwesen? Ein Mensch kann nicht deine Familie sein, sie könnten niemals solch ein Ersatz sein!
Teil I/III
Sie verstehen uns nicht, sie fühlen nicht mit uns, sie sind schlechte Wesen!“«
Freiheit existiert im Herzen ~ Noxa
„Beruhige dich, es gibt keinen Grund Angst zu haben“, meinte das Banette mit sanfter Stimme, nachdem sie Yune geschickt unter der Brust festgehalten hatte, um sie aufzuhalten. „Du bist hier doch unter Freunden.“ Der Wind peitschte noch immer den Regen vor sich her, der nun auch klatschend auf das Gestein traf. Mit starkem Rauschen stimmten die Bäume in das Heulen ein. Yune drehte sich noch einmal um und betrachtete, nun von schützendem Gestein umgeben, die volle Kraft des Sturmes, der dort wütete. Ein weiterer Blitz krallte sich zuckend in die bleiernen Wolken, die gefährlich tief zu hängen schienen. Nur für einen Moment erleuchtete er das Land unter sich, sein Licht spiegelte sich in den großen, braunen Augen des Evoli-Mädchens. Danach krachte der Donner zornig in den Wolkenbergen, als wolle er diese bersten. Erschrocken kauerte sich Yune auf den Höhlenboden, die Ohren verängstigt angelegt. Die Dunkelheit hüllte sie schon bald ein und es war schwer zu sehen, was vor einem war. Der ein oder andere Blitz vertrieb die Schatten für einen kurzen Augenblick, doch sofort kamen sie zurückgeschlichen und hinderten Yune daran, mehr zu erkennen. Sie hielt sich deshalb dicht an das Banette, weil sie Angst hatte, sich hier zu verlaufen. Der kalte, raue Boden fühlte sich unangenehm auf ihren feuchten Pfotenballen an, an denen bald immer mehr winzige Steine und etwas Erde klebte. Bei jedem Schritt versuchte sie einige von ihnen loszuwerden, in dem sie eine ihrer Pfoten kräftig schüttelte. „Da musste Zorua sich etwas einfallen lassen, um noch an die leckere Spezialität zu kommen. Also sprach es schmeichelnd auf das Plaudagei ein indem es sagte: ,Weißt du eigentlich, wie sehr ich deine wundervollen bunten Federn bewundere?‘ „Ha ha! Da wurde das Plaudagei aber ganz schön reingelegt“, lachte eine hohe Stimme und hatte Probleme beim Sprechen, weil sie gar so kicherte.
Sie strampelte noch eine Weile und versuchte sich von dem Geist-Pokémon loszureißen. Doch sie konnte sich nicht aus dem Griff befreien, die Vorderpfoten hingen in der Luft und ihre Hinterpfoten, die vor Aufregung und dem Regen draußen ganz nass waren, fanden auf dem Höhlenboden kaum Halt; rutschten immer wieder aus. Winzige Steine klebten schon bald ihren Ballen. Vor Erschöpfung hatte sie auch kaum mehr die Kraft dazu, ernsthaft Widerstand zu leisten.
Nachdem sie aber merkte, dass das Banette ihr nichts tat und sie wohl eher noch davon abhielt zurück in das Gewitter zu rennen, beruhigte sie sich. Ihre Bewegungen wurden langsamer, bis sie dann schließlich stillstand, leicht keuchend und mit laut klopfendem Herzen. Yune versuchte ruhig zu atmen. Als das Geist-Pokémon bemerkte, dass sich das Evoli nicht mehr wehrte, lockerte es seinen Griff und richtete sich wieder auf.
Yune drehte sich zu ihrer vermeintlichen Retterin um und blickte das Banette erstaunt an. Eine derartige Reaktion hatte sie nicht erwartet. Bisher hatte sie nur Schauergeschichten über Geist-Pokémon gehört: sie sollen sehr gerissen sein und oftmals aus lauter Freude andere Pokémon und Menschen erschrecken. Das hatte sie bei den vielen Gesprächen in Pokémon Centern, sowohl von Trainern, wie auch deren Begleitern erfahren. Aber dieses schien anders zu sein, ja geradezu freundlich. Die rosenquarzfarbenen Augen wirkten nicht furchteinflößend, sondern aufgeschlossen und fürsorglich, es war gar kein böses Funkeln in ihnen zu erkennen. Yune hatte nämlich aufgeschnappt, dass man so erkennen konnte, ob ein Geist-Pokémon angreifen würde.
Es war schwer, das Banette in der Dunkelheit zu sehen, denn der von dunkelgrauem Stoff verhüllte Körper verschmolz regelrecht mit den Schatten der Höhle. Trotzdem betrachtete Yune ihr Gegenüber eine Weile, weil sie bisher noch keines gesehen hatte. Als ein weiterer Blitz den Himmel zuckend erleuchtete, erhaschte sie ein genaues Bild.
Die zwei Beine des Geist-Pokémon waren kegelförmig und die Füße erstaunlich klein dafür, dass ein verhältnismäßig großer Körper auf ihnen lastete. Obwohl Yune zugeben musste, dass es nicht so wirkte, als ob das Pokémon überhaupt den Boden mit den Füßen berühren würde. Der Körper war ziemlich rundlich und mündete in einen dünnen Hals, auf dem der Kopf saß, der ebenso groß wie der Rumpf selbst war. Die zwei Arme hielt das Banette seitlich von sich gestreckt, welche weiter wurden und schließlich in dreifingrigen Händen endeten, die herabhingen.
Auf dem Gesicht lag ein freundliches und ehrliches Lächeln, der Mund besaß die Form und Beschaffenheit eines Reißverschlusses. Die Augen glichen wirklich Rosenquarzen und darüber wölbten sich Augenlider, die eine Art Riss in der Mitte aufwiesen. Auf dem Kopf selbst, trug es ein spitzes Horn, daneben waren zwei weitere, die aber im Aussehen dem ersten bis auf die kleinere Größe glichen. Am Hinterkopf fiel weiterer Stoff herab, zerknittert und geknickt - er wirkte wie Haar - welcher spitz zulief.
Das Geist-Pokémon hatte Yune Zeit gegeben, um es eindringlich anzuschauen, im Gegenzug hatte es nämlich dasselbe getan und bemerkte nun mit erschreckter Stimme: „Du bist ja völlig durchweicht!“ Ein sorgenvoller Ausdruck trat in die zartrosa Augen und ließ Yune nur noch mehr staunen.
„Komm mit, sonst wirst du uns noch krank“, fuhr das Banette fort und winkte sie heran. Als es Yune den Rücken kehrte, konnte sie außerdem eine Art Schweif sehen, der dieselbe gelb-goldene Farbe wie der Mund hatte und vom Körper waagerecht abstand. Zuerst war er noch spitz und dünn, doch dann schien er auszufransen. Er ähnelte in seiner Form stark einem dicken Pinsel.
„Ob Mama, Papa und Refia die Höhle noch erreichen konnten?“, fragte sie sich und fühlte sich plötzlich ganz allein. Ihr Fell lag schwer auf ihrem Körper, es hatte sich mit dem Wasser wirklich vollgesogen und sie war nass bis auf die Haut. Sie fröstelte und begann zu zittern, jetzt wo sie nicht mehr rannte, merkte sie erst, wie kalt es eigentlich war.
Während sie gedankenverloren dem Gewitter zusah und über ihre Familie nachdachte, kam das Banette hinzu und setzte sich neben sie. Yune hatte es fast nicht bemerkt, so leise bewegte sich das Geist-Pokémon fort. Das Evoli wandte sich nun dem Banette zu und sah es durchdringend an.
„Wo bin ich?“, wollte Yune wissen und versuchte sich dabei nicht anmerken zu lassen, dass sie sich immer noch etwas fürchtete.
„Unter Freunden“, erwiderte die schwarze Puppe und sie konnte genau sehen, dass sich der Mund ihres Gegenübers nicht bewegt hatte. Das Banette erhob sich und ging wieder tiefer in die Höhle hinein. Ohne zu zögern folgte das Evoli-Mädchen, schüttelte aber davor noch etwas Wasser aus seinem Fell und stellte die Ohren aufmerksam auf, um für jede mögliche Gefahr vorbereitet zu sein. Der Ausspruch des Geist-Pokémon hallte noch eine Weile in ihrem Kopf wider und sie fragte sich, ob das nicht nur einfach daher gesagt war oder ob mehr dahintersteckt. Die Neugierde auf das Höhleninnere war aber stärker, als ihr Misstrauen.
Die Höhle war recht groß, wie sie feststellte und beschrieb einen leichten Bogen nach rechts, sodass die Bewohner selbst vor sehr starken Niederschlägen geschützt waren. Als sie sich dieser Biegung näherten, erkannte sie einen Lichtschein und alle ihre Sinne waren gespannt. Woher sollten die Pokémon denn Licht haben? Wohnte hier etwa ein Mensch?
Mit diesem Licht kam aber auch eine angenehme Wärme und das Evoli-Mädchen strebte nun schon ohne groß darüber nachzudenken darauf zu. Voller Wohlbefinden schloss sie kurz die Augen und konnte schon förmlich spüren, wie die Nässe aus ihrem Fell wich. Als sie diese wieder öffnete, musste sie ruckartig stehen bleiben, denn sonst wäre sie auf das Banette aufgelaufen, welches nun stillstand und erwartungsvoll über die Schulter zu Yune hinab sah.
Erst jetzt bemerkte sie die Stimme, die leicht in der Höhle hallte. Sie klang freundlich und schien gerade etwas zu erzählen. Voller Staunen und Neugierde hörte das Evoli aufmerksam zu.
Etwas ungläubig blickte das Flug-Pokémon von dem hohen Ast herunter, die lilafarbene Köstlichkeit im rosafarbenen Schnabel.
,Du glaubst mir wohl nicht, oder? Aber nein, ich habe schon immer beneidenswert zu dir und deinesgleichen aufgeblickt. Der Glanz deines Gefieders ist nichts im Vergleich zu meinem Fell. Ach, was gäbe ich darum, ein solch herrliches Kleid zu haben!‘, flötete Zorua und schmeichelte dem Plaudagei, dessen Augen nun glänzten vor Stolz. Es schien zu funktionieren, genauso wie es geplant war.
,Irgendwann wird er seinen Schnabel ja schon aufmachen und dann schnapp ich mir mein Fressen!‘, dachte der schwarze Fuchs gewitzt. Aber noch hatte er sein Essen nicht und begann weiterhin, dem auf der Eiche sitzenden Plaudagei Komplimente zu machen.
,Ich denke, es gibt kein schöneres Pokémon auf der Welt, als dich und deine Kameraden. Man sehe sich nur deine stattliche Statur an, dieser kühne, unerschrockene Blick und deine wohlgeformte Kopffeder. Kein anderes fliegendes Geschöpf besitzt eine derart schöne Kopfbedeckung, die nur noch an Herrlichkeit gewinnt, je länger man sie betrachtet. Wirklich, du bist der König!‘, meinte Zorua voller Begeisterung und Bewunderung.
Auf dem Ast, mehrere Fuß über ihm, wand sich das Plaudagei bereits unter so viel Lob. Es hüpfte von einem gelben Bein auf das andere, raschelte mit den Flügeln und blickte immer wieder nach unten, nur um die vor Staunen glänzenden Augen des kleinen, schwarzen Fuchses zu sehen.
,Oh, wie gern würde ich doch einmal deine Stimme hören, um mit eigenen Ohren wahrzunehmen, was mir bereits so viele in Schwärmereien versunken erzählt haben. Ein Lied, ja genau das ist es! Oh, würdest du mir diesen Wunsch erfüllen und für mich singen? Ich würde nah und fern den Klang deiner unbeschreiblichen Stimme verkünden! Würdest du das für mich tun, oh König?‘, schlug Zorua vor und war sich sicher, dass das geklappt hatte. Es musste nur noch auf den richtigen Augenblick warten.
Von so viel Schmeicheleien überwältigt, nickte der bunte Vogel eifrig. Er vergaß jegliche Vorsicht und öffnete seinen rosafarbenen Schnabel weit.
Die lilafarbene Spezialität fiel herunter und geschickt fing Zorua sie mit dem Maul auf. Hastig verspeiste es die wohlschmeckende Delikatesse, während das Plaudagei auf dem Baum gerade bemerkt hatte, was geschehen war. Mit Entsetzen musste er mit ansehen, wie sein Mittagessen vor seinen Augen heruntergeschlungen wurde.
Aufgeregt schrie er und stieß auf das Zorua herab mit den Worten: ,Du elender Gauner! Hereingelegt hast du mich!‘
Aber der schwarze Fuchs war zu schnell für den Papagei und flitzte schon wieder zurück in den Wald.
Über die Schulter rief es noch: ,Tja, so kann es gehen. Hoffentlich hast du daraus gelernt, dass man sich niemals von Schmeichlern täuschen lassen sollte! Und mein König ist immer noch Arceus!‘
Mit diesen Worten rannte es unter den Schutz der Bäume davon und das Plaudagei konnte nur auf dem nächsten Baum landen, um erneut nach Futter Ausschau zu halten.“
Ein vielstimmiges Gelächter und Gekicher erhob sich, nachdem der sanfte Erzähler geendet hatte. Yune konnte sie deutlich reden hören, verbarg sich aber noch hinter dem Banette.
„Ich finde, er hätte die Spezialität gleich essen sollen, dann hätte Zorua sie ihm nicht abluchsen können“, meinte ein anderes Wesen in ruhigem Tonfall.
„Selbst schuld!“, polterte eine tiefere Stimme. „Wie Zorua schon sagte, man soll sich eben nicht von Schmeichlern täuschen lassen.“ Dabei platschte etwas laut auf den felsigen Boden.
„Als ob dir das noch nie passiert wäre, Breaker“, erwiderte jemand frech.
„Ist es mir auch noch nicht! Wie kommst du denn darauf?“, verteidigte sich die andere Stimme.
Doch keine Antwort folgte, stattdessen rief jemand: „Hey, Myrrh ist wieder da!“