Kapitel 29: Frei! (Silver)
Im Center Neuborkias angekommen, gingen Clarice und ich sofort auf unser Zimmer, um vom dortigen Videotelefon aus den Boss Team Rockets zu kontaktieren. Schnell hatte ich die Nummer gewählt, welche mir von meinem Vater genannt worden war, und der Bildschirm flackerte auf. Nun war das Gesicht Giovannis zu sehen, welcher anfing zu lächeln.
„Silver! Na also! Was habt ihr erfahren?“ Falten bildeten sich aufgrund seines Lächelns um seine Augen und um seinen Mund. Seine Haut war wie immer blass vom Leben im Untergrund. Mein Vater war sehr breitschultrig, wie mir gerade auffiel. Vielleicht lag es daran, dass der Bildschirm nur den obersten Teil seines Körpers zeigte. Im Großen und Ganzen wirkte er bestimmt nicht freundlich, trotz allen Bemühens. Ich schaute meinen Vater grimmig an und meinte: „Spar dir dein Lächeln besser für einen anderen Moment. Ich habe einige Fragen an dich, und du bekommst erst Informationen von mir, wenn du sie wahrheitsgemäß beantwortet hast.“ Meine Wut auf ihn wuchs wieder ins Unermessliche, als mir einfiel, was er mir womöglich vorenthalten hatte, und ich empfand eine gewisse Genugtuung, als mein Vater verwundert drein schaute.
Doch dann schien sich der Boss Team Rockets wieder zu fangen und meinte: „Gut. Dann stelle deine Fragen.“ Nun kam wieder sein Tick auf und er strich seinen erneut orangefarbenen Anzug glatt. Sein braunes Haar war auch wie immer streng zurück gekämmt und mit Gel fixiert, was ihn aalglatt und verschlagen wirken ließ. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Clarice nervös ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte und ihre Finger ineinander verschränkte. Sie war für meinen Vater nicht zu sehen. Wahrscheinlich machte sie sich Sorgen um mich, da ich auf dem besten Weg war, es mir mit diesem gründlich zu verderben. Und ein gewisser Teil fürchtete sicher auch um ihren Job, mit dem ja ein festes Heim und Geld verbunden waren. Vielleicht hatte sie ja auch Angst vor Giovanni selbst? Gerne hätte ich sie in meine Arme genommen oder ihre Hand gehalten, ihr ein beruhigendes Lächeln zugeworfen, irgendwas. Doch dann hätte Giovanni gewusst, dass sie da war – und dass wir tatsächlich etwas für einander empfanden. Auch wenn er es vielleicht so schon vermutet hatte, wollte ich Giovanni unser Glück aber nicht deutlich zeigen. Deshalb blieb mein Blick weiter auf dem Bildschirm und ich konzentrierte mich wieder auf das Gespräch.
„Du hast gewusst, dass etwas passieren würde, nicht wahr? Dass mich die Gegenwart des Kristalls beeinflusst.“ Giovanni schaute erst erstaunt, dann glücklich und zuletzt meinte er: „Ich habe es nicht direkt gewusst, aber ich habe es geahnt und gehofft.“ „Und deshalb hast du die Mission mir übertragen?“ „Klar, wie hätte ich sonst testen können, ob du mit dem Kristall verbunden bist? Ist die Verbindung zum Artefakt da, dann existiert sie auch zu Lugia selbst. Es war er einzige Weg, mein Junge.“ Ich nahm das interessiert zur Kenntnis und fragte weiter: „Wie kamst du denn eigentlich auf den Gedanken, dass da eine besondere Verbindung bestehen könnte? Was hat gezeigt, dass ich besonders war?“ Da überlegte mein Vater einen Moment. „Ehrlich gesagt, war es reiner Zufall. Ich kannte die Legende, dass immer ein Mensch mit Lugia verbunden sein soll. Und einmal habe ich gehört, dass es mit Ho-Oh das Gleiche sei. Die Verbindung würde durch Artefakte verstärkt. Wir sind auf der Suche, die Person und das Artefakt passend zu Ho-Oh zu finden.“ Als ich merkte, dass er vom Thema abzuweichen drohte, warf ich ihm einen zurechtweisenden Blick zu. „Den entscheidenden Gedanken hatte ich bei einem Urlaub an den Strudelinseln. Du selbst warst noch klein. Damals hattest du einen Moment der Trance, als wir in der Ferne die Strudelinseln von einem Schiff aus sahen. Dein Blick wurde silbern und leer, du warst komplett weg. Das dauerte vielleicht zwei Minuten, und du warst höchstens acht Jahre alt. Damals war deine Mutter noch da. Wir waren sehr erstaunt, und ich ahnte, auf was es hinaus laufen könnte. Doch sicher war ich bis zum heutigen Tage nie.“ Giovanni seufzte.
„Ich wollte dich speziell untersuchen lassen, doch weil sie mich für so skrupellos hielt, verließ deine Mutter uns. Sie meinte, es wäre die reinste Qual für dich, wenn ich meinen Willen und somit die ganzen Tests, Eingriffe und Proben durchsetzen würde. Sie würde nicht mit jemandem zusammen sein wollen, der sein Kind nicht respektierte. Am Ende habe ich doch noch interessante Ergebnisse bekommen. Forscher von Team Rocket haben eine Methode entwickelt, deine Erinnerungen an die Eingriffe zu beseitigen.“ Mein Vater hatte tatsächlich Untersuchungen über mich in Kauf genommen, nur um mich für seine Pläne missbrauchen zu können? „Meine Güte…“, sagte Giovanni und seufzte verständnislos. „Wie wehleidig deine Mutter doch war.“ Das durfte doch nicht wahr sein! So gefühlskalt war er unter seiner Maske des Verständnisses?
„Du bezeichnest sie als wehleidig?! Hast du überhaupt einmal, nur ein einziges Mal, an mich gedacht? Ich bin dein Sohn!“ Ich warf meinem Vater einen hasserfüllten Blick zu. Und nun kam es mir schlagartig wieder in den Sinn: Damals, die steife Meeresbrise wehte mir ins Gesicht. Ich sah die Inseln, und – zack! Ich wusste nicht mehr, was ich damals geträumt hatte, aber ich war wenige Augenblicke später auf dem Deck liegend aufgewacht. Ähnlich wie im Labor! Dann kamen verschwommene Erinnerungen an einen Herbstabend auf. Rötliches Licht fiel durch das Fenster. Ich hatte in einem Krankenbett gelegen und dutzende Forscher hatten sich nicht weit entfernt beraten. Trotzdem hatte ich nur Wortbrocken verstanden. „Lugia… besonderes EEG…“ Tatsächlich konnten sie da Ergebnisse aus Untersuchungen besprochen haben! Und dieser Schimmer einer Erinnerung hatte wohl die Gehirnwäsche überstanden.
„Du bist ein gefühlskalter Rabenvater, weißt du das?“, meinte ich nun wütender denn je. Clarice stand vor Schreck der Mund leicht offen und ihre Pupillen weiteten sich. So etwas hätte sie ihren Eltern nie entgegen geworfen. Selbst wenn diese ebenfalls schlecht zu ihren Eltern stand, die Orangehaarige würde so etwas nie in den Mund nehmen. „Fängst du jetzt auch so an? Meine Güte, du Weichei! Hast du dich denn nie gefragt, woher du deinen Spitznamen hast?“ „Ich konnte mich doch dank dir an fast nichts erinnern!“, brüllte ich zurück.
Das war nun zu viel für mich. Ich beendete schlagartig das Gespräch, schnaubte wutentbrannt und hielt mir genervt die Hände vors Gesicht. Clarice traute sich nicht, auch nur irgendetwas zu sagen – wahrscheinlich konnte sie nicht abschätzen, wie ich reagieren würde. Für sie musste ich mich jetzt erst einmal zusammen reißen. Ich versuchte, ruhiger zu werden und erhob mich von dem Stuhl. Noch immer lastete Clarices fragender und nervöser Blick auf mir. Sie fragte stumm: „Kann ich etwas für dich tun? Was hast du nun vor?“
„Tut mir leid, aber das gerade ging zu weit.“ Meine orangehaarige Freundin nickte verständnisvoll. Auch sie musste wissen, wie gefühlskalt manche Leute sein konnten. Ihr nun neuer Blick voller Traurigkeit zeugte davon, dass sie mein Gefühl nachempfinden konnte. Hass und Verzweiflung waren ihr bekannt. Eigentlich war sie jemand, der viel Kontakt zu anderen Menschen brauchte und nicht gern allein war. Doch manchmal war sie ebenso nachdenklich und schweigsam. Dann dachte sie wahrscheinlich über verschiedene Dinge ihres Lebens nach. Ich war meist das Gegenteil - zwar auch oft nachdenklich, doch den meisten Menschen gegenüber verschlossen. Es dauerte lange, ehe ich mich einsam fühlte. Nur bei Clarice öffnete ich mich. Wir würden uns zusammen durchschlagen. Nach dem, was eben passiert war, wollte ich meinen Vater nicht mehr sehen.
Da kam mir eine neue Idee: „Wie wäre es, wenn ich sagen würde, dass wir Team Rocket den Rücken kehren? Wenn wir uns zu zweit in Johto aufhalten? Wir könnten nebenbei Recherchen wegen Lugia und auch wegen deiner Eltern anstellen.“ Clarices Blick wandelte sich erneut – diesmal in pures Erstaunen. „Du…du willst Team Rocket hinter dir lassen? Bist du dir da sicher?“ Ich nickte sofort. „Wir werden aber nicht in das Hauptquartier zurückkehren, unsere Sachen holen und uns dann aus dem Staub machen. Wir nehmen einfach das mit, was wir hier haben. Es sind genug Dinge in unseren Rucksäcken verstaut worden. Wärest du einverstanden?“ Nun war es Clarice, welche entschlossen und schnell nickte. Klar, sie wollte sowieso von Team Rocket weg. Und nun, da sie mich weiterhin in ihrer Nähe haben würde, hielt sie nichts mehr in der Organisation. Sicher ließ sie Dinge zurück, doch sie gingen ja nicht verloren. Ihr Zimmer gehörte immer noch ihr, es durfte nicht weiter vergeben werden.
„Dann gehen wir es an.“ Ein Grinsen erschien auf meinem Gesicht und auch Clarice lächelte. Nun, das wusste sie, war sie wieder frei von allen Zwängen. Beide hatten wir in letzter Zeit viel Geld zusammen bekommen – ich durch meinen Status als zukünftiger Boss und Sohn eines reichen Mannes, Clarice durch ihren Lohn der letzten Monate. Bestimmt würden wir so eine Weile durchkommen. Die Siebzehnjährige atmete tief durch und nun war ihr richtiges Lächeln zu sehen. Das hatte ich sehr vermisst – die Monate bei Team Rocket hatten sie müde und traurig gemacht. Es hatte auf mich gewirkt, als hätte sie vergessen, wie man lachte. Ihre frühere Lebensfreude und Fröhlichkeit, ihr ganzer Charme war verschüttet worden und erst in diesem Moment wieder aufgetaucht. Uns beiden stand nun ein freies Leben bevor, ohne Zwänge durch Vorgesetzte. Nun durfte sie wieder sie selbst sein und wir hatten einander. Das stärkte uns beide ungemein. Ich war mir sicher, dass Clarice in diesem Moment die ganze Welt hätte umarmen können. Stattdessen aber küsste sie mich und setzte dann wieder ihr natürliches, befreites Lächeln auf. Wir würden nun erst einmal den Tag entspannt ausklingen lassen. Es war die Zeit für Entspannung gekommen, und auch die Momente dafür, das Leben zu genießen.