Incubus

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  • Kapitel 14


    „Ach so“, antwortete ich knapp und biss die Zähne zusammen. Natürlich, das war die naheliegendste Erklärung für ihr Handeln.
    „ ‚Ach so’“, wiederholte er spöttisch. „Was hast du dir dabei gedacht? Nicht nur, dass wir uns Sorgen gemacht haben – du hast Alexia verletzt und sie ist todtraurig! Sie sitzt in ihrem Zimmer und weint, wegen dir. Du bist ihr wichtig, auch wenn du erst eine Woche hier bist. Alexia ist ein Mensch, der entweder sofort oder gar nicht Freundschaften schließt und dich mochte sie wie mich und Amy von Anfang an. Sie dann auch noch stehen zu lassen, während sie sich versehentlich selbst verzaubert hatte, setzt dem Ganzen noch die Krone auf! Du solltest dich bei ihr entschuldigen, sobald sie wieder mit dir reden möchte. Im Moment will sie nur Amy sehen, sonst wäre ich auch bei ihr.“
    Er hatte sich vor mir aufgebaut, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und durchbohrte mich mit seinem Blick. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und atmete tief durch. Ein Stück weit fühlte ich mich geehrt, dass Alexia mich quasi ausgewählt hatte, jedoch empfand ich nun noch schuldiger für das, was ich getan hatte.
    „Es tut mir auch Leid“, sprach ich Richtung Boden. Mir fiel eine grüne Strähne vor die Augen. Irgendwie mochte ich die Farbe nicht mehr und sie war hier wesentlich ungewöhnlicher als im Jenseits. Dort kamen sämtliche Haarfarben vor, denn Dämonen veränderten regelmäßig ihr Aussehen mit Zaubertränken so wie sie es wollten – zumindest die meisten. Allerdings waren das Tränke zur Gestaltwandlung, nicht zu vergleichen mit den schwächeren diesseitigen Amuletten oder Färbezaubern. Am Wochenende würde ich einen mischen, der nur meine Haare veränderte. Die gab es auch im Diesseits, wenn sie auch nicht leicht zu machen waren. Nach diesem Entschluss wanderten meine Gedanken wieder zu Alexia.
    „Geht es ihr sonst gut?“, fragte ich und hob den Kopf.
    „Physisch schon, wenn du das meinst.“ Sein starrer Blick lockerte sich ein wenig und er wedelte mit den gesammelten Kräutern, die er vom Tisch genommen hatte, vor seinem Gesicht herum. „Wozu sind die?“
    „Die hab’ ich gesammelt. Irgendwas musste ich im Wald ja tun.“
    Der Elf schien einen Moment nachzudenken. „Du hast also nicht dieses „Ding“ gesucht?“, hakte er nach, die Stirn gerunzelt.
    „Zumindest bin ich ihm nicht begegnet“, log ich und grinste ihn an. „Ich denke, ich war etwas… in meiner Ehre verletzt“, gab ich schließlich zu, was sich als schwieriger herausstellte, als ich dachte. „Deswegen musste ich raus. Die Sache mit Alexia ist unglücklich gelaufen, sie hätte mir vielleicht auch nicht folgen sollen…“
    Tony ließ sich seitlich auf das grüne Sofa fallen und legte seine Füße auf die Lehne, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Auf seinem Gesicht tat sich ein entschlossener Ausdruck auf.
    „Du schuldest mir noch ein paar Antworten“, sagte er schließlich. „Aber darüber reden wir jetzt nicht, ich hab’ Hunger. Du könntest was holen, die haben in der Kantine sicher noch Essen übrig.“
    Ich nickte. Unter normalen Umständen hätte ich gesagt, er könne es sich doch auch selbst holen, aber ich hatte ja quasi eine Schuld zu begleichen. „Meinst du, ich sollte den beiden Mädchen auch etwas vorbeibringen?“
    Er lächelte bitter. „Kannst du machen. Aber rechne nicht damit, dass du besonders freudig empfangen wirst.“


    Mit schnellen Schritten ging ich durch den Speisesaal Richtung Kantine um unser Abendessen abzuholen. Die Kerzen waren schon gelöscht und die Küchenangestellten räumten gerade die ersten Teller von den Tischen, nur wenige Schüler waren noch anwesend. Ein junger Werwolf im hinteren Teil des Raumes schlang geräuschvoll einen Teller voller Chicken Nuggets herunter, dazu Pommes und Ketchup, seine Freunde daneben schienen zu wetten, wie viele er noch schaffte. Der beißende Geruch von Frittierfett ergab zusammen mit einem eher hintergründigen Geruch von geschmolzenem Zucker eine sehr skurrile Mischung.
    Am Kantinenfenster angekommen klopfte ich kurz an die Holzverkleidung, um jemanden der Angestellten auf mich aufmerksam zu machen. Alle waren damit beschäftigt, aufzuräumen und abzuwaschen.
    Der Kantinenraum war üppig eingerichtet. Ich zählte vier große Backöfen und eine sich an der Wand durch den ganzen Raum ziehende Arbeitsplatte. In der Mitte des Raumes befanden sich mehrere Gasherde, auf einem großen Tisch angebracht und jeweils durch dünne Stahlwände voneinander getrennt. Zwei Rollregale versperrten zum Teil den Blick auf die große, chromfarbene Friteuse, aus der gerade das Fett gelassen wurde. Ein parallel zur Arbeitsplatte verlaufendes Hängeregal, auf dem die verschiedensten Gewürze standen, befand sich etwa auf Kopfhöhe. Weiße, spritzfeste Fliesen bedeckten die Steinwand und verliehen zusammen mit der restlichen, komplett stahlfarbenen Kücheneinrichtung dem Raum einen sehr kühlen Eindruck. Im Hintergrund konnte man noch einige der Angestellten irgendetwas zubereiten sehen, ich konnte aber nicht sagen was.
    Nach einem Moment registrierte mich eine junge Frau in Arbeitskleidung, welche sofort zu mir eilte.
    „Was gibt’s?“, wollte sie freundlich lächelnd wissen. Sie war jung, vielleicht fünfundzwanzig und um ihren Hals hing ein kleines, goldenes Kruzifix, wie es katholische Kinder zu ihrer Kommunion bekamen. Ihre langen, blonden Haare umrahmten ihr jugendliches Gesicht, das unbestreitbar einen asiatischen Touch besaß. Die eng gebundene, weiße Schürze betonte ihre Figur und ein Namensschild mit der Aufschrift ‚Lana’ zierte das darunter liegende schwarze T-Shirt.
    „Hätten sie noch ein wenig vom Abendessen?“, fragte ich höflich nach, „Für vier Personen, bitte, und packen sie es wenn möglich separat ein.“
    „Na klar, kein Problem“, antwortete sie mit einem Zwinkern und verschwand sie aus meinem Blickfeld, woraufhin ich einige Plastiktüten und Pappkartons rascheln hörte. Ich versuchte, ihren Geruch zu ermitteln, was durch die vielen verschiedenen einzelnen Noten, die sich im Kantinenraum besonders zahlreich war, nicht einfach war. Ich vermutete aber, sie war ein Mensch. Allein schon wegen des Kreuzes.
    „Hier, bitte“, sagte sie, als sie zurückkam und mir zwei Tüten reichte, die nach Essen dufteten. Als ich den Geruch von Pommes und Chicken Nuggets einatmete, knurrte mein Magen. Ich hatte wohl doch Hunger.
    „Danke. Schönen Abend noch“, verabschiedete ich mich. Ich versuchte, die Ursache des Zuckergeruchs auszumachen, aber ich konnte nichts Verdächtiges erkennen. Obwohl ich aus irgendeinem Grund neugierig ob dessen Herkunft war, machte ich mich auf Rückweg. Schließlich gab es wichtigeres im Moment.
    Als ich durch das große Tor aus dem Speisesaal ging, dachte ich darüber nach, was ich zu Amy sagen würde – ich ging nicht davon aus, dass Alexia die Tür öffnete.
    Ich entschloss mich, lediglich das Essen zu übergeben und mich kurz entschuldigen, wenn ich bei den Mädchen klopfte. So wie ich Amy einschätzte, würde sie es nicht zulassen, dass ich hereinkäme und mit Alexia redete.
    Ich plante das kurze Gespräch in Gedanken mehrere Male durch, bis ich endlich an ihrem Zimmer angekommen war. Schüchtern klopfte ich an.
    Ein dumpfes „Wer ist das denn?“, erklang dahinter und kurz darauf öffnete sich die Holztür einen Spalt. Amy sah mit einem Auge heraus und als sie mich erkannte, wurde ihr Blick gleichzeitig erleichtert und wütend.
    „Was willst du hier?“, fauchte sie mich schließlich an. Ich hatte mit dieser Feindseligkeit gerechnet und wusste, dass sie es nicht ganz so meinte. Das Essen würde sie sicher annehmen.
    „Ich hab’ euch Abendessen mitgebracht“, antwortete ich schließlich entschuldigend. „Chicken Nuggets und Pommes.“
    Immer noch wütend starrte sie mich weiterhin an und kniff die Augen zusammen. War sie vielleicht doch wütender, als Tony meinte? Ich hatte vorhin schließlich noch die Sorge, dass sie gar nicht mit mir reden würde, aber er hatte mich mit seiner Meinung dazu ein wenig ermutigt. Andererseits meinte der Elf ja auch, ich sollte nicht erwarten, dass sie mir besonders freundlich entgegenkäme.
    „Amy, es tut mir Leid“, setzte ich an. Sie seufzte und ihr Blick wurde weicher, woraufhin sie sich durch die Tür schob. Die Hexe stemmte die Arme in die Hüften und sah mich nun prüfend mit beiden Augen an. Der schwarze Trainingsanzug, den sie trug, betonte ihre schlanke aber athletische Figur und passte gut zu ihrem südländischen Teint. Ich spielte mit dem Gedanken, ob ein Kompliment sie weiter besänftigen würde, ließ es dann aber.
    „Wir haben uns Sorgen gemacht“, flüsterte sie, sodass ihre Mitbewohnerin und Adoptivschwester es im Zimmer nicht hören konnte. „Auch Alexia. Du bist ihr mindestens einhundert Tut-mir-Leids schuldig und ich würde dich ohrfeigen, wenn ich nicht solchen Hunger und du Abendessen hättest. Gib her.“
    Ich hielt ihr eine der Tüten hin und sie griff danach. „Danke“, sagte sie schließlich. Ihr Blick verhärtete sich wieder. „Wenn du noch mal so etwas abziehst, hexe ich dir vier Wochen lang Windpocken an. Verstanden?“
    Ich nickte und lächelte dabei mild. „Meinst du-„, begann ich, aber sie unterbrach mich mit einer scharfen Geste.
    „Nein. Es wäre keine gute Idee, wenn du jetzt mit Alexia redest. Gib ihr Zeit. Du kannst froh sein, dass sie nicht besonders nachtragend ist. Und dass ich es nicht bin.“
    Ich berührte sie sanft an der Schulter und verabschiedete mich dann mit einem Nicken von ihr. Mit einem undefinierbaren Laut verschwand sie wieder hinter ihrer Tür und schob den schweren Riegel vor. Das war besser gelaufen, als ich erwartet hätte. Ich mochte Amy, genauso wie Tony und Alexia. Eine Freundin wie sie zu haben war wohl viel wert – die beiden konnten sich glücklich schätzen. Der Gedanke daran, dass ich nicht hier bleiben konnte, sie vielleicht sogar töten musste, verpasste mir einen Stich in der Brust, verbunden mit einem Gefühl der Leere und Wertlosigkeit. Im Jenseits war ich nur ein Krieger von vielen, wenn auch ein sehr angesehener. Hier war ich eine Hexe von vielen, aber ich hatte Personen, die mich mochten und denen ich etwas bedeutete. War es das vielleicht wert?
    Nein, auf keinen Fall, zwang ich mich zu denken. Ich schalt mich selbst für den Gedanken und verwarf ihn wieder. Es war keine gute Idee, mich damit zu beschäftigen. Loyalität zu meiner Rasse war das wichtigste, schließlich würde ich von den Diesseitsbewohnern getötet werden, wenn nur eine Person an dieser Schule von meiner wahren Identität erfuhr. Der Hass gegen Dämonen war vergleichbar wie der gegen Hexen zu Zeiten der Inquisition, mit dem Unterschied, dass Dämonen wesentlich gefährlicher waren als diese. Ich selbst war bereits vier Mal an Einheiten der Arkanen Abteilung geraten und kein einziges Mal war es eine echte Herausforderung gewesen, sie zu besiegen.
    „Ich rieche Essen“, hörte ich dumpf und undeutlich aus einer der Holztüren zu meiner Rechten: Es war Tony. Bevor ich antwortete betrat ich das Zimmer mit der Nummer achtunddreißig und schob den Riegel wieder vor, da ich nicht durch den Flur rufen wollte.
    „Du riechst Pommes und Chicken Nuggets“, erklärte ich grinsend und packte die verschiedenen Kartons mit Essen aus. Tony zog den Sessel, in den er sich gesetzt hatte, näher an den Tisch und griff sich ein paar Pommes.
    „Und, wasch hat Amy geschagt?“, fragte er mit vollem Mund und strich sich eine Wimper aus dem Auge.
    „Nicht viel“, schilderte ich. „Nur, dass ihr euch Sorgen gemacht habt und Alexia von meinem Verhalten verletzt ist.“ Ich schnappte mir einen Essenskarton und machte mich daran, den Inhalt zu vernichten. In Gedanken ging ich schon mal die Zutaten für den Haarzauber durch.
    „Also im Prinzip dasselbe wie du.“
    „Sag mal, Lay“, begann Tony ein wenig unsicher und an seinem Tonfall konnte man erkennen, dass er das Thema wechselte. „Glaubst du Amy und Leander kommen zusammen?“
    Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Aber mit wem hätte er schließlich sonst darüber reden sollen, Alexia mit eigenen Problemen zu belasten wäre zum jetzigen Zeitpunkt unsensibel. „Ich befürchte, das wird so weit kommen“, gestand ich ihm und riss ein Ketchuptütchen auf. Ich hatte im Jenseits eintausendneunhundert Jahre lang kein Ketchup gegessen, bis ich es zum ersten Mal im Diesseits entdeckt hatte. Unter Dämonen war es ein sehr beliebtes Nahrungsmittel. „Aber bitte, Tony“, fügte ich mit einem vorsichtigen Grinsen hinzu. „Nenn mich nicht mehr ‚Lay’.“
    Er erwiderte das Lächeln und nickte knapp. Danach wurde sein Gesicht wieder ernst. „Ich hab’ Angst, dass ich sie verliere, wenn das passiert. Dass sie sich von mir zurückzieht, ich nur irgendein Kumpel sein werde. Sie ist meine beste Freundin und mir unglaublich wichtig. Ich möchte sie für immer zumindest als solche behalten, aber deswegen hab ich so viel Angst vor der Zukunft. Wenn wir älter werden, vielleicht uns auseinander leben. Verstehst du was ich meine?“
    Ich verstand sehr gut was er meinte. Nur hatte das Wort ewig eine ganz andere Bedeutung, wenn er es verwendete, als wenn ich es verwendete. Ich war unsterblich, jedenfalls auf natürlichem Wege, er nicht.
    „Mach dir keine Gedanken darüber. Leander ist ein Idiot und Amy wird das erkennen, auch wenn sie im Moment ein wenig blind vor Verliebtheit zu sein scheint. Sei ihr so lange ein guter Freund, sie wird dich irgendwann sicher brauchen.“
    Mein Leben lang war ich nicht mit solchen Problemen konfrontiert worden und wenn man so lang lebte wie ich, lehrte die Zeit einen, dass sich viele solcher Sorgen von allein erledigten. Durch Nachdenken wurde man unglücklich und überanalysierte sein Leben. Aber auch, wenn diese Situation in dieser Konstellation neuartig für mich war, glaubte ich, die richtige Antwort gegeben zu haben. Ich war darin nur unerfahren, nicht dumm. „Und jetzt denk an etwas anderes“, riet ich ihm und klopfte unterstützend auf seine Schulter. „Ich will meine Haare färben und muss den Zauber noch anrühren. Du kannst mir bei der Vorbereitung helfen. Nach dem Essen, versteht sich.“
    „Das kannst du?“, fragte er ungläubig und runzelte seine Stirn. Als ich nickte, sagte er: „Welche Farbe?“
    „Dunkelbraun, denke ich.“

  • Kapitel 15


    Ich lag in einem großen Raum. Hunderte verschiedener Spiegel befanden sich an den hohen, rissigen Betonwänden. Eine stützenlose Treppe führte an ihnen entlang, vom niedrigsten bis zum höchsten Punkt und ein rostiges Metallgelände bot Sicherheit auf den kleinen Stufen. Ich stützte mich mit den Händen auf dem Boden ab und richtete mich auf. Mein Blick war unscharf und mir war schwindlig. Außer einer langen, roten Robe, wie ich sonst nur im Jenseits gekleidet war, trug ich nichts. Nach wenigem Blinzeln wurde die Umgebung deutlicher. Ein unerklärliches Gefühl der Leere überkam mich, ich war traurig und fühlte mich schuldig, wusste aber nicht wieso. Es war, als hätte ich ein Loch in der Brust, das sich zu füllen versuchte, aber nur Luft sog. Es roch in diesem Raum nach nichts; nicht einmal ich selbst schien einen Geruch zu besitzen. Ich wusste, dass ich meine dämonische Form besaß, also schloss ich die Augen um deutlicher Energien wahrzunehmen. Nichts. Der Versuch einen klaren Gedanken zu fassen scheiterte, ich war wie fremd gesteuert.
    Etwas in mir beschloss, die Treppe hochzugehen. Meine Schritte waren schwer, als ich auf die erste Stufe zusteuerte. Ein großer Spiegel, oval mit einem goldenen Rahmen zierte dort die Wand. Ich trat näher um ihm genauer zu betrachten und erschrak: Er zeigte nur die Betonwand hinter mir. Ich versuchte, ihn zu berühren, aber wie von einem starken Magneten wurde meine Hand zurückgehalten. Obwohl ich es nicht wollte und vor hatte, die Situation weiter zu analysieren, bewegten sich meine Füße weiter und mein Geist verschluckte jeden Gedanken, bevor ich ihn wahrnehmen konnte.
    Der nächste Spiegel war eher klein und schlicht, ein schwarzer Metallring umrahmte das Glas. Es war dasselbe, wie bei seinem Vorgänger: Ich konnte weder mich sehen noch ihn berühren.
    Langsam folgte ich dem Verlauf der Treppe. Keiner der Spiegel zeigte ein Abbild von mir, aber ich hatte das Gefühl, ich sollte bis ganz nach oben gehen. Eine merkwürdige Kälte erfüllte mich, je höher ich kam und mein Tunnelblick wurde stärker und stärker.
    Concalefacio, flüsterte ich um mich aufzuwärmen, aber nichts geschah. Ich wollte stehen bleiben und nachdenken, aber gegen meinen Willen schlang ich meine Arme um mich und trat auf die höchste Stufe. Ein Wandspiegel mit braunem Holzrahmen war an die Wand gelehnt und ich wollte ihn berühren. Dieser Spiegel war anders, das fühlte ich.
    Auf einmal erschienen Personen darin. Ich erschrak und stolperte einen Schritt zurück: Tony, Amy und Alexia sahen mich mit komplett weißen Augen aus dem Holrahmen heraus an, der Kopf leicht gesenkt, die Haare strähnig und dreckig. Ihre Haut war ausgeblichen und schien an manchen Stellen zu verfaulen, die Klamotten zerrissen. Getrocknetes Blut befand sich über ihren ganzen Körper verteilt. Es war ein grausames Bild. Ich wollte anfangen nachzudenken, wegzulaufen, aber sowohl mein Kopf als auch mein Körper streikte.
    Langsam hoben die Figuren im Spiegel den Finger.
    „Du“, sagten sie im Chor mit einer schauderlichen Stimme. Obwohl es ihre eigenen waren, klangen sie fremd und so unangenehm wie das Kratzen eines Nagels an einer Tafel. Mein Schuldgefühl wurde größer, ich konnte aber nicht sagen wieso. „Du hast uns getötet!“
    Mein Körper erstarrte gänzlich. Was verschlug meinen Geist an diesen Ort?
    Hinter mir spürte ich eine starke, energetische Präsenz; die einzige Quelle von Energie in dem gesamten Raum, konnte mich aber nicht umdrehen. Die Leichen von Amy, Alexia und Tony hoben die Mundwinkel, was ihr Gesicht in eine grässliche Fratze verzog.
    „Lafayette, mein Schöner“, erklang eine helle, aber gleichzeitig Unheil verkündende Stimme. Ich fühlte eine Hand meine Schulter entlang gleiten und schauderte.
    „Lilith“, stellte ich fest, und war erstaunt, wie sicher und ruhig meine Stimme klang, während ich innerlich zu explodieren schien. „Wo bin ich hier?“
    Die wunderschöne Dämonin begab sich vor mich und verdeckte die Sicht auf den Spiegel. Ein Teil von mir war erleichtert darüber, das grausige Bild darin nicht mehr sehen zu müssen.
    Liliths Augen leuchteten in einem stechenden rot mit schwarzen Ziegenpupillen darin, umrandet von langen Wimpern. Ihre alabasterfarbene Haut und ihre roten Lippen schufen ein Gesicht, an dessen Schönheit keine diesseitige Frau herankam. Eine goldene Robe hing um ihre Schultern und bildete einen starken Kontrast zu ihren hüftlangen, schwarzen Haaren. Sie trug, wie ich, keine Schuhe, sodass man ihre kleinen, aber gepflegten Füße sehen konnte. Ihre Fingernägel waren spitz und lang und ähnelten so eher Krallen, was aber auch ihre Absicht war.
    „Sag du es mir“, flüsterte sie warm und verführerisch, während sie mit ihrem Finger mein Gesicht nachzeichnete.
    „Ich hätte nicht gefragt, wenn ich auch nur die geringste Ahnung hätte“, erklärte ich mit einem gleichgültigen Klang in der Stimme.
    Auf einmal veränderten sich ihre Mimik sowie ihre Körperhaltung: Das Schwarz ihrer Ziegenpupillen breitete sich über die gesamte Augenhöhle aus und verschlang das vorherige Rot. Sie zog raubkatzenartig die Lippen hoch und zeigte so überdurchschnittlich lange Eckzähne. Ihre Hand, die mittlerweile an meinem Hals angekommen war, griff fest meinen Nacken und ihr anderer Arm spannte sich langsam an.
    „Verräter!“, fauchte sie schließlich in einer für Menschen nicht hörbaren Frequenz. Ich wusste nicht wie mir geschah, alles war wie durcheinander gewirbelt. Ihre Hand schoss nach vorne und durchbohrte meinen Bauch. Ich wollte den Angriff abwehren, irgendeinen Zauber wirken, aber mein Körper streikte. Es war, als wäre ich ferngesteuert, sowohl in Handlungen als auch in Gedanken.
    Ein schrecklicher Schmerz durchfuhr mich und ich konnte fühlen, wie das Leben aus mir wich. Es war wie ein Strudel, der einen in die Tiefe sog und meine Gedanken rasten in meinem Kopf an meinem inneren Auge vorbei, so schnell, dass es nur noch ein Flackern war. Die Umgebung verdunkelte sich, mein Inneres schien zu kollabieren. Lilith pumpte ihre Energie in mich, was mich töten würde. Ein brennender Schmerz fraß sich durch mein Fleisch, bis in jede Ader und jede Zelle. Ich konnte riechen, wie meine Haut von innen verbrannte, ich keuchte und spuckte Blut, doch die Dämonin legte nur ihren Kopf schief und starrte mich weiter mit rabenschwarzen Augen an. „Verräter an deiner Rasse!“, schrie sie fast hysterisch und ich fühlte, wie sie mehr Energie kanalisierte und in mich leitete. Meine Chakrapunkte verschoben sich von der Macht, die durch mich floss. Lilith war mächtiger als ich, was dafür sorgte, dass sie mich mit ihrer Energie grillen konnte. Es war, als wäre ich die Glühbirne in einem Stromkreis, denn man an den Hochspannungsgenerator angeschlossen hatte. Mein Geist wich langsam aus mir und von einem Moment sah ich das Geschehnis aus einer anderen Perspektive. Ich stand hinter Lilith und beobachtete das grausame Bild meines in Flammen aufgehenden Körpers. Verwirrt und in Panik wollte ich irgendetwas tun, wegrennen. Mein Geist schien sich bewegen zu können und ich wollte einfach weg von hier, doch etwas hielt mich fest. Eine modrige Hand lag auf meiner Schulter. Erschrocken drehte ich mich um und blickte in die toten Gesichter meiner diesseitigen Freunde. Ich war nun Teil des Spiegelbildes.


    Schweißgebadet schreckte ich hoch. Tony stand besorgt neben mir, die Sonne fiel schon durch das Fenster. Es war morgens.
    „Alles ok?“, wollte er wissen, die Stirn gerunzelt und ein schwarzes Handtuch über seinem Rücken hängend. Seine Haare standen nass in alle Richtungen ab und er trug schon sein Sportoutfit für den Unterricht heute. „Du hattest einen Albtraum, oder? Du hast geschrieen.“
    Ich richtete meinen Oberkörper auf und stützte meinen Kopf auf meinem Arm ab. Was hatte dieser Traum zu bedeuten? Er war zu real, um nur Zufall zu sein. Ob Lilith damit zu tun gehabt hatte? Wenn sie mir vor Neumond etwas hätte mitteilen wollen, würde sie das über meine Träume tun, da war ich mir sicher. Die Botschaft wäre eindeutig, wenn der Traum von ihr verursacht worden war. Das würde heißen, sie hatte in meinem Unterbewusstsein nach Alexia, Tony und Amy gegraben. Sie konnte das, ihre Macht war beinahe unbegrenzt.
    Dabei fiel mir der Geist ein, der vor zwei Tagen versucht hatte, meinen Körper zu übernehmen und das merkwürdige Gefühl der Fremdsteuerung in meinem Traum. Spielten diese beiden Dinge vielleicht zusammen? Und wenn ja, wieso wurde versucht, Alexia als Medium zu nutzen? Ich konnte nur hoffen, dass ich mich in allen Punkten irrte.
    „Ja, hatte ich. Und mir geht es gut, danke“, antwortete ich dem Elfen etwas härter als gewollt. Ich wollte nicht darüber reden, also wechselte ich das Thema. „Heute ist… Mittwoch, richtig?“
    Tony nickte. „Ja, Kampfsporttraining steht an. Zieh dich um, in dreißig Minuten geht’s los.“
    Mit einem Klopfen auf meine Schulter begab er sich Richtung der kleinen Wendeltreppe in unser Wohnzimmer. Ich trat meine Bettdecke beiseite und schlüpfte ins Bad. Sorgfältig kontrollierte ich, ob ich im Spiegel auch nur das sah, was wirklich da war – einschließlich mir. Wenn heute Mittwoch war, bedeutete das, dass in einer Woche Neumond wäre. Vor wenigen Tagen hätte ich mich noch gefreut, mit Lilith zu sprechen, aber spätestens nach heute Nacht hatte ich Angst davor. Was würde ich tun, wenn sie verlangte, einen meiner neu gewonnenen Freunde zu töten?
    Geistesabwesend griff ich zur Zahnbürste und drückte einen Klumpen aus der Zahnpastatube heraus. „Kampfsporttraining“, flüsterte ich leise und ließ mir das Wort auf der Zunge zergehen. Die Diesseitsbewohner verstanden darunter, bestimmte Techniken zu erlernen und diese zur Verteidigung zu benutzen. Bei uns Dämonen gab es so etwas nicht. Wir vertrauten unseren Instinkten im Kampf und taten automatisch das Richtige. Alles, was wir trainieren mussten, war unsere Geschwindigkeit und unsere Fähigkeit, Energie zu kanalisieren. Nach meinem Sturz als Engel hatte ich dieses neu erlernen müssen, wieso wusste ich nicht. Lilith wusste es, aber sie durfte nicht darüber reden. Sie war eine grausame Feindin, aber als Verbündete gleichzeitig Beschützerin, Lehrerin und gute Freundin.
    Als Jungdämon – so nannte Lilith uns Gefallene, da wir nach ihr ins Jenseits kamen – war sie sozusagen mein Mentor gewesen. Ich erinnerte mich an ihre ersten Lektionen noch, als wäre es gestern gewesen. Sie hatte uns beigebracht, schwarze Zauber zu mischen. Das wäre für den Anfang das Leichteste, meinte sie. Ich war natürlich nicht der einzige Dämon in ihrer Obhut, wir waren insgesamt acht ehemalige Seraphim und so wurden wir auch zu acht gelehrt. Existent waren noch fünf davon. Wir waren eine Elite, die einzigen, die von Lilith ausgebildet worden waren. Sie war uns wichtig, fast wie unsere Mutter, man könnte fast sagen, wir liebten sie. Wir hatten wie in einer kleinen Familie gelebt, inniger, als es unter Engeln üblich war, mussten aber gleichzeitig schwören, mit niemandem über diese Zeit zu reden. Es war ein weit verbreiteter Irrglaube, dass Dämonen keine Emotionen empfanden – wir empfanden sie nur nicht im Bezug auf Diesseitsbewohner. Nun ja – eigentlich.
    Ich zwang mich dazu, damit aufzuhören, über meine Vergangenheit nachzudenken. Obwohl es anfangs eine schöne Zeit als Dämon war, hatte mein Leben auch seine dunklen Kapitel. Und diese wieder überzuanalysieren würde mich trübsinnig stimmen. Das konnte ich nicht gebrauchen, ich hatte schon in der Gegenwart genug Probleme.
    Ich überlegte, ob ich noch duschen sollte, beschloss dann aber, dass das nach dem Training eh notwendig sein dürfte. Unwillkürlich rieb ich mich an den Schläfen. Die Gefühle des Traumes klangen noch nach und sorgten immer noch für Verwirrung. Ich brauchte ein wenig Ablenkung.


    Für die kommenden Stunden hatte ich mir eine stabile, schwarze Jogginghose und ein weißes T-Shirt ausgesucht, was ich für das richtige Outfit hielt. Ein Teil von mir freute sich darauf, jedoch war mir bewusst, dass unser Lehrer meine ausgebildeten Fähigkeiten bemerken würde. Es gab auch keinen echten Grund, diese zu verstecken: Ich war eben ein besonders talentierter Schüler von vielen, keiner würde davon auf eine jenseitige Herkunft schließen.
    Tony tippte ungeduldig mit den Fingern auf die Sessellehne und schob sich ein Butterhörnchen in den Mund, das er offenbar aus dem Speisesaal geholt hatte. Es war keine Pflicht, dort zum Essen zu erscheinen, es war nur eine Alternative dazu, die Zeit im eigenen Zimmer zu verbringen. Da ich für das Frühstück zu spät aufgewacht war, war ich ganz dankbar, dass der Elf sich darum gekümmert hatte und ich vor dem Sport noch etwas zu mir nehmen konnte.
    „Das Amulett willst du aber nicht anbehalten, oder?“, fragte Tony mit hochgezogener Augenbraue, während ich mir eines der Hörnchen schnappte.
    Er hatte Recht – ich würde es wohl abnehmen müssen. „Oh, nein“, antwortete ich ihm schließlich und beeilte mich, mein Frühstück aufzuessen um den Anhänger in meine Hosentasche zu verfrachten. Dort war er noch in meiner ersten Auraschicht, das würde auf jeden Fall genügen, um die Wirkung aufrecht zu erhalten.
    „Hast du Amy und Alexia getroffen?“, fragte ich ihn und fummelte an dem goldenen Schraubverschluss der Kette, an der mein Bernstein hing, herum. Er verzog schmerzlich das Gesicht.
    „Alexia nicht. Dafür war Amy mit Leander unterwegs. Sie meinte jedenfalls, dass Alexia heute nicht beim Unterricht erscheinen würde – Lilian hatte sie erzählt, dass sie sich noch von dem Geisterangriff erholen wollte und Janina möchte heute mit ihr ein Reinigungsritual durchführen. Mit Weihrauch und so.“
    „Lilian ist eine der Kampfsportlehrerinnen?“, fragte ich und ließ mir meine Enttäuschung darüber, Alexia während des Unterrichts nicht zu sehen, nicht anmerken. Ich zweifelte daran, dass der Exorzismus von Janina etwas nützen würde; schließlich kannte ich den wahren Grund für die Abwesenheit der Elfin. Glaubte ich.
    Tony nickte. „Ja. ‚Sifu Lilian’ aber, wenn du sie ansprichst, nicht Meister. Das mag sie nicht besonders.“
    „Interessant“, murmelte ich, nur noch halb zuhörend und riss an dem Reisverschluss meiner Jogginghose herum. Das Ding wollte nicht aufgehen, also versuchte ich es mit der linken Tasche, die sich leichter öffnen ließ. Als der Anhänger sicher verstaut war, zupfte ich an meinem T-Shirt herum und strich noch einmal durch meine Haare. Tony hatte grinsend die Augenbrauen gehoben.
    „Lafayette versus Jogginghose, Runde eins“, scherzte er.
    „Jaja“, entgegnete ich und rollte die Augen. „Können wir los gehen?“
    „Jederzeit“, antwortete der Elf, in seiner rechten Hand noch ein letztes Butterhörnchen, und sprang auf.


    Wir trainierten nicht im Innenhof, sondern auf der Grünfläche vor dem Wald, auf der sich Alexia gestern selbst verzaubert hatte. Ich verdrängte die Erinnerung daran noch bevor ein Gefühl aufkommen konnte, um zu verhindern, dass mich irgendjemand auf ein unglückliches Gesicht ansprach. Weswegen wir hier und nicht im Schulhof unterrichtet wurden, wurde uns nicht gesagt.
    Es gab zwei verschiedene Lehrer, die eine, Sifu Lilian, für die Mädchen und der andere, Sifu Colin, für die Jungen. Ich wusste zwar, dass diese Geschlechtertrennung so ein Diesseitsding war, aber einen wirklich vernünftigen Grund fand ich nicht dafür. Schließlich waren die meisten Angriffe gegenüber Frauen sowieso von Männern ausgeführt, wieso also nicht miteinander trainieren. Im Jenseits gab es so einen Blödsinn nicht.
    Sifu Lilian war etwa Mitte dreißig. Ihre Haare waren kurz geschnitten und ihre dunkelbraunen Augen hatten eine unglaubliche Ausstrahlung. Die kleine Nase und der stets freudige Ausdruck in ihrem Gesicht machten sie wirklich hübsch. Um ihre Hüfte wehte ein schwarzer Gurt mit vier goldenen Streifen daran, der einen deutlichen Kontrast zu dem weißen, ärmellosen Oberteil bildete unter dem man deutlich einen rosa Sport-BH erkennen konnte. Ihre schwarze Trainingshose lag eng an, ihr gesamtes Outfit betonte ihre Figur. Das einzige, was mich an ihr überraschte, war ihr Geruch. Sie roch nach Orangensaft, Toast und einem süßlichen Deo, dazu nur eine Note des personenspezifischen Geruchs, den jeder besaß und der wie ein Fingerabdruck einzigartig war - sie war ein Mensch und dazu noch einer, der keine Magie anwendete. Sehr interessant, aber wenn sie in ihrem Fach genug drauf hatte, würde es keinen Unterschied machen.
    Sifu Colin war eine Hexe und etwa so alt wie Lilian. Er trug einen ausgeschnittenen Bart, der seinen Mund umrahmte und nach hinten gekämmte, etwas längere Haare. Seine Augen besaßen einen helleren Braunton als Lilians und sein hellblaues T-Shirt sah fast so aus, als wäre es in der Wäsche eingegangen, betonte aber dadurch seine ausgeprägte Arm-, Brust- und Bauchmuskulatur. Der Gürtel war identisch mit dem der Menschenfrau, aber anders gebunden. Seine Hose war mittelbraun und sehr weit geschnitten, sodass man eine große Beinfreiheit darin haben musste. Der Stoff ähnelte ein wenig dem einer Jeans und sein beißender Rotholzgeruch verriet mir, dass er viel zauberte.
    Sie mussten ihren Sport schon längere Zeit praktizieren, da sie den vierten Meistergrad besaßen. Beibringen können würden sie mir wohl trotzdem nichts.
    „Guten Morgen“, rief Colin der Jungsgruppe zu, in der nur manche wirklich zuhörten. Als es nach wenigen Momenten immer noch nicht still war, stieß er einen schrillen Pfiff aus. Die Murmeleien verstummten. „Also noch mal… Guten Morgen!“
    Jeder murmelte für sich ein ‚Guten Morgen’ als Antwort, was den Kampfsportmeister aber zufrieden stellte.
    „Wie ich sehe, haben wir einen Neuen“, verkündete er erfreut und ging mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Die meisten Lehrer hier waren wirklich nett, fiel mir auf.
    „Ich bin Colin“, stellte er sich mit einem festen Händedruck vor. Er war gut einen Kopf größer als ich und benutzte ein wirklich merkwürdig riechendes Aftershave.
    „Lafayette Morgan“, antwortete ich ihm und erwiderte seinen Blick.
    „Hast du schon Kampfsporterfahrung?“, wollte er wissen und ich spürte jeden einzelnen Blick meiner Mitschüler auf mir. Ist das echt so spannend?
    Aus dem Augenwinkel erkannte ich Cedric, wie er verächtlich das Gesicht verzog.
    „Könnte man sagen, ja“, gab ich wahrheitsgemäß zur Antwort. „Seit ich fünf Jahre alt bin.“
    Das war nun natürlich eine Lüge, aber das brauchte er ja nicht zu wissen. Er nickte mir anerkennend zu. „Dann hoffe ich, wirst du dem auch gerecht. Aber lasst uns nun beginnen.“ Er richtete seine Worte wieder an die ganze Klasse. Es schien, als wären die neunte und die zehnte Jahrgangsstufe hier zusammengemischt, da ich einige, deutlich älter als meine Klassenkameraden aussehende, Gesichter entdeckt hatte. Auch Leander war anwesend und stand nur wenige Meter von Cedric entfernt ein wenig für sich allein, strahlte aber Sicherheit und Selbstbewusstsein aus. Seinen Schmuck hatte er abgelegt – oder wie ich in seiner Hosentasche verstaut. Wir waren alle Barfuß, da die Lehrer der Meinung waren, so hätten wir einen besseren Halt. Ich war damit sehr zufrieden.
    Nach einigen Aufwärmübungen begannen wir mit dem Partnertraining. Ich fand mich mit Tony zusammen, der es sichtbar nicht erwarten konnte, mich mit Fragen zu bombardieren.
    Colin wartete kurz, bis Lilian mit ihrer Aufwärmung fertig war, um dann mit ihr eine Übung vorzuführen. Es war eine einfache Abwehr für gerade Schläge zusammen mit einem Wurf, nicht besonders schwierig oder spektakulär.
    „Du machst seit zehn Jahren Kampfsport“, fragte der Elf schließlich ungläubig, als die Lehrer uns anwiesen, die Übung selbst zu üben.
    „Ja“, log ich schließlich und bemühte mich, so auszusehen, als wäre es mir unangenehm, ihm noch nichts davon erzählt zu haben. „Du greifst zuerst an, Tony.“
    Er schlug mit dem rechten Arm langsam und kontrolliert Richtung meines Gesichts. Ich ließ den Schlag mit meinem linken Arm an mir vorbei, glitt auf seinem Rücken und ging mit einem Arm zu seinem Hals. Der andere drückte gegen seine Wirbelsäule auf Höhe des Bauchnabels und brachte ihn so aus dem Gleichgewicht. Schwungvoll fiel er zu Boden und rollte sich ab. Er murmelte etwas Unverständliches und wir schritten mit der Übung fort. Colin hatte sich neben uns gestellt und beobachtete meine Ausführung; seinem anerkennenden Gesichtsausdruck nach konnte er keine technischen Unfeinheiten sehen.
    „Gut, wirklich gut“, lobte er schließlich und ging weiter zu zwei sehr unbeholfenen Jungen, die die Übung nicht auf die Reihe bekamen. Er war ehrlich und aufrichtig, das gefiel mir an ihm.
    Tony wollte weiterreden, aber ich bat ihn, doch bitte nach dem Unterricht zu fragen, da es denkbar unpraktisch war, während den Übungen zu sprechen.


    Nach einer guten Stunde Trainings in der Morgensonne verkündete Colin, dass wir nach einer kurzen Pause Sparring machen würden. Ich war mir sicher, er wollte sehen wie ich mich schlug. Cedric oder Leander wären zwei Gegner, die ich sehr begrüßen würde. Davor wollte ich einen Schluck trinken, auch wenn ich – im Gegensatz zu den meisten anderen – nur wenig geschwitzt hatte.
    Hinter mir konnte ich sanfte Schritte hören. Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter und wies mich damit an, mich umzudrehen. Es war Colin.
    „Ich hätte gerne, dass du den ersten Sparringskampf machst. Du bist wirklich gut und die anderen können noch etwas von dir lernen“, teilte er mir ernst mit.
    Natürlich, was sonst. Ich mimte den Überraschten und lächelte freundlich. „Oh. Sehr gerne, Sifu.“

  • Kapitel 16


    Nach fünf Minuten war die Pause vorüber. Ein merkwürdiges Kribbeln erfüllte meine Finger und Zehen, ich freute mich auf den Kampf.
    „So, liebe Schüler“, verkündete Colin. „Es werden leider nicht alle drankommen können, aber ich möchte, dass ihr den Kämpfen trotzdem aufmerksam zuseht. Die ersten beiden werden Lafayette und Leander sein.“
    Colin blickte erst zu der Hexe, dann zu mir und bedeutete uns mit einer Geste, vorzutreten. Soweit ich es beobachtet hatte, war Leander ein wirklich talentierter Schüler. Das würde sicher interessant werden. Mein Gegner stolzierte vor, einen siegessicheren Gesichtsaudruck aufgesetzt. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass Lilian die Mädchengruppe angewiesen hatte, bei uns zuzusehen. Die beiden Kampfsportmeister hatten sich in der Pause besprochen und waren offenbar zu dem Entschluss gekommen, dass dieser Kampf wertvoll für alle anderen Schüler sein würde. Amy war auch anwesend, Alexia nicht. Die junge Hexe schien ein wenig hin- und her gerissen darüber, wem sie den Sieg mehr gönnte, ihre Tendenz schien aber zu Leander zu gehen. Wirklich übel konnte ich es ihr angesichts der jüngsten Ereignisse nicht nehmen.
    Colin reichte uns jeweils ein paar Boxhandschuhe. Schienbeinschoner hielten sie offensichtlich nicht für nötig, auch wenn die Beine eine wesentlich stärkere Waffe waren als die Arme.
    „Übertreibt es nicht“, wies er uns schließlich mit ernstem Gesichtsausdruck an. „Wir trainieren miteinander, nicht gegeneinander.“
    Wir nickten und zogen die Klettverschlüsse der Handschuhe fest. Leander gab weiterhin den Selbstbewussten, Siegessicheren und auch die anderen Schüler schienen ihn für den besseren Kämpfer zu halten. Lediglich Tony diskutierte heftig mit einem dunkelhaarigen, etwas schmächtigen Jungen aus unserer Klasse. Ich konnte hören, wie sie eine Wette abschlossen. Ein Teil von mir freute sich darüber, dass Tony so ein Vertrauen in meine Fähigkeiten hatte.
    „Fangt an“, sagte der Kampfsportmeister schließlich und ging einige Schritt zurück um sich auf den Boden zu setzen. Wir verbeugten uns knapp und der Kampf begann. Lauernd umkreisten wir uns, die Arme zur Deckung erhoben. Ich versuchte, eine Schwachstelle in seiner Haltung zu finden. Man konnte meistens relativ gefahrlos gegen die Beine treten, also holte ich zum Tritt aus. Sichtbar überrascht von meiner Geschwindigkeit sprang Leander einen Schritt zurück, doch ich nahm den Schwung des Kicks einfach mit um mich zu drehen und zum nächsten anzusetzen. Meine Ferse knallte gegen seine Deckung und er versuchte, mein Bein zu greifen, jedoch kam ich ihm durch einen Schlag mit der linken Hand zuvor, den er nicht abwehren konnte. Er taumelte zurück, das Gesicht wütend verzogen. Ich grinste zurück, was dazu führte, dass er selbst übermütig mit einem Kick angriff. Ich parierte diesen mit meinem Schienbein und traf mit einem Schlag seine Leber. Bis jetzt lief alles wie ich es erwartet hatte, auch wenn er – für einen Diesseitsbewohner – gut war.
    „Ein wenig langsamer, Jungs“, ermahnte Colin uns, als Leander mit einem schmerzerfüllten Gesichtsausdruck aufkeuchte. Er musste einen Moment durchatmen, was ich ihm gewährte, da es ja nur ein Übungskampf sein sollte. Die Hände auf die Knie gestützt blickte er mich finster an. Er wurde praktisch vorgeführt, was ihm gar nicht passte. Ich konnte es nicht lassen, ihn mit einem weiteren Grinsen zu provozieren, was seine Augen zum Funkeln brachte. Wenige Momente später richtete er sich wieder auf und ich hielt ihm den Handschuh zum abklopfen hin, was das Weitergehen des Kampfes signalisieren würde. Übertrieben fest schlug er dagegen und setzte direkt wieder zum Tritt an. Diesmal fing ich sein Bein und parierte den darauf folgenden Schlag, sodass er das Gleichgewicht verlor. Ich stellte meinen Fuß hinter sein verbleibendes Standbein und zog diesen sofort wieder nach hinten. Leander schlug unangenehm auf dem Boden auf. Statt wieder aufzustehen und von Neuem weiterzumachen, wie es üblich wäre, da Bodenkampf nicht Bestandteils des Trainings war, drückte er seinen Körper mit den Füßen voraus nach oben um meinen Hals zu umklammern. Er zog mich zu sich und würgte mich gleichzeitig mit seinen Beinen. Ich drehte mich, um der Würge zu entkommen, jedoch stand ich nun mit dem Rücken zu ihm, sodass er mir einen Tritt zwischen die Rippen verpassen konnte, dessen Schwung er gleichzeitig nutzte um aufzustehen. Ich verlor keine Zeit um an den Schmerz zu denken und machte aus meiner Drehung einen Sprungkick, der ihn hart traf, obwohl er seine Deckung oben hatte. Ich ergriff die Chance, ihn auf der anderen Seite anzugreifen. Er hatte seinen Arm ein Stück zu weit unten und wurde hart von meinem Fuß am Kopf getroffen. Taumelnd fiel er zurück. Nach einem kurzen Moment fing mein Gegner sich wieder und wir begannen erneut, uns zu umkreisen. Ich täuschte einen weiteren Kick an, holte dann aber mit der linken Hand zum Schlag aus. Ihm gelang es, den Angriff zu parieren und er griff meine Beine, um mich umzuwerfen. Ich ließ mich auf das weiche Gras fallen, um dann vom Boden aus Richtung seines Gesichts zu treten. In seiner Vorwärtsbewegung hatte er keine Möglichkeit, dem Angriff auszuweichen.
    Ein unschönes Knacksen verkündete, dass seine Nase brach. Ein kurzes Raunen ging durch die Menge an Schülern, die wild Anfeuerungsrufe von sich gaben – längst nicht mehr alle für meinen Gegner. Die Wucht meines Kicks schlug seinen Kopf zurück und ich nutzte den Moment, um aufzuspringen. Seine Nase hatte angefangen zu bluten, aber niemand brach den Kampf ab. Nach einem kurzen Moment, den er brauchte, um sich wieder zu orientieren, machte Leander weiter. Er versuchte, mich mit der Hand an der Schläfe zu treffen, wurde aber von meiner Deckung abgehalten und kassierte dafür einen weiteren Schlag ins Gesicht. Die Hexe war wirklich verdammt hart im Nehmen, das musste man ihm lassen, aber lange würde er nicht mehr durchhalten. Ich holte zu einem letzten Kick aus, der auf seinen Kopf zielte. Ich spürte eine Veränderung im Energieverhältnis um mich herum. Ein leises Rieseln deutete einen Zauber an. Mit einem Geräusch, das sich anhörte, als würde man mit einer Eisenkeule gegen eine Metallwand schlagen, wurde mein Bein gestoppt. Die Moleküldünne Schicht eines Schutzkreis umgab mich und vibrierte heftig aufgrund der Kraft, die von dem Angriff ausgegangen war. Jemand hatte mich in einen Schutzkreis gesperrt?
    „Beenden wir das hier“, sagte Colin bestimmt. „Leander, du gehst bitte zur Krankenstation, deine Nase muss wieder gerichtet werden.“
    Mit einem starren Nicken stampfte die Hexe wütend davon, eine Hand unter der blutenden Nase. Amy lief zu ihm, um mit ihm zu gehen, er schob sie aber einfach beiseite. Ich hatte ihn in seinem Stolz verletzt, was mich mit Schadenfreude erfüllte, auch wenn ich nun mit einer Racheaktion seinerseits rechnen musste. Was würde ein Diesseitsbewohner mir schon antun können?
    Der Hexenmeister kam näher und stellte sich vor die blaugrüne Wand aus Energie.
    „Du warst gut“, lobte er schließlich, löste den Schutzkreis aber nicht auf. Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie ich diesen einfach zerstören würde und wie verdutzt Colin dreinblicken würde. Da das aber lediglich Jenseitsbewohner konnten, ließ ich es.
    „Danke“, sagte ich schließlich und tippte mit dem Finger gegen die Energiewand. Die Berührung schlug Wellen auf der Oberfläche des Kreises, als würde man einen Stein in Wasser werfen, ließ ihn aber nicht nachgeben. „Als Belohnung könnten sie mich hier rauslassen“, schlug ich vor und machte kein Geheimnis aus meiner Unzufriedenheit darüber, in einem Schutzkreis gefangen zu sein.
    Colin lächelte verständnisvoll und berührte die blaugrüne Blase, sodass sie zusammenfiel. „Ihr habt so wild gekämpft, da musste ich irgendetwas tun“, erklärte der Kampfsportmeister. Und da hätte es nicht gereicht, einfach ‚stopp’ zu rufen?
    „Kein Problem“, murmelte ich leise, immer noch ein wenig pikiert darüber, dass er mich vor wenigen Augenblicken eingesperrt hatte. Ich fragte mich, woher er den Schutzkreis genommen hatte. Ich erkannte keine vorgezeichneten Linien oder Ähnliches, war mir aber sicher, dass er es nicht ohne Derartiges geschafft hätte.
    Mit einer Geste bedeutete er mir, zurück zu den anderen zu gehen. Tony strahlte regelrecht und klopfte mir auf die Schulter, als ich zu ihm kam.
    „Echt cool, Kumpel“, sagte er gleichzeitig stolz und fröhlich. „Dank dir hat Leander eine gebrochene Nase und ich bin um zwanzig Dollar reicher.“
    „Glückwunsch“, lachte ich und setzte mich auf die Wiese. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus und ich schloss für einen Moment die Augen, um tief einzuatmen. Colin erklärte währenddessen die wichtigsten Elemente des Kampfes und fragte nach, wer denn die nächsten sein wollten. Es meldeten sich nur wenige, offenbar waren die meisten zu ängstlich um vor allen zu kämpfen, und der Kampfsportmeister wählte zwei davon aus.
    „Und, wer gewinnt?“, fragte Tony mich, als sich Seth, einer von Cedrics Gefolgsleuten und Jimmy, ein eher schwach aussehender Junge, meldeten. Jimmy war ein durchschnittlicher Schüler, hatte aber eine gewisse Ausstrahlung, die wohl in erster Linie von seinen grünen Augen ausging, die im starken Kontrast zu seinen dichten, schwarzen Augenbrauen und den für einen Jungen recht langen Wimpern standen. Seine vollen, schwarzen Haare waren sehr kurz geschnitten, sahen aber nicht schlecht an ihm aus. Er war eine Elfe und im Vergleich mit dem hünenhaften, gut einen Kopf größeren Seth schmächtig.
    „Seth“, antwortete ich schließlich. Jimmy mochte klüger sein als er, aber Seth war größer und stärker, was ein erheblicher Vorteil war.
    „Glaubst du?“
    „Ja.“


    Nach der dritten Stunde begann für uns der Unterricht für Magie in der praktischen Anwendung. Die riesige Gruppe, bestehend aus Mädchen und Jungen von insgesamt vier Klassen aus zwei Jahrgangsstufen, wurde nur von einem einzelnen Lehrer unterrichtet. Wir übten, wie auch schon den Kampfsport, auf der grünen Wiese vor der Schule. Der angrenzende Wald schien dunkel und geheimnisvoll und ich fragte mich, was ich darin noch alles an Sonderbarkeiten fände, wenn ich nur suchte. Vielleicht würde ich das auch einmal tun. Am Wochenende oder so.
    Der Name unseres Lehrers war Meister Steven. Er war relativ jung, vielleicht dreißig und hatte kurze, rostbraune Haare. Seine wachsamen Augen und ein heiterer Gesichtsausdruck machten ihn sympathisch. Mit einem Meter neunzig war er größer als die meisten Lehrer hier, wirkte dadurch aber ein wenig schlaksig. Seine dunkle Robe trug er wie einen offenen Laborkittel, darunter eine einfache Jeans und ein schlichtes, schwarzes T-Shirt, was ihm durchaus stand. Ein offenbar selbst gemachtes, hölzernes Pentakel, dessen Außenring und Mitte mit bunten Steinen verziert war, hing an einem Lederband um seinen Hals – wahrscheinlich war es mit einem Zauber belegt. Insgesamt erinnerte er mich ein wenig an Fred oder George Weasley aus den Harry Potter Romanen. Er roch nach Zimt und Wald, war also eine Elfe. Mit einem lauten Klatschen stellte er die Klasse ruhig und begann die Stunde.
    „Guten Tag“, begrüßte er uns, seine rechte Hand seinen Anhänger berührend. Er ließ seinen Blick kurz über die Menge schweifen, als würde er die Anwesenheit kontrollieren, was ich mir bei der Menge an Schülern auf diese Art und Weise nicht vorstellen konnte. Obwohl er mich bemerkt hatte, verschwendete er keine Zeit damit, sich mir einzeln vorzustellen und begann direkt mit seinem Unterricht. Ich war ihm dankbar dafür.
    „Wie die meisten von euch wissen, möchte ich nächste Woche Noten machen. Dafür werden wir heute üben, einen Schutzkreis aufzubauen“, erklärte der junge Hexenmeister mit einer sehr angenehmen, warmen Tenorstimme und holte aus seiner Robentasche eine Schere und zwei Spulen mit dünner Nylonschnur heraus. „Ihr holt euch bitte nacheinander jeweils zwei Meter Schnur, die ihr dann an den Enden zusammenbindet und als Vorlage für euren Kreis benutzt. Für die, die ihn schon wieder vergessen haben – der Zauberspruch lautete Rhombus. Ich kann nicht gleichzeitig überall sein, also helft euch gegenseitig.“
    Nachdem er fertig gesprochen hatte, begannen die Schüler wieder zu quatschen und strömten auf Steven zu. Es würde eine Weile dauern, bis ich mein Stück Schnur hatte, aber ich hatte es auch nicht eilig. Geduldig setzte ich mich auf den Boden, während Tony sich durch die Masse an Schülern kämpfte. Die Klassen waren für sich zwar relativ klein, aber in dieser Gruppe waren wir trotzdem achtzig Leute.
    Mir schoss der Gedanke an Roland, als er mir gestern Abend begegnet war, durch den Kopf. Es hatte gewirkt, als wäre etwas nicht in Ordnung. Ob der Unterricht aus einem zusammenhängenden Grund auf die Wiese vor dem Wald verlegt wurde? Es konnte nicht sein, dass es mit meinem Kampf in Verbindung stand. Ich war zwar nicht sofort zurückgegangen, aber die Abstände wären zu kurz, als dass sie die Leichen gefunden hätten. Außer, dass Mädchen hatte geredet, aber das schloss ich aus. Dann wäre ich längst angegriffen worden. Glaubte ich, zumindest.
    Schritte neben mir rissen mich wieder aus meinen Gedanken. „Lafayette?“, fragte Tonys vertraute Stimme. „Alles okay? Ich hab dir deine Schnur mitgebracht.“
    Er ließ den dünnen Faden neben mich ins Gras fallen und sah mich mir gerunzelter Stirn an. Mit zwei Fingern griff ich danach und sprang auf.
    „Ja, alles okay“, antwortete ich mit einem milden Lächeln und band die Schnur an den beiden Enden zusammen. Man hätte auch einfach Steine kreisförmig ins Gras legen können, dadurch wäre der Schutzkreis gleichzeitig etwas beständiger.
    „Bist du gut darin?“, wollte ich wissen und hob die Augenbrauen, als ich sah, wie der Elf mit dem Nylonfaden kämpfte, der sich um seine Füße gewickelt hatte. „Also in dem Zauber.“
    „Naja, manchmal bekomm’ ich’s hin, manchmal nicht“, gab er widerwillig zu. Er war ein wenig unzufrieden darüber, dass ich direkt das Thema gewechselt hatte – mein kurzer, innerer Monolog war ihm durchaus aufgefallen.
    „Schutzkreise sind doch nichts Schwieriges“, entgegnete ich ungläubig und ignorierte seine Unzufriedenheit. Das waren sie wirklich nicht.
    „Für dich vielleicht. Wir können nicht alle so begabt sein. Das hier ist unser erstes Jahr Magie in der praktischen Anwendung, wir hatten sonst immer nur Theorie. Analogielehre und so ein Zeug.“
    Ich grinste ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an – er konnte nichts dafür, aber das war eben typisch für das Diesseits. Analogielehre war sinnvoll, aber Magie wirkte nicht nur durch Kombination der richtigen Umstände, sondern vor allem durch das Kontrollieren von Energie. Diesseitsbewohnern fiel es enorm schwer, ihre Gedanken so zu konzentrieren, dass sie ohne optische Anhaltspunkte oder gar fremde Hilfsmittel Zauber wirken konnten. Einige sehr erfahrene Hexen und Hexenmeister, wie zum Beispiel die der Arkanen Abteilung, konnten gewisse Flüche allein durch die entsprechenden Worte verwenden, aber weniger effektiv. Jeder war dazu fähig, zumindest einfache Dinge wie einen Schutzkreis aus dem Nichts zu beschwören, aber keiner traute es sich zu. Es war eine Art psychosomatisches Problem.
    „Lass doch mal sehen“, forderte ich ihn auf und ließ mich wieder auf den Boden fallen. Ich hatte keine Lust zu stehen und meinen Schutzkreis könnte ich auch im Sitzen beschwören.
    Tony legte sorgsam seinen endlich zusammengebundenen Faden um sich herum auf den Boden und schloss die Augen.
    Rhombus, sagte er. Ich spürte, wie Energie in ihn floss und durch seine Willenskraft langsam einen Halbkreis um die Schnur errichtete. Es war zuerst nur eine wenige Zentimeter hohe, grüne Wand, welche sich Stück für Stück nach oben kämpfte. Tony war voll konzentriert und man sah ihm an, wie viel es ihm abverlangte. Ich spielte mit dem Gedanken, mit dem Finger in den erst zur Hälfte stehenden Schutzkreis zu pieksen, um ihn zu ärgern und zu sehen was passieren würde, ließ es dann aber.
    Nach einer halben Minute schloss sich die blassgrüne Energiekuppel fast. Die Hände des Elfen zitterten, während die Energie durch ihn floss, doch kurz danach war der Schutzkreis vollendet. Tonys Gesicht verlor seine Anspannung und er grinste mich erleichtert an.
    „Siehst du?“, sagte er stolz und hob die Arme zu einer präsentierenden Geste. „Er steht.“
    Ich begann zu lachen. „Und wen willst du mit der Geschwindigkeit von einem Angriff abhalten? Eine Nacktschnecke? Das müssen wir wirklich noch üben.“
    Er verzog das Gesicht nach meiner spöttischen Bemerkung, ließ sich auf den Boden fallen und verschränkte die Arme. „Also ich mag ihn“, schmollte er. „Immerhin steht das Ding. Das ist schon mal mehr, als so manch anderer hier schafft… Hey, hör auf damit!“
    Ich hatte mit meinem Finger in die moleküldünne Schicht gepiekt und auf der Oberfläche des Schutzkreises bildeten sich starke Wellen, wodurch die Sicht hindurch erschwert wurde. „Du musst ihm mehr Saft geben“, erklärte ich lachend und tippte noch einmal mit dem Fuß dagegen. Ein dumpfer Klang wie Metall gegen Metall ertönte dabei. „Lass ihn fallen. Wenn der so vibriert siehst du ja nicht, wie man es richtig macht.“
    „Na dann bin ich mal gespannt, wie Mister Magic das hinbekommt“, murmelte er und tippte die Energiewand an. Mit einem leisen Rieseln fiel der Kreis und ich fühlte die Energie, ein angenehmer, aber kräftiger Schub, die ihren Weg zurück in die Natur suchte.
    Die Nylonschnur hatte ich schon vorher um mich herum ausgebreitet – irgendwie hatte ich die Zeit, während Tony zauberte, ja nutzen müssen. Ich beschloss, dabei sitzen zu bleiben.
    Rhombus, flüsterte ich und fühlte, wie die Energie ihren Weg durch mich suchte. Ich kanalisierte mehr, als eigentlich nötig war - so konnte man sich immer sicher sein, dass der Zauber nicht auf halbem Wege verhungerte – und leitete diese in den durch den Faden gekennzeichneten Kreis um mich herum. Wärme und Kraft erfüllte mich, floss durch meinen Körper und meinen Geist. Ich war entspannt und ruhig, hatte aber dennoch die volle Kontrolle über das, was ich tat. Meine Augen waren geöffnet, aber die reine Energie hatte meine Chakrenpunkte angeregt und so sah ich viel mehr, als nur durch das reine Sinnesorgan: Die Auren der Personen um mich – hauptsächlich grün und blau – strahlten von ihnen ab, jede in ihrer Struktur individuell, wie ein Fingerabdruck. Ich fühlte den Puls der Natur, viel ruhiger und nicht zu vergleichen mit dem der Lebewesen. Er war vergleichbar mit einem dumpfen, langsamen Bass, der einen sehr facettenreichen Song begleitete. Ich konnte Energiepunkte fühlen; vergleichbar mit einem Tümpel, nur aus Energie, statt aus Wasser und nur mit dem dritten Auge sichtbar, das jedes magische Wesen besaß, einschließlich Menschen.
    Mit einem gedanklichen Impuls lud ich die gesamte Energie in den Schutzkreis und beendete dadurch meine erweiterte Wahrnehmung.
    Nach dem Bruchteil einer Sekunde stand die blaugrüne Wand, darin ein Hauch rot, gold und schwarz, was Diesseitsbewohner aber nicht wahrnehmen konnten.
    „Na, was sagst du jetzt?“, fragte ich Tony und grinste ihn dabei überlegen an.
    „Ja, du bist soooo gut“, schmollte der Elf und drückte gegen meinen Schutzkreis, wie ich es bei ihm getan hatte. Die Energiewand fing an, unfreundlich zu Zischen. „Aua!“, rief er und zog seinen Finger schnell wieder zurück. Er hatte sich an der Energie verbrannt und ich fing an zu lachen.
    „So funktioniert ein Schutzkreis, wenn man ihm genügend Kraft gibt.“
    Ich brachte ihn durch meinen Finger wieder zu Fall. Erneut floss die Energie durch mich und suchte ihre ursprüngliche Herkunft. Ich mochte dieses Gefühl.
    Es war ähnlich wie ein Drogenrausch, nur mit mehr Kontrolle.

    Die anderen Schüler stellten sich zum Großteil ähnlich ‚gut’ wie Tony an. Man sah ihnen an, dass sie unerfahren darin waren, echte Magie anzuwenden. Kein Wunder, dass die meisten Diesseitsbewohner derartig schwach waren.
    Aus Richtung der Schule waren Schritte zu hören. Roland trat voran in seiner purpur-goldenen Robe, von welcher man wohl einen Kleinwagen hätte bezahlen können. Sein Bart und seine Haare waren ordentlich gekämmt, er machte insgesamt den Eindruck, ein wichtiges Anliegen zu haben.
    Mit einem lauten Räuspern, das sicher durch ein Volumenamulett verstärkt wurde, machte er die Gruppe auf sich aufmerksam und ließ die meisten Gespräche verstummen.
    „Liebe Kinder“, begann der Hexenmeister schließlich mit einer ernsten Miene. „Am gestrigen Tag ist etwas Schreckliches passiert. Wir haben Besuch von Angestellten der Arkanen Abteilung für Dämonensicherheit und ich bitte euch, euch im Schulhof einzufinden. Alles weitere werdet ihr dort erfahren.“

  • Da ich um die Uhrzeit eh nichts mehr lernen kann, hab ich beschlossen, mal wieder ein Feedback dazwischen zu schieben ;)


    Kapitel 15


    Schon aus dem Anfang schließe ich einfach mal, dass es sich um einen Traum handelt. Mir fällt keine andere Erklärung ein, wie das Kapitel sonst mit dem vorherigen zusammenhängt^^ Uh, sich nicht im Spiegel sehen zu können, hört sich schonmal gruselig an. Genau diese merkwürdige Sache, dass er nicht richtig denken kann und wie fremdgesteuert durch die Gegend läuft, aber das kann in Träumen ja öfter mal passieren. Waah, und der letzte Spiegel ist wirklich unheimlich, und ich stelle mir das Bild grad auch relativ eklig vor...
    Ah, und jetzt begegnen wir also mal Lilith. Rote Augen, okay. Ziegenpupillen? ^^ Diese balkenförmigen Dinger? Stelle ich mir jetzt gerade irgendwie lustig vor xD Aber schlitzförmig kommt dafür viel öfter vor und ist viel klischeehafter ;)
    Bah, Lafayettes "Tod" hört sich echt unschön an. Und das Ende mit dem Spiegelbild ist auch gruselig.
    Ah, jetzt greifst du also nochmal auf die Sache mit dem Geist zurück. Eine interessante gedankliche Verbindung schlägt Lafayette da, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass der Geist direkt etwas mit Lilith zu tun hat, auch wenn es vermutlich wirklich irgendeinen Zusammenhang gibt... Naja, time will tell ^^


    Auf den Rest des Kapitels geh ich nicht mehr so genau ein, da es schon länger her ist, dass ich es gelesen habe - im Nachhinein fällt mir oft nicht mehr so viel ein, müsste den Kommi immer direkt nach dem Lesen schreiben.^^" Aus dem gleichen Grund bleibt Kapitel 14 erstmal unkommentiert (wobei ich nicht weiß, ob ichs noch nachholen werde), zudem hab ich momentan nicht so viel Zeit. Aber ich dachte mir, lieber gekürzter Kommi, als gar keiner.^^


    Verbesserungen:
    Ihre alabastafarbene Haut und ihre roten Lippen schufen ein Gesicht, -> autsch, das zeug heißt "Alabaster" ;)


    Kapitel 16


    Ah, Leander ist also der Gegner. Das dürfte ja in Lafayettes Interesse gewesen sein.^^ Ich war anfangs etwas irritiert wegen der Boxhandschuhe. Ich hatte mir das Training eher in Richtung asiatischer Kampfsportarten vorgestellt, aber dann sah es mir eher nach einer Abwandlung von Kickboxen oder so aus. xD Kann es sein, dass man das Training bei deiner Story gar keinem Stil zuordnen kann sondern eher was eigenes ist?
    Haha, dass die Schüler (Tony) hier sogar Wetten abschließen, finde ich irgendwie lustig.^^
    Nochmal zurück zum Kampf: Lafayette blockt den Tritt mit dem Schienbein ab? o.o Hört sich schmerzhaft an. Und hat mich auch etwas gewundert, wie gut Leander den Tritt gegen den Kopf weggesteckt hat. Autsch, und dann wird ihm auch noch die Nase gebrochen, der muss schon einiges einstecken (war aber zu erwarten, zumindest für uns als Leser). Ich glaube, ich hätte anstelle des Lehrers den Kampf abgebrochen, interessant, dass er es nicht tut. Das verleiht der Sache jetzt doch mehr Ernst, als ich anfangs gedacht hatte. Ah, jetzt greift der Lehrer ja doch ein, etwas spät, aber schon noch angemessen.
    Ich finde es immer wieder lustig, wenn von Lafayette solche Kommentare kommen, wie z.B. dass er den Schutzkreis einfach hätte zerstören können, etc., er es aber nur wegen seiner Tarnung nicht macht. Das erinnert mich ein wenig an eine meiner eigenen Fanstories, bei der ich auch aus der Sicht eines überlegenen Charas geschrieben habe. Aber Colin ist auch irgendwie seltsam. Was sollte diese Magiedemonstration? Wem will er etwas beweisen? Wäre an Lafyettes Stelle jedenfalls auch leicht angepisst gewesen.^^
    Eine kleine Nebenbemerkung noch zum angedeuteten nächsten Kampf: Ich finde es immer wieder toll, wie du selbst Figuren wie z.B. Jimmy, die vielleicht gar nicht mehr vorkommen werden, genau beschreibst, so dass man sich ein gutes Bild von ihnen machen kann. Ich hätte als Autor einer Nebenperson nie so viel Aufmerksamkeit geschenkt...^^" Finde ich aber wirklich gut.


    Oh, eine Erwähnung der Harry Potter Romane? Das finde ich irgendwie putzig.^^ Verstärkt den Anschein, dass es sich um eine Geschichte in unserer Lebenswirklichkeit handelt. Ich ziehe diese Art von Fantasy sogar derjenigen vor, die sich in fremden Welten fern unserer Zeit abspielt.
    Wow, eine Klasse mit 80 Schülern? Und bei uns sagten sie, die Klassen wären mit 30 zu groß. xD Nein, kann man natürlich nicht vergleichen, aber ich find 80 auch in deiner Story schon recht kkrass. Was das für eine Lautstärke sein muss! Und da sollen die Schüler noch mit voller Konzentration Schutzkreise aufbauen? Hört sich nach harter Arbeit an.
    Wie immer fand ich die Beschreibung der "magischen Wahrnehmung" absolut klasse, es macht wirklich Spaß, die Welt durch Lafayettes Augen zu betrachten. Wobei ich manchmal denke, dass er als Chara etwas zu perfekt ist. Er kann irgendwie einfach alles. Okay, er ist ein Dämon, aber dennoch ist er ein wenig "uber".
    "Kein Wunder, dass die meisten Diesseitsbewohner derartig schwach waren." Autsch, Lafayettes Realismus tut ja fast schon weh. Hätte er das ausgesprochen, wäre ich anstelle der Betroffenen etwas beleidigt gewesen.xD
    Oh oh oh... Rolands Auftauchen verheißt nichts Gutes. Möglicherweise wird es jetzt etwas enger für Lafayette. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass es schon einen konkreten Verdacht gibt. Aber bedrohlich wirkt diese Entwicklung durchaus. Langsam wirds wirklich spannend, wie lange Lafayette das Versteckspiel noch mitmachen kann - und langsam will ich auch wissen, weshalb er sich eigentlich in diese Schule eingeschleust hat und was seine (bzw. Liliths) Ziele sind... Und nach diesem Traum aus dem letzten Kapitel könnte es unter Umständen sein, dass Lafayette bald von zwei Seiten angegriffen wird. Hoffentlich wird er nicht zwischen den Fronten zerrieben.


    Verbesserungen:
    Glaubte ich, zumindest. ohne Komma
    Lustig, den Mini-Fehler hätte ich normalerweise wahrscheinlich absichtlich übersehen, aber wenn ich sonst schon nix finde xD

  • Eigentlich wollte ich mit dem Kommi-Kommi noch bis zum nächsten Kapitel warten, aber will jetzt was dazu sagen.


    Ziegenpupillen hab ich deshalb gewählt, da der Teufel auch häufig mit Ziegenaugen dargestellt wird und dadurch ein Bezug geschaffen werden soll. Fand's "passender".


    Zu dem Kampf: Ich selbst mache Kampfsport und berichte dadurch quasi aus "Erfahrung". So ein Tritt gegen den Kopf kann sehr schmerzhaft sein, aber ein trainierter Kämpfer steckt das weg - wenn auch mit Schmerzen und nicht so ohne weiteres (und auch nicht sehr häufig hintereinander). Die "Schienbeinabwehr" kann tatsächlich weh tun, wenn man's nicht richtig macht und ist schwer zu beschreiben, so als Technik. Man "federt" eher mit dem Bein, sodass man den Schwung bisschen rausnimmt und "wirft" den Angriff dann zurück.
    Der Kampfstil lässt sich wohl am ehesten zu MMA (also mixed Martial Arts) einordnen - also eher ein Mischmasch aus allem. Es ist ja auch eigentlich eine Art Selbstverteidigungstraining, das da beschrieben wird und damit "universell".


    Der Alabaster-Fehler war wirklich autsch - keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht hab ^^"


    Danke jedenfalls für den Kommi - den Rest von diesem lasse ich mal unkommentiert, denn

    Zitat von Espeon

    Naja, time will tell ^^

    ;D

  • Kapitel 17


    Mir stockte der Atem und ein kaltes Kribbeln durchzog meinen Körper.
    Ich war mir sicher: Es hatte mit den Leichen, oder eher deren Überresten, die im Wald lagen zu tun. Wie sie das herausgefunden hatten, konnte mir nicht ausmalen. Vielleicht hatte Selina doch geredet?
    Das Mädchen wusste, zu was ich fähig wäre, sie hatte schließlich mindestens ein Lehrjahr Dämonologie absolviert haben müssen, um bei dieser Abteilung anzufangen. Dort wurden viele dämliche Dinge gelehrt; die meisten davon funktionierten nur, wenn der Dämon entweder blind, taub oder besser beides war, aber grundlegende Informationen entsprachen trotzdem der Realität. Ich hatte mir vor einigen Jahren einmal einen Spaß daraus gemacht, an einer solchen Sitzung, die nur niedrige Sicherheitsstandards aufwies, teilzunehmen und den Professor mit für ihn unbeantwortbaren Fragen zur Verzweiflung gebracht. Im Diesseits würde ein Dämon zum anderen wohl sagen ‚so was muss man mal mit gemacht haben’. Im Jenseits formulierten wir das anders – und diese Formulierung machte auch nur auf henochisch Sinn.
    Ich spürte, wie ich bei der Erinnerung daran zu lächeln anfing, wurde aber sofort wieder ernst, als meine Gedanken in die Gegenwart zurückkehrten.
    Wenn Arkane Einheiten hier waren und einen Verdacht hatten, würden sie jeden einzelnen Schüler überprüfen und seine Sachen durchsuchen. Sie suchten nach Anzeichen, die darauf hinwiesen, dass der betroffene Schüler mit Dämonen verkehrte. Im Diesseits standen darauf harte Strafen, in Einzelfällen die Giftspritze. Mein Wahrsagespiegel konnte ein potentielles Anzeichen sein, zu meinem Glück war er aber noch unbenutzt. Derartige Spiegel wurden von Diesseitsbewohnern verwendet, um mit Dämonen gefahrlos zu verhandeln – man stand sich nur durch den Spiegel gegenüber, durch die Welten getrennt. Was mir allerdings viel mehr Sorgen machte als dieser, war mein Bernstein. Verstecken war sinnlos - sie verwendeten Amulette zum Aufspüren von Auraspuren, welche diesen erkennen würden, wenn ich ihn in meiner Hosentasche deponierte.
    Ich musste mir etwas einfallen lassen. Eine Art Unsichtbarkeitszauber, der stark genug war, das Amulett nicht zum Ausschlagen zu bringen. Ich war mir sicher, dass ich nicht viel Zeit haben würde und sie sofort mit der Durchsuchung begannen, nachdem die Schüler informiert worden waren. Eventuell konnte ich mir mit den vorhandenen Zutaten einen starken und schnellen Zauber weben. Mein Problem war mehr die Zeit, als die Ausführung.



    Mir wurde von den vielen Gerüchen auf dem Schulhof beinahe schlecht. Werwölfe, Elfen, Hexen und Vampire waren alle zur gleichen Zeit in den Pausenhof gerufen worden. Dazu hatte die Arkane Einheit viele Wesen mitgebracht, die ihnen bei der Suche helfen sollten und die natürlich auch ihren Geruch besaßen. Es stank wirklich widerlich.
    Ich zählte zwei dutzend Hexen und Elfen und fünf Vampire in den Uniformen der Arkanen Abteilung, war mir aber sicher, dass noch einige an den Ein- und Ausgängen der Schule positioniert waren.
    Über uns krächzten einige Raben. Sie gehörten zum Standardinventar der Arkanen Abteilung und waren dazu da, aus der Luft alles im Auge zu haben – ein entscheidender Vorteil. Es waren kluge Vögel, die sich bevorzugt mit magischen Wesen umgaben. Klug genug, die Seiten zu wechseln, wenn ein Dämon anwesend war. Eine Tatsache, die Diesseitsbewohner nicht wussten - die Arkanen Einheiten kamen zu selten nahe genug an echte Dämonen heran, um das Verhalten der Raben effektiv beobachten zu können.
    Selten verwendete man stattdessen einen oder zwei Phoenixe – eine kräftigere, größere und absolut loyale Alternative. Der Haken dabei war die geringe Anzahl lebender Phoenixe – im Diesseits noch um die fünfzig. Sie wurden früher für junge Drachen gehalten und beinahe ausgerottet. Das hatte schließlich dazu geführt, dass sie immer mehr zum Mythos wurden. Vor allem Menschen begannen nicht mehr an sie zu glauben.
    Ich brauchte nicht mein drittes Auge zu verwenden um die vielen Dämonentöter um die Schule zu spüren. Sie waren kleiner als der, den ich gestern getötet hatte, aber gefährlicher, da sie im Rudel agierten. Für beide Seiten.
    Ich musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass die Arkane Abteilung einem Dämon tatsächlich mit so wenig begegnen konnte, dass diese Menge an magischen Wesen nötig war um einem solchen auch nur irgendetwas entgegensetzen zu können. Und wenn ich keinen groben Fehler machte, würde das alles auch nicht reichen.
    Trotzdem war ich froh darüber, dass Dämonentöter auch schon das Schlimmste waren, was Diesseitsbewohner beschwören konnten. Im Jenseits existierten Wesen, die niedrigrangigen Dämonen gefährlich werden konnten und in der Mehrzahl auch mir mein ganzes Können abverlangten. Drachen waren davon die einzigen, die einst auch in dieser Welt lebten, aber übergewandert sind, da sie genug von der „grenzenlosen irdischen Debilität und ihren fanatisierten Auswüchsen“ hätten, wie sie es beschrieben. Ich wusste sehr gut, was sie meinten.
    Ich vernahm ein durch ein Volumenamulett gesteigertes Räuspern aus Richtung der Mitglieder der Arkanen Abteilung. Roland war ein Stück nach vorne getreten und versuchte, die Schülermasse zur Ruhe zu bringen, was mit der Zeit auch Stück für Stück gelang. Ich sah mich nach Tony um, fand ihn aber in der Menge nicht. Ich hatte ihn auf dem Weg in den Schulhof verloren.
    „Liebe Schüler“, begann Rolands warme Bassstimme, erfüllt von einem traurigen Unterton. „Ihr seid heute hierher gerufen worden, weil gestern ein schreckliches Verbrechen verübt wurde.“
    Der Hexenmeister atmete hier tief durch, als würde ihm schwer fallen, was er gleich sagte. Er machte sich wohl Sorgen über die Reaktion der Schüler oder war tatsächlich labil genug, dieses Geschehnis an sich heran zu lassen.
    „Eine Arkane Einheit wurde von einem Dämon bestialisch ermordet, der dies auch noch als Tat eines nicht kontrollierten Höllenhunds getarnt hatte.“
    Ein leises Raunen ging durch die Menge und man konnte die Erschütterung in manchen Gesichtern ablesen. Ich unterdrückte den starken Impuls, die Augen zu verdrehen und verschränkte stattdessen einfach meine Arme.
    „Aus diesem Grund sind ab heute Mitglieder der Arkanen Abteilung für Dämonensicherheit hier, die sich mit der Jagd auf den Dämon auseinandersetzen werden. Mehr wird euch der Vizevorsitzende der Abteilung, Meister Dufresne, erzählen. Ich übergebe hier mit das Wort.“
    Spekulatives Murmeln zog sich durch die Menge, sogar die Vampire wirkten beunruhigt. „Was, wenn er es auf uns abgesehen hat?“, hörte ich ein junges, blondes Mädchen, das sich wenige Schritte neben mir befand zu ihrer Freundin sagen, die nur erschrocken nickte.
    Nein, Kleine, er hat es bestimmt nicht auf dich abgesehen. Ich lachte leise in mich hinein.
    „Guten Tag“, erklang eine harte, selbstbewusste Stimme. Roland war einen Schritt zurückgegangen und ein breitschultriger, glatzköpfiger Elf hatte seinen Platz eingenommen.
    „Mein Name ist Meister Dufresne“, begann er mit der überflüssigen Floskel. „Ich möchte euch kurz erläutern, mit was ihr zu rechnen habt. Wir sind von der Arkanen Abteilung für Dämonensicherheit, wie euer Schulleiter euch schon mitgeteilt hat. Aufgrund der Tatsache, dass sich in Schulumgebung wohl ein Dämon befindet, müssen wir jeden auf Spuren von Kontakt zu diesen durchsuchen. Zusätzlich werden während des Unterrichts stichprobenartig Mitglieder der Arkanen Abteilung in euren Klassenzimmern sitzen, um sich einen Eindruck über euch zu verschaffen. Freitags und montags könnt ihr mit Zusatzunterricht durch unsere Mitglieder rechnen, um euch auf einen potentiellen Angriff vorzubereiten.“
    Mir entkam beinahe ein lautes Lachen. Sie wollten die Schüler hier für den Kampf gegen Dämonen schulen? Es wäre das reinste Himmelfahrtskommando, eine Schülergruppe gegen einen Dämon zu schicken. Andererseits - Dufresne würde sich mit einem Sieg berühmt machen und das war wohl seine Motivation. Er wäre der erste, der etwas Vergleichbares geschafft hatte, eine Legende im Diesseits. Und es wäre dämlich, wirklich dämlich, zu glauben, das Jenseits würde auch nur einen Toten ihrerseits hinnehmen. Er hätte nicht sehr lange etwas von seinem Ruhm.
    „Wieso sollten wir unser Leben riskieren, um gegen etwas zu kämpfen, dass diese Schule nicht einmal betreten kann?“, rief ein männlicher Vampir und schien mit seiner Meinung nicht ganz allein zu sein.
    Dufresne lächelte beschwichtigend. „Ihr sollt euer Leben nicht riskieren. Ihr werdet für den Notfall geschult, wir wollen euch schließlich nicht in der Schule einsperren müssen. Stellt euch vor, ihr werdet auf den Weg ins Dorf angegriffen.“
    Ich kaufte ihm diese Erklärung nicht ab. Es steckte mehr dahinter, das wusste ich, aber es würde ihn niemand in seine Schranken weisen, wenn er damit rausrückte. Vielleicht sollte ich der Situation aber auch erstmal etwas Zeit geben.
    „Woher wollt ihr überhaupt wissen, dass das ein Dämon war?“, rief ein anderer Vampir.
    Eine sehr interessante Frage. „Vielleicht war es irgendein anderes Tier? Ihr beschwört doch diese Hunde, vielleicht war es so einer?“
    Anderes Tier? Dämonen waren keine Tiere. Mit dieser Aussage hatte er meine aufkommende Sympathie wieder verspielt.
    In Dufresnes Augen trat ein listiger Ausdruck – das konnte ich sogar aus mehreren Metern Entfernung erkennen. Was hatte er ausgeheckt?
    „Ich verstehe eure Sorgen“ verkündete er. „Aber wir können euch versichern - wir haben eine Informantin. Sie war bei dem Angriff dabei und steht uns an der Schule als Beraterin zur Seite. Aus Sicherheitsgründen wird sie im Gebäude an einem geheimen Aufenthaltsort bewacht.“
    Eine Informantin. Das konnte nur Selina sein – es war definitiv niemand anderes anwesend gewesen, das hätte ich gespürt. Meine Menschenkenntnis war mit den Jahren beinahe unfehlbar geworden – ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein naives, junges Mädchen wie sie genug Opferbereitschaft aufbrachte um auszuplaudern. Sie wurde von mir mit der Bedingung am Leben gelassen, eine erfundene Geschichte zu erzählen und das hatte sie nicht getan. Sobald ich sie fand, würde ich sie töten.
    Roland trat wieder einen Schritt nach vorne. „Liebe Kinder“, rief er mit einer beruhigenden Geste, um die aufkommenden Gespräche zu stoppen. „Ich bitte euch, nun alle zurück in eure Zimmer zu gehen. Es wird in den nächsten Minuten jemand zu euch kommen, der eure Sachen durchsucht. Ihr braucht keine Angst haben.“
    Einige protestierten gegen die Durchsuchung, wurden aber von Mitgliedern der Arkanen Abteilung regelrecht zurückgeschoben. Die Versammlung löste sich langsam auf – auch die Raben machten sich mit einem lauten Krächzen auf Richtung Wald. Ohne mir großartig Gedanken über Weiteres zu machen, ging ich mit schnellem Schritt durch das große Tor in die Schule. Mir schossen einige potentielle Ausführungen für einen starken Unsichtbarkeitszauber durch den Kopf und ich entschied mich für den schnellsten, wenn auch nicht effektivsten. Es würde schon reichen. Ich würde meinen Spiegel und meinen Bernstein verzaubern müssen, sonst liefen beide Gefahr, zur näheren Untersuchung eingesammelt zu werden.
    Scheinbar als einer der ersten kam ich in dem Gang an, in dem sich unser Raum befand. Das Geräusch meiner Schritte hallte unter der Decke nach und ich hoffte, mir würde niemand der Arkanen Einheit zuvor kommen. Ich musste mich wirklich beeilen – auch wegen Tony. Würde er mich beim Ritual beobachten, hätte ich noch mehr Fragen zu beantworten.
    An unserem Zimmer mit der Nummer achtundreißig angekommen, drückte ich gegen die schwere Holztür, die sich langsam öffnete. Niemand war im Raum. Ohne sie wieder zu verschließen, rannte ich die Treppe nach oben zu meinem Bett, unter dem sich der Spiegel und mein Athame befanden. Ich nahm ersteren aus dem samtenen Tuch, in das er eingewickelt war und legte ihn auf den Boden vor mir. Ich wollte das Ritual schon beginnen, als mir einfiel, dass ein Farnblatt für die schnelle Variante von Belang war. Zum Glück hatte ich einige getrocknete in der Sonne auf meinem Fensterbrett liegen. Meine grobe Bewegung brachte es zum Bröseln, was aber keinen Unterschied machen würde. Zuletzt holte ich noch meinen Bernstein aus der Hosentasche, um das Kettchen um den Finger meiner linken Hand zu hängen. Der Anhänger selbst lag auf dem Spiegel auf.
    Rhombus, flüsterte ich, um äußere Einflüsse meinen Zauber nicht ruinieren zu lassen. Energie durchfloss mich, warm und kraftvoll und gab mir Mut und Zuversicht. Mit einem leisen Rieseln baute sich die grünblaue Wand, vermischt mit einem Hauch von gold, schwarz und rot, um mich herum auf. Jetzt musste es schnell gehen.
    Mit meinem Athame ritzte ich mir ein Pentakel in die linke Handfläche. Das würde dem Zauber Schutz und Kraft geben – theoretisch war es sogar besser als ein gezeichnetes – war aber mit Schmerzen verbunden. Als ich damit fertig war, richtete ich dieses Richtung der beiden Objekte und konzentrierte mich. Wieder kanalisierte ich Energie. Ich visualisierte einen goldenen Schimmer, der aus meiner Hand auf den Spiegel und den Bernstein rieselte und mit meinen Gedanken wurde die Energie von ganz allein angesogen. Die Wunde brannte ein wenig, es fühlte sich fast so an, als hätte man Salzwasser hineingegossen, ich ignorierte es aber einfach. Die Schmerzen waren durch die austretende Energie verursacht – vergleichbar mit einem Riss im Wasserrohr, nur gewollt.
    Bewusst verhinderte ich, dass mein drittes Auge aktiv wurde. Ich lief Gefahr in Trance zu fallen, wenn es geschah und das würde viel Zeit kosten. Trotz des Hochgefühls, das ich durch die Energie besaß, wollte ich den Vorgang so schnell wie möglich vollzogen haben.
    Mit einem gedanklichen Impuls beendete ich das Leiten der Energie und öffnete die Augen. Eine rote Flüssigkeit war über Spiegel und Bernstein verspritzt – mein Blut. Nun legte ich das Farnblatt hinzu.
    „Evenite“, flüsterte ich um den Zauber zu aktivieren. Ich fühlte mich ein wenig unrein, als ein letzter Energieschub dafür verwendet wurde, das Blut und den Farn in Rauch aufgehen zu lassen, fast als hätte ich unsauber gearbeitet. Ich schob das Gefühl auf die Hektik.
    Um zu testen, ob alles funktioniert hatte, schloss ich die Augen. Ich spürte tatsächlich keine Präsenz des Spiegels und des Anhänger mehr. Das war gut.
    Beruhigt brach ich meinen Schutzkreis und packte den Spiegel wieder in seinem Samttuch ein. Die gesamte Prozedur hatte nicht länger als vierzig Sekunden beansprucht – und viel länger durfte es auch nicht dauern. Die Arkane Abteilung würde schließlich bald das Zimmer durchsuchen. Ich schloss die Möglichkeit aus, dass sie ein Amulett zur Wahrnehmung von Magiespuren verwendeten. Diese waren teuer in der Anfertigung und hielten ihre Wirkung nicht lange aufrecht – außerdem waren normale Schüler nicht fähig, einen Zauber so schnell zu wirken.
    „Was machst du da?“, hörte ich Tonys Stimme hinter mir, als ich die Matratze hochhob um darunter meinen Spiegel zu legen. Er war zwar auf feinstofflicher Ebene unsichtbar, aber optisch nicht.
    Zum Glück war er nicht früher hereingekommen.
    „Ich lege meinen Spiegel unter meine Matratze“, antwortete ich wahrheitsgemäß, was Tony die Stirn runzeln ließ. Er warf sich auf sein Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
    „Ah ja“, sagte er schließlich und beschloss, einfach nicht nachzufragen. Ich war ihm dankbar dafür. Scheinbar schien er zu verstehen, dass ich nicht über alles reden wollte und respektierte das auch.
    „Kommen die schon her?“, wollte ich wissen und verstaute meinen Bernstein noch in meiner Hosentasche. Ich sah mich kurz um. Mein Dolch musste noch irgendwo hin.
    „Ja, die sind schon im Zimmer gegenüber und echt verdammt schnell. Die haben irgend so ein Amulett dabei.“
    Ich nickte. Sie handelten also wie ich es erwartet hatte – und verließen sich damit blind auf ihre Magie. Ich wischte den Dolch an meiner Hose ab – es war mir egal, dass Blut daran klebte, sie würde eh gewaschen werden müssen – und legte ihn auf das Fensterbrett. Sie würden die Magie der Rune darauf vielleicht bemerken, deshalb hielt ich ihn fern von dem Spiegel. Ich wollte mein wichtigstes Hilfsmittel nicht verzaubern. Den Hexendolch mit Flüchen zu belegen konnte während der Arbeit damit das Ergebnis verfälschen, auch wenn man ihn schon längst wieder gereinigt hatte.
    Ein schweres Klopfen kündigte auch schon die Ankunft der Kontrolleure an. Tony eilte nach unten und nach einem letzten prüfenden Blick durch den Raum beschloss ich, ihm zu folgen. Nachdem er die beiden Hexen hereingelassen hatte, wollte er ihnen die Hand reichen, was sie aber einfach ignorierten.
    Die eine – eine Frau mit blonden Haaren – hielt ein silbernes Amulett an einer Holzkordel, das sie hin und herschwenkte, damit es die magischen Energiefelder besser wahrnahm. Sie schien Anfang vierzig zu sein und hatte im Gegensatz zu ihrem Begleiter die Kapuze der gold-schwarzen Robe abgenommen.
    Er war ein schlanker, eher schmächtig aussehender Mann, etwa dreißig Jahre alt. Ich konnte nicht einmal seine Augen unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze erkennen. Wäre es nicht durchaus von Belang, mich nicht Schlecht mit der Arkanen Abteilung zu stellen, würde ich ihn fragen, ob er nicht als kleiner Junge gelernt hatte, dass man in Gebäuden keine Mützen trug und Leuten die Hand schüttelte, wenn man ihnen zum ersten Mal begegnete. Ich war technisch gesehen etwa eintausendneunhundertsiebzig Jahre älter als er, mein Engelsleben nicht mitgerechnet. Für sein Verhalten sollte ich ihm den Hintern versohlen dürfen.
    Ich blendete die beiden Besucher aus und warf mich in den grünen Sessel um nachzudenken. „Ich bleibe hier unten, du schaffst das auch ohne mich, oder Tony?“, verkündete ich und begann damit, darüber zu sinnieren, wie ich nun vorgehen würde.
    Der Elf nickte und begleitete die beiden unfreundlichen Mitglieder der Arkanen Einheit nach oben. Es war ein ernstzunehmendes Problem, dass die Schule nun permanent überwacht wurde – ich musste mich schließlich irgendwie nach draußen schleichen, um überhaupt mit Lilith sprechen zu können und dann noch sicherstellen, dass kein Dämonentöter mir folgte oder mich fand. Und ich musste Selina finden und zum reden bringen, egal wie. In der Schule gab es eigentlich keine Räume, in denen man sich effektiv verstecken konnte – und sie schienen nicht davon auszugehen, dass der gesuchte Dämon bei ihrer Informationsrede zugehört hatte. Sie konnten auch nicht darauf setzen, dass ein Schüler alles weitergab, wenn sie sich so mit den Durchsuchungen beeilten – ich konnte eine Falle also ausschließen. Mit eingeschränkten Kräften fiel es mir schwerer, genaue Energiestrukturen wahrzunehmen und als Dämon konnte ich die Schule nicht betreten. Ob ich Selina trotzdem erkennen würde, wenn ich sie spürte? Wie sich ihre Energie-DNA anfühlte, wusste ich schließlich. Zuerst würde ich Tony über unterirdische Gänge in der Schule ausfragen – vielleicht konnte er mir sogar etwas Nützliches erzählen. In alten Legenden, von denen keiner weiß ob sie wahr sind, hört man häufig von so etwas.
    Mit leisen Schritten kamen die Drei wieder die Treppe herunter.
    „Das hier möchten wir mitnehmen und untersuchen. Wenn alles okay ist, bekommst du es in einigen Tagen zurück“, verkündete die Frau mit einer unnatürlich hohen Stimme. Sie trug einen Gummihandschuh an der Hand, mit der sie meinen Dolch hielt mit spitzen Fingern fast so hielt, als hätte sie ein verwesendes Tier in der Hand. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht aufzulachen.
    Mit einer Geste zeigte ich ihnen an, dass es okay ging. Sie würden ihn auch mitnehmen, wenn ich nicht einwilligte, daher war das eigentlich egal.
    Scheinbar zufrieden wies sie ihren Begleiter an, einen passenden Beutel zu holen. Er grub in seiner Robentasche und zog ein schwarzes Stoff-Zip-Täschchen heraus, offenbar aus Anti-Magie-Faser. Zusammen mit dem Gummihandschuh warf sie mein Athame hinein und beide gingen wortlos aus dem Zimmer.
    „Auf Wiedersehen und Danke!“, rief Tony noch zur Tür hinaus, bevor er sie schloss.
    Amüsiert blickte ich ihn mit einem milden Lächeln an, als er sich wieder umgedreht und hingesetzt hatte.
    „Du bedankst dich dafür, dass sie meinen Dolch mitnehmen?“, fragte ich sarkastisch und er wurde ein wenig rot.
    „Ich dachte, das wäre höflich“, gab er zu und senkte seinen Blick zu Boden. Er gab ein wenig zu viel auf Autoritätspersonen. Respekt beruht auf Gegenseitigkeit und bei diesen beiden war dieser definitiv nicht vorhanden.
    „Na wenn du meinst“, entgegnete ich und wechselte das Thema. Meine Gedanken rasten im Moment. „Sag mal, weißt du, ob es hier im Schloss unterirdische Gänge oder so etwas gibt?“
    Der Elf runzelte die Stirn und setzte sich mir gegenüber auf das Sofa.
    „Keine Ahnung, nie von so etwas gehört. Wieso?“
    „Nur so“, antwortete ich und dachte darüber nach, wer sonst etwas wissen könnte. Lilith kam mir sofort in den Sinn – aber so lange wollte ich nicht warten. Roland sicherlich auch, aber der stand unter Beobachtung und würde bei dieser Frage skeptisch werden. Wenn ich Glück hatte, würde ich in der Bibliothek etwas Brauchbares finden, einen alten Schulplan oder so. Scheinbar hatte ich mich doch nicht ausreichend vor meinem Auftrag informiert.
    „Was denkst du über diese ganze Aktion?“, riss mich Tony aus meinen Gedanken und beugte sich mit dem Oberkörper nach vorne, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln.
    „Ich denke, dass diese Leute sehr unhöflich sind“, gab ich offen zu. Vor Tony musste ich mich in diesem Bezug schließlich nicht verstellen.
    „Und vor dem Dämon hast du keine Angst?“, hakte er nach. „Also ich schon. Mit Arkanen Einheiten hier fühle ich mich zwar relativ sicher, aber wenn er uns einzeln angreift, sind wir dran.“
    Ich unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. Er konnte schließlich nicht wissen, dass Dämonen keine animalischen, unkontrollierbaren Steinzeit-Zerstörungswesen waren, denen die Natur zu viel Macht gegeben hatte, denn das war ihm seit seiner Kindheit wohl beigebracht worden.
    „Ich bezweifle doch, dass ein Wesen wie ein Dämon es auf uns abgesehen hat“, antwortete ich mit einem Zwinkern. Ich würde heute noch in die Bibliothek gehen. Sonst hatte ich eh nichts zu tun.
    Entschlossen sprang ich auf und ging Richtung Tür, womit ich das Gespräch beendete. Ich hatte im Moment kein großartiges Interesse daran, Smalltalk zu führen. Es gab wichtigeres.
    „Wo willst du hin?“, wollte Tony wissen und stand ebenfalls auf.
    „In die Bibliothek. Warte nicht auf mich wegen dem Abendessen.“

  • Kapitel 18


    Ich verbrachte nun schon Stunden in der Bibliothek – ohne Ergebnis. Es waren nur noch zwei von sieben Büchern übrig: das eine über Legenden und Anekdoten, die die Schule betrafen, das andere handelte vom Architekten. Ich hatte bist jetzt nichts erfahren, was ich nicht schon gewusst hatte und da in den Dämonenbibliotheken auch nichts von unterirdischen Gängen erwähnt worden war, zweifelte ich doch stark an einer Existenz derer. Aber wo sollten sie Selina sonst aufbewahren? Die Raben wussten es vielleicht - heute Nacht könnte ich einen von ihnen befragen, jedoch wollte ich mich darauf nicht verlassen. Auch das Gedächtnis von Raben konnte sich irren.
    Seufzend schob ich die Bücher ein Stück von mir weg und ließ meinen Kopf in meine Hände fallen. Tief atmete ich die nach Papier, Holz und Staub riechende Luft ein – der Geruch von Büchern, den ich so liebte.
    In Gedanken stellte ich mir die Bibliothek vor, wie sie war: Die hellbraunen Sandsteinwände, an denen sich Fackeln in schwarzen Metallhaltern befanden. Die langen, dunkelbraunen Regale, die sich wie Trennwände in Reihen quer durch den Raum zogen und so die einzelnen Arbeitstische voneinander trennten. Vor dem Eingang stand ein Schuhregal; ein roter Teppichboden war hier ausgelegt worden und um zu vermeiden, dass er verdreckte, herrschte hier Schuhverbot. Auf jedem Tisch stand eine kleine Kerze als Lichtquelle, da es in diesem Raum keine elektrischen Lampen gab. Dazu noch der kleine Schreibtisch, der als Schalter diente und momentan von einem gelangweilten Oberstufenvampir besetzt war, der schon längst Feierabend hätte, wäre ich nicht noch da.
    Der Gedanke an den Grund, aus dem ich hier war, riss mich aus meiner Vorstellung. Ich streckte mich einen Moment lang und beschloss dann, die übrigen beiden Bücher einfach auszuleihen – es war schon halb Zehn am Abend und ich hatte keine Lust mehr, in der Bibliothek herumzusitzen. Lesen konnte ich sie auch in meinem Bett.
    Müde drückte ich mich mit den Armen nach oben und schnappte mir die beiden Bücher. Der Vampir am Schalter hatte sich gerade hingesetzt und blickte mich hoffnungsvoll an. Wie jeder Vampir sah er überdurchschnittlich gut aus – kurze, rotbraune Haare und fast karamellfarbene Augen würden sein Gesicht aus jeder Masse an normalen Menschen herausstechen lassen und zusammen mit seinem durchtrainierten Körper wäre er das perfekte Männermodel. Sein einfaches, schwarzes Hemd und die blaue Jeans waren zwar ein schlichtes Outfit, aber er könnte sich wohl auch ein Graf Dracula Kostüm anziehen und es würde gut aussehen. Das war so eine Eigenart an Vampiren - jeder von ihnen war ein Teenieschwarm. Ihr einziger Nachteil gegenüber anderen Diesseitsbewohnern war, dass sie keine Magie wirken konnten.
    „Die willst du ausleihen?“, fragte er mit einem milden Grinsen auf den Lippen. Offenbar wunderte er sich über die Auswahl – das war nicht gerade das, was ein Schüler in meinem Alter lesen wollte. Ich hatte das Gefühl, dass er mich als Streber abstempelte.
    „Ich kann sie auch hier lesen, wenn du willst“, entgegnete ich übertrieben langsam und rollte die Augen dabei. Er durfte ruhig wissen, dass es ihn nichts anging. „Es sei denn du möchtest noch vor Mitternacht hier draußen sein.“
    Fast verärgert presste er die Lippen zusammen und notierte die Namen der beiden Bücher auf einem Blatt Papier. „Name?“
    „Morgan, Zimmer A achtunddreißig.“
    Nach einem kurzen Kratzen des Kugelschreibers über das Papier schob er mir die beiden Bücher wieder zu. „Hier“, murmelte er. „Bring die in den nächsten zwei Monaten wieder.“
    Wortlos griff ich danach und ging durch den großzügig gebauten Steinbogen, der den Eingang zur Bibliothek bildete. Ich hoffte, Tony war nicht frühzeitig ins Bett gegangen. Normalerweise ging er erst gegen Mitternacht schlafen, jedoch wusste ich auch nicht, was er seit heute Mittag alles erlebt hatte. Ob er wohl bei Amy und Alexia gewesen war? Gut möglich, dass er die beiden besuchen wollte – was sollte er sonst tun. Lernen wäre zwar eine Alternative, aber wenn er das getan hatte, sollte ich mir wohl ernsthaft Sorgen machen.
    Die Schule war wie leergefegt, als ich die Gänge entlang schlenderte. Es war ungewöhnlich für diese Uhrzeit, da eigentlich erst in eineinhalb Stunden Zimmerruhe war. Das dumpfe Geräusch von zwei diskutierenden Stimmen hinter einem geschlossenen Raum brachte das einzige Geräusch, neben meinen fast lautlosen Schritten. Ich befand mich im Lehrerabteil, das gegenüber der Hexen- und Elfenräume war, also mussten die Stimmen auch aus einem Lehrerzimmer kommen. Ich war neugierig.
    Leise schlich ich mich zu der schweren Holztür und vergewisserte mich noch einmal, dass mich niemand beobachtete. Vorsichtig legte ich mein Ohr daran.
    „Ich verbiete ihnen, das mitzunehmen!“, rief Meister Stevens Stimme energisch. Er klang sehr wütend.
    „Es tut mir Leid, aber sie haben keine Wahl“, entgegnete ein unbekannter Mann und ich konnte das Rascheln von Gummihandschuhen hören. „Wir werden es mitnehmen und sie bekommen es zurück, wenn wir mit der Kontrolle fertig sind. Wenn sie wollen, können sie eine Beschwerde einreichen, aber das wird nichts an der Situation ändern. Nun gute Nacht.“
    Das in Bewegung setzen von mehreren Personen warnte mich, bevor sie die Tür öffnen konnten. Schnell sprang ich einige Meter zurück, um so zu tun, als würde ich gerade erst vorbeilaufen. Ein heller Schein fiel in den dunklen Gang und zwei Gestalten in gold-schwarzen Roben traten aus dem Raum hervor.
    „Guten Abend“, grüßte ich und versuchte, einfach an ihnen vorbeizulaufen. Mit ausgebreiteten Armen hielt mich einer von ihnen, ein großer, kräftig gebauter Mann, an.
    „Was machst du noch hier? Du hast um diese Uhrzeit in deinem Zimmer zu sein“, brummte er unzufrieden mit einer tiefen Bassstimme.
    „Ich war in der Bibliothek. Meines Wissens nach ist Zimmerruhe außerdem erst in mehr als einer Stunde. Wenn ich nun bitten dürfte, ich würde gerne weiter gehen.“
    Ich wollte mich vorwärts bewegen, doch der Mann hielt mich wieder mit seinem Arm auf.
    „Ab Acht Uhr Abends hat sich niemand mehr auf den Gängen aufzuhalten, Anweisung von Meister Dufresne. Jeder, der dieses Verbot bricht, wird von ihm persönlich auf seine Aktivitäten geprüft und zu einem Gespräch mit ihm geladen“, erklärte er mit einem selbstgefälligen Grinsen. „Außerdem widerspricht man Erwachsenen nicht, Kleiner. Hat dir das nie jemand beigebracht?“
    Man sollte auch keine Leute verärgern, die dafür sorgen hätten können, dass dein Urururgroßvater nicht einmal geboren wird, Bübchen.
    Bevor ich etwas erwidern konnte, stampfte Steven aus seinem Zimmer. Er sah müde und verärgert aus.
    „Wenn der Junge in der Bibliothek war, wird es ja wohl einen Zeugen dafür geben“, zischte der Hexenmeister. „Wenden sie sich bitte an den Schüler Aaron Miller, Zimmer C vierundzwanzig. Er hatte dort heute Aufsicht.“
    Die beiden Mitglieder der Arkanen Abteilung tauschten kurz Blicke aus. „Das ändert nichts an der Tatsache, dass er um diese Uhrzeit noch in den Gängen war“, sagte der Große von ihnen bestimmt und hob dabei überlegen sein Kinn. „Regeln sind Regeln.“
    „Diese Regel gibt es seit heute Nachmittag. Wenn er in der Bibliothek war, hat er ihre zweite Ansprache wohl nicht mitbekommen. Und jetzt hören sie auf, meine, seine und ihre Zeit zu verschwenden und lassen sie den Jungen gehen.“
    Unzufrieden brummend wanden die beiden sich ab und gingen wortlos davon. Überheblichkeit war wohl ein Grundkriterium für die Aufnahme in die Arkane Abteilung. Ihre Bemühungen um den ominösen Dämon zu finden sprengten langsam den Rahmen – wenn es hier wirklich einen angriffslustigen Dämon gäbe, könnten sie froh sein, wenn sie diesen nie fänden.
    Ich wand mich Steven zu. „Danke“, sagte ich und versuchte, einen Blick in sein Zimmer zu erhaschen. Was sie wohl mitgenommen hatten?
    „Keine Ursache. Aber es ist wohl besser, wenn du jetzt dein Zimmer aufsuchst, bevor noch mehr von denen dich sehen.“
    Der verächtliche Unterton gegenüber der Arkanen Abteilung in seiner Stimme gefiel mir – und machte ihn mir noch sympathischer. Mit einem Nicken verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg zu Tony. Hinter mir hörte ich, wie der schwere Riegel des Zimmers von Steven vorgeschoben wurde. Ihm war es wohl ein Stück weit unangenehm, dass ich mitbekommen hatte, wie die Mitglieder der Arkanen Abteilung bei ihm gewesen waren. Vielleicht hatte er etwas zu verbergen, so wie er sich dagegen gewehrt hatte, dass sie etwas von ihm mitnahmen. Wenn er wirklich mit Dämonen verkehrte, wäre es ein leichtes, das für mich herauszufinden – Lilith wüsste es, wenn es so wäre. Und sobald es Neumond wird, werde ich mit ihr sprechen. Aber vielleicht war mein Auftrag ja doch so simpel, dass ich mich um die in den letzten Tagen zahlreich auftretenden Probleme gar nicht kümmern musste.


    Die Holztür zu unserem Zimmer war verriegelt. Ich klopfte laut an und wartete auf ein Lebenszeichen. Nach einigen Sekunden konnte ich schließlich jemanden die Treppe herunter kommen hören.
    „Wer ist da?“, fragte Tony und klang dabei etwas müde. Hatte er wirklich schon geschlafen?
    „Ich bin’s“, antwortete ich knapp und wippte hin und her, bis er endlich die Tür geöffnet hatte. Schnell schlüpfte ich hinein und genoss die Wärme, die mir entgegenschlug.
    „Ich frag dich morgen wo du warst“, verkündete er mit schläfrigem Blick, drehte sich um und tappte in seinem Metallica-Shirt und der abgenutzten, schwarzen Hose wieder nach oben.
    „Und ich frag dich morgen, was los ist“, rief ich ihm hinterher, immer noch erstaunt darüber, dass er schon ins Bett gegangen war. Hoffentlich hatte er nichts Dummes angestellt.
    Geräuschvoll ließ ich die beiden Bücher auf den Steintisch plumpsen. Mit einem Seufzen fiel ich in den grünen Sessel und atmete noch einmal tief durch. Es war noch so unheimlich viel zu tun in den nächsten Tagen. Auch Dämonen brauchten ein wenig Ruhe nach einem anstrengenden Tag – ich konnte es mir aber nicht leisten, auch wenn ich mich am liebsten sofort ins Bett legen wollte.



    Ich saß auf einer grünen, blühenden Frühlingswiese. Der Himmel war klar, keine Wolke war zu sehen und die Sonne war angenehm warm. Ich befand mich auf einer Art Waldlichtung. Um mich herum wuchsen hohes Gras und die verschiedensten Blumen, die bunte Sprenkel in der grünen Landschaft hinterließen. Kräftige, gesunde Bäume umreihten die Lichtung in einem perfekt aussehenden Kreis. Über einen moosbewachsenen Fels führte ein schwaches Wasserrinnsal zu den Wurzeln der alten Bäume, zwischen denen dieses mit einem leisen Plätschern verschwand. Die sauerstoffreiche Luft duftete nach Frühlingsblumen, frischem Gras und Erde. Vögel zwitscherten fröhlich vor sich hin und ich glaubte, Kinder spielen zu hören.
    Ich drehte mich zu allen Seiten, um die Herkunft der Stimmen zu erfassen. Es fühlte sich anders an als in meinem letzten Traum: Ich hatte die volle Kontrolle über mich. Ich konnte denken, fühlen, handeln und wusste, dass ich träumte. Es war kein luzider Traum, nichts war durch meine Gedanken zu beeinflussen. Eher bewegte ich mich wie in einer parallelen Realität.
    Jemand zupfte an meiner Robe – dieselbe, wie ich sie in meinem letzten Traum trug. Ich richtete meinen Blick nach unten und sah ein kleines, blondes Mädchen in derselben Tracht, wie ich sie trug und daneben einen grünhaarigen Jungen. Beide hatten sie einen erwartungsvollen Gesichtsausdruck aufgesetzt.
    „Bist du ich in groß?“, fragte der Junge mit seiner kindlichen Naivität, die mich berührte. Ich ging in die Hocke um mit den beiden auf Augenhöhe sein zu können, antwortete aber nicht. Ich war sprachlos.
    „Komm, Lafayette“, rief das kleine Mädchen dem Jungen zu. „Spielen wir weiter!“
    Sie rannte los und er folgte ihr. Ein Schmetterling flog vorbei, den sie nun versuchten zu fangen. Kichernd jagten sie das hilflose Insekt, machten aber keine Anstalten, es wirklich zu erwischen. Sie waren beide Dämonen, das spürte ich.
    Das hier war kein gewöhnlicher Traum. Ein wenig überwältigt von der Situation, verspürte ich das Bedürfnis, mich hinzusetzen. Ich Schneidersitz beobachtete ich weiter die beiden Kinder.
    Sie spielten zwar miteinander, schienen aber zu vermeiden, sich zu berühren oder zu nahe zu kommen. So war es unter Dämonen üblich – körperliche Nähe war ein Tabu.
    Mit einem Mal schien sich etwas zu ändern. Das Zeitkontinuum verschob sich – ein Gefühl, für das es in diesseitigen Sprachen keine Worte gab.
    Ich sah auf einmal wie im Zeitraffer, wie die beiden Kinder älter wurden. Sie wuchsen, bis sie etwa aussahen wie fünfzehn. Das Mädchen war hübsch geworden. Goldene Locken hingen ihr beinahe bis zur Hüfte und ihre karamellfarbenen Augen strahlten in ihrem sonst blassen Gesicht. Ihre Robe wurde zur Taille hin schmaler und betonte so ihre Figur. In ihren zarten Fingern hielt sie ein Zauberbuch über dämonische Beschwörungsmagie und sie lächelte dem Jungen neben ihr zu: meinem Ebenbild.
    Er sah aus, wie ich nun auch seit etwa zweitausend Jahren: etwa sechzehn, grüne, längere Haare, braungrüne Augen und schlank, aber durchtrainiert. Im Schneidersitz saß er auf dem Boden und beobachtete das Mädchen dabei, wie sie in henochischer Sprache Beschwörungen murmelte.
    Natürlich alterten Dämonen nicht wie hier in diesem Traum, aber gewissermaßen zeigte er den geistigen Entwicklungsprozess.
    Ich konnte eine große Menge Energie spüren, als das Dämonenmädchen ihre Beschwörung beendet hatte. Sie fühlte sich schwerer, kraftvoller und viel wilder an als gewöhnliche – Dämonenmagie in ihrer reinsten Form. Ein Diesseitsbewohner, der solche Kräfte anzuwenden versucht, spaltet in der Regel seinen Geist damit und wird verrückt. Es gibt tatsächlich Hexen, Menschen und Elfen, die mit henochischer Magie herumspielen – teilweise entrinnen sie nur knapp der Katastrophe und sie wissen gar nicht, was sie dabei tun. Ein Diesseitsbewohner, der henochische Magie angewendet hat, wandert nach seinem Tod direkt ins Jenseits und endet für gewöhnlich als Ghoul – so nennen wir Dämonen solche verlorenen Seelen, die meistens verrückt geworden sind, da sie ohne Körper nicht mehr zurecht kommen – oder in ganz seltenen Fällen, wenn die obersten Räte der Dämonen sie als würdig empfinden, als Rotholzdämon. In meinem gesamten Dasein hatte ich dies lediglich zwei Mal erlebt.
    Das Mädchen zitterte unter der großen Menge Energie und war sichtlich damit bemüht, sie in eine klare Richtung zu lenken. Es war wohl eines ihrer ersten Male bei der Beschwörung von Jenseitswesen und das erforderte sehr viel Leistung. Ich fühlte, wie die Energie wie in hohen Wellen auf sie zurollte und statt wie an der Brandung zu zerschellen, aufgesogen wurde.
    „Mimi, hör auf, das ist zu viel“, sagte der Dämonenjunge besorgt, sie schüttelte aber einfach den Kopf.
    „Ich mach das schon.“
    Machte sie nicht. Ich wusste, dass sie die Energie gleich fallen ließ und sich danach furchtbar aufregte. Dass der Traum-Lafayette, ohne dabei ihre Finger zu berühren, das Buch aus ihrer Hand nimmt und teilnahmslos vor ihr steht, sie in den Arm nehmen wollte, aber es nicht tat. Danach würden sie mit ihren Übungen für heute aufhören und zurück zu Lilith gehen, um dort nach Rat zu fragen und als Antwort bekommen, dass es reine Übungssache sei. Ich hatte diesen Moment schon einmal gelebt, vor beinahe zweitausend Jahren – und ihn fast verdrängt, wie so viele andere Gedanken auch. Aus Schutz, um nicht an gewisse Erlebnisse erinnert zu werden.
    Ich setzte meinen Körper in Bewegung. Ich wollte zu dem Dämonenmädchen und sie fragen, was sie in meinen Träumen tat.
    Noch bevor ich wirklich handeln konnte, verschwamm mein Traumbild. Das Mädchen blieb als einziges bestehen und mich erfasste ein Schwindelgefühl. Es fühlte sich an, wie in einen Strudel gesogen zu werden. Das Licht schwand und mir fiel es schwer, klare Gedanken zu fassen. Ich verlor die Kontrolle über meinen Körper, es war wieder, als würde ein fremder Geist meinen eigenen verdrängen.
    Mit einem Mal saß ich wieder in dem großen, kalten Raum voller Spiegel. Es war alles wie in meinem letzten Traum: Die Treppe, die Betonwände, die Energielosigkeit.
    „Lafayette“, ertönte eine helle, klare Stimme hinter mir. Ohne es bewusst zu wollen drehte ich mich um und richtete mich auf. Langsam wurden mir wieder eigene Gedanken gewährt, aber mein Körper blieb unter fremder Kontrolle.
    „Mimi“, sagte ich mit einer für diesen Moment so sicheren und festen Stimme, dass sie beinahe fremd klang. „Was tust du in meinen Träumen?“
    Das goldlockige Mädchen legte den Kopf schief und suchte mit ihren Ziegenaugen meinen Hals, der sich ohne meinen Bernstein seltsam nackt anfühlte.
    „Möchtest du, dass ich gehe?“, antwortete sie vorwurfsvoll. „Wir haben uns eintausendfünfhundert Jahre nicht gesehen. Ich dachte, du freust dich über meine Anwesenheit. Deine Reaktion stimmt mich ein wenig traurig.“
    „Wäre mir die volle Kontrolle über meinen Körper gewährt, könntest du meine Freude sehen. Ich bin verwirrt. Du existierst nicht mehr, wie kannst du hier sein?“
    Langsam kam das Dämonenmädchen näher. Knapp vor meinem Gesicht machte sie halt, genau so, dass wir uns gerade nicht berührten. In ihren Augen konnte ich gleichzeitig Trauer, Freude und Sehnsucht lesen.
    „Suche nicht nach dem ‚wieso’, Lafayette“, hauchte sie mit besorgtem Gesichtsausdruck. „Hilf mir.“
    Ich wollte etwas erwidern, doch sie ließ mich mit einer knappen Geste innehalten. Sie kanalisierte Energie und piekte mich damit in die Seite – etwa so, wie es Menschen mit ihren Fingern tun, wenn sie sich kitzeln. Es war in gewisser Weise das dämonische Pendant dazu.
    „Ich bin real“, sagte sie. „Hilf mir.“



    Noch bevor ich irgendetwas tun konnte, wachte ich auf. Meine Gedanken sausten durcheinander und mir fiel es schwer, die Situation zu erfassen. Nur langsam erkannte ich wieder klare Strukturen und mir fiel auf, dass draußen die Sonne schien. Mist.
    Tony saß auf dem Sofa und sah mich mit gerunzelter Stirn an, in der Hand eines meiner Bücher von gestern.
    „Morgen“, begrüßte er mich, als er bemerkte, dass ich wach war. „Was willst du mit diesen Büchern?“
    Ich rieb mir die Augen und streckte mich. Das Verlangen zu gähnen trat in mir auf, aber ich unterdrückte es.
    „Ich dachte, wir brauchen noch Brennstoff für den Kamin“, antwortete ich scherzhaft und nahm Tony das Buch ab, um es auf den Tisch zu legen. „Wie lange hab’ ich noch Zeit, bis der Unterricht beginnt?“
    „Zwei Stunden, wenn du nichts essen willst. Ich geh jetzt in den Speisesaal, du kennst ja den Weg.“
    Ich nickte und bedeutete ihm mit einer Geste, dass er ruhig gehen kann. Für ihn waren seine Antworten heute recht knapp, aber ich hatte gerade über wichtigeres nachzudenken, weswegen ich die Überlegungen darüber verdrängte.
    Einen derart sonderbaren Traum hatte ich noch nie gehabt. Es konnte nicht Mimi gewesen sein, die mit mir gesprochen hatte. Sie existierte nicht mehr; ich war daneben gestanden, als Lilith sie ausgelöscht hatte. Aber wer sonst? Geister tauchten für gewöhnlich nicht in Träumen auf – erst recht nicht in den von Dämonen. Und selbst wenn, würden sie keine Spielchen mit mir spielen, aus Angst, ich sperre sie in eine Flasche oder sonst wo hin. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie diese Dinge gar nicht wissen konnten. Es gab eine Hand voll Personen, die diese Szene hätten kennen können. Niemandem davon würde ich es zutrauen, so mit mir zu spielen.
    Vielleicht war es ja doch Mimi?