~Landei~

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    "Bist du in einer Großstadt, geht's dir schlecht, bist du auf dem Land, geht's dir noch schlechter"
    ~Voltago


    "And you're singing the songs,
    thinking this is the life,
    and you wake up in the morning
    and your head feels twice the size.
    Where you gonna go? Where you gonna go?
    Where you gonna sleep tonight?"
    ~Amy McDonald, "This Is The Life"



    ~Einführung~
    Schön, dass du es hierher geschafft hast.
    Der Titel meiner zweiten Fanfcition - "Landei" - ist eine herabwürdigende Bezeichnung, eine Beleidigung. Sie lässt auf den Hintergrund dieser Geschichte schließen. In sie sind sehr viele Aspekte meines eigenen Lebens eingeflossen, mein Frust und meine Wut gegen die Angewohnheit der Menschen, alles in Städten zu zentralisieren. Denn dies hat zur Folge, dass die Strukturen im ländlichen Raum verschwinden und ausgedünnt werden - man vernachlässigt die Leute, die in kleinen Dörfern und Siedlungen leben.


    Und nicht nur das, auch in Großstädten gibt es viele ungelöste Probleme. Was sich in den riesigen Häuserschluchten und Dächermeeren abspielt, ist zuweilen weniger lustig. Zwischen diesen beiden Welten wird auch die Hauptperson dieser Gesichte geworfen und gerät damit in den Fleischwolf der Urbanisierung.
    Versteht "Landei" als eine Art der Sozialkritik, als eine Art der Abreaktion des Zorns, als eine Art direkte Konfrontation mit den Abgründen der mordernen Gesellschaft. Aber versteht "Landei" nicht als eine Beleidigung.


    ~Plot~
    Jan ist fünfzehn Jahre alt. Er stammt aus einem kleinen Dörfchen im Südwesten Deutschlands, wo der meiste Platz für Landwirtschaft verwendet wird. Ansonsten läuft nicht viel. Weder gibt es Geschäfte noch irgendwelche Vergnügungseinrichtungen in unmittelbarer Nähe. Genau das will Jan ändern! Er fasst einen abenteuerlichen Plan und beginnt eine sowohl gefährliche als auch knappe Reise in die golden glitzernde Großstadt im hohen Norden Deutschlands. Doch schnell muss er seine Vorstellungen revidieren.


    ~Die Hauptpersonen~
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    [tab='Jan Petersen']


    [tab='Jans Eltern']


    [tab='Martin Baumann']


    [tab='Sarah-Maria Müller']

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    ~Die Nebenpersonen~
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    [tab='Der Ortsvorsteher']


    [tab='Der Greis']

    [/tabmenu]


    ~Sonstiges~
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    [tab='Warnung']
    Eins vorweg: "Landei" ist keine heitere Geschichte. Ich empfehle ein Mindestalter von 14 Jahren, denn:

    • es werden häufiger Kraftausdrücke benutzt, die von harmloseren Exemplaren bis hin zu derben Ausdrücken reichen
    • Gewalt, Drogen und Sex spielen eine Rolle
    • es wird Tote geben.

    Die Ereignisse der Geschichte, Personen und Orte sind allesamt rein fiktional. Namensgleichheiten sind reiner Zufall.
    [tab='Inhaltsverzeichnis']

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    • Du darfst auch gerne deine Hilfe anbieten! Ich bin offen für Anfragen wie z.B. Korrekturleser oder Kooperation :)

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    • Ein ganz großes und herzliches Danke! geht an Hardstyler, der mich sehr zu "Landei" inspiriert hat.
    • Ein genauso großes Danke! an Voltago für's Mutmachen und für das tolle Zitat!

    [tab='Partner-Storys']
    Landei ist stolz auf seine Partnerschaft mit Vinátta - Partner fürs Leben von Voltago :) [/tabmenu]



    Prolog
    Die Welt ist ein Dorf. Das Dorf ist nicht die Welt.“
    Ich weiß nicht, wie ich inmitten der Mathestunde auf einen solchen Satz kommen kann. Ich weiß genau, dass jede kleinste Ablenkung in Gedanken meiner Mathenote empfindlich schaden wird. Und trotzdem wird es mir immer klarer, dass der Satz einen verdammt wahren Kern hat.


    Ich bin Jan, geboren am 22. März vor fünfzehn Jahren, wohnhaft im wohl miesesten, verkommensten und gottverlassensten Dorf, das es gibt – Niederschasslingsheim. Hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht, wir haben die wohl größte Rentnerdichte weltweit. Egal, was du tun willst – du musst dazu in die umliegenden Dörfer gehen. Schwimmbad? Nö. Kino? Nicht hier. Kneipe? Nie gewesen. Supermarkt? Such' woanders. Schule? Zwölf Kilometer weiter. Man kann es als achtes Weltwunder betrachten, dass es überhaupt fließendes Wasser, Strom und Internet gibt.


    Der Schulgong hält es für notwendig, mich aus den Gedanken zu reißen. Der Lehrer hält es für notwendig, die Hausaufgaben an die Tafel zu schreiben. Ich schnaufe, packe meine Sachen und schlurfe zur Bushaltestelle. Für die nächste Viertelstunde blicke ich gelangweilt in der Gegend umher.
    Nichts als Felder. Weizen, Mais, Dinkel, Roggen, Hafer oder wie der ganze Dreck sonst noch so heißt. Irgendwelche Mähdrescher tuckern über die Äcker, irgendwelche Traktoren fahren die magere Ernte weg. Den Höhepunkt stellt ein Traktor dar, der gerade ein Feld düngt – mit Dung. Der Gestank des Mistes wabert nun auf die Bushaltestelle zu. Glücklicherweise rumpelt in diesem Moment ein altes, klappriges, rostiges, knallrotes Gefährt zu uns her. Was sich Bus schimpft, aber eigentlich nur noch ein Schrotthaufen ist, wird nun mit Schülern befüllt. Während die Größeren von hinten die armen Kleinen gegen den Bus drücken, um sie aus dem Weg zu schaffen, hänge ich in Gedanken schon wieder an der ganzen Lächerlichkeit meines Lebens.


    Das ist doch keine Heimat, das ist ein Gefängnis. Irgendwie muss ich ein übles Karma in meinem vorherigen Leben angehäuft haben, sonst hätte der liebe Herrgott Gnade mit mir gehabt und mich nicht in dieses verschlafene, überalterte, vor Ereignislosigkeit brechende Nest gesetzt. Wenn mich meine Freunde fragen, was ich am Wochenende vorhätte, bin ich gezwungen, mit „Nichts“ zu antworten. Die Langeweile in meinem Leben nagt an meiner Psyche wie eine Maus am Käse, denn meine Eltern fühlen sich nicht imstande, mich zu Freunden zu fahren oder sonst irgendetwas zu tun, damit ich wenigstens mal ein bisschen weg komme.

    Normalerweise bin ich fröhlich, treibe Sport und lache viel – aber derzeit vergeht mir die Lust auf alles. Alles ist routiniert, alles geht seinen gewohnten Gang, alles ist ein tristes Grau in Grau. Wenn ich nicht bald hier wegkomme, werde ich wahnsinnig.

  • Kapitel 1 - A thursday in the life of Jan
    Gelangweilt starre ich aus dem Busfenster. Wieder ist ein Schultag vorbei. Wieder darf ich die zwölf Kilometer Schulweg mit dem Bus bestreiten. Wieder geht eine dreiviertel Stunde meiner kostbaren Freizeit verloren. Es ist schon seit neun Jahren das selbe. Jeden Morgen hin, jeden Nachmittag wieder heim. Das kotzt mich an.


    Während ich gedankenverloren auf die Rapsfelder schaue, an denen der Bus vorbeirauscht, kreischen die Kinder hinten im Bus herum und spielen irgendwelche albernen Spielchen. Ich habe gelernt, dieses nervtötende Herumgehüpfe zu ignorieren. Alles andere würde mich unzurechnungsfähig machen. Urplötzlich knallt es ohrenbetäubend und der Bus neigt sich auf die rechte Seite.


    „Ach, Scheißdreck!“, flucht der Fahrer. Er steigt aus, während sich die anderen alle nach rechts drehen und versuchen, etwas zu erkennen. Ich riskiere auch einen Blick aus dem Fenster, kann aber nichts erkennen. Eine Weile lang ist es mucksmäuschenstill und ich genieße die Minuten der Stille. Niemand regt sich, nur fahren ein oder zwei Autos am Bus vorbei. Ein paar Minuten lang ist es, als würde die Zeit stillstehen. Nun tritt der Fahrer, noch mieseptriger als sonst, wieder ein, stellt sich breitbeinig in die Gangmitte und brüllt: „Endstation, aussteigen. Wir haben einen Platten.“ Ein Aufstöhnen durchwandert den Bus, jeder ist sich darüber klar, dass wir nun noch länger nicht nach Hause kommen werden.


    So. Jetzt stehe ich also da, immer noch sieben Kilometer von zu Hause weg, hungrig, mit schwerer Schultasche und Druck auf der Blase mitten in einem Rapsfeld. Donnerstage gehören verboten. Der Busfahrer brüllt in sein Handy hinein. „Rutscht mir alle den Buckel runter! Kann man hier nicht mal einen Ersatzbus ohne irgendwelche Fisimatenten bestellen?! Ich glaub', es geht los!“ So auf 180 habe ich ihn noch nie erlebt. Jedenfalls sitze ich jetzt echt in der Tinte. Ich besitze zwar ein Handy, aber leider habe ich hier keinen Empfang. Mein Harndrang fängt langsam an, sich die Kontrolle über meine Aktionen zu verschaffen. Der Hunger mischt auch noch ein bisschen mit.
    Die Kinder krakeelen aufgeregt durcheinander, sodass ich am liebsten einen einzigen, langen Schrei machen würde, damit endlich Ruhe im Karton ist. Ich stelle meinen Rucksack ins Gras, setzte mich darauf und nehme den Kopf in die Hände. Es stinkt mir alles. Die Schule, die Gegend, das Nichtvorhandensein eines Funknetzes, der Donnerstag, mein bisheriges Leben.


    Diese ganze Situation bestärkt mich nur, so schnell wie möglich auszuwandern. In die City, wo was los ist. Und mit „los“ meine ich nicht irgendwelche Festchen, bei denen der Musikverein mit Humbta-Humbta-Täterää-Blasmusik meine Gehörnerven zu Tode quält. Was bringt mir ein Stelldichein in Oberkrain, wenn ich mich nirgends einstellen will?
    Ein Kind stolpert und fängt an, zu weinen.
    Nein. Das ist zu viel! Ich explodiere. Mein Geduldsfaden ist gerissen. Ich stehe auf und gehe weg von dem ganzen Trubel, bis ich mich hinter einer Eiche verstecke. Einmal tief durchgeatmet und die Stille genossen. Tut das gut.
    Außerdem nutze ich die Gunst der Stunde und erleichtere mich. Das tut noch besser. Auf die Frage, warum ich nicht schon zwei Minuten früher einfach die hundert Meter gelaufen wäre, komme ich gar nicht. Ein Vogel fängt an, zu zwitschern. Nachdenklich lasse ich meinen Blick über die Landschaft schweifen. Sanfte Hügel, allesamt sattgrün oder quietschgelb, je nach dem, ob es sich um eine Streuobstwiese oder ein Rapsfeld handelt. Dazwischen Feldwege, im Hintergrund ein kleines Wäldchen. Nur die Straße direkt vor mir stört die ultimative Idylle. Ein blaues Auto fährt an mir vorbei, und ich denke mir: 'Richtig so. Einfach nur weg hier! Frei sein – das ist das Größte.' Diese grenzenlose Natur hängt mir zum Halse raus. Klar ist sie schön, aber ich bin fünfzehn. Ich will was erleben und nicht inmitten der Einöde meines Lebens fristen.


    Ich seufze. Mindestens noch drei Jahre muss ich hier eben doch meines Lebens fristen. Wobei mir ein 'höchstens' lieber wäre. In letzter Zeit fragen mich meine Eltern ständig, was ich mal werden wollte. Ich weiß es ganz ehrlich nicht. Was auch daran liegt, dass es in meiner Gegend nicht wirklich interessante Betriebe gibt. Du kommst aus diesem Teufelskreis der Urbanisierung nicht raus. Während alle großen Betriebe in die Stadt ziehen und dort hässliche Arbeitersiedlungen errichtet werden, zersiedelt sich die Landbevölkerung, die Strukturen, wenn es sie denn überhaupt gegeben hat, verfallen – die Städte werden in Sachen Versorgung klar bevorzugt. Sei es schnelles Internet, sauberes Wasser, billiger Strom. Nicht zu vergessen das Ärztenetz oder die Sicherheit – in Niederschasslingsheim besteht der Feuerschutz aus einer dreiköpfigen Freiwilligen Feuerwehr. Das jüngste Mitglied ist 68 Jahre alt. Der Löschwagen ist es auch. Ich bin mal gespannt, was passiert, wenn irgendeiner dementen Dame die Dampfnudeln anbrennen.


    Ich kehre wieder zu meinem Rucksack zurück. Deprimiert genug bin ich ja schon, da verkündet der Busfahrer, dass es noch eine halbe Stunde dauern würde, bis der Ersatz käme. Die Nachricht rammt sich mit voller Wucht in meinen Bauch hinein, ich setze mich und habe nun endgültig die Lust verloren. Mit knurrendem Magen fange ich an, wahllos irgendwelche Blumen zu pflücken und dann die Blütenblätter abzurupfen. Damit schlage ich drei Minuten tot. Ich stütze den Kopf mit der Hand auf, seufze – und irgendwann fallen mir die Augen zu.


    Anscheinend bin ich eingenickt und wieder aufgewacht, denn im nächsten Moment sehe ich den Ersatzbus vor mir, zwei Meter hoch, genauso verrostet wie der alte Bus. Na ja, besser als nichts. Es kann heimgehen. Endlich. Nachdem alle eingestiegen sind, setzt sich das Gefährt in Bewegung. Sieben Haltestellen trennen mich also noch von meinem heiß ersehnten Mittagessen.
    Langsam leert sich der Bus, quälend langsam. Mit Schneckentempo kämpfe ich mich durch die Busfahrt. Lange genug hat es ja gedauert, aber jetzt darf ich endlich aussteigen. Vor mir liegen noch sagenhafte fünfhundert Meter Fußweg, ans andere Ende des Dorfes. Ja, es ist nur ein halber Kilometer, mehr hat Niederschasslingsheim nicht zu bieten. Das ist lächerlich. Ehe ich mich versehe, stehe ich auch schon vor der Haustür.



    Man merkt es wahrscheinlich, dass mich diese ständige Monotonie ziemlich motivationslos rüberkommen lässt. Es ist aber auch echt ein Dilemma. Seit mittlerweile neun Jahren jeden Tag das selbe traurige, stille Örtchen, das ich auf meinem Schulweg passieren muss, seit neun Jahren jeden Tag die selben alten, verschrumpelten Landwirte, die mich in schönstem Dialekt grüßen. Es ist grauenhaft. Ich schließe in meiner vollkommenen Melancholie die Haustüre auf und schlurfe in mein Zimmer, wo ich den Rucksack achtlos in die Ecke schmeiße. „Wo warst du?“ tönt es drohend aus der Küche. „Der Bus hatte 'ne Reifenpanne und der Ersatzbus Verspätung“, antworte ich nicht ohne einen gewissen Zorn. „Und das soll ich dir glauben?“
    Was soll das denn heißen? Verdammt, ich hocke da eine halbe Stunde freiwillig inmitten tiefster Einöde rum und lass die Gegend auf mich wirken, klar, ich hab' ja nichts besseres zu tun! „Ja, solltest du. Es wäre definitiv besser für dich“, gifte ich zurück. Es steht mir bis oben hin. Lasst mich einfach alle in Ruhe. „Auf jetzt, die Spaghetti sind eh schon kalt. Jetzt komm' in die Küche und iss' was“, befiehlt meine Mutter.


    Der Hunger zwingt es hinein. Die Nudeln sind klebrig, viel zu lang und die Soße kann man nicht so nennen. Und nicht mal heiß oder al dente ist dieser ganze widerliche Haufen. Was habe ich heute morgen eigentlich falsch gemacht? Bin ich irgendwie mit links aufgestanden oder ist mir sonst irgendwas entgangen? Ich stochere in meinem Essen herum und stütze den Kopf mit der anderen Hand. Der Appetit ist verpufft, als wäre er nie da gewesen. Mir langt's. Ich schiebe den Teller zur Seite und gehe unter dem Vorwand, mit den Hausaufgaben anzufangen, in mein Zimmer. Aber natürlich werde ich mich jetzt nicht hinsetzen und zu allem Überfluss auch noch Latein pauken, nein, ich werde meiner momentanen Lieblingstätigkeit nachgehen.
    Also schalte ich den Computer an und öffne das Programm 'Satellite'. Das ist eine Software, mit der man sich die gesamte Erde auf Satellitenfotos ansehen kann. Schnell gebe ich als gewünschten Ort Sonnstadt ein, denn das ist die größte Stadt im Lande. Sieben Millionen Einwohner, sie schlägt damit zum Beispiel Berlin um das doppelte. Da will, nein – da muss ich hin.
    Langsam zoomt das Programm auf die Häusermasse, auf die Flut von Dächern, Straßen, Bahnlinien und Parks. Überall erscheinen Punkte, die Fotos symbolisieren sollen. Einen mitten in der Innenstadt klicke ich an.


    Durch die porträtierte Fußgängerzone, die von vielen Läden gesäumt wird, tummeln sich alleine schon auf diesem einen Bild mehr Menschen als Niederschasslingsheim Einwohner hat. Offenbar wurde es im Sommer aufgenommen, die Bäume, die die Ladenstraße säumen, sind allesamt tiefgrün beblättert. Ein Pärchen schleckt ein Eis und lacht über irgendetwas. Zwei ältere Herren sitzen auf einer Steinbank und unterhalten sich. Im Hintergrund sieht man etliche Hochhäuser in den Himmel wachsen. Auf der linken Seite erkennt man die Front eines verglasten Gebäudes, über dem Eingang thront in großen Messingbuchstaben der Schriftzug „Stadtbibliothek“. Auf dem gepflasterten Platz vor ihr steht ein großer Brunnen, um den herum einige Kinder spielen. Die Passanten gehen gerade in Geschäfte hinein oder aus irgendwelchen Cafés raus, sie betrachten eine Skulptur am Rand des gepflasterten Weges oder weichen einem vorbeifahrenden Kastenwagen aus. Ich betrachte das Bild lange. Ich sehe mir jedes einzelne Detail an, zum Beispiel den Finken in der Eiche da rechts oder den gelben Schnuller, den das Baby im Kinderwagen da in der Mitte im Mund hat.
    Auf einmal bekomme ich ein seltsames Gefühl. Es gleicht einem leichten Kitzeln, hat einen Hauch von Schmerz. Von den Füßen über die Beine bis in meinen Bauch schlängelt sich das Gefühl vorwärts. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Eine Träne kullert meine Backe entlang und schlägt auf der Tastatur auf. Ich würde es als Fernweh bezeichnen – oder ist es die schiere Eifersucht auf alle, die auf dem Bild dargestellt sind? Vor meinem inneren Ohr kann ich den Trubel hören, die Szene erwacht vor meinem geistigen Auge zum Leben. Überall wuseln Menschen umher, allesamt mit einem angenehmen Lächeln im Gesicht. Urplötzlich kommt in mir ein unheimlicher Drang auf, gehen zu wollen. Einfach wegzulaufen, am besten gleich in diese Passage der Innenstadt.
    Und dann ist die Vision weg.Ich nehme meinen Kopf schon wieder in die Hände, ich blicke auf meine Tastatur hinab. Und ich schluchze. Eigentlich bin ich keine Heulsuse, aber jetzt gerade übermannt mich das totale Selbstmitleid. Lauter Fragen gehen mir durch den Kopf. Warum dürfen andere in der Stadt leben? Warum wohne ausgerechnet ich ausgerechnet im letzten Loch? Warum können wir nicht einfach wegziehen? Gleichzeitig durchspiele ich im Kopf das Szenario „Jan in der Großstadt“, schon zum x-ten Mal stelle ich mir vor, wie ich eine Wohnung mitten in der Stadt gefunden habe und das Gefühl genieße, in der Zivilisation zu leben und zu arbeiten. Ich male mir aus, was ich unternehmen würde, wie meine Wohnung aussähe...
    Zu allem Überfluss fange ich auch noch an zu weinen. Alles gleichzeitig. Mein junges Hirn bricht total zusammen. Außer Kontrolle lasse ich meinen Kopf los und knalle auf die Tastatur. Der ganze Frust des Tages bricht aus mir heraus. Jetzt schleicht sich auch noch eine traurige Streichermelodie in meinen Kopf ein. Damit kann kein normaler Mensch fertig werden. Ich muss mich in den Griff bekommen, sonst springe ich augenblicklich schreiend aus meinem Fenster und laufe los.


    Nein, ich habe eine bessere Idee. Ich schnappe mir ein Taschentuch und schnäuze mir die Nase. Die Tränen werden aus dem Gesicht gewischt, dann hole ich meinen MP3-Player aus dem Regal und stöpsele mein Headset ein. Das Kabel wird unter meinem T-Shirt hindurch zu meinen Ohren geführt. Ich schalte den Player an und mache einen Spaziergang, eine schöne, große Runde mit Musik. Denn dann kann ich immer so schön klar denken und konzentriert über alles mögliche nachsinnieren. Also gehe ich aus dem Haus, einmal über die Straße und biege rechts ein; nun bin ich auf einem Feldweg, der neben einem Bach entlangführt, gesäumt von Trauerweiden. Sie lassen ihre langen Äste mit den vielen ovalen Blättern tief hängen. Auch wenn es erst März ist, haben sie schon ausgetrieben und begonnen, zu wachsen.


    Während ich vor mich hinschlurfe, gehe ich alle möglichen Zukunftsszenarien durch, wie eben am Computer. Lebhaft wird aus dem Weizenacker neben mir vor meinem geistigen Auge eine Menschenmasse, die sich eilig durch die Innenstadt wälzt. Aus den Bäumen werden die Hochhäuser, in die Menschen ein- und ausgehen. Die Hügel werden zu einer Kulisse aus Wolkenkratzern, Straßen voller Autos, U-Bahn-Haltestellen, Kiosken, grauen Kästen, Straßenlaternen, Ampeln... Ich verliere mich gänzlich in einer Scheinwelt aus Gedanken, hinterlegt von fetzigen Techno-Rhythmen, die aus den Kopfhörern gegen meine Trommelfelle wummern. Ich hole tief Luft und genieße meine Vision. Und dann fasse ich einen Plan. In den Sommerferien fahre ich nach Sonnstadt. Koste es, was es wolle. Ich muss dringendst hier raus, alles andere treibt mich früher oder später in die Depression. Ich muss etwas erleben, diese kontinuierliche Ereignislosigkeit hier macht mich wahnsinnig. Ich möchte nie wieder etwas von einer Therapie im Grünen hören, nie wieder etwas von Niederschasslingsheim wissen! Ich möchte nie wieder in dieses versiffte Kaff zurück – mal ganz davon abgesehen, dass sich in spätestens dreißig Jahren die Bevölkerung dezimiert haben dürfte, denn so lange machen es die Opas und Omas hier nicht mehr.


    Stellen sich andere Fragen: Wie will ich das ganze anstellen? Ich sehe mich in meiner Vision um. Ein Blick nach rechts: Ein Bus rauscht vorbei. Ein Blick nach links: Die Tram fährt gerade ein. Ein Blick geradeaus: Der Hauptbahnhof baut sich vor mir auf. Ein Flugzeug fliegt über mir. Die Lösung liegt auf der Hand und ist obendrein ein herrlicher Zungenbrecher: Öffentlicher Personenfernverkehr. So banal diese Lösung ist, so genial ist sie. Ich sehe da absolut kein Problem, mit Bus und Bahn geradewegs ins Glück zu fahren. Ja, ich werde Urlaub auf eigene Faust machen. Ganz ohne Eltern, die wieder zu irgendwelchen Verwandten gehen. Nein danke, ohne mich. Ich gehe nach Sonnstadt, fünfhundert Kilometer Weg werden wohl nicht für umme sein.
    Und dann ist da noch mein zweites Ziel. Ich will auch endlich eine feste Freundin haben. Weil es hier aber damit sehr schlecht aussieht, werde ich meinen Urlaub nutzen und mir eine Partnerin verschaffen. Noch ein Grund mehr, auszubrechen. Wieder bedrückt mich das Fernweh. Es boxt sich in meinen Bauch und überwältigt mich. Unwillkürlich laufe ich schneller, getrieben vom schieren Verlangen nach urbaner Atmosphäre. Ich durchlaufe die weitläufige imaginäre Innenstadt, schaue den Zügen hinterher, die ratternd an mir vorüberziehen und lese auf einem Plakat, das an einer Litfaßsäule hängt: „Frühlingsfest. Freitag, 12. März ab 15 Uhr auf dem Sportplatz“.


    Urplötzlich finde ich mich wieder in der realen Welt. Was eben noch eine pulsierende Großstadt war, ist jetzt wieder unerträgliche Natur. Mir fällt ein, dass ich morgen auf dem Frühlingsfest bewirten muss. Aus der Welle der Euphorie ist ein ganzer Berg von Hass auf die Welt geworden. Statt schöner Freizeit in meiner Gedankenwelt darf ich nach der Schule auch noch auf dieses beknackte Festchen. Ich drehe um und gehe wieder heim. Ich will mich nur noch verkrümeln und am besten nie wieder an die Luft. Zumindest nicht in diesem hintersten Winkel des Erdballs.
    Die Musik geht mir mittlerweile auch auf den Keks, weshalb ich sie abstelle. Wo eben noch ein harter Synthesizer meine Vorstellung einer Weltstadt perfekt gemacht hat, zwischert jetzt ein Vogel vergnügt durch die Luft. Ein Ehepärchen joggt an mir vorbei. „Hallo!“ grüße ich gespielt freundlich. Ich werde angelächelt und dann wieder in Ruhe gelassen. Besser so. Wenn ich schon in einem Sumpf aus Selbstmitleid und Melancholie festsitze, dann aber auch bitte ohne irgendwelche scheinheiligen Nachbarn, die mich eh auf den Tod nicht ausstehen können.


    Rumms. Die Haustür fällt ins Schloss und ich schließe mich in mein Zimmer ein. Ich will am liebsten gar nichts mehr sehen. Ich befasse mich wieder mit Bildern von Städten. Wahrscheinlich wirst du jetzt ein tolles Bild von mir als ständig schlecht gelaunten Jungen ohne Hobbys haben, der seine ganze Freizeit darauf verwendet, sich Fotos anzuglotzen und davon zu träumen, dort zu sein. Das ist aber nur ein Teil von mir. Normalerweise bin ich gut drauf, „relaxt“ und hänge mit meinen Freunden ab. Allerdings haben die werten Herren und Damen heute entweder Zahnarzttermine, müssen Babys sitten oder irgendwelche Rasen mähen. Und in Niederschasslingsheim wohnt nicht mal einer von denen. Tja, die haben's halt richtig gemacht.
    Ach, ich fange schon wieder damit an. Die Zeit bis zum Abendessen nutze ich dazu, Fahrpläne nach Sonnstadt zu suchen. Nach ein wenig Recherche finde ich einen komfortablen, bezahlbaren Weg in den Urlaub. Insgesamt muss ich, Wartezeiten mit einkalkuliert, sechs Stunden lang Bus und Bahn fahren. Alleine schon die Tickets werden mich fünfzig Euro kosten. Dann muss ich auch noch irgendwo übernachten und brauche Geld für mich... Das wird eine teure Freizeit. Aber das ist es allemal wert. Außerdem habe ich vorher noch Geburtstag. Meine Laune steigert sich wieder. „Jan, könntest du mal kommen?“ ruft mich meine Mutter zu ihr.


    Sie sitzt gerade vor dem Fernseher und schaut sich die Nachrichten an. „Du, Jan. Ich wollte dich mal fragen, was du dir eigentlich zum Geburtstag wünscht. Du wirst ja schon in zwei Wochen sechzehn. Mensch, bist du alt geworden...“ Flink antworte ich: „Geld. Einfach nur Geld. Nichts weiter.“ – „Echt, nur Geld? Aber das ist doch irgendwie langweilig. Da kann man ja gar nichts in Geschenkpapier einwickeln...“ – „Mama, ich werde sechzehn, nicht sechs. Du brauchst auch keinen Kindergeburtstag zu schmeißen. Es reicht, wenn meine Freunde kommen dürfen und ich einen Kuchen, Geld und ein Bier habe. Mehr will ich nicht.“ – „Ein Bier? Bist du dir sicher? Das schmeckt doch bitter!“ Ich stöhne. „Ja und? Man muss doch seine neuen Rechte auskosten.“ – „Hm, na gut. Aber dass du es mir ja nicht übertreibst, hörst du?“ – „Ja ja, ist ja gut.“ Mein Vater kommt zur Tür herein. Stürmisch stellt er seinen Aktenkoffer in den Flur und hängt sein Sakko an den Kleiderhaken.


    „Jan, ich hab' dir was mitgebracht.“ Er übergibt mir ein großes Paket. „Ich habe erfahren, dass ich an deinem Geburtstag nicht da bin. Ich muss auf Geschäftsreise.“ Das entsetzt meine Mutter. „Was? Das kann dein Chef nicht tun! Alles was recht ist, aber du hast die letzten fünfzehn Jahre jeden 25. März freigehabt, da kannst du jetzt nicht einfach auf Geschäftsreise gehen! Du meldest dich krank.“ – „Schatz, das geht nicht. Es ist wichtig. Verstehst du, es geht hier um die Zukunft der Firma und nicht zuletzt um meine Beförderung...“ Sollen die doch labern. Ich wende mich wieder meinem Paket zu. „Jan, das machst du erst in zwei Wochen auf!“, befiehlt mir mein Vater, der mich aus dem Augenwinkel gesehen haben muss. Ein genuscheltes „Ja“ meinerseits ist meinem Vater Antwort genug, er wendet sich wieder meiner Mutter zu, ich verkrieche mich wieder.


    Auf dem Weg zu meinem Zimmer komme ich an unserem Spiegel vorbei. Ich stocke und sehe mir mein Gesicht noch mal ganz aus der Nähe an. Was ist denn das? Da bildet sich doch tatsächlich ein Flaum an der Oberlippe. Prima, dann darf ich mich bald rasieren! Zufrieden gehe ich in die Küche, wo ich eigentlich gar nicht hinwollte, und nehme mir ein Glas Orangensaft. Während ich daran nippe und die linke Hand in der Hosentasche habe, starre ich aus dem Fenster hinaus in den Sonnenuntergang.
    'Ich gehe nach Sonnstadt – und meine Sonne geht wieder auf.'

  • Yay, erste!!! ^^
    Okay, nein, ich finde es eigentlich schade, dass noch niemand deine Geschichte kommentiert hat, denn mir gefällt sie richtig gut.
    Teilweise kann ich mich sogar in die Situation des Hauptcharakters hineinversetzten, weil ich immer 3 Wochen in den Sommerferien in einem Dorf bei meiner Oma verbringen kann. Die hat natürlich kein Internet, aber immerhin Pay-TV. Jedenfalls finde ich, dass sich das Kapitel leicht lesen lässt. Ich mag deinen Schreibstil du schilderst die Gedanken gut, was wohl daran liegt, das die Hauptperson viel von dir selbst wiederspiegelt. Ich finde auch das es mal was anderes, dass jemand im Präsens schreibt, dann ist es so, als würde man es live erleben. In dem Kapitel ist zwar nicht wirklich viel passiert, aber das Ende lässt hoffen das ja doch was nettes geschehen könnte.
    Als einziges stört mich am Ende der "O-Saft". Ich denke es wär besser gewesen wenn du Orangensaft geschrieben hättest, da es sonst doch en bisschen viel Umgangsprache ist. Und die gehört ja nicht unbedingt in ein gutes "Buch" rein.^^


    Ich hoffe du freust dich ein bisschen über mein Kommi, ich hab versucht es so gut wie möglich zu machen. Leider schaff ich nie so viel zu schreiben, ich hoff das ist nicht schlimm. :3
    Mfg yozakura

  • Nein, das ist total in Ordnung :) Ich freue mich über jeden Kommentar.


    Schön, dass dir meine Geschichte gefällt. Ich habe wirklich sehr viel von mir in Jan einfließen lassen, die Reifenpanne mit dem Bus ist mir z.B. auch wirklich passiert.


    Ich habe es mir angewöhnt, im Präsens zu schreiben. Das geht eigentlich leichter von der Hand und sorgt auch ein bisschen dafür, dass man sich in die Charaktere richtig reinverstezt, finde ich, und sich fragt, was man selbst an dieser Stelle tun würde. Auch hier schön, dass es dir zusagt.


    Das ist das eines der wenigen Male, dass mein Schreibstil gelobt wird^^ *jubel* Ich schreibe grundsätzlich so, wie mir der Schnabel auch gewachsen ist. Und da Jan auch nur ein klein wenig jünger ist als ich dürfte das auch ganz gut klappen^^ Danke für das Lob.


    Den O-Saft werde ich gleich verbessern :) Ich hatte eigentlich gedacht, dass das eine gängie Abkürzung ist. Aber ich lasse mich gerne eines besseren belehren :)


    Vielen Dank für deinen Kommentar^^


    MfG,
    :pika: PikaFan1995 :pika:


  • Kapitel 2 - The nightmare before summer

    Das Frühlingsfest heute Nachmittag ist wirklich die Hölle. Nicht nur, dass die Preise total überzogen sind – die Blaskapelle macht das ganze auch nicht besser.


    Auf der Wiese neben dem Sportplatz findet jedes Jahr im März das Frühlingsfest statt. Das ist das Ereignis des Jahres im Ort, sonst ist nämlich nichts los. Folglich versammelt sich die gesamte Sippschaft auf ebendieser Wiese und sitzt auf provisorischen Sitzgruppen. Dabei wird Bier in rauen Mengen konsumiert und über Gott und die Welt geplaudert, während die musikalische Untermalung „Hits“ von vorgestern am laufenden Band trötet.

    Wieder ist ein Lied vorbei und das Publikum klatscht nebenbei, ohne die Köpfe zu heben oder das Gespräch zu unterbrechen. Ein Senior hat noch das Bierglas am Mund und klopft auf den Tisch. Kaum hat sich der Applaus gelegt, spielt die Musik auch schon wieder auf. Dieses Mal ist es ein Walzer. Ich weiß nicht, ob es an der Musik liegt oder einfach daran, dass die Dame von der Essensausgabe es fertig bringt, die Steaks anbrennen zu lassen und deshalb ein übler Gestank zu mir herüberzieht, jedenfalls renne ich so schnell es geht zusammen mit meinem Tablett hinter die aufgestellten Plumpsklos und erbreche mich.


    Geht's dir gut?“ fragt mich eine tiefe Männerstimme. Noch gebeugt und hustend antworte ich trocken: „Ja, einwandfrei. Ich mach das öfters so zum Spaß.“ – „Musst du nicht kellnern? Mach', dass du aufstehst und deinen Job tust.“ Was will der Besitzer der Stimme von mir? „Haben Sie noch alle Tassen im Schrank? Ich reiere hier so rum und Sie wagen es, mir zu befehlen, den nächstbesten Klapptisch von übrig gebliebenen Bierkrügen zu befreien!? Aber sonst geht's Ihnen gut?“ – „Hey, hey! Kein Grund, ausfallend zu werden. Du bist hier momentan der einzige Kellner, also tust du gefälligst das, was man von einem Kellner verlangt.“ – „Warum soll ich denn diesen Job machen, wenn ich nicht mal dafür bezahlt werde? Glauben Sie allen Ernstes, dass ich hier freiwillig bin? Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich gleich heute noch meine Siebensachen packen und mich vom Acker machen! Geht hier ganz gut, ist ja nur Acker drumrum!“

    Erst jetzt halte ich es für notwendig, aufzustehen und nachzusehen, welcher Depp es wagt, in diesem Ton mit mir zu reden. „Das will ich doch überhört haben, junger Mann.“ – „Das können Sie wollen, alter Sack.“ Erst im nächsten Moment wird mir klar, was ich da gerade zum Ortsvorsteher gesagt habe. Sein Gesicht entgleist ihm, er holt tief Luft und ballt die Faust.

    Na na, Herr Ortsvorsteher. Wir wollen doch keine Kinder schlagen, nicht wahr? Das wirft doch ein schlechtes Licht auf unser Kuhkaff. Andererseits... es würde bestimmt was bringen, wenn Sie es endlich mal in die Zeitung geschafft hätten! Ja, wir bauen eine ganz große Tourismusbranche auf! Scheiß' auf „Hau den Lukas“, wir machen „Hau den Jan“ draus! Das wird der Knüller!“

    Es bricht einfach so aus mir heraus. Irgendwie setzt mein Verstand gerade aus. „Wissen Sie was? Sie und Ihre ganze Mischpoke können mich grad' mal kreuzweise. Sie geben immer so damit an, wie toll es hier doch ist. Soll ich Ihnen mal was sagen? Wollen Sie wirklich hören, was ich davon halte? Ich habe einfach keinen Bock mehr, hier zu versauern! Ich will was erleben! Und wenn Sie diesen gut gemeinten Rat nicht befolgen, hat Niederschasslingsheim demnächst einen Einwohner weniger. Sie und Ihre ganze Politik gehen mir auf den Wecker! Aber machen Sie ruhig weiter mit ihrem Müll, dann geht halt die Bevölkerung gegen null, aber – schauen Sie sich um. Würden Sie den Unterschied merken?!“


    Wie angewurzelt stehe ich da, einen Kopf kleiner als mein Gesprächspartner, vor dem ich allen Respekt verloren habe. Auch der Ortsvorsteher bewegt sich keinen Millimeter. Er schaut mich nur mit offenem Munde an. Im Hintergrund spielt die Musik einen anderen Walzer. „Und sagen Sie gefälligst dem Musikverein, dass er aufhören soll. Nächstes Mal ordern Sie eine richtige Band. Eine Rockband. Das ist ja widerlich hier!“ Mit diesen Worten lasse ich das Tablett in mein Erbrochenes fallen und gehe. Ich verlasse die Wiese und renne fast durch die Straßen heim. Wieder zu Hause, werfe ich eine Tablette gegen Übelkeit ein und trinke insgesamt zwei Flaschen Orangensaft. Die restliche Zeit bis zum Abend verbringe ich vor dem Computer. Etwa gegen sieben Uhr stellt sich ein seltsamer Appetit bei mir ein.


    Eine Dose Königsberger Klopse fällt mir zum Opfer, nach ein paar Minuten halte ich einen schönen Teller Essen in den Händen. Ich schalte den Fernseher an und mache es mir dazu im Sessel gemütlich. Es laufen gerade die Nachrichten. Ein Bericht über Sonnstadt informiert mich darüber, dass im dortigen Zoo ein Affe entlaufen sei und nun großen Schaden anrichten würde. Ja und? Was juckt mich denn das? Ich sitze hier und esse Klops und schere mich nicht um irgendwelche Affen.

    Die Haustür fliegt auf und fällt dann wieder krachend ins Schloss. Ich gehe hin und blicke. Wer steht da? Mein Vater. Und offenbar sehr wütend. Ich muss irgendwie an die Szene mit dem Ortsvorsteher denken, denn erneut stehe ich da, einen Kopf kleiner als mein Gegenüber. Dieses Mal mit einem Teller Königsberger Klopse in der Hand. „So so, der Herr Sohn.“ Um Gottes Willen, das kann gar nicht gut ausgehen, vor allem nicht, wenn der Vater einen solchen drohenden Ton drauf hat.

    In die Küche. Abmarsch!“ dirigiert mich mein Vater militant ebendorthin. Steif wie ein Brett bleibe ich am Küchentisch stehen. „Der werte Herr Ortsvorsteher hat mich auf deine Unterhaltung mit ihm angesprochen.“ Hab' ich's doch gewusst. Dieser feige Dreckskerl petzt es meinen Eltern. „Mein lieber Herr Gesangsverein, da gehört schon 'ne Menge Mut dazu, sowas vor den Augen aller abzuziehen. Respekt!“ Die komplette Szene kippt vom bedrohlichen ins heitere. „Was soll das denn heißen?“, frage ich stutzig. „Es war überfällig, dass der mal sein Fett weg bekommt. Ich bin stolz auf dich!“ Mein Vater wuschelt mir durch die Frisur. „Du, sag mal... hast du noch einen Teller Königsberger Klopse da? Ich hab' Kohldampf“, fragt er mich. „Steht alles da neben dem Spülbecken. Was hat denn der Blödmann zu dir gesagt?“ – „Er hat sich bei mir beschwert und fast heulend gemeint, dass ich dich doch bitte ein bisschen mehr unter Kontrolle halten sollte. Dann hat er sich die Augen trocken gewischt und dich höchst offiziell verwarnt.“ – „Oooh, jetzt hab' ich aber Angst!“, rufe ich schauspielernd durch die Küche, dann lachen mein Vater und ich. „So eine Lusche“, sagt mein Vater, während er gleichzeitig den heißen Teller Klopse anpustet. Trotzdem verbennt er sich die Zunge.


    Ich bin auf meinem Zimmer, wenn du mich suchst. Wann kommt denn Mama heim?“ – „Keine Ahnung. Um elf vielleicht.“ Damit ist das Gespräch beendet. In meiner vollen Länge liege ich nun auf meinem Bett, die Augen an die Decke gerichtet, dazu höre ich mit dem Mp3-Player meine Lieblingsstücke. In Gedanken schweife ich von einer Vorstellung davon, was ich in meinem Urlaub machen werde, zur nächsten. Stundenlang liege ich regungslos dort. Dann putze ich mir die Zähne, ziehe meinen Schlafanzug an und gehe schlafen.


    Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge. Ich konnte mich nicht wirklich im Unterricht konzentrieren, zu sehr war ich mit meinen Gedanken beschäftigt. Einzig mein sechzehnter Geburtstag stach da schon etwas hervor. Während ich mit meinen Freunden bei mir zu Hause saß und mein erstes Bier probierte, die Geschenke auspackte und mein Geburtstagsgeld in Empfang nahm vergaß ich für diesen einen Tag meine Langeweile. Ich war wieder der Jan, den meine Eltern schon die fünfzehn Jahre davor kannten – aufgeweckt, wortgewandt, lebensfroh. Wir feierten bis früh am nächsten Morgen und ich weiß nicht mehr genau, wie viel Alkohol geflossen ist. Es musste aber eine ganze Menge gewesen sein.

    Denn jetzt hänge ich hier über der Badewanne und kotze mir die Seele aus dem Leib. Ich hätte vielleicht doch lieber weniger trinken sollen. Hinterher ist man halt immer schlauer. Es klopft an der Badezimmertür. „Jan? Bist du immer noch da drinnen?“ fragt meine Mutter. „Ja“, antworte ich, während ich gleichzeitig wieder aufstoße. „Ich hab es dir gesagt, dass du nicht übertreiben sollst! Siehst du, das hast du jetzt davon.“ Erneut würge ich etwas Mageninhalt hoch. „Ist ja gut, Mama. Ich seh's ein.“ – „Wenn du fertig bist, kannst du die Badewanne putzen.“ Ich verdrehe die Augen und sehe zu, auch noch den letzten Rest auszuspucken.


    Doch wie es im Leben eben so ist, kann mein Geburtstag die Langeweile nicht ewig fernhalten. Schon nach einer Woche, mittlerweile ist es April und mein Vater von seiner Geschäftsreise zurück, geht alles wieder seinen gewohnten Gang, alles ist wieder grau. Und bei mir hängt der Haussegen schief. Während Mama und Papa sich ständig in den Haaren liegen, weil Papa eben doch weg ist und meinen bisher wichtigsten Geburtstag verpasst hat, bin ich der stille Leidtragende. Beide meinen, ihre schlechte Laune an mir abreagieren zu müssen. Deshalb schreie ich auch öfters meine Eltern an, als ich das je vorhatte.

    Jan, ich hab' dir schon tausend Mal gesagt, du sollst hier aufräumen. Sieh' sich bloß einer diesen Saustall an! Jan! Mach' die Musik aus und beweg deinen faulen Hintern hierher!“ Die Augen verdrehend bequeme ich mich zu meiner Mutter. „So, Herr Petersen. Sie sind sechzehn Jahre alt, weshalb Sie in Zukunft alleine hier putzen werden. Und wehe, es ist nicht sofort alles picco bello!“ Damit geht sie aus meinem Zimmer in die Küche und wettert in selber Weise mit meinem Vater.

    Ich verfolge ihren Streit nicht weiter, sondern räume zu lauter Musik eben mein Zimmer auf. Immer wieder passiert es, dass ich in Gedanken bei meinem Besuch in Sonnstadt bin. Dann starre ich mit glasigem Blick auf irgendeine Stelle am Boden und gelange erst nach einiger Zeit wieder zu Bewusstsein. So zieht sich langsam der ganze Tag hin.


    Der darauf folgende ist nicht viel besser. Ich hatte total vergessen, dass wir eine Mathearbeit schreiben. Deshalb hatte ich mich auch nicht sonderlich darauf vorbereitet, geschweige denn während meinen mentalen Ausflügen etwas vom Unterricht mitbekommen. In übler Vorahnung lasse ich wohl oder übel die Arbeit über mich ergehen. Zwei Wochen später das Ergebnis, eine glatte sechs. Erst jetzt merke ich, dass ich auch in den anderen Fächern ziemlich abgesackt bin.

    Dank meiner Abschweifungen im Unterricht sieht es schlecht mit einer Versetzung aus. Und dann ist auch schon der letzte Tag vor den Sommerferien. Stichtag.


    Es sticht ganz gewaltig. Wie ein Messer, das sich in mein Herz bohrt, halte ich in der einen Hand das kleine Heftchen, das meine Zeugnisse schon seit zehn Jahren aufbewahrt, in der anderen einen kleinen Zettel, der mich zu einem entsetzten Gesicht hinreißt. In Mathe eine fünf, in Deutsch eine vier. In Englisch sehe ich mich mit einer drei noch reich beschenkt, während die zwei in Bio noch das Highlight ist. Mein Durchschnitt ergibt gnädigerweise eine 3,9 – ich bin versetzt. Das war mein Ziel, ich darf die Oberstufe besuchen. Mit diesem optimistischen Gefühl steige ich ein letztes Mal für dieses Schuljahr in den klapprigen Bus, der mich ein Mal noch für die zehnte Klasse nach Hause bringt.

    Und mit einem Schlag ist der Optimismus weg. Mit einem Schlag würden mich meine Eltern auch am liebsten für die Früchte meiner Arbeit belohnen. „Ist das alles?“ Mein Vater sieht mich vorwurfsvoll an. Ich starre auf die glatt polierte Holzfläche des Esstisches. Meine Mutter sitzt neben Papa, auch sie sieht mich an, allerdings mehr mit einem Entsetzen als mit Zorn. „Jep, dreizehn Noten für dreizehn Schulfächer. Irgendwo ist ja mal Oberkante.“ – „Werd' ja nicht frech, du...“ Im letzten Moment kann Mama meinem Vater Einhalt gebieten. „Ich weiß nicht, was du hast. Ich bin versetzt. Geht es nicht darum in der Schule? Durchkommen, koste es, was es wolle? Ich hab' die zehnte Klasse geschafft, ich darf in die elfte. Wo ist da das Problem?“ Noch während ich meinen Eltern diese Worte ins Gesicht werfe ducke ich mich vor der zu erwartenden Ohrfeige weg. Doch stattdessen kommt ein Angriff auf meine Ohren. „Spinnst du?“ brüllt Papa. „Du sollst Abitur machen, A-bi-tur! Und wenn du dich mit einem solchen beschissenen Schnitt meldest, dann gute Nacht, mein Freund, das kann ich dir flüstern! Ich rate dir an, in den Sommerferien gefälligst was für die Schule zu tun, sonst... sonst...“ – „Sonst was? Ich bin doch nicht blöd und setze mich in meinen sechs Wochen Freizeit hin und hole Mathe nach! Ich hab' ein Recht auf Urlaub!“ – „So haben wir nicht gewettet, Freundchen! Du kannst dir das Ausgehen abschminken, für ein solches Zeugnis gibt es Hausarrest. Sechs Wochen lang! Und dein Recht auf Freizeit geht mir am Arsch vorbei – du wirst was für die Schule tun, oder es kracht ganz gewaltig zwischen uns beiden!“


    Ich blicke auf und sehe, wie meiner Mutter eine dicke Träne die Wange hinab kullert. Sie hat die Hände zusammengefaltet und schaut flehend zu ihrem Ehemann auf, der sich vermutlich nicht mehr lange unter Kontrolle halten kann. Wir stehen uns beide gegenüber, fast auf Augenhöhe. „Wenn du es noch einmal wagen solltest, einen solchen Wisch mit nach Hause zu bringen, haust du schneller unter der Brücke, als du 'Schule' sagen kannst, haben wir uns verstanden?“ Einen Moment lang starren wir uns in die Augen. Dann gibt er mir eine Ohrfeige.

    Muss ich mich von meinen Eltern schlagen lassen? Ist es gerechtfertigt, für ein paar Zahlen Hiebe zu verteilen? Was will dieser Kerl da von mir? Ich bin versetzt worden, das ist die Hauptsache. Ich hätte auch sitzen bleiben können, aber man ist ja mit nichts zufrieden. Der soll gefälligst mal einen Tag lang für mich in die Schule gehen! In dieser einen Sekunde, in der diese ganzen Gedanken mein Hirn fluten, staut sich eine unheimliche Wut in mir auf; ich merke, wie das Blut durch meine Adern pulsiert. Ich kann nicht an mich halten und ohrfeige meinen Vater.


    Entsetzt schaut er mich an. „Tja, damit hast du nicht gerechnet, was? Dein lieber Herr Sohnemann, dein ganzer Stolz, lässt sich nicht mehr so einfach unterkriegen. Ich halte es für verdammt mittelalterlich, seine Kinder zu schlagen. Mach' nur weiter so, ich film's und dann hat die Polizei rein zufällig ein Video davon in der Post – so ein Pech aber auch. Dann hat es sich mit Sorgerecht. Also halt' die Fresse und hör' auf, mich für meine Schulnoten zu schlagen. Basta.“

    Ich will die beiden nicht mehr sehen müssen. Erst jetzt fällt mir wieder ein, dass ich das auch nicht muss – ich fahre ja weg. Alleine. Und das kann ich jederzeit tun. Heute Nacht packe ich meinen Bündel. Ja, so mache ich es!


  • Kapitel 3 - Anticipation

    Diesen Nachmittag nutze ich ausnahmsweise nicht dazu, mir Fotos von Sonnstadt anzusehen. Nein, so eine Reise erfordert drastische Maßnahmen. So gehe ich unter dem Vorwand, einen Spaziergang zu machen, kurzerhand die zwei Kilometer zu Fuß in das Nachbarörtchen Bellhofen – meine Eltern hatten dann doch Nachsicht mit mir und mich gehen lassen. Aber ich bin nicht zu meinem Vergnügen in Bellhofen, nein – die örtliche Bank wird mit meinem Besuch beehrt. Der Geldautomat zieht meine Kreditkarte ein, verlangt meine Geheimnummer und den Betrag, den ich gern hätte. Umgehend wird mein Konto leer geräumt und mein Geldbeutel schlussendlich mit exakt siebenhundertfünfzig Euro befüllt. Das sollte für mehr als nur eine Woche Sonnstadt reichen.
    Ich gehe wieder aus der Bank heraus und will gerade den Heimweg antreten, als mich eine nur allzu vertraute Stimme zu sich ruft.


    Hey, Jan! Hier drüben!“ Mein bester Freund und Kupferstecher, Simon Kreutzer, winkt mich zu sich auf die andere Straßenseite. „Was machst du denn hier? Ich dachte, dass du heute bei dir daheim feierst“ – „Feiern? Wenn du von deinem Vater fürs Zeugnis geohrfeigt wirst? Ich hab ihm auch eine verpasst. Der kann mich kreuzweise!“ Simon schaut mich einen Moment lang an.

    Ich muss dazusagen, dass er nicht nur Klassenbester, sondern auch ein absoluter Frauenheld ist. Er fährt schon Motorrad, er hat eine Freundin und war mit ihr auch schon mal im Bett; er hat nur das Pech, auf dem Land zu leben. Aber da haben meine Freunde alle das selbe Los gezogen. „Du hast deinen Vater geschlagen?“ – „Ja, sieht so aus“ – „Das hätt' ich dir nie zugetraut. Und was machst du überhaupt in Bellhofen? Du wohnst doch zwei Kilometer weiter“ – „Tja... Nicht für diese Sommerferien. Ich fahre nach Sonnstadt, auf eigene Faust.“

    Simon kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus. „Sonnstadt, nicht schlecht. Und dann auch noch alleine, Respekt. Und deine Eltern lassen dich weg, obwohl du wohl ein schlechtes Zeugnis hast?“ – „Schlecht ist gar kein Ausdruck, aber das ist mir Wurst. Meine Eltern wissen noch gar nichts von ihrem Glück. Eigentlich habe ich Hausarrest für die gesamten Ferien, aber ich plane das hier schon seit vor meinem Geburtstag. Jetzt hindert mich nichts mehr dran. Ich hab' gerade das Geld geholt, das ich für die nächsten sechs Wochen brauche“ – „Du haust ab. Du schlägst deine Eltern. Du hast ein schlechtes Zeugnis. Hätte nie gedacht, dass du mal so ein Rebell wirst.“ Wir lachen beide kurz. „Du hast ein Motorrad, du kannst mal irgendwohin fahren. Ich nicht, und auf sechs Wochen Balkonien hab' ich echt keinen Bock. Deshalb geh' ich einfach, das ist mir scheißegal“ – „Respekt, deinen Tatendrang möchte ich haben. Soll ich dich heimfahren?“


    Wieder zu Hause, verabschieden wir uns. „Dann wünsch' ich dir schöne Ferien, Jan. Und dass du mir ja wieder heil nach Hause kommst. Schreib' mir am besten jeden Tag eine SMS, du hast ja meine Nummer.“ Ich winke ihm noch zu, als er um die Kurve fährt. Dann gehe ich wieder auf mein Zimmer. Das Geldproblem wäre geklärt, jetzt geht es daran, zu packen.

    'Wenn ich die Tür abschließe, kommt das meinen Eltern spanisch vor. Wenn ich es nicht tue, könnten sie mich erwischen... Wie lösen wir das Problem?', frage ich mich selbst in Gedanken. Nach einigem Überlegen fälle ich die Entscheidung, mich einzuschließen. Es geht ja im Grunde genommen meine Eltern überhaupt nichts an, was ich in meinem Zimmer mache.

    Zuerst krame ich einen Rucksack aus meinem Schrank, der dort schon seit ein paar Jahren drin liegt. Da rein kommen heute Nacht Proviant und die Sachen, die sonst noch so für die Reise wichtig sind. Nun hole ich meine Sporttasche aus den Tiefen des Kleiderschranks hervor. 'Hm... Ich brauche für jeden Tag ein frisches T-Shirt, frische Unterwäsche und Socken und außerdem für eine Woche mindestens zwei Hosen...' Noch während ich denke, packe ich die genannten Klamotten in die Tasche. Sie ist nun fast voll und geht kaum noch zu. 'Dann wäre es ganz nützlich, wenn ich etwas hätte, in dem ich die dreckige Wäsche aufheben kann. Also brauche ich Plastiktüten und vermutlich noch eine zweite Sporttasche...'

    Ich hatte nicht damit gerechnet, so viel Gepäck mitnehmen zu müssen. 'Tüten, Tüten... ich brauche Tüten!' denke ich mir, während ich mich klammheimlich in die Küche stehle, dort drei Plastiktüten aus dem Supermarkt, die heute noch die Einkäufe für die Woche getragen hatten, stibitze und wieder zurück auf mein Zimmer sause. Niemand hat etwas gemerkt. Nun werden die Tüten sorgfältig in der zweiten Sporttasche, die ich vor drei Jahren als Ersatz für eine verlorene gekauft hatte, verstaut.

    'Hmmm... was brauche ich noch? Ich kann ja unmöglich eine Tasche mitnehmen, in der nur drei Tüten drin sind...' Auf und ab gehe ich, die Augen starr an die Decke gerichtet, als würde dort die Antwort stehen.


    Ah!“, rufe ich aus. Bettzeug, natürlich! Ich falte die Wolldecke von meinem Bett zusammen, packe ein kleines Kopfkissen und außerdem noch ein Spannbettlaken aus meinem Schrank in die Tasche. Damit wäre fast alles Gepäck gerichtet, das ich brauchen werde – die ganzen Sachen wie Zahnbürste und Deodorant kommen erst dann dazu, wenn ich sie heute Abend benutzt habe. Es fehlt aber auch noch die Buchung für die Jugendherberge, in der ich nächtigen werde.

    Jan, ist was?“ Verflixt! Meine Mutter muss meinen Schrei von gerade eben gehört haben. „Uuh... aaah... Nein, geht schon... ich hab' mir bloß mein Knie angehauen...“, stoße ich gepresst hervor, schauspielernd natürlich. „Ach so, dann ist ja gut.“ Mutter geht wieder. Eine Weile lang tue ich noch so, als würde mir mein Knie schmerzen, bis ich sichergehen kann, dass meine Eltern mit irgendetwas anderem beschäftigt sind.


    Während mein Computer noch hochfährt, gehe ich meinen Plan noch einmal in allen Einzelheiten durch. Zunächst muss ich von Niederschasslingsheim nach Feldenbach, denn dort ist der Bahnhof. Für diese sieben Kilometer werde ich den Bus nehmen. In Feldenbach muss ich dann innerhalb von drei Minuten ein Ticket kaufen und den Regionalexpress nach Tiefstadt erwischen – das wird eng, aber ist zu schaffen. Die halbe Stunde Zugfahrt in die Kreisstadt kann ich zum Frühstücken benutzen, immerhin ist es dann erst halb sechs, wenn ich da bin. In Tiefstadt muss ich dann fünfzehn Minuten auf den Intercity nach Klingenheide warten, damit ich dorthin komme, diese Zugfahrt kostet mich vierzig Minuten. Und in Klingenheide endlich kann ich dann in einen ICE umsteigen, der mich direkt ohne Unterbrechung und innerhalb von drei Stunden und vier Minuten nach Sonntadt bringt. Dann habe ich es geschafft.

    Allerdings ist das ein riskanter Plan. Wenn ich den Bus um viertel vor fünf nicht erwische oder der Bus Verspätung hat, dann war alles für die Katze. Wenn der Regionalexpress zu spät ankommt, sehe ich alt aus. Wenn der Intercity unpünktlich ist, kann ich mir den Nachhauseweg suchen. Wenn der Intercity-Express ausfällt oder auf der Fahrt etwas passiert, dann habe ich verloren. Ein wackliger Plan, alles steht und fällt mit der Zuverlässigkeit der Fahrer und dem Wetter. Aber, hey – no risk, no fun. Wo bleibt das Abenteuer, wenn man sich nicht ins Ungewisse begibt?


    Mit dem Internetbrowser suche ich nun nach einer billigen Bleibe in Sonnstadt. Der Preisvergleichs-Service spuckt mir nach einigem Suchen, das etwa fünf Minuten verschlungen hat, das Ergebnis aus. „Jugendherberge Schmitz, Van-Weberle-Straße 17, 12764-12 Sonnstadt-Fichtelheide“ lautet die komplette Adresse.

    Die Zusatzziffer an der Postleitzahl erklärt sich daraus, dass Sonnstadt aus 21 Stadtteilen aufgebaut ist; jeder einzelne hat eine eigene Ziffer am Ende der Postleitzahl. Die Kernstadt belegt die ersten fünf Ziffern, danach kommt die Vorstadt Elkweiler, dann das Industriegebiet. Danach folgen die einzelnen Viertel, die im Laufe der Jahrzehnte miteinander verwachsen sind, in alphabetischer Reihenfolge. Ich habe mich informiert.

    Auf der Homepage der Jugendherberge suche ich mir ein freies Einzelzimmer für eine Woche aus, dann klicke ich auf einen Button mit der Aufschrift „Buchen“. Ich soll nun am Tag der Anreise die sechzig Euro fünfunddreißig bar bezahlen. Zeit für eine kurze Zwischenrechnung. Das Zugticket kostet fünfzig Euro, dazu noch die sechzig für die Übernachtung – ich bin also alleine schon für die Vorbereitung einhundertzehn Euro fünfunddreißig los, bleiben mir noch 635,65 Euro übrig. Na ja, das sollte eigentlich schon reichen.


    Ich schnappe mir ein Blatt Papier und einen Kuli, denn die Buchführung ist extrem wichtig. Allerdings gibt der Kuli gleich nach dem „B“ für die Überschrift seinen Geist auf. Entnervt suche ich mir einen anderen, mit dem ich dann in blau statt in schwarz weiterschreibe. Die Tabelle wird fix angelegt, zweimal mittig gefaltet und in den Geldbeutel gesteckt. Den Fahrplan lasse ich mir vom Auskunftsservice der Bahn nochmals ausgeben und drucke ihn aus. Mit ihm geschieht das selbe wie mit der Buchführung. Die Unterlagen sind jetzt scheinbar alle da – nur mein Personalausweis fehlt noch. Den habe ich zwei Wochen nach meinem Geburtstag ausgestellt bekommen, es ist der neue mit Kreditkartengröße. Mein Passfoto starrt mich mit einem leeren Blick an, die Mundwinkel fallen leicht nach unten. Ich sehe ein bisschen finster auf dem Foto aus, meine Nase wirft einen Schatten auf mein Gesicht und die schwarze Haarpracht auf meinem Kopf tut ihr Übriges.

    Ich stecke die Plastikkarte ebenfalls in meinen Geldbeutel, der nun vor lauter Inhalt fast aus den Nähten platzt. In diesem Moment werde ich mir meiner Situation bewusst: Ich erfülle mir meinen größten Wunsch. Ich breche auf, eine große Reise in eine der größten Städte dieser Erde. Ganz alleine, frei wie ein Vogel. Ich, das Nesthäkchen, werde flügge und breche aus diesem Nest aus. Die Vorfreude ergreift mich, verursacht ein Kribbeln in Magen und Beinen und zaubert ein Lächeln auf meine Lippen. Ich würde am liebsten losschreien oder jemandem davon erzählen, ich scheine vor Glück zu platzen. Mein Herz klopft. Ich bin aufgeregt. „Jaaaaan!“, brüllt meine Mutter aus dem Wohnzimmer.


    Ich setze wieder meine gewohnt miese Miene auf und schlurfe zu ihr. „Ich hab' die Wäsche gebügelt. Räum' sie weg.“ – „Sehr kurz angebunden. Trotzdem danke für's Bügeln.“ Für meinen Kommentar, den sie wohl fälschlicherweise als Sarkasmus verstanden hat, funkelt sie mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Was hab' ich denn falsch gemacht?“, frage ich sie. „Geh' einfach!“ Ich füge mich der gereizten Angweisung. Bin ich froh, dass ich hier wegkomme. Während ich die Klamotten im Kleiderschrank meiner Eltern verstaue, fällt mir ein, dass ich vielleicht nicht so ohne weiteres verschwinden sollte.

    Was ich brauche, ist ein Abschiedsbrief oder so etwas. Eine Erklärung, dass es mir gut geht und man sich keine Sorgen um mich zu machen braucht, mit Begründung, warum ich gegangen bin. Die werde ich heute Nacht noch schreiben. Bis um sieben verkrieche ich mich in meinem Zimmer. Ich liege flach auf dem Bett, höre mein Lieblingslied im Kreis und starre an die Zimmerdecke. Dann gibt es Abendbrot. Wir sitzen zwar zu dritt am Tisch, aber fühlen uns meilenweit voneinander weg. Jeder kaut so leise wie möglich, schaut niemanden an und denkt sich seinen Teil. Die Atmosphäre gleicht einer Eiskammer, ich fröstele wirklich. Man vermisst die familiäre Wärme, jeder schweigt sich an. Nach zwei Käsebrötchen und einem Glas Wasser räume ich wortlos meinen Teller ab und lasse meine Eltern wieder alleine. Den Rest des Abends vertiefe ich mich ein weiteres Mal in die Bilder von Sonnstadt, dieses Mal aber nicht mit dem gewohnten Drang, gehen zu müssen. Nein, dieses Mal ist es anders. Ich entwickle eine unheimliche Vorfreude. Es kribbelt. Überall. Wieder halte ich es fast nicht aus, ich muss mir auf die Zunge beißen, um nicht loszubrüllen.


    Um halb elf mache ich mich bettfertig. Ich dusche, putze meine Zähne und föhne meine Haare. Nun warte ich, bis meine Eltern auch ins Bett gehen, denn erst, wenn sie schlafen, kann ich meine Zahnbürste klammheimlich entwenden, ohne erwischt zu werden. Es ist eins, als ich das tun kann. Ich packe die Bürste und eine frische Tube Zahncreme in einen Beutel, aus dem Schrank krame ich noch ein neues Duschgel und ein neues Shampoo. Mein Blick bleibt bei dem Rasierer hängen.

    Inzwischen sieht man deutlich meinen Bartwuchs, ich habe mich auch schon öfters rasiert. Ich packe ihn kurzerhand noch mit ein. Damit schleiche ich mich wieder in mein Zimmer und verstaue den Beutel in der zweiten Sporttasche.

    Proviant!“, will ich fast schreien, kann mich aber im letzten Augenblick noch davon abhalten. Mir ist es wie Schuppen vor die Augen gefallen – ich fahre gut fünf Stunden, da werde ich mir mindestens ein paar Brote richten müssen.


    Mein Handy spendet mir Licht, während ich mir Sandwiches schmiere. Brot, Butter, Wurst, Salat, Käse, Brot. Fünf davon packe ich in einen Frischhaltebeutel. Nun schnappe ich mir noch zwei Bananen und einen Apfel aus der Obstschale sowie eine Schachtel Müsliriegel aus der Speisekammer. Die Früchte verpacke ich in einer Plastikbox, dann trage ich alles zusammen wieder in mein Zimmer. Auf dem Weg dorthin stoße ich allerdings wegen der Dunkelheit gegen einen Beistelltisch im Flur, woraufhin das Telefon vom Tisch auf den Boden fällt. Mit einem Satz husche ich in mein Zimmer und lasse alles auf den Boden fallen. Mit einem unheimlichen Zeitdruck kicke ich alles unter das Bett, lege mich in es und tue so, als würde ich schlafen, als in diesem Moment mein Vater in meinem Zimmer steht und das Licht anmacht.

    Aha!“ – „Papa, mach' das Licht aus! Ich will schlafen“, gebe ich von mir, wobei ich so tue, als hätte man mich gerade unsanft geweckt. „Warum ist denn das Telefon runtergefallen?“ – „Das Telefon?“ Ich gähne. „Das ist runtergefallen?“ – „Ja, denn wir haben hier im Haus ja Geister.“ – „Papa, lass' den Quatsch. Ich habe die ganze Zeit seelenruhig geschlafen, bis du mich gerade geweckt hast.“ Ungläubig den Kopf schüttelnd schaltet er das Licht wieder aus und verschwindet im Bett.

    Das war knapp. Ich warte ab, bis wieder Schnarchen aus dem Schlafzimmer höre. Dann setze ich mich an den Schreibtisch. Es ist jetzt dreiviertel zwei. Die letzten drei Stunden in Niederschasslingsheim haben angefangen. Ein Blatt Papier und einen Kuli schnappe ich mir, dann fange ich an, meinen Abschiedsbrief zu schreiben.


    Ach, Mist. Ich habe wieder den Kuli erwischt, der nicht mehr schreibt. Aber von so einer Kleinigkeit lasse ich mich nicht aufhalten, ich greife nach einem anderen und schreibe nun damit den Brief. Ich fackele nicht lange herum und bringe die Dinge sofort auf den Punkt. Nichtsdestotrotz schreibe ich fast eine ganze Seite voll und unterschreibe das ganze mit meinem Namen.


    Die letzten Stunden vor meinem Aufbruch schlage ich tot, indem ich tagträume. Ich verliere mich wieder in einer Gedankenwelt, wie üblich. Und dann ist er da – der große Zeitpunkt. „4:35“ zeigt der Wecker. Ich hole fast unhörbar das Gepäck unter dem Bett vor, prüfe noch einmal, ob alles da ist. Schleunigst packe ich noch ein paar Bücher als Lesetoff ein und ziehe meine Armbanduhr an. Ich setze den Rucksack auf, stecke Geldbeutel und Handy in die Hosentaschen und nehme die beiden Sporttaschen in die Hände. Um vier Uhr vierzig verlasse ich auf Zehenspitzen das Haus durch die Haustür. Ich wittere Morgenluft.

  • Sou nachdem ich es jetzt geschafft hab alles durchzulesen, widme ich mir deinem verdienten Kommi.
    Phu, nur wo soll ich anfangen....
    Egal also erstmal das zweite Kapitel finde ich doch recht amüsant. Das Frühligsfest hat mich irgendwie an das Schützenfest erinnert, auf dem ich am Wochenende war. Waren viele Gemeinsamkeiten.
    Joa also Jan traut sich so einiges, was er da dem Ortsvorsteher so sagt. Die Reaktion vom Vater find ich ja dann auch richtig geil, der lobt seinen Sohn dafür, das er den Ortsvorsteher beleidigt hat. ^^
    Der Titel "The nightmare before summer", passt auch, da es ja nicht unbedingt der Wunschtraum eines jeden ist, was da im Kapitel passiert. Joa also netter 16 Gebrutstag. Meiner lief nicht so ab, aber der Verlauf im Kapitel ist bestimmt keine Seltenheit. Allerdings merkt man auch, dass Jan im Verlaufe der Geschichte immer mutiger(bzw. respektloser) wird, was so einige Sachen anbelangt. Bin gespannt wie sich das noch entwickelt.
    Öhm ja das dritte Kapitel ist vergleichsweise ruhig. Er packt ja nur seine Siebensachen zusammen und schreibt ein Briefchen.
    Titel passt gut, er spiegelt den Inhalt des Kapitels wieder.
    Also im großen und ganzen geht es ja in diesem Kapitel ums zusammenpacken. Also die Organisation ist schonmal gut. Die Reise dahin stell ich mir sehr stressig vor, bin gespannt ob alles glatt läuft. Er traut sich auch richtig was mitten in der Nacht durchs Haus zu schleichen um die letzten Sachen zu besorgen. Meiner Meinung nach hat er richtig Glück gehabt. Das mit dem Abschiedbrief ist auch nicht schlecht, wobei ich bezweifle, dass sich die Eltern nicht trotzdem Sorgen machen werden.


    Rechtschreibfehler hab ich keine gefunden, kann aber auch sein, dass ich sie einfach übersehen hab. Die beiden Kapis konnte man auch leicht lesen, man hat nicht den Überblick verloren und die Kapitel waren auch gut gegliedert.
    Der letzte Absatz macht Lust auf mehr, werd ich aber wohl drauf warten müssen, weil ich ab Montag für drei Wochen wegfahre.
    Sorry das ich so wenig geschrieben hab(weil ich weiß das andere das Doppelte geschrieben hätten), ich hoff du nimmst es mir nicht übel.


    Mfg yozakura

  • So heute ist ein guter Tag um deine FS zu kommentieren. Wie ich schon gesagt habe, finde ich deinen Schreibstyle sehr gut. Außerdem finde ich es auch lustig, wie du Jan in der Geschichte darstellst. Ich weiß ja schon einiges wie es weitergehen wird, doch bin ich auch weiter sehr gespannt wie Jans Flucht aussehen wird. Wem er begegnet? Was mit ihm passiert? Lauter Fragen, die ich ja bestimmt nach und nach von dir beantwortet bekomme.
    Deine Geschichte spiegelt ja auch das ab, was du gerne im realen Leben möchtest. Abhauen aus dem grauen Etwas. Deshalb finde ich, dass deine Geschichte mehr als andere eine reale Geschichte ist, denn du willst es genau so haben.


    Fehler in der FS habe ich bis jetzt nicht gefunden, aber vielleicht habe ich manche einfach übersehen, weil mich deine Geschichte sowas von angesteckt hat alle Kapitel sofort zu lesen. Ich habe sogar deine Kapitel jetzt schon ein drittes Mal gelesen und bin einfach gespannt was noch passieren wird und wie du deine Ideen einbaust.


    Leider war das schon alles was ich dir mit auf den Weg gebe, mach so weiter. Sorry wegen dem kleinen Fazit, weiß noch nicht wie der ungefähr aussehen sollte, daher hoffe ich, dass du damit klarkommst.


    Du kannst mich auch zu den Leuten eintragen, die eine Benachrichtigung wollen, wenn du weitere Kapitel postest.


  • Kapitel 4 - Day we caught train
    I - The beloved sound of the whistle


    Es ist noch kühl draußen, und stockfinster. Das fahle Licht der Laternen gewährt die Sicht auf das stille Örtchen, außer dem Zwitschern eines Vogels oder dem Mähen eines Schafes ist kein einziges Geräusch zu vernehmen. Nichts bewegt sich. Toteste Hose.


    Ich atme einmal tief ein und wieder aus. Müde schlurfe ich samt Gepäck durch Niederschasslingsheim, hin zur alten Bushaltestelle am anderen Ende. Obwohl ich nur noch fünf Minuten Zeit habe, mache ich langsam, teils aus Müdigkeit, teils aus der Unnötigkeit des Beeilens. „Endlich mal ein Vorteil, dass das Scheißkaff so klein ist!“, murmele ich. Um vier Uhr dreiundvierzig bin ich an der Haltestelle, zwei Minuten darauf auch der Bus. Der ist menschenleer, bis auf den alten Fahrer, der mich wortlos und irgendwie gereizt ansieht. Ich löse eine Fahrkarte und schmeiße mich nur noch auf den nächstbesten Sitzplatz. Seit etwa einundzwanzig Stunden bin ich wach. Gestern morgen um halb sieben habe ich mich ein letztes Mal für das vergangene Schuljahr aus dem Bett und in die Schule gequält, seitdem nicht mehr geschlafen. Augen und Kopf schmerzen mir, das Blinzeln gewinnt eine erholsame Wirkung. Deshalb werden die Blinzler immer länger. Einzig das monotone Motorgeräusch des Busses hält mich vom Eindösen ab.


    Obwohl ich kurz vor der Erfüllung meines Traumes stehe, nach Sonnstadt zu gehen, fühle ich mich schlecht, schlechter als je zuvor. Das Kribbeln in meinen Beinen wird stark, schmerzhaft stark. In immer heftigeren Wellen robbt es sich meinen wehrlosen, erschöpften Körper hoch, bis es meinen kompletten Bauch umspült. Immer stärker pocht es in mir, immer stärker will ich gehen. Ich schlage zwar die Beine übereinander, um sie zu bewegen, aber anstatt Abhilfe zu schaffen, werden die Attacken nur noch schlimmer.
    Dazu gesellt sich eine Lethargie, eine Lustlosigkeit, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte. Ich fahre für eine Woche nach Sonnstadt – ja und? Heim muss ich trotzdem wieder. Und den Ärger mit den Eltern erspare ich mir so auch nicht. Den Schulstress. Die Ereignislosigkeit auf dem Land. All das, was ich eigentlich hinter mir zurücklassen will, stellt sich direkt hinter meinen Ausflug und verdirbt mir die Lust daran, überhaupt noch aus dem Bus auszusteigen. Ich will heulen, mich an irgendeine Schulter stützen, doch ich kann nicht. Daran ist nicht nur die Abwesenheit einer Schulter schuld, sondern auch das vehemente Weigern meiner Tränendrüsen, Flüssigkeit abzusondern. Ich will weinen, aber es geht nicht. Ich will jemandem meine Sorgen, Ängste und Wünsche erzählen, aber es geht nicht. Ich will für immer in Sonnstadt bleiben, aber es geht nicht.
    Diese seltsame Mischung aus Gefühlen, die nun stärker denn je in mir hochkocht, wirft einige Fragen in meinem Kopf auf. Willst du wirklich nur aus Vergnügungssucht in die Stadt? Oder ist es einfach nur der Neid, die Eifersucht, die blanke Missgunst? Du gönnst es den Sonnstädtern nicht, hab ich nicht recht? Du bist benachteiligt, du bist minderwertig. Ja, du bist nicht so viel wert wie die Stadtmenschen! Du wirst es nie sein! Deine Heimat empfängt dich mit offenen Armen und umarmt dich, bis sie dich erwürgt! Jan Petersen bleibt für immer der Junge aus Niederschasslingsheim! Daran kann der tollste Ausflug nichts ändern! Nichts!

    Die Stimme in meinem Kopf hämmert. Sie wirkt wie ein Psychopath, der in seinem Wahn versucht, mich davon zu überzeugen, dass es falsch ist, was ich hier tue. Ich bin so müde, dass ich mich gegen die kranke Person in meinem Kopf nicht wehren kann. Tatenlos muss ich die Gedanken zulassen. Sieh es ein, du hast verloren! Jeder sechzehnjährige Junge in Sonnstadt hat ein besseres Leben als du! Deine Kindheit ist verpfuscht! Du hast die ganze Zeit verplempert! Ja, verschwendet hast du sie! Nutzlos vorbeiziehen lassen hast du sie! Und weißt du was? Du kannst es nie wieder rückgängig machen!


    Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, das Schlucken wird schmerzhaft. Verzweifelt versuche ich, mich aus dem Klammergriff der Stimme zu befreien, ich sehe mich vor meinem inneren Auge hilflos in einer dicken, weißen Faust herumzappeln. Doch es nützt alles nichts – die Stimme hat recht. Sie hat recht, verdammte Scheiße! Endlich schießen mir Tränen in die Augen.
    Quietschend hält der Bus an. Ich muss aussteigen. Schweren Herzens schlucke ich meine Wut, meine Trauer hinunter und fasse mich wieder. Die kalte Luft in Feldenbach hilft mir dabei. Im Schein der orangen Laternen stehe ich nun also auf dem gepflasterten Bahnhofsvorplatz. Es ist vier Uhr siebenundfünfzig, ich bin zu früh dran – ein Wunder! Voll bepackt betrete ich das Bahnhofsgebäude und steuere den Fahrkartenautomaten an. Nach einigem Herumgetippe auf dem Touchscreen wähle ich „Sonnstadt Hauptbahnhof“ als Zielort aus, worauf der Automat mir siebenundvierzig Euro abknöpft. Es rattert, dann kann ich einen Papierzettel und drei Euro Restgeld entnehmen. Weil ich noch immer drei Minuten Zeit habe, bis der Zug eintrifft, genehmige ich mir einen Coffee to go.
    Die Verkäuferin scheint ebenfalls sehr müde zu sein, sie schielt jedenfalls neidisch auf meinen Kaffee, den ich mit hinaus auf den Bahnsteig nehme.


    Der Zug rattert heran und kommt quietschend zum Stehen. Mit einem Mal klacken alle Türen wie von Geisterhand gleichzeitig auf. Ein wenig unheimlich ist mir schon, zum ersten Mal in meinem Leben alleine und früh morgens in den Zug zu steigen, aber ich nehme allen Mut zusammen und die Sporttaschen in die Hände.
    Niemand außer mir und dem Lokführer ist im Zug. Ich habe also freie Sitzplatzwahl und entscheide mich für einen Fensterplatz entgegen der Fahrtrichtung nahe den Türen. Ich werfe einen Blick auf Feldenbach und erschrecke, als der Zug bei seiner ruckhaften Anfahrt mich aus den Gedanken reißt. Nervosität steigt langsam in mir empor, denn jetzt hat sie offiziell begonnen, meine Reise. Jetzt gibt es definitiv kein Zurück mehr. Während ich an meinem Kaffee nippe, schaue ich unentwegt in Richtung Heimat, und plötzlich schiebt sich das Wort 'Tschüss' in meine Gedanken. Diese sieben simplen Buchstaben zaubern ein Lächeln auf meine Lippen.


    Im Morgengrauen fährt der Zug durch die Landschaft. Langsam verändert sie sich. Waren die Hügel in Feldenbach noch sanft rollend, so werden die Abhänge jetzt immer steiler. Die Gleise führen an einem Fluss entlang, der immer breiter und größer wird. Die Hügel zu beiden Seiten des Ufers sind mit Nadelbäumen komplett bewachsen. Malerisch schmiegen sich Dörfer und Städte an das Flussufer. Zwei Zwischenhalte sind eingeplant: einer in Bad Schebenhall und Birgenstetten. Beides sind größere Städte, in denen ich aber noch nie war. Bad Schebenhall ist stolz auf seine vielen Solebäder und alten Salzstätten, die heute als Touristanattraktionen dienen. Bei Birgenstetten thront majestätisch die Nadelfels-Burg auf einem Hügel über der Stadt. Auch hier werden Führungen angeboten.
    An einer besonders breiten Stelle des Flusses, an der er eine Insel in der Mitte freigibt und auch das Tal insgesamt weitläufiger ist, liegt die Kreisstadt Tiefstadt. Zunächst führt die Bahnstrecke vorbei am Industriegebiet. Vor allem Autohersteller und Maschinenbaubetriebe haben sich hier angesiedelt. Ich entdecke trotz der schlechten Lichtverhältnisse noch eine Müslifabrik, eine Winzerei und weitere Privatbetriebe.
    Dann kommt die Stadt selbst. Am Stadtrand finden sich viele Neubauten aus diesem Jahrhundert, allesamt pastellfarben verputzt und modern. Je weiter man sich aber dem Stadtkern nähert, desto älter werden die Gebäude. Zunächst eine Plattensiedlung aus den Siebzigern, dann die barocken Prachtbauten, dann fast schon mittelalterliche Fachwerkhäuser. Schlussendlich hält der Zug mit einem Zischen im erst letztes Jahr renovierten Bahnhof.
    Ich mühe mich ab, sowohl das Gepäck als auch den Rest meines Kaffees und natürlich mich heile auf den Bahnsteig zu bringen. Allerdings stolpere ich, falle vorwärts auf den Beton und kippe mir dabei den Kaffee über die Hose. „Scheiße!“, fluche ich, weil es jetzt so aussieht, als hätte ich einen Unfall gehabt. Besorgt blicke ich auf dem Bahnsteig herum, ob mich niemand gesehen hat. Bis auf einen alten Mann, der das Geschehen amüsiert beobachtet hat, entdecke ich niemanden. Nun geht er schmunzelnd und humpelnd auf mich zu.
    Kann ich dir helfen?“ - „Ja, gern. Könnten Sie mir vielleicht aufhelfen?“ Der alte Mann kommt meiner Bitte nach und hilft mir dann auch noch dabei, das Gepäck wieder einzusammeln. Der Zug hinter uns fährt ab, auf direktem Wege ins Depot.
    Ich bin übrigens Helmut. Helmut Zimmermann“, stellt sich der alte Mann vor. „Angenehm. Ich bin Jan Petersen“ - „Darf ich dich fragen, was du morgens um diese Zeit hier tust?“ - „Ja sicher. Ich bin auf dem Weg in den Urlaub.“ - „Ach so, deshalb wohl so viel Gepäck. Das erklärt aber noch nicht die Uhrzeit. Es ist erst halb sechs.“ - „Wissen Sie...“, setze ich an und bewege mich dabei auf Helmuts Ohr zu, „...ich bin von zu Hause abgehauen.“ Was ich ihm ins Ohr geflüstert habe, scheint Helmut nicht zu entsetzen, sondern im Gegenteil zu amüsieren. Er kichert. „So so, du bist ausgebüxt. Schlawiner du!“ - „Ich nehme das einfach mal als Kompliment. Jetzt müssen Sie mir aber erklären, warum Sie auch so früh am Morgen hier sind.“ Wir setzen uns auf eine der Metallbänke. „Na ja, eigentlich lebe ich gar nicht hier.“, gesteht der Alte. „Nicht? Wo wohnen Sie denn?“ - „Ich stamme aus Sonnstadt.“


    Das ist ja ein... lustiger Zufall, denn genau dort will ich hin.“, antworte ich, während ich überrascht nach den richtigen Worten suche. „Du willst in diesen Moloch? Du bist doch wahnsinnig!“ - „Ich kann ihnen auch sagen, weshalb. Weil ich vielleicht vierzig Kilometer von hier entfernt wohne, in einem kleinen Dörfchen...“ - „Das ist doch romantisch!“, fällt Helmut mir ins Wort. „Romantisch? Nein, da sind Sie auf dem Holzweg. Ich finde es weniger romantisch, vom ach so lieblichen Duft eines mit Mist gedüngten Feldes geweckt zu werden. Weniger schön ist es auch, jeden Tag zu Hause sitzen zu müssen, weil nichts läuft. Weder im Ort noch im Fernsehen. Das empfangen wir nur sehr schlecht.“ - „Und deshalb willst du gleich nach Sonnstadt?“ - „Ja, warum denn nicht? Wenn, dann richtig.“ - „Na ja, so, wie du das Leben auf dem Lande schilderst, klingt es natürlich schlimm. Aber du musst dir auch bewusst werden, dass Sonnstadt nicht immer das hält, was es verspricht.“
    Helmut beginnt eine Ausführung, bei der er wild gestikuliert. Er erzählt, dass es in Sonnstadt nur so von kriminellen Banden wimmele, er beschwert sich über den Verkehrslärm bei Nacht, über die Jugendlichen, die ebenfalls des nachts in den engen Seitensträßchen allerhand Unfug anstellen und schließt seine Darstellung mit der exakten Beschreibung des Smogs, der jeden Morgen die Nasen der Stadtbewohner foltert.
    Damit kann ich leben“, antworte ich. Mit diesen vier Worten scheine ich Helmuts kompletten Versuch, mich über die negativen Seiten der Stadt bewusst werden zu lassen, zunichte gemacht zu haben. „Erzählen Sie doch mal, was Sie denn hier unten überhaupt machen. Es kommt reichlich selten vor, dass sich ein Städter wie Sie in unsere Gegend verirrt.“ - „Ich wollte einfach mal dieses Übel loswerden. Raus aus der Stadt und rein in die Erholung.“ Skeptisch mustere ich sein kariertes Hemd. „Und Ihre Frau?“ Auf einmal verschwindet Helmuts Lächeln. Er ist 75 Jahre alt und lebt seit vier Jahren alleine, weil seine Frau damals an Lungenkrebs gestorben ist. Seine erwachsene Tochter lebt in Rom und arbeitet als Ermittlerin, während sein Sohn eine Anstellung im Sonnstädter Vergnügungspark gefunden hat. Die beiden hat der zur Beerdigung das letzte Mal gesehen. Einen Moment lang sind wie beide still. Plötzlich fängt mein Handy an, zu klingeln. „Entschuldigen Sie mich bitte“, sage ich während ich einen Zorn auf das Gerät bekomme.


    JAAAN!“, brüllt mein Vater aus den Lautsprechern. Scheiße. Wie ist er mir auf die Schliche gekommen? „Wo bist du?“, dröhnt es ungeduldig aus dem Handy. Ich denke fieberhaft nach, finde aber nichts, was als geeignete Ausrede dienen könnte. Ich bleibe stumm. „Wo bist du!?“ schreit mein Vater erneut. Ich bekomme Angst. „Red' ich Chinesisch oder was? Sag mir sofort, wo du bist!“ - „Ich... ääh...“, setze ich stammelnd an. Eine Durchsage ertönt im Hintergrund, die ich aber nicht verstehen kann. „Ääh... Weißt du...“ Mist. Jetzt rede ich mich um Kopf und Kragen. In diesem Moment fährt der Zug ein. „Ich... muss weg. Tschüss!“ Erleichtert lege ich auf. Die Bahn kommt zum ersten Mal in meinem Leben zum rechten Zeitpunkt. Ist das der Zug nach Sonnstadt?“, fragt Helmut. „Nicht ganz. Es ist der Intercity nach Klingenheide. Trotzdem müssen wir da rein.“ Ich nehme mein Gepäck, Helmut nimmt seins, und zu zweit betreten wir den Zug.
    Wir suchen uns beide eine bequeme Nische in Toilettennähe aus, dann warten wir auf die Zugabfahrt. Doch selbst nach Minuten rührt sich der Zug keinen Millimeter. Mittlerweile ist es schon zehn vor sechs, wir haben fünf Minuten Verspätung. Unruhig rutsche ich auf meinem Sitz hin und her. Plötzlich erschallt eine Durchsage, dass der Zug wegen einer Motorpanne erst in einer halben Stunde losfahren könne. „Scheiße!“, schreie ich, woraufhin mich Helmut böse ansieht. „Na na, junger Mann. Was ist denn daran so schlimm?“ - „Ganz einfach: Wenn wir so spät erst in Klingenheide ankommen, haben wir unseren Anschlusszug nach Sonnstadt um genau 27 Minuten verpasst!“ Hektisch schaue ich auf meinen Fahrplan und rechne schnell nach, es stimmt. „Na, dann machen wir uns es eben gemütlich.“
    Ich hätte auch gerne Helmuts Gelassenheit. Er lehnt sich zurück, kramt eine Zeitung aus seiner Tasche und fängt an, zu lesen. „Peinliche Panne im Sonnstädter Vergnügungspark – Riesenrad blieb wegen Kabelfehler stehen“, titelt das Blättchen. Kabelfehler, pff. Ich mag nicht wissen, was dann dem Zug fehlt.


    Auch ich krame jetzt Lektüre aus meinem Rucksack. Es ist ein Reiseführer über Sonnstadt, den ich mir schon im April gekauft hatte. Fasziniert von der immensen Größe der Stadt versinke ich in den vielen Texten, Karten und Fotografien, die die Stadt in ihrer vollen Blüte zeigen. Dabei vergesse ich total die Zeit, denn als ich wieder aufblicke, um auf die Uhr zu schauen, ist die halbe Stunde Abfahrtsverzögerung schon fast vorbei. In diesem Moment höre ich ein lautes Scheppern auf dem Bahnsteig und blicke erschrocken nach draußen.
    Vier Buchstaben: F. U. C. K. Wie ein Irrer sucht mein Vater, der gerade einen Mülleimer umgeschmissen hat, die einzelnen Fenster des Zuges nach mir ab – und zwar mit einem hochroten Kopf. So zornig habe ich ihn noch nie erlebt. Er schnaubt beinahe wie ein Ochse. Die Fäuste sind geballt. Entsetzt klappt mir die Kinnlade herunter. Wie zum Geier hat er mich gefunden? Wie hat er es überhaupt erst so früh mitbekommen, dass ich abgehauen bin? Und wie ist er verdammt noch mal so schnell hier hergekommen?


    All diese Fragen kann ich aber nicht beantworten, weil in diesem Moment der Blick meines Vaters mich entdeckt. Mit einem diabolischen Grinsen fixiert er mich und sprintet auf den Zug los. Scheiße! Was mache ich jetzt? Mir wird abwechselnd heiß und kalt und ich verliere die Kontrolle über meine Muskulatur. Unbeweglich und steif sitze ich nun da und zittere wie Espenlaub. Gleich ist es soweit und ich bekomme von meinem Vater die Tracht Prügel meines Lebens. Womit hab ich das verdient? Vor Angst kneife ich die Augen zu.
    Ich höre meinen Vater schon an den Zugtüren rütteln. Gleichzeitig lässt er ein lautes „Ey! Lasst mich rein!“ fahren, doch vergebens. Verdattert schaue ich immer noch wie angewurzelt aus dem Fenster und realisiere erst nach ein paar Sekunden, dass der Zug angefahren ist. Ein Blinzler und ich sehe meinen Vater am Fenster vorbeiziehen, entkräftet und verzweifelt.

  • II - Daybreak Express



    Helmut hatte sich bis jetzt in einen offenbar äußerst interessanten Zeitungsartikel vertieft, doch nun setzt er die Zeitung ab und starrt mich über die Gläser seiner Lesebrille hinweg an. „War was?“ – „Nein, nein, alles in Ordnung...“, lüge ich dreist. „Na dann.“ Helmut widmet sich wieder dem Tagesblatt, während ich immer noch entsetzt auf die Landschaft starre, an der nun der Zug vorbeifährt.


    Eigentlich ist sie wunderschön; immer noch fährt der Zug entlang des Flusses, immer noch kesseln steile Felswände enge Ufer ein, immer noch sind die Abhänge dicht bewaldet. Die Sonne geht hell strahlend am Horizont langsam auf und taucht die Landschaft in ein Meer aus goldenem Licht. Die Gleise verlassen nun aber den malerischen Fluss, der ein langes, goldenes Band durch die traumhafte Landschaft zieht.
    Der Zug durchquert einen Tunnel. Das Schwarz vor den Fenstern wirkt bedrohlich und kühl, weshalb ich meinen Blick vom Fenster abwende und mich dazu entschließe, wieder zu lesen. Immer noch bietet der Reiseführer, ein dicker Schinken von über 500 Seiten, genug Stoff, um mich daran zu fesseln.


    Sonnstadt ist eingeteilt in einundzwanzig Bezirke, die sich jeweils nochmal in einige Ortsteile auftrennen. Jeder der Bezirke besitzt eine eigene Postleitzahl; an die Nummer von Sonnstadt wird der Reihe nach eine Zahl von eins bis einundzwanzig angehängt.


    In der alten Kernstadt liegen die meisten Sehenswürdigkeiten. Dort befinden sich der Rathausplatz, die Sonnstädter Oper, der Gerichtshof, der Volksplatz, die Elisenallee, zwei Einkaufszentren, das Schulzentrum Süd und noch weitere Plätze. Die größte Fläche nehmen die Fußgängerzonen und Parks ein. Im Stadtkern befinden sich sowohl Nord-, Süd- als auch Hauptbahnhof, außerdem hat er das stadtweit dichteste U-Bahn-Netz.
    Geil. Pflichtprogramm auf meiner Besichtigungstour. Während ich aufblicke und verträumt in die Luft starre, male ich mir in Gedanken aus, wie die Plätze und Fußgängerzonen aussehen, wie ich durch sie stolziere, wie ich mir die ganzen Läden ansehe... Das wird der Überhammer!


    Auch außerhalb der Kernstadt findet man viele Sehenswürdigkeiten. Allen voran steht der FunPark im Stadtteil Ost, der jedes Jahr Besucherzahlen im siebenstelligen Bereich verzeichnet. Seine größte Attraktion ist die Looping-Achterbahn „Sonnenwirbel“, die mit ihren vielen Schrauben und Überkopfabschnitten der größte Publikumsmagnet des Parks ist.
    Auch auf der Liste notiert.
    Ebenfalls großer Beliebtheit erfreut sich der Besucherhafen im Hafenviertel, dort werden interessante Führungen durch das Hafengelände angeboten. Nicht weniger populär ist auch der Fichteldamm, eine Strandpromenade im Stadtteil Fichtelheide.
    Wer sich nach einer gigantischen Skyline sehnt, ist in Grevenfelde gut aufgehoben, das dortige Finanzzentrum quillt vor großen Wolkenkratzern über. In den imposanten Häuserschluchten finden sich vor allem Versicherungen und Kreditinstitute, aber auch edle Lokale und Geschäfte.
    In einer solchen Großstadt dann noch einen Ort der Stille zu finden, kann eine schwierige Aufgabe sein. Wer auf der Suche nach einer Pause vom ewigen Großstadtlärm ist, sollte einen Blick in die Große Kirche im Stadtteil Teifenach riskieren und eventuell auch einen Spaziergang auf dem weitläufigen Nordfriedhof wagen, der zugleich auch ein Park ist.“
    Der Friedhof ist ein Park? Seltsame Ideen haben die Stadtplaner manchmal...


    Die Landschaft, die wir nun durchqueren, hat sich grundlegend verändert. Das Land ist relativ flach, allenfalls ein paar kleine, sanfte Hügel lassen sich entdecken. Der Untergrund ist mit saftigen, grünen Wiesen bedeckt, hier und da stehen mächtige Eichenbäume. Einzelne Landstraßen heben sich mit ihrem dunklen Grau von der ansonsten so farbenfrohen Natur ab, nirgendwo ist auch nur die kleinste Siedlung zu entdecken. 'Genauso wenig los wie bei mir zu Hause...', denke ich. „So stellen Sie sich Idylle vor?“, frage ich Helmut, doch als ich meinen Kopf umdrehe, ist der Sitz gegenüber meinem leer.
    „Helmut? Hallo? Wo sind Sie?“ Keine Antwort. Ist mir der Alte verloren gegangen? Ich stehe auf und werfe schüchtern einen Blick durch den Zugabteil. Der Zug muss in der Zwischenzeit mindestens ein Mal gehalten haben, denn es sitzen neben mir noch einige andere Leute im Waggon. Doch nirgends eine Spur von Helmut. Urplötzlich reißt der Zug eine sehr scharfe Kurve, ich kann mich nicht mehr auf meinen Beinen halten und falle geräuschvoll zu Boden.
    Für einen kurzen Moment sind die Leute im Abteil still, dann plaudern sie munter weiter. Ich reibe mein schmerzendes Schienbein, das ich mir während des Sturzes angehauen hatte. Unter einem der Sitze entdecke ich ein Stück Papier, das ich mir hervorhole, um es anzuschauen. Es ist zusammengefaltet und vergilbt, außerdem liegt eine dicke Schichte Staub darauf. Ich puste ihn weg und klappe das Stück Papier auf. Mir offenbart sich ein alter Stadtplan.


    Die Karte ist mit „Hafenviertel“ betitelt. Neben einem dichten Gewirr aus Straßen und Gebäuden, die eingezeichnet sind, befinden sich eigenartigerweise auch drei rote Kringel darauf. Damit markiert sind eine Bankfiliale, ein Polizeirevier und „Pier 3“, ein Dock am Hafen. Fasziniert betrachte ich das Stück Papier. An den Kartenrändern sind Pfeile eingezeichnet, darunter stehen in krakeliger Handschrift Wörter wie „Fhd-Kristallheim/Nordendamm“, „InP NW“, „Süd-Schulzentrum“ oder „Uwd-Uhmenheim“.
    Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Das ist eine Karte vom Hafenviertel von Sonnstadt! Ich kenne diese Namen. Kristallheim und Nordendamm sind Ortsteile von Fichtelheide, InP steht für Industriepark, Uhmenheim liegt im Stadtteil Uhmenwald... Das ergibt alles Sinn. Allerdings erklärt es immer noch nicht die drei roten Kringel auf der Karte.


    „Jan? Was treibst du denn da?“, werde ich von hinten angesprochen. Ich hatte total vergessen, dass ich immer noch auf dem Boden liege und eine Karte interpretiere. „Äh... gar nichts.“ – „Magst du mich vielleicht wieder an meinen Platz lassen?“ Ich rappele mich auf und setze mich wieder auf den Sitz. „Wo waren Sie denn?“, frage ich Helmut, der sich nun auch wieder hingesetzt hat. „Auf der Toilette.“ - „Aaach so!“ Da hätte ich auch drauf kommen können.
    Die Karte lässt mich aber nicht mehr los. Wieder werfe ich einen Blick darauf. „Nanu? Was hast du denn da?“ – „Das hier hab' ich unter dem Sitz gefunden. Es ist eine Karte vom Sonnstädter Hafenviertel.“ Helmut setzt seine Lesebrille auf und studiert nun zusammen mit mir die Karte. „Zeig mal her... Was ist denn das? Die Karte ist ja uralt!“ – „Wieso das denn?“ – „Siehst du das hier?“ Helmut tippt auf ein Gebäude direkt am Ufer. Es ist mit „Schmitzke-Werft“ betitelt. „Ja.“ – „Die Schmitzke-Werft hat schon 1980 dicht gemacht. Und ein Jahr drauf hat man das Gebäude abgerissen. Die Karte muss schon sehr alt sein.“ – „Aber was hat dann eine Karte von vor über dreißig Jahren unter dem Sitz hier verloren?“ – „Das wüsste ich selbst gerne...“
    Helmut wird nachdenklich. „Warte mal... 1980... Da war doch was...“ – „Ja? Was denn?“ – „Lass' mich überlegen...“ Ein paar Minuten starrt Helmut Löcher in die Luft. „Ach, ich weiß es wieder. In diesem Jahr gab es großes Verbrechen, das war auch im Hafen... es ging um ein Lösegeld von ein paar Millionen Mark... Die Verbrecher wollten, dass der Besitzer der Schmitzke-Werft das Geld übergibt. Man weiß heute, dass der Besitzer der Werft es nicht getan hatte. Drei Tage darauf war er tot, man hat seine Leiche am Pier 3 gefunden.“


    Ich blicke Helmut an. Er schaut zurück. „Pier 3? Ganz sicher?“ – „Ja.“ – „Hat man die Verbrecher gefasst?“ – „Nein, man konnte ihnen nie etwas nachweisen.“ – „Jetzt schon! Das ist doch alles klar, hier auf der Karte sind Bank, Polizei und Pier 3 markiert. Die Verbrecher haben das Geld vom Besitzer der Werft gestohlen, vielleicht aus seinem Safe in seinem Haus, dann haben sie ihn umgelegt, damit er nicht plaudern kann, und sind dann mit dem Geld auf die Bank und haben danach die Leiche des Besitzers versenken wollen, an Pier 3... weil der vom Polizeirevier nicht gut erkennbar ist! Das ergibt alles Sinn!“ – „Das ist ja schön und gut, aber das Verbrechen ist doch schon lang verjährt. Was nützt dir jetzt die Karte?“ – „Fragen Sie mich nicht. Was macht die Karte denn überhaupt unter einem Zugsitz? Das ist alles sehr merkwürdig.“


    Eine Durchsage unterbricht unsere angeregte Unterhaltung, laut der wir in etwa zehn Minuten in Klingenheide eintreffen würden. Mit einem Blick auf meine Uhr stelle ich fest, dass wir eine dreiviertel Stunde zu spät sind. 'Na super', geht mir durch den Kopf. 'Das ist doch eine Frechheit. Die Bahn als Dienstleistungsunternehmen soll uns eigentlich pünktliche Beförderungsdienste anbieten. Was bekommen wir serviert? Verspätungen, Zugausfälle und Gleisarbeiten. Und dafür bezahlt man viel zu viel Geld. Frechheit!'
    Helmut knabbert an einem Apfel. Er hat die Ruhe weg. Skeptisch blicke ich ihn an. „Wie können Sie so ruhig bleiben? Wir haben verdammt viel Verspätung, und was machen wir jetzt? Wir müssen unbedingt einen Zug nach Sonnstadt kriegen!“ – „Warum denn unbedingt?“


    Ja, warum eigentlich? Gedankenverloren blicke ich aus dem Fenster. Bereits jetzt passieren wir lauter Vorstädte, wo sich Reihenhäuser an Reihenhäuser drängen, wo kleine Spielplätze die Straßenecken zieren, wo an den Bushaltestellen viele Leute warten und wo die Hauptstraße gesäumt ist mit Ladenzeilen.
    „Und? Was ist jetzt? Müssen wir immer noch unbedingt nach Sonnstadt?“ – „Ich schon.“ – „Kann es sein, dass du dich da in etwas reinsteigerst? Was liegt dir denn an der Stadt? So toll ist es da nun wirklich nicht. Schau doch mal, die ganzen Vorstädte, wo das Leben nicht so hektisch ist. Wäre das nicht viel besser?“ – „Nein! Vorstädte sind genauso langweilig wie kleine Dörfer auch! Ich brauche Menschenmassen um mich herum, die eilig durch die Innenstadt laufen! Ich muss einfach in der Menge baden! Verstehen Sie das nicht?“ – „Nein. Ich sage dir eins: Die Gefahr ist groß, in der Menschenmenge bestohlen zu werden. Und nicht nur das, du verirrst dich auch viel schneller, als dir lieb ist. Gehst du dieses Risiko ein?“ – „Jederzeit!“


    „Und was ist mit der U-Bahn? Klar ist es praktisch, mal so eben in zwanzig Minuten ans andere Ende der Stadt zu gelangen, aber du hast doch mit Sicherheit schon Berichte über U-Bahn-Schläger gehört, oder? Ich sage dir, dass es an manchen Haltestellen gang und gäbe ist, jemanden zu prügeln, so seltsam das auch klingen mag.“ – „Und wenn ich diese Haltestellen eben vermeide?“ – „Das sagt sich leichter, als es zu machen ist.“ Helmut ist eine sehr harte Nuss.
    „Sie liefern mir hier die tollsten Geschichten über Kriminalität. Schön und gut, aber finden Sie nicht auch, dass die Mehrheit der Bevölkerung keine Verbrechen begeht? Und was halten Sie eigentlich von der Polizei? Und wie war das noch gleich mit Notwehr?“


    Stille. Bis auf das Quietschen der Zugbremsen, das signalisiert, dass wir in ein paar Sekunden aussteigen müssen. Eine erneute Durchsage bestätigt dies auch. Rasch packe ich alles zusammen, was ich während der Zugfahrt auf meinem Platz verteilt habe – und auch die alte Karte lasse ich klammheimlich in meinem Rucksack verschwinden.
    Zwar ist der Bahnhof von Klingenheide überdacht, dennoch ist es recht frisch. Ärgerlich ist auch, dass es bereits zehn nach sieben ist und ich eigentlich längst im ICE nach Sonnstadt sitzen sollte. Doch dank der Verspätung sitze ich erst mal hier fest. Ratlos sehe ich mich auf dem Bahnsteig um. Neben unserem Zug stehen noch ein ICE nach Bremen, eine S-Bahn in eine mir unbekannte Stadt und ein Regionalexpress in eine andere Stadt, die ich ebenfalls nicht kenne, im Bahnhof. Eine weitere S-Bahn fährt auf Gleis fünf ein.
    Viele Leute huschen hastig über die Betonfliesen, überall rollen Koffer über den Boden und fliegen Tauben durch die Bahnhofshalle. Eine Durchsage geht kläglich in der lebhaften Atmosphäre des Bahnhofs unter, der schon trotz des frühen Morgens schon ziemlich voll ist. „Ich wäre dafür, dass wir an die Information gehen, vielleicht wissen die weiter, wann der nächste Zug geht“, schlage ich Helmut vor. „Das ist eine gute Idee.“


    So marschieren wir zwei von den Gleisen weg in eine Ladenzeile. Vorbei an einem Bäcker, einem Kiosk, einem Geschenkartikelladen und sogar einem Supermarkt laufen wir durch einen sehr langen Korridor, an dessen Ende sich, direkt neben dem großen Eingangstor, die Information befindet. Ich suche mir eine junge, hübsche Dame aus.


    „Guten Morgen.“ – „Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?“ – „Ähm... der nette Herr da und ich...“, ich zeige auf Helmut, „... wir hätten eigentlich den ICE nach Sonnstadt um halb sieben erwischen müssen. Allerdings hat unser Zug Verspätung gehabt. Könnten Sie mir vielleicht erzählen, wann der nächste ICE nach Sonnstadt geht?“ So viele Informationen auf einmal muss die Angestellte erst einmal verdauen. Ich kann mir, während sie auf ihrer Tastatur herumtippt, einen Blick auf das rot-weiße Emblem der Deutschen Bahn, das wegen dem starken Kontrast zum dunkelblauen Poloshirt auffällt, nicht verkneifen. Es wirkt so, als würde ich ihre Oberweite anstarren. Ich kann aus den Augenwinkeln heraus Helmut sehen, der unsere Tickets auf den Schalter legt.
    „Der nächste ICE wäre dann der um kurz vor acht.“ Erst jetzt wendet sich die Dame wieder zu mir und beäugt mürrisch meine Blicke. „Damit Sie mit diesem Zug fahren dürfen, muss ich Ihre Tickets umbuchen.“ Als Erklärung zeigt sie auf unsere Tickets. Wir hätten eine Zugbindung gebucht, was bedeuten würde, dass diese Tickets nun ungültig wären und wir mit ihnen in keinen anderen Zug steigen dürften. Da wir den Zug aber durch Fremdverschulden, wie sie es nennt, verpasst haben, hebt sie die Zugbindung der Tickets auf. Dankbar verabschieden wir uns von der jungen Dame. Dann schlagen wir wieder den Weg in Richtung Gleise ein.


    Zwischen all den Menschen, die sich hier bereits so früh am Morgen tummeln, fällt es mir gar nicht so leicht, Helmut zu folgen. Er verschwindet ständig hinter irgendwelchen anderen, mir völlig fremden Köpfen, dann wird er wieder von einem anderen Menschen fast komplett verdeckt, kurz: Ich muss höllisch aufpassen, wenn ich den Alten nicht verlieren möchte. An einer Anzeigetafel bleibt er stehen. „Erkennst du da irgendwas drauf? Ich habe meine Lesebrille nicht mit.“ – „Hm... So, wie ich das sehe, müssen wir bis drei vor acht auf unseren ICE warten. Der fährt dann auf Gleis zwölf ein.“ – „Und wo ist das Gleis?“ – „Suchen wir es! Noch haben wir Zeit.“
    Das Gedränge ist daran schuld, dass wir die meisten der blauen Tafeln mit den Gleisnummern nicht klar erkennen können. Der ständige Lärm in der Bahnhofshalle hindert uns außerdem daran, vernünftig miteinander zu kommunizieren. Doch schlussendlich finden wir den richtigen Bahnsteig und machen es uns auf einer der Bänke gemütlich.
    Mein Blick schweift nun über die Menschenmasse, die sich durch den Bahnhof quetscht und wie ein zäher Brei wirkt; hier und da bilden sich kleinere Trauben, da und dort kleinere Staus. Einige Tauben flattern von den Stromkabeln hinunter auf den Boden, wo irgendwelche gehetzten Männer in Anzug und Krawatte Krümel von ihren Brezeln verloren haben, die sie ganz nebenbei im Laufen kauen. Das geschäftige Treiben, das mich gerade eben noch ein bisschen gestört hat, wirkt plötzlich seltsam beruhigend auf mich.


    Nun beobachte ich die Gesichter der Menschen. Manche sind blond, andere braun- und die meisten schwarzhaarig, viele von ihnen haben eine Menge Haargel in die Frisur eingearbeitet. Ziemlich viele der Leute tragen Brillen, sie reichen von riesigen, pechschwarzen Hornbrillen bis hin zu zerbrechlich wirkenden Modellen ohne Rand; die Jüngeren tragen oft Piercings in Nase, Zunge oder Lippe, während die älteren Herrschaften sich auf Baskenmützen oder Schals beschränken. Manche Menschen sehen irgendwelchen anderen Menschen von irgendwelchen Werbeplakaten ähnlich. Andere ähneln ein wenig meinen Lehrern. Und ein Mann sieht meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.


    Mir klappt die Kinnlade runter. Es ist mein Vater. Schon wieder. Der lässt auch nicht locker. In diesem Moment der Erkenntnis fühlt es sich so an, als würde meine Seele plötzlich durch ein Loch aus mir heraus fallen, immer weiter hinunter in die Tiefe. Vor lauter Entsetzen und Schrecken sitze ich stocksteif da. Er darf mich nicht entdecken. „Ich bin mal schnell wo anders “, sage ich noch zu Helmut, dann sehe ich zu, dass ich so schnell wie möglich in der Menschenmasse untertauche. Ich kämpfe mich durch eine Flut aus Menschen, die mir entgegenschwappt. Im Gedränge fällt es mir schwer, durchzukommen. Ein flaues Gefühl von Zeitdruck durchfährt mich, erste Schweißtropfen kullern meine Stirn hinunter.
    Ich riskiere einen Blick hinter mich. Papa hat mich entdeckt und die Verfolgung aufgenommen. Verdammte Scheiße. Mir bleibt nichts Anderes als die verzweifelte Flucht nach vorne. Wie eine Fräse schiebe ich mich durch einen immensen Strom von Leuten, der eilig und fast im Gleichschritt in Richtung der Gleise fließt. Dass es so früh am Morgen schon so voll sein muss! Vorbei an einem Snackstand, einem Zeitschriftenladen, noch einem Imbiss, immer weiter kämpfe ich mich vor. Doch allmählich verlassen mich meine Kräfte. Immerhin bin ich schon seit geraumer Zeit wach, mit nur einem Kaffee zwischendurch.
    Aber die Angst vor meinem Erziehungsberechtigten siegt, ich lege noch einen Zahn zu. Gehetzt blicke ich um mich, auf der Suche nach Auswegen. Da, eine Drogerie! Ein Seitensprung, und ich bin im Laden verschwunden. Außer Atem versuche ich, durch viele Haken meinen Vater in dem Labyrinth aus Ladenregalen abzuschütteln. Ich höre ihn hinter mir schnauben. Verflixt und zugenäht!
    Panisch reiße ich den Kopf nach links und nach rechts, um irgendetwas zu finden, mit dem ich den Verrückten in meinem Nacken klein kriege. Duschgel, Shampoo, Flüssigwaschmittel, Waschpulver... nichts eignet sich dazu, mir irgendwie Zeit zu verschaffen. So ein Mist, ein verdammter!


    Die Lage wird immer aussichtsloser. Zum Einen steigt hier im Laden die Chance, dass ich erwischt werde. Zum Anderen geht mir langsam die Puste aus. Der Atem brennt im Hals, mehrmals muss ich sauer aufstoßen. Fast schon will ich aufgeben und mich der blinden Wut meines Vaters überlassen, doch im letzten Moment reiße ich aus Versehen mehrere dutzend Flaschen Rasierwasser aus einem Regal, die klirrend auf dem Boden zerspringen. Prompt tritt mein Vater mit voller Wucht hinein und fängt an, zu brüllen, lauter noch als bisher.
    Genau diesen Moment habe ich gebraucht! So schnell es geht, renne ich wieder aus dem Laden und tauche in der Masse unter. Das laute und sehr derbe Fluchen aus dem Laden wird immer mehr von dem Stimmengewirr im Bahnhof übertönt. Ich schleppe mich wieder zurück zu Helmut, der immer noch seelenruhig an Gleis zwölf sitzt und wartet. Außer Atem lasse ich mich auf den Metallsitz fallen.
    „Warum schnaufst du denn so?“ - „Ich... bin... bisschen... gerannt, weil... wegen... boah!“ Weiter geht nicht, dazu fehlt mir die Puste. Und so sitzen wir zwei nun da, die Ruhe in Person und die schiere Gier nach Luft. Allerdings sitzen wir nur ein paar Minuten so da, denn dann endlich trifft der ICE ein. Ein beinahe schon majestätischer Koloss, der strahlend weiß vor uns steht, seine schwarz getönten Fenster wie eine coole Sonnenbrille und das rote Band, das sich quer über seinen wohlgeformten Körper zieht, zur Schau stellt und schnaubend auf die Fahrgäste wartet.
    Na dann – ab nach Kassel!

  • So kommen wir zu meinem zweiten Kommi. Dieses betrifft Kapitel 4.I.


    Wie immer hat der Titel des vierten Kapitels wieder etwas Geheimnisvolles. Auch das Englische finde ich in der Geschichte sehr passend, weiß eigentlich nicht warum, aber vielleicht hast du auch so überlegt: (Jan geht vom kleinen Dorf auf dem Land in die Stadt, dort ist alles neu und vielleicht gerade deshalb das Englische, weil das auch etwas neues ist) Ich hoffe du hast wenig verstanden, was ich genau damit meine.


    Das Kapitel geht sehr düster an, doch die Beschreibungen gefallen mir sehr gut. Also ich persönlich, wäre nach einundzwanzig Stunden schon lange eingeschlafen und das noch besser in einem Bus mit Heizung und wo man es sich gemütlich macht. Dass Jan nochmal alles überdenkt, sieht man, dass ihm seine Eltern und auch das kleine Dorf etwas bedeutet auch nur ein wenig, doch er denkt an alles.
    Als er später auch noch weint, habe ich das Gefühl, dass es ihm persönlich zuviel ist, er weiß nicht ob er das Richtige tut oder nicht, er sitzt sozusagen in einem Irrgarten voller Fragen, wo er aber keine Antwort zurückbekommt, ob es richtig ist.
    Jetzt kommt die richtige Abreise mit dem Zug. Er lächelt und sagt in seinen Gedanken tschüss Heimat, doch ich habe noch immer das Gefühl, dass es ihn im Moment sehr schmerzt, seine Eltern, Freunde und Heimat hinter sich zu lassen. Die Beschreibungen der Gegenden sind einfach herrlich schön. Auch muss ich sagen, dass deine Einfälle der Städtenamen, Dorfnamen und alles andere, genau in deine Geschichte passt.


    Nur der Name „Nadelfels Burg“ ist etwas langweilig geraten. Jan finde ich einfach wunderbar, weil er sich die Gegend genau ansieht, er interessiert sich für alles. Die Situation mit dem Kaffee ist lustig, mir passiert sowas auch immer wieder.


    Jetzt kommt ein älterer Mann in der Geschichte vor. Mal abwarten was da noch genau passiert. Dass der Mann aus Sonnstadt kommt, sieht man, dass auch Leute in der Stadt nicht zufrieden mit ihrem Leben sind. Sie wollen einfach mal in die Natur raus und frische Luft schnappen.


    Oh ja jetzt kommt mal wieder Spannung auf, der Vater hat Jans verschwinden bemerkt, das kann ja heiter werden. Die Situation, dass der Zug verspätet abfährt wegen irgendetwas kenne ich auch sehr gut in meinem Leben. Oh Gott, was macht jetzt der Vater da. Spannung pur. Was wird passieren? Muss Jan doch noch seine Reise abbrechen, bevor es eigentlich richtig losgeht? Solche Fragen stelle ich mir gerade im Kopf vor.



    Ich hoffe ich konnte dir damit etwas helfen auch wenn es nicht soviele negative Sachen enthält. Ich finde bis jetzt deine Geschichte sehr spannend und interessant, weil es viele Sachen sind, was ich oder auch andere in ihrem realen Leben machen. Also die Geschichte spielt fast auf einer realen Weise.€

  • Kapitel 5 - Lost
    I - Final Destination

    Ein Zug rauscht durch die Lande. Die Schienen sind kerzengerade, das Land ist eben. Mit mehreren hundert Kilometern pro Stunde ist der weiß-rote Zug unterwegs. Es ist windstill, nirgends weht ein Lüftchen. Nirgendwo in der Landschaft ist ein Anzeichen von Leben zu sehen, keine Straße, kein Haus, keine Hecke, kein Baum... nicht mal ein Vogel zieht am Himmel seine Kreise. Es gibt nur dieselben, geraden Schienen und denselben weiß-roten Zug, der immer noch sehr schnell über die Schienen fegt. Endlos ziehen sich die zwei Gleise parallel durch die Landschaft. Das Gras neben ihnen ist akkurat geschnitten, jeder einzelne Grashalm ist gleich lang. Es gibt keinen einzigen, der hervorsteht. Das einzige, was sich bewegt, ist der Zug. Immer noch rauscht er durch die trostlose Landschaft. Scheinbar wird er dabei immer schneller. Immer weiter kämpft er sich durch das komplett flache Terrain. Und dann fährt er geradewegs in ein tiefes, schwarzes Loch hinein.


    Ich reiße panisch die Augen auf. Nach ein paar Momenten der Benommenheit bemerke ich, dass ich mich immer noch im ICE befinde und nur geträumt hatte. Beruhigend, dass ich nicht wirklich in ein Loch falle. Ich hatte der Länge nach auf zwei Sitzen gelegen, nun richte ich mich wieder auf und gähne. „Ah, Jan! Auch wieder wach?“ – „Scheint so. Wo sind wir denn gerade?“ Helmut grinst mich erwartungsvoll an. „Guck mal aus dem Fenster!“
    Das Meer! Wir fahren an einer Küste entlang! Unwillkürlich bildet sich ein breites Grinsen auf meinem Gesicht. „Das ist ja... die Nordsee! Wirklich und wahrhaftig!“ Ich klebe an der Fensterscheibe. „Ja, das ist die Nordsee. Wir sind auch demnächst da, du hast fast die ganze Zugfahrt lang geschlafen“, erklärt Helmut. Ich platze vor Aufregung und genieße den Ausblick auf die See. Sanft kräuseln sich die Wellen im Wind. Langgezogene Strände und Deiche wechseln sich ab und zeichnen ein traumhaftes Bild zusammen mit dem blauen Wasser. Hier lässt es sich aushalten! Dieser Ort ist das Paradies! Ein paar Möwen fliegen durch die Lüfte, denen ich verträumt nachschaue, als mich, wie schon so oft auf meiner Reise, eine Durchsage aus den Gedanken reißt. Laut ihr würde der Zug in einer Viertelstunde im Südbahnhof von Sonnstadt halten.


    Endlich! Das erste Mal werde ich Sonnstadt in Farbe und bunt sehen. Vor Aufregung kann ich mich kaum auf meinem Platz halten, ich muss mir ziemlich auf die Lippe beißen, um nicht einfach aufzuspringen. All die Bilder und Videos, die ich mir über die Stadt angesehen habe, all die Tagträume, in denen ich versunken bin – das alles ist nichtig im Gegensatz hierzu! Und dann endlich gelangen wir in das erste Vorstadtviertel.
    Die Gleise schlagen eine Schneise durch das Stadtviertel Ulmenwald, links und rechts des Bahndamms reihen sich Einfamilienhäuser auf, deren Gärten sich nur durch Hecken getrennt an die Bahnlinie schmiegen. Einige Kastanienbäume säumen die Vorstadtstraßen, die um diese Zeit noch still sind. Am fernen Horizont steigt die Sonne immer höher über Sonnstadt, und langsam verstehe ich auch, weshalb die Stadt so heißt: Der Anblick des gleißenden Lichts, das golden über die Stadtviertel fällt, die Wärme, die es ausstrahlt... ist das nicht alles ein Sinnbild für diese Großstadt? Der strahlende Stern des Nordens ist sie, ich bin die Motte und sie ist das Licht.
    Noch wirkt die Stadt unbewohnt, nur ein Mal sehe ich einen Mann in einem grauen Anzug mit einem schwarzen Aktenkoffer in der Hand aus seinem Haus gehen, er steigt in seinen silbernen Mercedes und fährt damit wohl zur Arbeit.


    Über eine rote Stahlbrücke hinüber fährt der Zug, während unten eine achtspurige Straße darauf wartet, den Pendelverkehr des heutigen Tages aufzunehmen. Nur vereinzelt sausen Autos über die Straße. Sie wird gesäumt von Hochhäusern. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich sie in echt vor mir. Die Gebäude sind größer, als ich es aus dem Fernsehen oder von Bildern her kenne. Ich möchte garantiert nicht der arme Bauarbeiter sein, der ganz oben bauen muss.
    Immer weiter auf dem erhöhten Bahndamm kämpft sich der ICE durch die Stadt. Schließlich hält er im Südbahnhof. Und erneut versetzt mich die Stadt in Staunen. Ich bin es gewohnt, dass ein Bahnhof vier Gleise hat. Dann ist es ein großer Bahnhof. Zwar hatte ich bereits den Bahnhof von Klingenheide gesehen, doch erst jetzt wird mir bewusst, wie es aussieht, wenn sich zwanzig Gleise nebeneinander zwischen die Bahnsteige einreihen. Verschiedene Regionalexpresse und S-Bahnen stehen auf den Gleisen. Plötzlich braust direkt neben meinem Fenster ein Güterzug vorbei. Er braucht eine Minute, bis er vorbeigefahren ist.
    Der Halt im Bahnhof dauert fünf Minuten. Nun setzt sich der ICE erneut in Bewegung und steuert das Ziel an, das Grande Finale: den Hauptbahnhof!


    Gemächlich fährt der Zug durch die Stadt. Eine beeindruckende Skyline bietet sich meinen Augen an, die sich an den vielen hohen Gebäuden sattsehen. Ich komme gar nicht mehr recht damit hinterher, jede Kleinigkeit zu registrieren; ich verfalle in einen Zustand vollkommener Glückseligkeit, während ich die Stadt als Ganzes auf mich wirken lassen. Hier lässt es sich aushalten.
    Der Zug wird langsamer, die Bremsen quietschen und obwohl viele Leute das Gesicht deswegen verziehen, klingt es wie Musik in meinen Ohren. Denn es bedeutet, dass meine Anfahrt zu Ende ist. Ich habe es geschafft. Ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft!! Jan Petersen, der Junge aus dem kleinen Dorf, hat es geschafft!


    Ein kleiner Ruck, dann lässt das Quietschen der Bremsen nach. Tschuff! Dann geht der Motor des ICEs aus. Es öffnen sich die Türen. Alle packen hektisch ihr Gepäck zusammen, auch Helmut und ich tun das. Darauf drängen die Leute durch den Mittelgang hinaus zum Ausgang. Mein Herz pocht wie wild, ich befürchte, dass es die Leute um mich herum auch hören können. Es fühlt sich so an, als würde ich schweben. Doch gleichzeitig werden meine Knie weich.
    So aufgeregt war ich in meinem ganzen Leben noch nie. Mit jedem Schritt, den ich in Richtung Tür mache, werde ich noch ein bisschen nervöser. Ich bin bis zum Zerreißen gespannt.


    Uaah! Die Treppe zum Bahnsteig ist direkt vor mir! Zitternd bleibe ich stehen, halte mich mit meinen feuchten und kalten Händen am Geländer fest und stelle das Gepäck auf den Boden. Ich... kann nicht weitergehen! Ich bin wie am Boden festgeklebt! Hinter mir wird man ungeduldig. Auch Helmut schubst mich mehrere Male leicht an, damit ich vom Fleck komme. Doch je mehr er das versucht, desto fester klammere ich mich am Geländer fest.
    „Junge, mach' hinne! Ich hab' 'nen wichtigen Termin!“, schreit ein Mann hinter mir. Ich probiere wie verrückt, das Bein zu heben, aber ich kann es selbst nicht fassen, dass ich nicht mal mehr das hinbekomme.
    „Na, wird’s bald!?“ – Also noch ein Versuch. Gehst du jetzt endlich!
    „Los jetzt!“ – Noch mehr Kraftanstrengung. Ich will doch unbedingt auch raus!
    „Wenn du jetzt nicht sofort rausgehst, dann...!“ – Aargh, warum ausgerechnet jetzt?!?
    „...dann... dann...“ – Oh Mann, noch nicht mal ausgestiegen, und schon blamiere ich mich wieder bis auf die Knochen...
    „Sag mal, bist du da vorn festgeklebt oder was?!?“ – Ja, anscheinend... Hilfe!
    „Aaaaaaaaaaah!“ – Normalerweise bekomme ich immer einen hoch, aber dieses Mal streikt mein rechter Fuß so dermaßen, dass es echt nicht mehr lustig ist.


    Im nächsten Moment sehe ich mich aus dem ICE auf den Bahnsteig fliegen. Der brüllende Mann hinter mir hat sich nach vorne gedrängelt und mich mit einer gewaltigen Kraft aus dem Zug geschubst, sodass ich nun mit dem Gesicht im Dreck liege. Dann poltert auch noch das Gepäck auf mich.
    Zufrieden grinsend läuft der fremde Mann weg. 'So ein Arschloch!', hätte ich beinahe geschrien, aber dann behalte ich es doch für mich.
    Helmut hilft mir wieder auf. „Was war denn das gerade eben für ein Auftritt?“ – „Ich weiß nicht, ich bin einfach nicht mehr vom Fleck gekommen...“ Ich klopfe mir den Schmutz von den Klamotten und rücke sie wieder zurecht. Ich schmatze zwei Mal. „Äh... Hast du vielleicht etwas gegen den ekligen Geschmack im Mund?“ – „Ich fürchte nicht, tut mir leid.“ Trotz der Verneinung nicke ich.


    So, nun bin ich also tatsächlich in Sonnstadt. Dank dem Sturz kenne ich die Stadt sozusagen schon aus nächster Nähe, allerdings bin ich auch etwas ernüchtert, die Nevosität ist weg. Ich blicke mich um. Ich stehe auf einem Bahnsteig, dessen Boden mit Wellenbackstein gepflastert ist. Er liegt mitten in der gigantischen Bahnhofshalle, deren Kuppeldach meterhoch über den Köpfen hängt, die eilig durch den Bahnhof marschieren. Der Bahnhof von Klingenheide hat mich ja schon beeindruckt, aber das hier setzt dem Ganzen die Krone auf. Der Bahnsteig allein ist schon mehrere hundert Meter lang, sodass Helmut und ich ein paar Minuten brauchen, bis wir in das Atrium des Bahnhofs gelangen.
    Ich achte ungewöhnlich genau darauf, wo ich hinlaufe. Immerhin wollen meine ersten Schritte in der Großstadt wohlgesetzt sein. Vorbei an vielen Metallbänken, Fahrplantafeln und Mülleimern führt uns der Weg, gelegentlich blicke ich auf einen Wegweiser, um sicherzugehen, dass Helmut mich nicht in die Irre führt. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich jetzt da bin. Es ist ein irres Gefühl, wie im Rausch. Ich bin da, das ist der helle Wahnsinn!


    An einem Infostand irgendwo in der Haupthalle des Bahnhofes macht Helmut Halt. Er dreht sich zu mir um. „Na, gefällt es dir hier?“ Ich nicke breit grinsend. „Schön. Weißt du auch, wo du hin musst?“ – „Mmh, ich habe eine Jugendherberge im Internet gesucht und gefunden, die ist irgendwo in einem Stadtteil namens Fichterheide.“ – „Na, du bist lustig!“ – „Was denn?“ – „Fichterheide ist das Tourismus-Zentrum. Weißt du, wie viele Jugendherbergen und Hotels es da gibt?“ Helmut lacht ein wenig heiser. Ich finde es zwar nicht nett von ihm, dass er sich über mich mokiert, aber scheinbar war meine Aussage so vage, dass man damit rein gar nichts anfangen kann.
    „Äh... ich habe mir aufgeschrieben, welche Herberge es genau ist.“ Eilig hole ich meinen Geldbeutel aus den Tiefen meiner Hosentasche heraus und suche ihn ihm den Zettel mit der Buchführung. „Ah, hier steht es. 'Jugendherberge Schmitz', Van-Weberle-Straße 17, Fichterheide.“ – „Hm, das ist nicht wirklich die beste Adresse.“ – „Wieso nicht?“


    „Bevor meine Tochter nach Rom gegangen ist, um dort eine Privatdetektei aufzumachen, hat sie in Fichterheide auf der Polizeiwache gearbeitet. Sie hat mir so oft davon erzählt, wie viele Verbrechen es in dieser Gegend gibt. Ist ja auch klar – wo viele Touris sind, sind die Taschendiebe nicht weit! Aber die Van-Weberle-Straße ist sowas wie eine Ausnahme.“ – „Soll das heißen, es gibt dort keine Verbrechen?“ – „Genau im Gegenteil, dort sind sie am schlimmsten. Es ist eine heruntergekommene Straße, die Häuser dort sind allesamt baufällig und die Familien, die dort leben, sind bettelarm. Meine Tochter hat mir so oft von grausamen Vergehen in dieser Straße berichtet... Die Straße hat einige Spitznamen, angefangen mit 'Prügelviertel' und 'Handtasche-weg-Straße'.“
    Einen Moment lang schauen wir beide uns in die Augen, in dem ich beinahe über die albernen Namen lachen muss. „Na ja, aber wenn du unbedingt nach Sonnstadt wolltest, dann musst du das eben in Kauf nehmen.“ Verblüffend, wie sehr Helmut mich meine fluchtartige Reise bereuen lassen will. Warum auch immer.


    „Wie komme ich denn überhaupt zur Jugendherberge?“, frage ich. „Das weiß ich nicht auswendig, tut mir leid. Da drüben hängt aber ein Stadtplan.“ Helmut zeigt auf eine Karte, die in einer großen, gelben Tafel mittig in der Halle steht. Wir gehen darauf zu.
    Die Karte ist in insgesamt 21 Teile aufgetrennt, so ein Zufall. Jeder Stadtteil belegt eine eigene Karte, die zusammengesetzt einen großen Übersichtsplan über Sonnstadt geben. Ziemlich im Süden der Stadt liegt Fichterheide.
    „Schau, hier. Ich hab' es. Du nimmst jetzt vom Hauptbahnhof hier die U1 bis zur Endhaltestelle Universität. Dort steigst du in die U4 um und nimmst sie bis zur Haltestelle Fichtendamm. Danach kannst du dich ja durchfragen. Alles klar?“ – „Ja, das kann man sich merken.“ – „Eine Frage noch. Warum bist du eigentlich nicht schon am Südbahnhof ausgestiegen? Von da aus wärst du direkt mit der U4 zur Herberge gekommen.“
    Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Verlegen schiele ich Helmut an und grinse dabei. Er lacht wieder. „Na, dann wünsche ich dir viel Spaß hier in Sonnstadt. Mal gucken, ob du nachher immer noch so über die Stadt denkst, als du es jetzt tust.“ – „Wohin...?“ Helmut fällt mir ins Wort. „Heim. Ich wohne in Grafenfeld, das ist eine andere Richtung. Du fährst in den Süden, ich in den Westen. Mit zur U-Bahn-Haltestelle kann ich aber noch, weil ich noch mit der U3 weiterfahren muss.“


    „Schade...“ – „Ja. Aber wir können in Kontakt bleiben. Du hast doch ein Handy, da kannst du ohne Weiteres meine Nummer einspeichern, oder nicht?“ Ich nicke. „Dann schreib sie dir auf!“ Helmut diktiert mir seine Nummer, während ich sie eintippe. Dann speichere ich ab und wir machen uns auf den Weg zur U-Bahn.
    Ein Wegweiser, der mitten in der Halle steht, leitet uns durch die große Bahnhalle, durch eine Ladenzeile und an den Toiletten vorbei. Nun müssen wir noch eine Rolltreppe nehmen, die uns langsam unter die Erde befördert. Während sich die Stufen langsam in Richtung Erdkern bewegen, fällt mir auf, dass ich eigentlich das erste Mal in meinem Leben wirklich mit der U-Bahn unterwegs bin. Vom Bahnsteig unten zieht ein leicht modriger Luftzug hinauf, danach quietscht es laut. Es klackt, dann hört man großes Getrappel. Nach ein paar Sekunden klackt es wieder, man hört einen Motor starten und es ist wieder leise.


    Die mysteriösen Geräusche dort unten machen mich neugierig. Während alle anderen auf der Rolltreppe gelangweilt geradeausschauen, blicke ich in alle Richtungen. An den Wänden kleben Werbeplakate. „Universität Sonnstadt. Weil das Studium der Schlüssel zum Erfolg ist.“ steht auf einem, auf dem eine grinsende Studentin den Betrachter scheinbar mit den Augen verfolgt, während er schräg nach unten daran vorbeifährt. Auf dem nächsten werden Billigflüge nach überallhin angeboten, auf dem folgenden erfahre ich, dass der nächste McDonald's keine 500 Meter von hier weg ist.


    Die Rolltreppe setzt unten auf. Jetzt stehen wir auf einem Bahnsteig, der von zwei Gleisen umgeben ist. Jenseits der Gleisschluchten finden sich noch einmal weitere Bahnsteige, die allesamt per Rolltreppe mit der Bahnhofshaupthalle verbunden sind. Der weiß-grau gekachelte Marmorboden erweckt einen leicht sterilen Eindruck, was durch die türkis gefliesten Wände noch ein wenig verstärkt wird. Es ist kühl.


    „Wann geht deine U-Bahn?“, fragt Helmut mich. „Keinen Plan. Ich bin hier das erste Mal, woher soll ich wissen, wann die Bahn geht?“ Der Alte zeigt auf eine elektronische Anzeige. Dort steht, dass die U1 in Richtung Universität in drei Minuten auf Gleis vier abfährt. Helmuts Zug geht in ebenfalls drei Minuten vom Gleis direkt gegenüber. „Wenn du magst, kannst du mich gerne mal besuchen kommen“, bietet er an. „Ja, sehr gerne! Ich ruf' dich einfach mal später an, wenn ich ein bisschen Ruhe bekommen hab'. Die Zugfahrt war ja lang genug.“ Helmut nickt. Die letzten drei Minuten stehen wir nun also da auf dem Bahnsteig. Ich bin immernoch wie berauscht von der U-Bahn. Genauso habe ich mir die Zivilisation vorgestellt. Unterirdisch!


    Dann fahren die Züge ein. Zeitgleich. Das Herz in meiner Brust pocht, immerhin war ich noch nie wirklich in einem solchen Zug gesessen. Helmut und ich schütteln uns die Hände, dann trennen wir uns und steigen genau gegenüber in die Züge ein. Genau gleichzeitig fahren sie an. Ich kann Helmut noch durch das Fenster erkennen. Er sieht mich an. Dann fährt die U-Bahn in den Tunnelschacht.

  • Frohes Neues! Phu das war vielleicht jetzt ne lange Zeit die ich zum Lesen gebraucht habe.
    Sorry das ich jetzt erst wieder was schreibe, ich in so gut wie nie im BB on und hab mich eher bei Youtube und Facebook rumgetrieben, weil ich angefangen hab mich mit Let's Plays auseinanderzusetzten. Aber als ich dann die Benachrichtigung gesehen hab, wollte ich einfach mal wieder was schreiben, weil deine Geschichte ja ganz gut ist.


    Sou kommen wir mal zu Kapitel 4 insgesamt, ich werd das Kapitel jetzt nicht soo genau unter die Lupe nehmen. Ich hoffe du nimmst mir das nicht übel :)
    Also das Kapitel ist ja na ja wie eine Zugfahrt eben. Es passiert nichts spannendes, aber trozdem hast du es so gut verpackt das es Spaß gemacht hat zu lesen. Die Beschreibungen im Reiseführer haben mir gefallen, sie wirkten so als hättest du sie irgendwo abgeschrieben. Jan gibt natürlich seinen gedanklichen Senf dazu, wer tut das nicht. Die Momente wo der Vater dann kam fand ich ganz schön interessant. Du hast wirklich alles super beschrieben und Helmut scheint ja nichts aus der Ruhe zu bringen. Typisch alte Leute ;D
    Die Umgebung hast du auch schön beschrieben und Rechtschreibfehler hab ich so jetzt keine gefunden. Zu den Titeln kann ich nur sagen das sie passen, ich wüsste jetzt auch nicht was ich groß dazu sagen sollte.


    Kapitel 5
    Der Titel lässt wohl schon was auf den weiteren Verlauf vermuten. Ich denk mal da das Kapi "Lost" heißt, wird sich Jan wohl verlaufen oder in irgendeiner Weise verloren gehen. Der Untertitel(sagt man das so?) spricht eigentlich schon alles aus. Jan und Helmut werden in Sonnstadt ankommen, wenn auch mit den ein oder anderen Zwischenfällen(wobei die ja schon in Kapi 4 waren). Jan packt die Angst, was nicht unbedingt zu seinem Vorteil wird, denn er küsst ja danach den Boden. Diese Stelle fand ich irgendwie lustig, musste ein bissl Grinsen. Aber da war eine Stelle die war doch etwas naja..
    "„Aaaaaaaaaaah!“ – Normalerweise bekomme ich immer einen hoch, aber dieses Mal streikt mein rechter Fuß so dermaßen, dass es echt nicht mehr lustig ist."
    Das was ich meine hab ich einfach mal makiert. Na ja ich bin wohl in dem Alter da denkt man schnell an etwas anderes *hust*, aber ich würde trotzdem die Stelle umschreiben, weil jaa... Ich denke du weißt was ich meine. ^^
    Aber es lässt sich alles sehr schön lesen, Text ist gut gegliedert und ich hab keine Rechtschreibfehler gefunden(hab wohl kein Auge dafür, oder du bist so gut in Grammatik). Das Ende find ich wieder super, wenn ein neues Kapitel rauskommt werd ich es lesen, sobald ich es bemerke versteht sich.


    Sou ich hoff mal du hast dich über mein kleines Kommi gefreut.
    Mfg yozakura

  • Ein Kommentar!!! =DD Da fängt das Jahr gleich super an :>
    Danke für den Post =))


    Also, zu der markierten Stelle: Ich hab das ganz bewusst so doppeldeutig geschrieben, Jan ist ja auch etwa in meinem Alter^^ Ich finde ja eigentlich, dass man die Stelle so lassen kann... Aber gut, wenn ich sie ändern soll, dann werde ich das anders formulieren^^


    Wie schön, dass du "Landei" so interessiert liest. Das spornt echt an^^ Übrigens wird schon in den nächsten paar Tagen das nächste Kapitel kommen, 5.2 steckt gerade in der Endphase und ich sage nur so viel: Es wird vielen neuen Stoff zum Lesen geben :D


    Dir auch alles Gute im neuen Jahr! :)



    MfG,
    ~Stiefel


  • II - Chasing pavements


    Eigentlich hatte ich mir das Fahren mit der U-Bahn irgendwie spannender vorgestellt. Zwar rast der Zug wie von einer Tarantel gestochen durch die Schächte, aber... In Wahrheit ist es sterbenslangweilig, die schwarzen Wände an sich vorbeiziehen zu sehen. Aber die Haltestellen sind sehr hübsch.


    Die nächste ist der Rathausplatz. Im Gegensatz zur kühlen Atmosphäre am Hauptbahnhof, strahlt diese ein sehr warmes Ambiente aus. Die Wände sind burgunderrot verputzt, der Boden auf den Bahnsteigen besteht aus orangen und gelben Fliesen, die ein Schachbrettmuster ergeben. Die U-Bahn hält abrupt, die Türen gehen auf, Menschen marschieren ein und aus, dann gehen die Türen wieder zu. Nach nicht einmal zwei Minuten geht es weiter. Bei einem solchen Tempo bleibt mir kaum Zeit, die schönen Farbkompositionen oder die Architektur der Haltestelle wirklich zu erfassen, denn wenn ich mich nicht geirrt habe, so hatte die Haltestelle ein Kuppeldach aus Glas, durch das Sonnenlicht hereinschien.


    Aber der Zug ist schon wieder im Tunnel. Plötzlich rumpelt es heftig, doch scheinbar stört das niemanden der Insassen. Hin und her wird der Waggon geschüttelt und ich merke, dass es bergauf geht. Die Zugräder quietschen auf den Gleisen, und mit einem Geräusch, das einem 'Schwusch' ähnelt, rauscht die Bahn aus dem Tunnel heraus. Wir sind an der Oberfläche!
    Auf Hochbahngleisen geht es nun weiter und nach kurzer Zeit gelangt die U-Bahn zur Haltestelle Volksplatz. Sie ähnelt einem normalen Bahnsteig, die Überdachung des Wartebereichs besteht aus einer blauen Metallkonstruktion, in die Scheiben eingelassen sind.
    Erneut fährt der Zug an. Dieses Mal bewegen wir uns deutlich langsamer fort, als es noch im Tunnel der Fall war. Die nächste Haltestelle, die auf der Anzeigetafel eingeblendet wird, trägt den Namen Universität. Ich muss aussteigen! Nach etwa fünf Minuten, in denen ich an zahlreichen Wohnhochhäusern und großen Alleen vorbeikomme, ist meine erste Fahrt mit der U-Bahn vorüber.


    Der Bahnsteig ist recht leer. Im Hintergrund ragt ein Gebäude empor, auf dessen Dach in goldenen Großbuchstaben der Schriftzug „Universität“ prangert. Ich vermisse hier einige Studenten, die eilig in ihre Seminare gehen oder lässig zur Cafeteria schlendern, oder umgekehrt. Im Grunde genommen stehe ich hier aber um etwa viertel nach elf mutterseelenallein auf dem Bahnsteig.
    Eine Anzeigetafel enthüllt, dass ich noch zehn Minuten Zeit hätte, bis die nächste U-Bahn der Linie vier eintreffen würde. Mir fällt auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise ein Werbeplakat für einen Handytarif auf. Und just in diesem Moment fällt mir ein, dass ich Simon Kreutzer, meinen Kumpel, davon in Kenntnis setzen wollte, wenn ich da bin. Ein kurzer Griff in die Hosentasche und einige wenige Tastendrücke auf dem Handy, schon wählt es seine Nummer.


    „Kreutzer?“ – „Hey, Simon! Ich bin's, Jan!“ – „Hi. Bist du schon in Sonnstadt?“ – „Ja, seit etwa 'ner Viertelstunde bin ich da.“ – „Und, wie geht’s dir nach so 'ner langen Zugfahrt?“ – „Och ja. Ich hab' einen Großteil der Zugfahrt im ICE verpennt. Es war eine ziemliche Tortur!“ In diesem Moment taucht – scheinbar aus dem Nichts – ein Straßenmusikant auf, der mit seinem Akkordeon einen schnellen französischen Musette-Walzer spielt.
    „Wieso denn Tortur?“ – „Na ja, ich musste von Klingenheide nach Sonnstadt mit dem ICE, aber der Zug nach Klingenheide hatte 'ne Stunde Verspätung... und beinahe hätte mich mein Vater erwischt. Der muss mir dann irgendwie...“ – „Dein Vater?“, fällt Simon mir ins Wort. Er schreit so erstaunt, dass sich seine Stimme überschlägt, worauf er sich ein wenig verschämt räuspert. „Dein Vater hat dich gefunden?“ – „Ja, aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie der mir auf die Schliche gekommen ist...“ – „Da muss ich dir was beichten.“ Ich ziehe erstaunt die Augenbrauen hoch. In diesem Moment bemerke ich aus den Augenwinkeln ein Gesicht. Ich fahre herum und schreie, als ich den Akkordeonspieler bis auf wenig Zentimeter an mein Gesicht herangerückt erkennen kann. Er grinst mich an und gibt damit seine gelb-schwarzen und teilweise ausgefallenen Zähne preis. Zu allem Überfluss müffelt er; sein schlohweißer Rauschebart, seine zerfledderten Klamotten und das schäbige Schiffersklavier, auf dem er ohne mit der Wimper zu zucken spielt, geben ihm einen sehr klischeehaften Eindruck eines Bettlers.


    „Jan? Was war denn? Und was ist das für Musik?“ – „Ääh... das ist... jetzt geh'n Sie doch mal weg, ich telefoniere!“ – „Mit wem redest du denn da?“ – „Och, nichts... das ist nur... warte mal kurz.“
    Ich blicke den Musikanten verärgert an. Doch er weicht keinen Millimeter vom Fleck. „Ich weiß ganz genau, dass Sie von mir Geld wollen, aber Sie werden nix kriegen, wenn Sie jetzt nicht augenblicklich von hier verschwinden und mein teures Telefonat nicht weiter stören!“, sage ich dem Straßenmusikanten langsam und bestimmt, aber auch ein wenig ungehalten ins Gesicht, während ich dabei die untere Hälfte meines Handys mit den Händen verdecke. Doch der Akkordeonspieler grinst nur frech und spielt noch ein wenig lauter.
    „Jan? Hallo? Bist du noch dran?“ – „Mm-hmm, aber ich versuche hier gerade...“ Das Akkordeon quietscht unerträglich laut, woraufhin ich ans andere Ende des Bahnsteigs gehe. „Simon? Hörst du mich noch?“ – „Noch ist gut, jetzt verstehe ich dich endlich wieder!“ – „Dann ist ja gut.“ – „Wo waren wir stehen geblieben? Ich glaube, es ging um deinen Vater, oder?“ – „Weiß nicht, glaub' schon.“ – „Na ja, jedenfalls scheint er einfach mit dem Auto losgerast zu sein, anders kann ich es mir nicht erklären, dass er dich so weit verfolgt hat. Übrigens war deine Mutter heute Morgen bei mir.“


    „Ach du Schande. Was hat sie denn gesagt?“ – „Sie hat eigentlich mehr geweint... Sie hat mich gefragt, ob ich denn zufällig wisse, wo du wärst, sie war so in Tränen aufgelöst, weil du weg bist und dein Vater einfach so im blinden Zorn abgehauen ist...“ Ich muss schlucken. „Ich habe sie angelogen. Ich habe nicht verraten, dass du nach Sonnstadt bist“, erzählt Simon nüchtern und emotionslos. „Danke.“ – „Glaub' aber ja nicht, dass ich das gerne gemacht hab! So jämmerlich, wie deine Mutter vor mir gestanden hat, da war's nicht einfach, deine Flucht zu verheimlichen!“ Erneut muss ich schlucken, weil mein Hals vom einen Moment auf den anderen trocken geworden ist. „Das... glaub' ich dir auf's Wort...“ Eine Weile lang herrscht betretenes Schweigen. Dann räuspert sich Simon und sagt: „Na ja. Schwamm drüber, du kommst ja in einer Woche wieder.“ – „Ääh... Bezweifel' ich, glaub ich.“ – „Was!? Bist du blöde?“ – „Nein, aber ich habe genug Geld für mindestens drei Wochen.“ – „Na und?“ – „Ich lass' mich doch heute in einer Woche nicht bei meinen Eltern blicken! Das wäre Selbstmord.“ – „Aber in drei Wochen ist es dann keiner mehr?“ – „Mmh...“ – „Tja-ha, mein lieber Freund und Kupferstecher, es ist nicht leicht, abzuhauen, stimmt's? Ich an deiner Stelle würde nach einer Woche spätestens wieder heimkommen, sonst wird der Schaden zu groß!“ Ein drittes Mal schlucke ich. Er hat Recht, so ein Mist. „Ich überlege es mir noch. Und ich muss jetzt dann auch auflegen, weil die U-Bahn kommt.“ – „Ja ja... du mich auch!“ Simon legt auf.


    Oh, Shit. Jetzt sitze ich wirklich in der Tinte. Was habe ich meiner Mutter nur angetan? Und was stellt mein Vater mit mir an, wenn er auch wieder zurück kommt? Und musste ich jetzt so stur bleiben, dass Simon einen Zorn auf mich hat? Eins steht fest, so schnell kann ich hier nicht mehr weg, wenn ich einer Strafe halbwegs entgehen will. Nur hier bin ich sicher, solange mich mein Vater nicht erwischt. Der kommt, darauf kann man Gift nehmen. Irgendwann findet der mich, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. All diese Gedanken werden von ein und demselben Musette-Walzer unterlegt. Der Musiker ist mir gefolgt und grinst immer noch wie ein Honigkuchenpferd. Kochend vor Zorn gebe ich ihm zwei Euro, damit er endlich Ruhe gibt.
    Gedankenversunken steige ich in die U-Bahn. Nach den Haltestellen Bismarckplatz und Franz-Hawner-Straße fährt die U-Bahn wieder in den Tunnel. Es geht weiter über die Bürgermeister-Schuster-Straße, den Reihhofweg und die Berliner Straße, das Einkaufzentrum West und den Fontänenplatz, die Messe, die Hans-Booter-Straße, über die Züricher Straße und den Haagweg, darauf folgen die Bibliothek und das Klinikum Fichterheide, der Analienplatz, Schrebergärten, die Gisela-Holtz-Straße und schlussendlich der Fichteldamm.


    Die Haltestelle ist in pastellgrün gehalten, in das sich einige graue Elemente einschleichen. Der Boden ist schwarz gekachelt und glänzt. Mit dem Aufzug fahre ich wieder an die Oberfläche. Ich befinde mich nun in einer langen Einkaufspassage. Auf der linken Seite sind die Geschäfte und auf der rechten geht es zum Meer. Die Nordsee wogt leise vor sich hin, während ich den Damm entlangschlurfe. So wirklich begeistern tut mich das Meer nicht in diesem Moment, viel zu sehr plagen mich meine Gedanken und Sorgen. Mein Blick ist starr auf die grauen Betonplatten gerichtet, die den Boden mehr oder weniger zieren. Deswegen renne ich frontal in eine dicke Dame in einer weinroten Pelzjacke, die gerade ihre Einkäufe nach Hause trägt. Wir kippen beide um und entschuldigen uns gleichzeitig. Ich helfe ihr noch, die ganzen Waren, die verstreut auf dem Boden liegen, wieder in die Papiertüten zu legen, dann hat sich die Sache erledigt und sie geht.
    Ich habe eigentlich überhaupt keine Ahnung, wohin ich muss, deshalb stocke ich und sehe mich um. Zwar stehe ich in unmittelbarer Nähe zu einem H&M-Klamottengeschäft, einem McDonald's, drei Bankfilialen und einem Starbucks, aber all das hilft mir nicht weiter, weil es keinerlei Hinweise darauf gibt, wie ich denn in die Van-Weberle-Straße gelange.
    Eine Weile lang streife ich ziellos auf dem Fichteldamm herum. Mit meinen zwei Sporttaschen und dem Rucksack wirke ich wie jemand, der gerade von einem Hamsterkauf zurückkehrt. Aber irgendwann vergeht mir die Lust am Laufen, ich suche mir eine Bank und setze mich hin. Eigentlich wollte ich schon die ganze Zeit einen der Passanten nach dem Weg fragen, aber irgendetwas hindert mich jedes Mal daran, einen anzusprechen. Nach einiger Zeit setzt sich ein etwas älterer Herr, der einen Schäferhund an der Leine führt, direkt neben mich auf die Bank.
    Ich kann es nicht lassen, immer wieder nervös zu ihm aus den Augenwinkeln herüberzuschielen. Dabei schaue ich immer konzentriert aufs Meer hinaus, damit meine Blicke nicht unnötig auffallen. Trotzdem scheint mich der Mann bemerkt zu haben, denn urplötzlich fragt er mich, ob er mir helfen könne.


    So unerwartet angesprochen, zucke ich kurz zusammen, dann räuspere ich mich. „Äh... ja, eigentlich schon, ich... äh..., suche die... ähm... Van-Weberle-Straße.“ Der Mann lacht. „Das ist ganz einfach.“ Er weist mit der Hand nach links. „Du gehst so lange in diese Richtung, bis du an ein Geschäft namens 'Schuhe bei Möller' gelangst. Dort biegst du rechts in die Reitergasse ein, dann musst du die zweite wieder rechts nehmen. Diese Straße nimmst du, bis du an eine Kreuzung mit der Andreas-Berg-Straße gelangt. Da dann links und durch bis zum Ende der Straße, da kannst du links oder rechts abbiegen, das ist die Van-Weberle-Straße.“
    Aha. Ich bedanke mich höflich bei dem Mann und laufe wieder los. Aaaalso: Weiter bis zum Schuhgeschäft, Reitergasse, zweite rechts, dann links auf die Andreas-Berg-Straße und durch bis zum Ende. In Gedanken wiederhole ich die Wegbeschreibung immer wieder, während ich durch die Einkaufspassage schlendere. Was es hier alles gibt! Lauter Klamottengeschäfte, einen Burger King, eine Pizzeria, drei unterschiedliche Bankfilialen, einen Saturn, eine Dönerbude, einen Optiker, einen Gemüsehändler, noch ein paar Klamottenläden, zwei Reisebüros, eine Confiserie, einen Schmuckhändler, ein Schuhgeschäft, zwei...


    Schuhgeschäft! Ich renne zurück. „Schuhe bei Möller“ heißt der Laden. Ab in die Seitenstraße! Urplötzlich wird es dunkel. War der Fichteldamm noch hell, belebt und fröhlich, so türmen sich nun meterhohe Reihenhäuser bedrohlich beiderseits der engen Nebenstraße auf. Sogleich fröstele ich, obwohl es eigentlich Mittag ist – im Juli. Schmutz liegt überall auf dem Asphalt, hier und da stehen volle Mülltonnen auf den zerbrochenen Bürgersteigen. Es ist wirklich eine unangenehme, heruntergekommene Wohngegend hier, weshalb ich meinen Schritt auch etwas beschleunige.


    Ich komme an einigen zwielichtigen Kneipen vorbei, „Kalle's Kombüse“ heißt eine, eine andere trägt den Namen „Dammbruch“, wieder eine andere nennt sich „Bei Otto“. Ein Bagger und eine Absperrung stellen sich mir in den Weg, weshalb ich auf die andere Straßenseite wechsele. Ich habe bereits eine Abzweigung in eine Straße namens Schindelweg hinter mich gelassen, jetzt komme ich auf meiner Straßenseite an der Hohen Gasse vorbei. Okay, das war Abzweig Nummer eins. Also weiter!
    Auf der anderen Seite verzweigt sie sich zum zweiten Mal. Ich muss allerdings noch weiter laufen, also stapfe ich immer weiter. Eine scharfe Linkskurve folgt, dann wieder eine Gerade. Scheinbar nimmt die Gasse kein Ende, auf der anderen Straßenseite mündet zum dritten Mal eine andere Straße herein. Doch endlich bemerke ich in einiger Entfernung vor mir eine Straßenecke, auf die ich schnell zulaufe. Die Straße, in der ich mich jetzt befinde, ist etwas lichter bebaut. Sie wirkt um einiges sauberer und freundlicher, die Reihenhäuser auf beiden Seiten der Straße sind renoviert und sehen gepflegt aus. Laut Wegbeschreibung muss ich jetzt diese Straße bis zu einer Kreuzung mit der Andreas-Berg-Straße nehmen.
    Allerdings kann ich nach zwanzig Minuten und zweimaligem Ablaufen der gesamten Straße keine Kreuzung finden. Es zweigen immer nur andere Straßen ab. Ratlos lehne ich an einem Stoppschild, neben dem ein Wegweiser die Querstraße als „Zum Damm“ identifiziert. Soll ich noch mal zum Damm zurück? Dazu müsste ich wissen, in welche Richtung es zum Damm geht. Links oder rechts? Zu 50 Prozent liege ich richtig, zu 50 Prozent falsch. Nach einigem Hin und Her und langem Grübeln entscheide ich mich für den Weg nach rechts.
    Ich laufe die Straße entlang. Links zweigt eine Straße namens Heimweg ab. Nein, die nehme ich nicht. Erst die nächste, eine Straße namens Frohweg. Sie ist recht kurz, ich gelange schnell an eine erneute Querstraße – den Schmittweg. Wieder biege ich rechts ab. Langsam nervt es mich, aber ich stoße erneut nach kurzer Laufzeit an eine Querstraße. Wieder rechts? Oder gelange ich da erneut an eine solche Einmündung?
    Ich laufe nach links, vielleicht ist das besser. Aber – Pustekuchen! Schon wieder eine derartige T-Kreuzung stellt sich mir in den Weg. Ich biege nach rechts auf den Zehweg ab, dann rechts auf die Kuppstraße, es war erneut eine solche Einmündung, dann erbost an der sechsten T-Kreuzung in die Straße „Zum Damm“. War ich hier nicht schonmal? Der Straßenname kommt mir bekannt vor, die Umgebung aber nicht. Langsam bin ich verunsichert. Ich habe mich total verlaufen, ich finde hier vermutlich nie wieder raus! Hilfe!


    Auf der Suche nach einem Passanten renne ich mittlerweile durch die Straßen. Die siebte Einmündung führt mich auf die Birgit-Rendtz-Straße. Diese elenden Stadtplaner gehören hinter Gittern, ständig muss man sich entscheiden, ob man links oder rechts geht, und wie man es macht, macht man es falsch! 'Es ist doch zum Knochen kotzen!', brüllt es in meinem Kopf. Das ewige Herumgestolpere durch eine mir völlig unbekannte Stadt geht mir auf den Keks, zumal die zwei schweren Sporttaschen in meinen Händen die Sache nicht wirklich vereinfachen. Wieso habe ich mir eigentlich keinen Stadtplan gekauft? Oder bin umgekehrt? Ich oller Sturkopf, das Umkehren kann ich vergessen, ich kenne den Weg eh nicht mehr. Ich bin ein Dämlack sondergleichen! Mensch! Ich brauche einen Kaffee. Glücklicherweise erspähe ich dort vorne, in vielleicht hundert Metern Entfernung, ein Café. Als ich den Laden namens „Café Reinhardt“ betrete, fliegt mir ein angenehmer Duft nach frischen Kaffeebohnen entgegen, es ist schön warm. Das Lokal ist in einem dezenten Braun gehalten, so sind die Wände mokkafarben angestrichen, während die Terrakotta-Fliesen auf dem Boden zusammen mit den beigefarbenen Sitzmöbeln und den Tischen aus Eichenholz wunderbar harmonieren. Das Café ist, im Gegensatz zu den Straßen draußen, recht voll. Ich finde eine schöne Nische abseits der Fensterfront, in die ich mich gewissermaßen hineinkuschle. Das Sitzen tut gut nach der ewigen Schlurferei durch die Straßen.


    Eine nette, junge Bedienung nimmt meine Bestellung auf. „Ich hätte gern einen Espresso, schwarz, und ein Stück Erdbeertorte, bitte.“ Sie nickt lächelnd und bringt mir ein paar Minuten darauf meinen Kaffee und den Kuchen. „Vielen Dank.“ Wieder lächelt sie und geht zu einem anderen Tisch. Ich achte ein wenig auf die Soundkulisse im Café, während ich meinen Kaffee trinke. Es ist ein lautes Gemurmel, wild durcheinander, und ich kann nur einzelne Brocken aus den Gesprächen verstehen. Dazu klappern überall Teller und klirren Tassen, vereinzelt kann man ein helles Lachen einer Frau aus dem Stimmengewirr erkennen. Ich liebe eine solche Atmosphäre, zusammen mit den warmen Farben und der angenehmen Wärme, der Helligkeit und der Freundlichkeit der Bedienung fühlt man sich in diesem Café wirklich pudelwohl. Es gefällt mir sehr, dazu schmeckt der Kaffee einfach fabelhaft und der Kuchen ist ein Gedicht. Das entschädigt wirklich für die lange Anreise hierher.
    Ich genieße die Pause im Café. Mein Blick bleibt an einem Pastellgemälde an der Wand kleben, das einen Mann mit einer Zeitung an einem Tisch darstellt, dazu stehen vor ihm eine dampfende Tasse Kaffe, ein Aschenbecher mit einer glimmenden Zigarette und ein halbes Stück eines rosafarbenen Kuchens. Es ist von einem Herrn Harald Wechter gemalt worden, und zwar im Jahre 1935, wie in der Signatur unten rechts zu erkennen ist. Während ich das Bild anschaue und mich an dem geselligen Ambiente ergötze, schweife ich in Gedanken immer weiter ab. Jetzt bin ich also hier, was mache ich jetzt? Was soll ich morgen tun? Wo soll ich übernachten, wenn ich die Jugendherberge nicht finde? Was ist mit meiner Buchung? Wo bekomme ich einen Stadtplan her? Und wo zur Hölle sind hier die Toiletten?
    Ich frage die Bedienung und sie weist mich in einen kleinen Korridor, auf dem links die Herrentoiletten sind. In dem weiß gefliesten, kleinen, aber sauberen Raum befinden sich zwei Urinale, ein strahlend weißes Waschbecken und zwei sandfarbene Toilettenkabinen. In der hinteren schließe ich mich ein, verrichte schnell mein Geschäft und wasche mir danach die Hände. Während ich mir sie noch abtrockne, fällt mein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken.


    Ich kann mich noch gut daran erinnern, einen lustlosen, ungepflegten Jan mit zerzausten Haaren und Augenringen im Busfenster gesehen zu haben. Aber jetzt scheine ich zu strahlen, die Haare sind gebändigter als sonst, mein Lächeln strahlender und die Augen so azurblau wie nie zuvor. Ich sehe hübsch aus, das muss man schon sagen. Ein Grinsen im Spiegel verursacht zwei schöne Lachfalten in meinen Mundwinkeln. Es ist mir schleierhaft, wieso ich noch nie eine Freundin hatte.
    Als ich aus der Toilette hinausgehe und bezahlen will, stoße ich einen blonden, dünnen Jungen um, der vermutlich auch gerade auf dem Weg zur Toilette war. Er verliert seine Brille beim Aufprall und landet geräuschvoll auf den Terrakottafliesen.
    „Ach du Schande... das tut mir wahnsinnig leid!“, rufe ich bestürzt. „Ach, das macht doch nichts...“, antwortet der Junge, während er sich wieder aufrappelt. Er zupft sein hellgrünes Poloshirt wieder zurecht, streicht sich durch die glatten Haare und zieht die Nase kurz hoch. „Wo ist denn meine Brille hin? Ohne die sehe ich so gut wie nichts!“ Prompt suche ich den Boden ab, bis ich das graue, dünne Metallgestell, das zwei dicke, ovale Kunststoffgläser umgibt, finde und aufhebe. „Vielen Dank!“, bedankt sich der Junge bei mir.


    Allerdings geht er wider mein Erwarten einfach stehen und geht nicht auf die Toilette. Stattdessen fängt er ein Gespräch mit mir an. „Wie heißt du denn?“, fragt er mich. „Ich bin Jan.“ – „Hallo, Jan. Ich heiße Martin.“ – „Schön, dass wir uns treffen, Martin“, sage ich freundlich, allerdings sind mir diese Standardfloskeln ein wenig peinlich; fast könnte man meinen, wir zwei wären auf einem spontanen Treffen einer Selbsthilfegruppe und jeder, der daran teilnimmt, wird monoton und gleichzeitig von allen anderen begrüßt. Bestimmt haben alle anderen diese Standardbegrüßung gehört! Mir wird für einen Moment lang ganz heiß und ich schwitze.
    „Jan, sag mal... du bist nicht von hier, oder?“ – „Äh, nein... Woher weißt du das?“ – „Na ja, du betonst die Wörter so komisch!“ – „Hä? Ich red' doch ganz normal.“ – „Nee, eben nicht. Du sagst nicht 'wir', sondern mehr so eine Art 'wia' zum Beispiel!“ – „Öh...“ – „Das ist lustig!“, sagt Martin und lacht. Ich ziehe eine Augenbraue hoch und betrachte Martin skeptisch. „Du findest das komisch?“ – „Ja, saukomisch! Komm, sag das nochmal!“ – „Also gut, wenn's sein muss... Ich bin sehr froh, dass wir uns treffen.“
    Martin bekommt erneut einen Lachanfall. „Das war ja noch besser!“ Er prustet. „Du hast 'säa' statt 'sehr' gesagt! Und 'wia' auch!“ Der blonde Junge schlägt mir auf die Schulter und hebt sich daran fest. Ein bisschen bin ich ja schon genervt, dass man mich auslacht, weil ich manche Wörter anders ausspreche, als man das hier tut. „Kann es sein, dass du irgendwie aus Süddeutschland kommst?“, will Martin wissen. „Ja, das ist sogar ganz richtig, ich komme aus Baden-Württemberg.“ – „Hah! Kein Wunder, dass du so unnormal redest!“ – „Unnormal?!“ – „Du müsstest dich echt mal hören!“ – „Jetzt hör' aber mal auf, das ist doch...“ – „Du tust es schon wieder! Das ist ja geil, das muss ich meinem Vater erzählen!“
    Martin läuft los. Ich folge ihm, obwohl mir diese Situation langsam wirklich unangenehm wird. Die Leute im Café scheinen alle plötzlich ob des Lachens von Martin etwas leiser geworden zu sein und müssen alle mitbekommen haben, dass ich nicht von hier bin. Wieder wird mir heiß und ich schwitze erneut. Der blonde Junge führt mich zu einem breitschultrigen, kräftigen Mann mit einem markanten Gesicht. Seine relativ große Nase lässt seine Augen sehr klein erscheinen, die braunen, glattgekämmten Haare haben einen Seitenscheitel, der Pony ist nach rechts gekehrt – und sie bekommen langsam graue Strähnen. Außerdem trägt er eine große, runde Brille mit einem schwarzen Gestell. Ich frage mich, wie dieser stattliche Mensch einen so schlaksigen Jungen mit blonden Haaren bekommen kann.


    „Papa, Papa, Papa, ich muss dir was erzählen!“, brüllt Martin schon fast. „Guck mal, der da!“ Er zeigt auf mich. „Der kommt aus Baden-Württemberg!“ Martins Vater verzieht sein Gesicht zu einem Grinsen. „Magst du ihn mir vielleicht vorstellen?“, fragt sein Vater freundlich mit einer unheimlich tiefen Bassstimme. „Ja, klar! Jan, das ist mein Papa. Papa, das ist Jan!“ Wir schütteln uns die Hände. „Angenehm, Jan. Ich bin Klaus Baumann, meinen Sohn Martin kennst du ja bereits.“ – „Sehr erfreut, ich bin Jan Petersen.“ Meine rechte Hand schmerzt vom festen Händedruck. „Guck, Papa! Er hat schon wieder 'säa' gesagt!“ – „Tatsächlich!“, tut Herr Baumann erstaunt. „Martin, setz dich bitte mal hier hin, ich muss mit Jan was unter vier Augen besprechen.“ – „Tatsächlich?!“, frage ich ganz perplex.
    Herr Baumann geht mit mir in eine etwas ruhigere Ecke des Cafés. „Ich muss mich für meinen Sohn entschuldigen.“ – „Wieso das denn?“ – „Na ja, er ist manchmal ein wenig... aufdringlich, das ist mir immer unangenehm.“ Er räuspert sich. „Ach was, das macht doch überhaupt gar nichts“, sage ich halb gelogen. Sicherlich ist es mir peinlich, dass er sich so über meine Sprechweise lustig macht, aber dennoch habe ich nicht das Gefühl gehabt, dass er unfreundlich oder sonst was wäre. „Hm, aber er hat recht, du sprichst manche Sachen wirklich komisch aus!“ Herr Baumann gibt ein tiefes Lachen, das fast in ein Husten übergeht, von sich und klopft mir, wie sein Sohn auch, auf die Schulter. „So so, Baden-Württemberg. Was macht denn ein Schwabe hier bei uns?“ – „Ooooooho, ganz böser Fehler! Ich bin kein Schwabe, ich bin Badener!“ Obwohl ich ja eigentlich meine Heimat absolut nicht ausstehen kann, ich bin Badener und kein Schwabe. Das ist, als würde man einen Bayern als Preußen bezeichnen. Das ist illegal. „Oh, Pardon. Aber trotzdem, was machst du hier?“ – „Ich bin... im Urlaub“, antworte ich leicht zögerlich. Herr Baumann mustert mich skeptisch. „Und deine Eltern?“ – „Die sind daheim, in Baden.“ – „Und die haben dich einfach so fortgelassen?“ – „Mehr oder weniger.“ – „Ist ja allerhand. Wie lange bist du denn schon hier?“ – „Ich bin vorhin erst angekommen und war eigentlich auf dem Weg in meine Jugendherberge, aber ich habe mich verlaufen und bin dann hier gelandet.“


    „Welche Jugendherberge war das denn?“ – „Das war die 'Jugendherberge Schmitz' in der Van-Weberle-Straße.“ – „Und da wolltest du übernachten?“ Martins Vater sieht mich entsetzt an. „Öh, eigentlich ja schon... Schön billig.“ – „Ja, und schön kriminell! Ich kenne jemanden, der ist dort vom Betreiber persönlich beklaut worden, 30.000 D-Mark waren das noch, alles weg.“ – „Wer nimmt den so viel Geld mit in eine Jugendherberge?“ – „Es war eine Goldkette, die er über Nacht in den Tresor hatte. Die hatte ihm seine Mutter vererbt.“
    Langsam zweifle ich daran, dass die Jugendherberge wirklich eine so gute Idee war. „Weißt du was?“, fragt Herr Baumann. „Nein, woher denn auch?“ – „Du kommst mit zu uns nach Hause.“ – „Was!?“ – „Du hast schon richtig gehört. Wir haben ein Gästebett, in dem du übernachten kannst, solange du magst. Martin freut sich bestimmt auch, jemanden zu haben, mit dem er seine Ferien verbringen kann!“ – „Keine Freunde?“ Sein Vater legt den Kopf ein wenig schief. „Doch, schon. Die sind aber alle verreist.“ – „Das ist ja blöde...“
    Jetzt ist mir erst recht unwohl bei der Sache. Ich kann mich doch nicht einfach in das Haus einer wildfremden Familie einquartieren. Das geht doch nicht!

  • III - Memory


    Es geht anscheinend doch. Herr Baumann duldet keine Widerrede; jeden erbärmlichen Versuch meinerseits, die Einladung abzulehnen, weist er mit der Hand ab. Da ist Widerstand wohl zwecklos, also füge ich mich und gehe zusammen mit Herr Baumann an seinen Tisch zurück, wo Martin schon auf uns wartet. Er blickt fragend zwischen seinem Vater und mir hin und her. „Ich habe eine Überraschung für dich, Martin!“, verkündet Klaus feierlich. „Jan wird für die Zeit, die er hier ist, bei uns wohnen.“ In Martins Augen macht sich ein Glitzern breit. Er kann es offensichtlich gar nicht fassen, dass er jemanden gefunden hat, mit dem er seine Ferien verbringen kann. Ich muss bei diesem Anblick irgendwie grinsen, die pure Freude in seinem Gesicht ist beneidenswert.
    „Ich hätte vorgeschlagen, dass wir zahlen und nach Hause fahren“, wirft Klaus ein und holt damit Martin wieder in die Realität zurück. „Gute Idee“, stimmen er und ich wie aus einem Munde zu. Ich verschweige allerdings, dass ich selbst auch etwas bestellt hatte. Nachdem Martins Vater also einen Zehner dagelassen hat, verlassen wir das Cafe, wobei ich mich eher herausstehle. Auf einem grau asphaltierten Parkplatz hinter dem Gebäude steht ein dunkelblauer VW Golf, auf den die beiden anderen zusteuern. Ich erspähe das Kennzeichen „SST-HN 5943“ und frage mich im selben Moment, was ich mit dieser Information überhaupt anfangen kann. Martin setzt sich auf dem Beifahrersitz; ich muss eine Leine auf der Rückbank beiseite schieben, um Platz nehmen zu können. „Angeschnallt?“, fragt Herr Baumann. Martin und ich bejahen, woraufhin das Auto startet und losfährt.


    Zuerst biegt Herr Baumann nach links ab. Wir fahren die Straße immer weiter hinauf, bis wir an eine Kreuzung mit einer großen, vierspurigen Straße gelangen. Hier nimmt Martins Vater eine scharfe Rechtskurve und beschleunigt. Ich bin fasziniert von der großen Straße, in deren Mitte ein breiter Grünstreifen eine Schneise in das Betonmeer schneidet. Vereinzelt stehen dort sogar hohe Kastanienbäume, die die Straße säumen und beschatten. Insgesamt gibt das satte Grün der Bäume zusammen mit den vielen bunten Sachen in den Schaufenstern beiderseits der Straße, eingebaut in große Hochhäuser, ein sehr harmonisches und vor allem urbanes Bild ab. Genauso begeistern mich die Straßenschilder, die sich über die Allee verteilen. Sie weisen nicht nur Stadtteile aus, sondern auch einzelne Bezirke, die nach der jeweils größten Straße benannt sind. An einer Kreuzung lese ich auf einem der Schilder „S.-Fichterheide Hassmannstraße, Hohlbergring, Parkstraße“. Auf den letzten Punkt zeigt Martin und ruft zu mir hinter: „Schau! In diesem Bezirk wohnen wir!“
    Nach einigen Minuten Weiterfahrt auf der Parkstraße biegt Herr Baumann links in eine Nebenstraße ab. Mir eröffnet sich ein fantastisches Bild eines Reichenviertels, ganz wie in der Parkstraße bei Monopoly. 'Nicht schlecht', entfährt es mir in Gedanken, während ich die luxuriösen, strahlend weißen Hochhausfassaden intensiv mustere. In sie sind Balkone eingebaut, die bündig mit der Fassade abschließen, begrenzt von gläsernen Zäunen mit einem Metallgerüst. Martins Vater fährt an diesen Hochhäusern jedoch relativ ungerührt vorbei. „Das sind Eigentumswohnungen, allesamt schweineteuer. Glaub mir, da drin wolltest du nicht wohnen. Die Mieten sind für Otto Normalverbraucher nicht zu bezahlen, da drin leben nur reiche Säcke, die sich für was Besseres halten.“ Herr Baumann kann schon entmutigend sein. Mir würde ein Leben in einem solchen Haus sicher gefallen. Aber als ich das denke, sind wir schon längst weiter. Jetzt fahren wir an einigen Villen vorbei, die im Bauhausstil erbaut sind. „Jan, mach dir keine Hoffnungen. Sowas kann sich keiner leisten, die stehen alle leer.“ - „In der Schule hab ich aber gelernt, dass die Leute von Bauhaus den Preis immer so niedrig wie möglich halten wollten.“ - „Das schon.“ - „Aber?“ - „Die Grundstücke sind umso teurer. Na ja. Du hast dich uns noch gar nicht richtig vorgestellt, Jan!“
    Abrupt wechselt Herr Baumann das Thema. „Hab ich nicht? Ich heiße Jan Petersen und bin aus einem kleinen Dorf in Baden-Württemberg.“ - „Wie heißt dieser Ort denn?“, fragt Martin. Ich beantworte die Frage mit „Niederschasslingsheim“, worauf Martins Vater lachend brüllt: „Das ist ja der totale Zungenbrecher!“ Martin stimmt lachend zu. „Wo liegt denn das genau?“, hakt Klaus weiter nach. „Tiefstes Hinterland. Die nächste größere Stadt heißt Feldenbach...“ - „Noch nie gehört“, fällt er mir ins Wort. Unbeeindruckt davon erzähle ich weiter. „Das liegt etwa auf halber Strecke zwischen Heidelberg und Würzburg.“ Damit kann Klaus schon mehr anfangen. „Stimmt, da in der Gegend ist nicht viel los. Ich hatte mal einen Kollegen, der da runter musste, nach Bellhofen oder wie das heißt, da unten ist wirklich nichts los.“ - „Bellhofen, das ist mein Nachbarort!“, muss ich einfach zwischenrufen. „Als was arbeiten Sie denn?“ - „Ich bin Vertreter für Versicherungen. Weil wir in Sonnstadt unsere einzige Filiale haben - wegen Geldmangel haben wir in Stuttgart, Berlin und Köln schließen müssen - sind wir also regelmäßig in der Weltgeschichte unterwegs. Das ist manchmal ein ziemlicher Knochenjob, aber zum Glück hab ich ja meinen guten, alten VW.“ Herr Baumann klopft auf das Lenkrad, als würde er einen guten Kumpel begrüßen.


    Wir fahren noch eine Weile durch das undurchschaubare Straßenlabyrinth, bis das Auto vor einem hellgrün verputzten Reihenhaus Halt macht. „Endstation!“, meint Klaus. Nachdem wir schnell aus dem Wagen gekraxelt sind, öffnet Martin den Kofferraum und nimmt mein Gepäck. Meine Versuche, ihn davon zu überzeugen, dass ich das ohne Probleme auch selber machen könnte, werden durch Kommentare wie „Nee“ und „Jetzt komm!“ im Keim erstickt. Eigentlich mag ich solche Freundlichkeit überhaupt nicht. Es ist mir jedes Mal wieder unangenehm, wenn mir Leute alles Mögliche abnehmen wollen oder mir etwas anbieten, weil ich ihnen erzählt habe, was ich eigentlich vorhabe. So wie das Angebot, bei Familie Baumann Gast zu sein. Es kommt mir so vor, als hätte ich irgendwie Mitleid bei Martins Vater erregt, als ich von der Jugendherberge erzählt habe. Ich kann solche gut gemeinten Angebote nicht annehmen. Wie kommt das denn rüber? Als wäre ich ein Schmarotzer. Fürchterlich.
    Doch trotz allem Skrupel, den ich habe, läuft Martin quasi wie ein Hotelpage an mir vorbei. Sein Vater weist mir den Weg durch die große Haupteingangstüre. Wir stehen nun in einem etwas engen Treppenhaus. Links geht es hinauf, rechts in den Keller runter. „Wir müssen ganz nach oben, dritter Stock“, sagt Martin. Also steigen wir die ersten drei Stufen hinauf. Links und rechts ist je eine Tür. Es geht die nächste Treppe hinauf, zwei mal zehn Stufen. Wieder sind links und rechts je eine Tür. Erneut zwei mal zehn Stufen. Links und rechts je eine Tür. Und nochmal zwei mal zehn Stufen. Jetzt sind wir ganz oben und nehmen die rechte Tür. Es ist eine einfache Holztür, um deren Türspion eine Art Kranz aufgehängt ist, in den künstliche Erdbeeren und getrocknete Blätter einer Eiche eingeflochten sind. Die Fußmatte begrüßt mit einem groß aufgestickten „Hallo!“ und auf dem Klingelschalter klebt ein großer Aufkleber, auf dem „Fam. Baumann“ in geschwungenen Lettern steht. Ich bin vom fröhlichen Begrüßungskomitee begeistert. Martin und ich sind die Treppen etwas schneller hochgelaufen als Klaus, weshalb wir noch auf ihn warten müssen. Er kämpft sich gerade die letzten paar Stufen hoch. Martin entreißt ihm den Schlüssel und schließt auf.


    Es eröffnet sich mir ein langer, schmaler Flur, der mit Holzdielen ausgelegt und weiß gestrichen ist. Eine Kommode kann ich sehen, die an einer Wand steht. Auf ihr befindet sich ein Telefon und an der Wand über dem Schränkchen hängt ein Spiegel. Direkt neben der Tür ist die Garderobe, ein einfaches Holzbrett mit vier Haken. Das Weiß der Wände sieht zusammen mit den Holztönen der Möbel und Türrahmen sehr gemütlich aus. Einer nach dem anderen betreten wir den fensterlosen Korridor. „So, da wären wir!“, sagt Herr Baumann. „Am Besten zeige ich dir, wo alles ist!“ Er zeigt mir einen Durchgang gleich rechts neben dem Eingang. Ich kann im Raum dahinter einen Eichenholztisch erkennen, eine einfache Konstruktion aus Tischplatte und Beinen, ganz ohne Schnörkel. Um ihn herum stehen fünf Stühle in selber Bauart, ganz schlichte Holzmöbel. Sowas gefällt mir. „Das ist die Küche“, erklärt Klaus. Wir gehen zwei Schritte weiter nach hinten. Ein Durchgang auf der linken Seite lässt mich eine orange Couchgarnitur erkennen, die vor einer Schrankwand steht. „Das ist unser Wohnzimmer, und wenn du dich umdrehst...“, er tut eine halbe Umdrehung, „...dann findest du hinter dieser Tür das Schlafzimmer. Da schlafe ich drin.“ Ich nicke. Ein paar Schritte weiter hinten, schon am Ende des Flurs, gibt es drei Türen. „Links ist das Badezimmer.“ Nun zeigt Martins Vater auf die Tür an der hinteren Flurwand. „Dahinter ist die Speisekammer und das da rechts ist Martins Zimmer. Ich werde dir unser Gästebett dort aufstellen und ihr könnt ja derweil schon mal ins Wohnzimmer oder so. Jan, hast du Hunger?“


    Ich bin von Klaus' Schnelligkeit überwältigt. „Ääh... Nein, nicht wirklich.“ - „Okay, dann brauch ich jetzt noch nicht kochen. Geht ihr mal ins Wohnzimmer, dann kann ich hier in Ruhe alles vorbereiten.“ Martin und ich folgen der Anweisung und setzen uns auf die Couch. Ich nutze die Gelegenheit und schaue mich in dem Zimmer ein wenig um. Die Schrankwand beinhaltet lauter Regale, die mit Büchern und Glasvasen vollgestellt sind, eine Vitrine, einige Schubladen und einen großen Flachbildfernseher. Auf dem Boden davor steht eine Wii, die ich mit besonderer Begeisterung anschaue. Vor dem Sofa ist ein Couchtisch, auf dem die TV-Zeitung, zwei Fernbedienungen und eine Obstschale Platz haben. An der Fensterwand, die einen Blick über eine große Wiese bietet, stehen einige Topfpflanzen. Es gibt sogar eine Balkontür. Die Fenster sind mit gelben Vorhängen verziert, die wunderbar mit dem Apricot der Wand und den Holzdielen am Boden aussehen.
    „Wie alt bist du denn eigentlich?“, durchbricht Martin die Stille. „Öh... Sechzehn, und du?“ - „Ich bin im Mai erst vierzehn geworden.“ - „Ah, okay.“ - „Und wie sieht es bei dir mit der Schule aus?“, fragt Martin weiter. „Naaah ja... Ich hab die zehnte Klasse gerade so geschafft...“, gebe ich ein bisschen kleinlaut zu. „Oh, das wird bestimmt noch besser“, antwortet er aufmunternd. „Ich war in diesem Schuljahr ganz gut, vor allem in Mathe.“ - „Mathe... das ist sowas wie mein natürlicher Feind“, gestehe ich verlegen kichernd. „Dafür ist es eins von meinen besten Fächern!“ Martin schlägt einen leicht angeberischen Ton an.
    „Hey, wollen wir vielleicht ein bisschen zocken?“, fragt mein Gastgeber, der wohl meine verstohlenen Blicke auf die weiße Konsole bemerkt haben muss. Da sage ich nicht nein. Nachdem wir uns für einen Funracer entschieden haben, zeigt mir Martin, wie man den Rennwagen am geschicktesten durch die Kurven lenkt. Wir suchen uns eine der leichteren Strecken aus und bestreiten ein lustiges Rennen. Zunächst ist Martin an der Führung, doch als ich ihn mit einer Art Rakete abschießen und mich damit selbst an die Spitze katapultieren kann, legt sein Ehrgeiz so richtig los. Er schreit lachend: „Na warte, das kriegst du noch zurück!“, worauf ich gelassen antworte: „Ja, bestimmt.“ Doch mein Hochmut bleibt nicht ungestraft, schon in der nächsten Runde fällt eine Bombe auf meinen Fahrer, der durch die Luft wirbelt und dabei zusehen muss, wie Martins Charakter seelenruhig unter ihm vorbeifährt. „Ha, da hast du's!“, schreit der Junge neben mir. Gleichzeitig belustigt und ebenfalls im Siegeswillen geweckt, muss ich unfreiwillig antworten: „Na warte, Freundchen, man trifft sich immer zwei Mal im Leben!“ Nach einigen unterhaltsamen Rennen dieser Art, von denen ich vier und Martin acht gewonnen hat, betritt dessen Vater das Wohnzimmer.


    „Jungs, ich hab jetzt das Gästebett aufgebaut. Ihr könnt ja mal gucken“, meint er zu uns. Sofort stehen wir auf und kommen dem Angebot nach. Martins Zimmer ist mit blauem Teppich ausgelegt und die Wände sind minzgrün angestrichen. Er hat eine Liegecouch, auf der man im Liegen zum Dachfenster hinausschauen kann. Außer dem Bett besitzt Martin noch einen Schreibtisch samt Computer, einen großen Kleiderschrank und einen Deckenfluter in der Ecke. Den meisten Platz im Zimmer belegt aber ein Metallgestell mit einer Matratze und einer Wolldecke drauf, das sich mitten im Raum breit macht. Martins Zimmer wirkt dadurch ein wenig beengt, zumal mein Rucksack und die beiden Sporttaschen noch auf dem Boden herumliegen. „Hast aber ein schickes Zimmer“, sage ich, weil ich ernsthaft darüber staune, wie viel Platz trotz der vielen Möbel übrig bleibt, wenn man kein Gästebett aufgestellt hat. Martin nickt und sagt: „Hier drinnen kann man's sich super gemütlich machen!“ Er springt auf sein Bett. „Na los, jetzt musst du auch mal probeliegen!“, ruft Martin etwas ungeduldig zu mir, weil ich immer noch im Türrahmen stehe. Aber jetzt ziehe ich mir die Schuhe aus, bis Martin erneut zwischenruft. „Was tust du denn da?“ - „Schuhe ausziehen.“ - „Lass die doch einfach an!“ - „Okay, wenn das in Ordnung ist...“ Verdutzt schnüre ich die Schuhe also doch nicht auf, nähere mich vorsichtig dem Bett und setze mich behutsam auf den Rand der Matratze.Martin ist von meiner Zurückhaltung sichtlich belustigt, denn er kann sich kein Grinsen verkneifen, als er mir hinterherguckt. Eine Weile sitzen wir nun stillschwei- gend da.
    Die Baumanns sind schon nette Leute, finde ich. Immerhin ist es für mich nicht gewöhlich, dass man einfach so einen komplett fremden Menschen einlädt, bei einem zu bleiben. Man kann ja nie wissen, wen man vor sich hat. Und irgendwie kann ich mein Gefühl, Martin und seinem Vater etwas für die Gastfreundlichkeit zu schulden, nicht loswerden. „Was sagt denn deine Mutter eigentlich dazu, dass ich hier bleiben darf?“, will ich von Martin wissen. Erst nach einer kleinen Weile kommt die Antwort, und selbst die ist auch nur zögerhaft. „Die... fände das bestimmt in Ordnung.“ Auch wenn ich über das 'fände' stolpere, frage ich nicht weiter nach, sondern entgegne nur ein „Gut“. Wieder ist es eine Weile lang peinlich still, bis ich Martins Vater aus der Küche laut niesen hören kann. Fast gleichzeitig brechen Martin und ich in schallendes Gelächter aus. Nach einigen Minuten beruhigen wir uns wieder und ich schaue auf die Uhr. 14 Uhr schon, ich bin über die Uhrzeit sichtlich überrascht. „Jungs, ich bin mal für ein bisschen weg, ja?“, ruft Klaus. Wir freuen uns über das Sturmfrei, das sich uns nun anbietet und rufen ein lautes „Ok!“ zu Herr Baumann zurück.


    Bis zum Abend, als es schon fast neun Uhr ist, tun Martin und ich nichts anderes, als uns im Internet lustige Bilder anzusehen, die Martin irgendwann mal gefunden hat. Ein Bild ist eine Karte mit den lustigsten Ortsnamen Deutschlands, auf der Orte wie Lederhose oder Katzenhirn, Rom oder Sexau verzeichnet sind. Doch als Klaus wieder da ist und uns ein paar leckere Fleischklopse brät, hören wir mit den Bildern auf, weil sie immer weiter unter die Gürtellinie gehen. Nach getanem Abendessen wird es langsam Zeit, sich bettfertig zu machen. Ich dusche im blau gehaltenen Badezimmer ausgiebig und putze mir die Zähne, dann warte ich in Martins Zimmer, bis dieser ebenfalls fertig ist und ziehe mich währenddessen schon mal um. Jetzt ist es schon nach elf Uhr abends und Martin schlägt vor, dass wir uns schlafen legen, damit er mir morgen ein bisschen was von Sonnstadt zeigen kann. Voller Vorfreude also kuschle ich mich in die Wolldecke ein, die auf der Matratze liegt.
    Irgendwann weckt mich ein Rascheln aus dem Halbschlaf. Ich hatte schon beinahe wirklich geschlafen, doch das mysteriöse Geräusch hält mich dennoch davon ab. „Martin? Hörst du das auch?“, flüstere ich. Im selben Moment verstummt das Rascheln. „Martin?“ Erneut muss ich seinen Namen wispern, doch auch dieses Mal gibt es keine Antwort. Allerdings kann ich nun deutlich vernehmen, wie er sich im Bett bewegt. Jetzt will ich aber wirklich wissen, was da los ist. Kurzerhand nehme ich mein Handy und leuchte in Richtung des Bettes meines Gastgebers. Er liegt im Bett, die Beine angewinkelt, sodass sie eine Art Höhle bilden, und hat die rechte Hand unter der Decke. „Was machst du denn da!?“ - „Ähm...“ - „Martin, holst du dir etwa einen runter!?“ Der Gefragte räuspert sich merklich verschämt. „Nicht ernsthaft, oder?“ Martin nickt. „Du masturbierst hier also... So was hätte ich nicht von dir gedacht, aber... Okay, wenn du das machst, mach ich das jetzt auch!“ Was rede ich denn da? Eigentlich finde ich es ja ein wenig respektlos, bei Besuch an sich rumzuspielen. Geschmacklos ist es obendrein. Aber wenn ich selbst so drüber nachdenke, hätte ich selber schon Lust drauf. Also greife ich in gleicher Weise unter die Decke, in die Unterhose hinein. Ich genieße das Gefühl sehr, das in mir aufsteigt und langsam in alle meine Glieder geht. Ich schwebe wie auf einer Wolke, bis sich alles im grandiosen Finale entlädt. Zufrieden, befriedigt und selig schließe ich die Augen und schlafe ein.


    Doch irgendwie lässt mir diese Nacht keine Zeit zum Schlafen - zwischen zwei und drei Uhr wache ich insgesamt noch drei Mal auf. Und um viertel vier verspüre ich einen ziemlichen Druck auf der Blase. Also stehe ich so leise wie möglich auf, schleiche auf Socken jedes Geräusch vermeidend an die Tür und rüber ins Bad. Ich taste mich in der Dunkelheit durch das Badezimmer, weil ich keine Lust habe, irgendwen zu wecken, nur weil ich pinkeln muss. Das laute Schnarchen aus den Schlafzimmern macht mich nervös. Endlich ist die Toilette gefunden und ich stelle mich davor, lasse die Hosen runter und leere die Blase. Die Spüle lasse ich ausnahmsweise in Ruhe, weil die Angst, jemanden zu wecken, viel zu groß ist. Auch die Hände wasche ich mit einem extrem kleinen Wasserstrahl und wenig Seife. Dabei verschütte ich versehentlich etwas auf den Boden. „Mist!“, stoße ich gepresst flüsternd hervor. Als ich wieder ins Bett gehen will, rutsche ich auf dem Seife-Wasser-Gemisch aus und stoße mir den Hinterkopf an einem Wäschekorb, während der Rest meines Körpers geräuschvoll auf die harten Fliesen knallt. Dann wird mir schwarz vor Augen.