Kapitel 14
„Ach so“, antwortete ich knapp und biss die Zähne zusammen. Natürlich, das war die naheliegendste Erklärung für ihr Handeln.
„ ‚Ach so’“, wiederholte er spöttisch. „Was hast du dir dabei gedacht? Nicht nur, dass wir uns Sorgen gemacht haben – du hast Alexia verletzt und sie ist todtraurig! Sie sitzt in ihrem Zimmer und weint, wegen dir. Du bist ihr wichtig, auch wenn du erst eine Woche hier bist. Alexia ist ein Mensch, der entweder sofort oder gar nicht Freundschaften schließt und dich mochte sie wie mich und Amy von Anfang an. Sie dann auch noch stehen zu lassen, während sie sich versehentlich selbst verzaubert hatte, setzt dem Ganzen noch die Krone auf! Du solltest dich bei ihr entschuldigen, sobald sie wieder mit dir reden möchte. Im Moment will sie nur Amy sehen, sonst wäre ich auch bei ihr.“
Er hatte sich vor mir aufgebaut, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und durchbohrte mich mit seinem Blick. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und atmete tief durch. Ein Stück weit fühlte ich mich geehrt, dass Alexia mich quasi ausgewählt hatte, jedoch empfand ich nun noch schuldiger für das, was ich getan hatte.
„Es tut mir auch Leid“, sprach ich Richtung Boden. Mir fiel eine grüne Strähne vor die Augen. Irgendwie mochte ich die Farbe nicht mehr und sie war hier wesentlich ungewöhnlicher als im Jenseits. Dort kamen sämtliche Haarfarben vor, denn Dämonen veränderten regelmäßig ihr Aussehen mit Zaubertränken so wie sie es wollten – zumindest die meisten. Allerdings waren das Tränke zur Gestaltwandlung, nicht zu vergleichen mit den schwächeren diesseitigen Amuletten oder Färbezaubern. Am Wochenende würde ich einen mischen, der nur meine Haare veränderte. Die gab es auch im Diesseits, wenn sie auch nicht leicht zu machen waren. Nach diesem Entschluss wanderten meine Gedanken wieder zu Alexia.
„Geht es ihr sonst gut?“, fragte ich und hob den Kopf.
„Physisch schon, wenn du das meinst.“ Sein starrer Blick lockerte sich ein wenig und er wedelte mit den gesammelten Kräutern, die er vom Tisch genommen hatte, vor seinem Gesicht herum. „Wozu sind die?“
„Die hab’ ich gesammelt. Irgendwas musste ich im Wald ja tun.“
Der Elf schien einen Moment nachzudenken. „Du hast also nicht dieses „Ding“ gesucht?“, hakte er nach, die Stirn gerunzelt.
„Zumindest bin ich ihm nicht begegnet“, log ich und grinste ihn an. „Ich denke, ich war etwas… in meiner Ehre verletzt“, gab ich schließlich zu, was sich als schwieriger herausstellte, als ich dachte. „Deswegen musste ich raus. Die Sache mit Alexia ist unglücklich gelaufen, sie hätte mir vielleicht auch nicht folgen sollen…“
Tony ließ sich seitlich auf das grüne Sofa fallen und legte seine Füße auf die Lehne, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Auf seinem Gesicht tat sich ein entschlossener Ausdruck auf.
„Du schuldest mir noch ein paar Antworten“, sagte er schließlich. „Aber darüber reden wir jetzt nicht, ich hab’ Hunger. Du könntest was holen, die haben in der Kantine sicher noch Essen übrig.“
Ich nickte. Unter normalen Umständen hätte ich gesagt, er könne es sich doch auch selbst holen, aber ich hatte ja quasi eine Schuld zu begleichen. „Meinst du, ich sollte den beiden Mädchen auch etwas vorbeibringen?“
Er lächelte bitter. „Kannst du machen. Aber rechne nicht damit, dass du besonders freudig empfangen wirst.“
Mit schnellen Schritten ging ich durch den Speisesaal Richtung Kantine um unser Abendessen abzuholen. Die Kerzen waren schon gelöscht und die Küchenangestellten räumten gerade die ersten Teller von den Tischen, nur wenige Schüler waren noch anwesend. Ein junger Werwolf im hinteren Teil des Raumes schlang geräuschvoll einen Teller voller Chicken Nuggets herunter, dazu Pommes und Ketchup, seine Freunde daneben schienen zu wetten, wie viele er noch schaffte. Der beißende Geruch von Frittierfett ergab zusammen mit einem eher hintergründigen Geruch von geschmolzenem Zucker eine sehr skurrile Mischung.
Am Kantinenfenster angekommen klopfte ich kurz an die Holzverkleidung, um jemanden der Angestellten auf mich aufmerksam zu machen. Alle waren damit beschäftigt, aufzuräumen und abzuwaschen.
Der Kantinenraum war üppig eingerichtet. Ich zählte vier große Backöfen und eine sich an der Wand durch den ganzen Raum ziehende Arbeitsplatte. In der Mitte des Raumes befanden sich mehrere Gasherde, auf einem großen Tisch angebracht und jeweils durch dünne Stahlwände voneinander getrennt. Zwei Rollregale versperrten zum Teil den Blick auf die große, chromfarbene Friteuse, aus der gerade das Fett gelassen wurde. Ein parallel zur Arbeitsplatte verlaufendes Hängeregal, auf dem die verschiedensten Gewürze standen, befand sich etwa auf Kopfhöhe. Weiße, spritzfeste Fliesen bedeckten die Steinwand und verliehen zusammen mit der restlichen, komplett stahlfarbenen Kücheneinrichtung dem Raum einen sehr kühlen Eindruck. Im Hintergrund konnte man noch einige der Angestellten irgendetwas zubereiten sehen, ich konnte aber nicht sagen was.
Nach einem Moment registrierte mich eine junge Frau in Arbeitskleidung, welche sofort zu mir eilte.
„Was gibt’s?“, wollte sie freundlich lächelnd wissen. Sie war jung, vielleicht fünfundzwanzig und um ihren Hals hing ein kleines, goldenes Kruzifix, wie es katholische Kinder zu ihrer Kommunion bekamen. Ihre langen, blonden Haare umrahmten ihr jugendliches Gesicht, das unbestreitbar einen asiatischen Touch besaß. Die eng gebundene, weiße Schürze betonte ihre Figur und ein Namensschild mit der Aufschrift ‚Lana’ zierte das darunter liegende schwarze T-Shirt.
„Hätten sie noch ein wenig vom Abendessen?“, fragte ich höflich nach, „Für vier Personen, bitte, und packen sie es wenn möglich separat ein.“
„Na klar, kein Problem“, antwortete sie mit einem Zwinkern und verschwand sie aus meinem Blickfeld, woraufhin ich einige Plastiktüten und Pappkartons rascheln hörte. Ich versuchte, ihren Geruch zu ermitteln, was durch die vielen verschiedenen einzelnen Noten, die sich im Kantinenraum besonders zahlreich war, nicht einfach war. Ich vermutete aber, sie war ein Mensch. Allein schon wegen des Kreuzes.
„Hier, bitte“, sagte sie, als sie zurückkam und mir zwei Tüten reichte, die nach Essen dufteten. Als ich den Geruch von Pommes und Chicken Nuggets einatmete, knurrte mein Magen. Ich hatte wohl doch Hunger.
„Danke. Schönen Abend noch“, verabschiedete ich mich. Ich versuchte, die Ursache des Zuckergeruchs auszumachen, aber ich konnte nichts Verdächtiges erkennen. Obwohl ich aus irgendeinem Grund neugierig ob dessen Herkunft war, machte ich mich auf Rückweg. Schließlich gab es wichtigeres im Moment.
Als ich durch das große Tor aus dem Speisesaal ging, dachte ich darüber nach, was ich zu Amy sagen würde – ich ging nicht davon aus, dass Alexia die Tür öffnete.
Ich entschloss mich, lediglich das Essen zu übergeben und mich kurz entschuldigen, wenn ich bei den Mädchen klopfte. So wie ich Amy einschätzte, würde sie es nicht zulassen, dass ich hereinkäme und mit Alexia redete.
Ich plante das kurze Gespräch in Gedanken mehrere Male durch, bis ich endlich an ihrem Zimmer angekommen war. Schüchtern klopfte ich an.
Ein dumpfes „Wer ist das denn?“, erklang dahinter und kurz darauf öffnete sich die Holztür einen Spalt. Amy sah mit einem Auge heraus und als sie mich erkannte, wurde ihr Blick gleichzeitig erleichtert und wütend.
„Was willst du hier?“, fauchte sie mich schließlich an. Ich hatte mit dieser Feindseligkeit gerechnet und wusste, dass sie es nicht ganz so meinte. Das Essen würde sie sicher annehmen.
„Ich hab’ euch Abendessen mitgebracht“, antwortete ich schließlich entschuldigend. „Chicken Nuggets und Pommes.“
Immer noch wütend starrte sie mich weiterhin an und kniff die Augen zusammen. War sie vielleicht doch wütender, als Tony meinte? Ich hatte vorhin schließlich noch die Sorge, dass sie gar nicht mit mir reden würde, aber er hatte mich mit seiner Meinung dazu ein wenig ermutigt. Andererseits meinte der Elf ja auch, ich sollte nicht erwarten, dass sie mir besonders freundlich entgegenkäme.
„Amy, es tut mir Leid“, setzte ich an. Sie seufzte und ihr Blick wurde weicher, woraufhin sie sich durch die Tür schob. Die Hexe stemmte die Arme in die Hüften und sah mich nun prüfend mit beiden Augen an. Der schwarze Trainingsanzug, den sie trug, betonte ihre schlanke aber athletische Figur und passte gut zu ihrem südländischen Teint. Ich spielte mit dem Gedanken, ob ein Kompliment sie weiter besänftigen würde, ließ es dann aber.
„Wir haben uns Sorgen gemacht“, flüsterte sie, sodass ihre Mitbewohnerin und Adoptivschwester es im Zimmer nicht hören konnte. „Auch Alexia. Du bist ihr mindestens einhundert Tut-mir-Leids schuldig und ich würde dich ohrfeigen, wenn ich nicht solchen Hunger und du Abendessen hättest. Gib her.“
Ich hielt ihr eine der Tüten hin und sie griff danach. „Danke“, sagte sie schließlich. Ihr Blick verhärtete sich wieder. „Wenn du noch mal so etwas abziehst, hexe ich dir vier Wochen lang Windpocken an. Verstanden?“
Ich nickte und lächelte dabei mild. „Meinst du-„, begann ich, aber sie unterbrach mich mit einer scharfen Geste.
„Nein. Es wäre keine gute Idee, wenn du jetzt mit Alexia redest. Gib ihr Zeit. Du kannst froh sein, dass sie nicht besonders nachtragend ist. Und dass ich es nicht bin.“
Ich berührte sie sanft an der Schulter und verabschiedete mich dann mit einem Nicken von ihr. Mit einem undefinierbaren Laut verschwand sie wieder hinter ihrer Tür und schob den schweren Riegel vor. Das war besser gelaufen, als ich erwartet hätte. Ich mochte Amy, genauso wie Tony und Alexia. Eine Freundin wie sie zu haben war wohl viel wert – die beiden konnten sich glücklich schätzen. Der Gedanke daran, dass ich nicht hier bleiben konnte, sie vielleicht sogar töten musste, verpasste mir einen Stich in der Brust, verbunden mit einem Gefühl der Leere und Wertlosigkeit. Im Jenseits war ich nur ein Krieger von vielen, wenn auch ein sehr angesehener. Hier war ich eine Hexe von vielen, aber ich hatte Personen, die mich mochten und denen ich etwas bedeutete. War es das vielleicht wert?
Nein, auf keinen Fall, zwang ich mich zu denken. Ich schalt mich selbst für den Gedanken und verwarf ihn wieder. Es war keine gute Idee, mich damit zu beschäftigen. Loyalität zu meiner Rasse war das wichtigste, schließlich würde ich von den Diesseitsbewohnern getötet werden, wenn nur eine Person an dieser Schule von meiner wahren Identität erfuhr. Der Hass gegen Dämonen war vergleichbar wie der gegen Hexen zu Zeiten der Inquisition, mit dem Unterschied, dass Dämonen wesentlich gefährlicher waren als diese. Ich selbst war bereits vier Mal an Einheiten der Arkanen Abteilung geraten und kein einziges Mal war es eine echte Herausforderung gewesen, sie zu besiegen.
„Ich rieche Essen“, hörte ich dumpf und undeutlich aus einer der Holztüren zu meiner Rechten: Es war Tony. Bevor ich antwortete betrat ich das Zimmer mit der Nummer achtunddreißig und schob den Riegel wieder vor, da ich nicht durch den Flur rufen wollte.
„Du riechst Pommes und Chicken Nuggets“, erklärte ich grinsend und packte die verschiedenen Kartons mit Essen aus. Tony zog den Sessel, in den er sich gesetzt hatte, näher an den Tisch und griff sich ein paar Pommes.
„Und, wasch hat Amy geschagt?“, fragte er mit vollem Mund und strich sich eine Wimper aus dem Auge.
„Nicht viel“, schilderte ich. „Nur, dass ihr euch Sorgen gemacht habt und Alexia von meinem Verhalten verletzt ist.“ Ich schnappte mir einen Essenskarton und machte mich daran, den Inhalt zu vernichten. In Gedanken ging ich schon mal die Zutaten für den Haarzauber durch.
„Also im Prinzip dasselbe wie du.“
„Sag mal, Lay“, begann Tony ein wenig unsicher und an seinem Tonfall konnte man erkennen, dass er das Thema wechselte. „Glaubst du Amy und Leander kommen zusammen?“
Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Aber mit wem hätte er schließlich sonst darüber reden sollen, Alexia mit eigenen Problemen zu belasten wäre zum jetzigen Zeitpunkt unsensibel. „Ich befürchte, das wird so weit kommen“, gestand ich ihm und riss ein Ketchuptütchen auf. Ich hatte im Jenseits eintausendneunhundert Jahre lang kein Ketchup gegessen, bis ich es zum ersten Mal im Diesseits entdeckt hatte. Unter Dämonen war es ein sehr beliebtes Nahrungsmittel. „Aber bitte, Tony“, fügte ich mit einem vorsichtigen Grinsen hinzu. „Nenn mich nicht mehr ‚Lay’.“
Er erwiderte das Lächeln und nickte knapp. Danach wurde sein Gesicht wieder ernst. „Ich hab’ Angst, dass ich sie verliere, wenn das passiert. Dass sie sich von mir zurückzieht, ich nur irgendein Kumpel sein werde. Sie ist meine beste Freundin und mir unglaublich wichtig. Ich möchte sie für immer zumindest als solche behalten, aber deswegen hab ich so viel Angst vor der Zukunft. Wenn wir älter werden, vielleicht uns auseinander leben. Verstehst du was ich meine?“
Ich verstand sehr gut was er meinte. Nur hatte das Wort ewig eine ganz andere Bedeutung, wenn er es verwendete, als wenn ich es verwendete. Ich war unsterblich, jedenfalls auf natürlichem Wege, er nicht.
„Mach dir keine Gedanken darüber. Leander ist ein Idiot und Amy wird das erkennen, auch wenn sie im Moment ein wenig blind vor Verliebtheit zu sein scheint. Sei ihr so lange ein guter Freund, sie wird dich irgendwann sicher brauchen.“
Mein Leben lang war ich nicht mit solchen Problemen konfrontiert worden und wenn man so lang lebte wie ich, lehrte die Zeit einen, dass sich viele solcher Sorgen von allein erledigten. Durch Nachdenken wurde man unglücklich und überanalysierte sein Leben. Aber auch, wenn diese Situation in dieser Konstellation neuartig für mich war, glaubte ich, die richtige Antwort gegeben zu haben. Ich war darin nur unerfahren, nicht dumm. „Und jetzt denk an etwas anderes“, riet ich ihm und klopfte unterstützend auf seine Schulter. „Ich will meine Haare färben und muss den Zauber noch anrühren. Du kannst mir bei der Vorbereitung helfen. Nach dem Essen, versteht sich.“
„Das kannst du?“, fragte er ungläubig und runzelte seine Stirn. Als ich nickte, sagte er: „Welche Farbe?“
„Dunkelbraun, denke ich.“