Julio hatte sich schon fast gefragt, wo der Rüpel nach dem Kampf abgeblieben war, aber nur fast. Es gab eigentlich wirklich wichtigeres, zum Beispiel Nachschlag. Aber plötzlich brach ein Tumult aus der Richtung des Ausganges aus, und der Trainer wandte seine Aufmerksamkeit der Geräuschquelle zu. Und was er da sah, liess ihn leicht grinsen: Schwester Joy und ihr Heiteira waren gerade dabei, dem Macho eine gepfefferte Abreibung zu verpassen, wohl als Strafe für das zerstörte Center. Verübeln konnte es ihnen vermutlich niemand, so wie die Gelfrisur sich danebenbenommen hatte. Julio beobachtete das Schauspiel amüsiert, fragte sich dann aber doch, ob in dieser Region eigentlich nur das Recht des Stärkeren galt und alles immer auf Streit hinauslief. Nicht dass ihm das etwas ausmachen würde, in seiner Heimatstadt mussten die Einwohner nicht selten selbst die Gerechtigkeit in die Hand nehmen, wenn wieder einmal ein Delinquent aufmucken wollte – der lange Arm des Gesetzes war oftmals nicht lang genug, um bis nach Monsentiero zu reichen. Er hoffte bloß, dass er sich nach der Aufregung des heutigen Tages endlich etwas entspannen konnte, verdient hatte er es seiner Meinung nach. Wobei er zu einem Kampf nach dem Essen mit seinen neuen Bekanntschaften natürlich auch nicht nein sagen würde.
„Hey. Ist der Platz hier noch frei?“ Eine weibliche Stimme ertönte neben Julio, und er wurde zurück ins Hier und Jetzt gerissen. Was war denn jetzt schon wieder? Forschend sah er auf und erblickte eine Frau mit flammend roter Haarpracht und ziemlich abenteuerlicher Kleidung, die mit einem voll geladenen Teller neben ihn getreten war. Julio musste nicht zweimal nachdenken und bot ihr sofort den Platz an, er war sowieso frei. «Hey. Klar kannst dich setzen.» Während er auf eine Reaktion der Frau wartete und nebenbei nach einem guten Start für ein Gespräch suchte, bemerkte er, dass der Muskelprotz sich mittlerweile von seiner besten Seite gezeigt hatte (auch wenn dieser das sehr wahrscheinlich anders gesehen hätte) und mit allerlei Werkzeug und Ersatzbauteilen den Boden repariert hatte. Das war schnell gegangen, und Julio war ehrlich gesagt erstaunt über das handwerkliche Geschick des Angebers. Vielleicht hatte er sich in dem Typen getäuscht, gut, dass er nichts mit ihm zu tun gehabt hatte.
In der Zwischenzeit hatte sich das braunhaarige Mädchen, Sarah, erhoben. Julio zuckte überrascht zusammen, als sie einen Löffel gegen ihr Glas schlug und um Ruhe bat. Eine Rede? Hier…? Heute wurde ihm wirklich keine Ruhe gelassen. Während Sarah sprach, wurde ihre Geschichte immer absurder; sie begann mit dem Auftrag, ein legendäres Pokémon zu finden, führte weiter zu einer falschen Anschuldigung bezüglich eines Einbruches und einer Flucht aus Metarost City und endete schließlich auf offenem Meer mit dem Kampf gegen ein Wailord. Julios Blick, mit dem er die Sprecherin musterte, wurde immer skeptischer. Gerade wollte er seine neue Nachbarin fragen, ob das alles wahr wäre, als Sarah fortfuhr und einen seltsamen Brief hervorkramte. Als sie mit dem Vorlesen begann, konnte Julio nicht anders als die Augen zu verdrehen. Wer hatte diesen Fetzen geschrieben, ein Zwölfjähriger? Das unheimlichste am Brief waren nicht die mehr oder weniger gut versteckten Drohungen, sondern die Tatsache, dass der Autor offenbar nicht unbedingt als zurechnungsfähig bezeichnet werden konnte. Und mit so einem hatte sich die Gruppe hier eingelassen? Der Mechaniker schaute sich langsam um in der Runde. Wenn er ganz ehrlich war, sahen die Leute hier nicht so aus, als könnten sie es mit einem Bilderbuchschurken wie dem Kerl aus dem Brief aufzunehmen. Julio war sich nicht sicher, ob er nun eingeschüchtert, verärgert oder amüsiert sein sollte. Um die anderen nicht vor den Kopf zu stoßen, beschloss er, einen möglichst schockierten Gesichtsausdruck aufzusetzen.
Nach Sarahs Ausführungen ergriff eine andere, schwarzhaarige Frau das Wort, und ihren Aussagen nach nahm sie den Brief sehr persönlich. Ihre Hasstirade hätte sogar die feurigen Reden der Pokémonrechtler, die immer wieder irgendwo in Einall auftauchten, in den Schatten gestellt. Aber trotz ihrem Temperament schien sie eine Ahnung zu haben, wo sie als nächstes hinwollte – warum auch immer, Julio war noch nicht allzu begeistert von der Idee, da mitzugehen. Aber so wie es aussah, war er nun Teil dieser verschworenen Gruppe, ob er nun wollte oder nicht. Die Granithöhle also, warum auch nicht. Immerhin konnte er in Hoenn nicht nur von Arena zu Arena sprinten, sein Traumurlaub sähe irgendwie anders aus. Vielleicht war diese Forschergruppe – oder was immer sie auch war – eine gute Möglichkeit, in der Region herumzukommen. Und deswegen war er schließlich hier.
OT: Surprise, ich lebe. Und es scheint so, als bliebe Julio euch noch etwas erhalten.