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Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr frei wählen könnt, wie genau ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenig oder zu viele Punkte enthalten können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen! Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen zur Wettbewerbssaison 2012
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Vor einer Weile ist sie eingeschlafen. Schrecklich zerbrechlich sieht sie aus, wenn sie schläft, so ganz anders. Die Rollen wurden getauscht, was mich immer noch etwas wundert, seit sie mich akzeptiert hat. Ich weiß noch, wie ich um ihre Gunst gerungen habe, ein stetiger Kampf, Tag für Tag. Dass die Änderung ihrer Ansticht am Ende für mich nicht nachvollziehbar sein würde, hätte ich nicht gedacht, aber so ist es - ich verstehe es immer noch nicht.
Ich beobachte sie jede Nacht ein wenig, versuche zu erraten, was sie wohl träumt. Es ist dumm, so dumm, dass ich mich eigentlich schämen müsste, aber ich kann nicht anders. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich sie beschützen muss. Ich weiß noch, früher, da hat sie mich immer vor den Gefahren behüten müssen. Tollpatschigkeit war damals ein Grund und meine Unfähigkeit etwas richtig zu machen.
Aber hat sich das wirklich geändert? Bin ich jetzt wirklich - reifer? Oder ist nur die Situation eine andere?
Bewiesen habe ich, dass ich mich und sie beschützen kann - vielleicht ein Grund, warum ich so viel Zeit außerhalb meines Pokéballs verbringen darf? Meine Teamkameraden genießen dieses Vorrecht nicht.
Und doch halte ich Abstand, ohne wirklich zu wissen warum ich das tue. Habe ich wirklich einen Grund? Sollte mein Vertrauen nicht jetzt tiefer gehen? Aber es tut noch weh - es schmerzt an früher zu denken, ein Leben in ständiger Frustration und Selbstzweifeln; immer in Erwartung des nächsten Fehlers, der unweigerlich passiert und mir meine erkämpfte Anerkennung von einem Herzschlag zum nächsten zunichte macht.
Ich sollte damit abschließen. Es ist nun anders. Die Dinge haben sich verändert.
Aber ganz will ich es nicht glauben - nicht verstehen.
Der Wald hinter uns reizt mich, ich weiß nicht warum. In der Dunkelheit der Nacht erkennt man kaum etwas, wir sind im Schatten der aufragenden Riesen und ich kann den Mond zwischen dem Blättergewirr nicht sehen. Ich würde gerne hineingehen - unerklärlich, warum ich plötzlich dieses Verlangen habe. Normalerweise lässt mich so etwas kalt, aber heute ... irgendetwas zieht mich. Zieht mich in die undurchdringliche Finsternis und doch verspüre ich keine Angst. Warum fürchte ich mich nicht?
Vielleicht ist mein Verbündeter der Grund - die Bäume müssen wissen, dass ich sie zu Asche verbrennen kann, wenn ich wollte.
Irgendwie schon Paradox: ich beherrsche ein derart kraftvolles, reueloses und selbstsüchtiges Element und versinke doch ständig in Selbstzweifeln. Eventuell ist das aber auch als Vorteil zu sehen; ein unbeherrschtes Verhalten würde mehr Schaden als Nutzen mit sich bringen. Ein feuriges Herz muss ja nicht gleich ein hitziges Gemüt bedeuten.
Verblüffend wie stark die Tannennadeln meine Schritte federn - überall liegen sie am Boden unter den Bäumen verstreut, aber ich kann sie kaum sehen. Mein flammender Kragen spendet nicht genügend Licht - schade, ich hätte gerne mehr gesehen. Wohin laufe ich eigentlich?
So ruhig - diese Stille wirkt unnatürlich. Es muss doch noch anderes Leben hier geben! Oder ist die Nacht bereits in den Stunden, in denen selbst ihre Geschöpfe nicht mehr aktiv sind? Müsste dann aber nicht bereits der Morgen grauen? Andererseits, was versteht jemand wie ich schon von dem Rhythmus eines Nachtwandlers. Wohl ebenso wenig, wie er von dem Leben im Sonnenlicht.
Woher kommt dieser Duft? Faszinierend, diese Frische, es riecht nach ... Wasser! In diesem allgegenwärtigen Dunst und dem scharfem Aroma der Pflanzen hier, hat es eine ähnliche Wirkung, wie eine kalte Brise in der Mittagshitze. Aber wir sind an keinem Fluss vorbeigekommen. Und wir hätten auf unserem Weg doch einen sehen müssen, oder nicht?
Ich kann nur dem Geruch folgen. Es muss sich wohl um ein stehendes Gewässer handeln, einen kleinen See vielleicht? Ob ich ihn noch vor Sonnenaufgang erreichen kann?
Was mache ich hier eigentlich? Warum bin ich hierher gekommen? Die Bäume kommen mir jetzt nicht mehr so eingeschüchtert vor, ich habe fast das Gefühl, dass sie mich erdrücken wollen. Irgendetwas hat mich hierher gelockt. Aber was? Welchen Grund gab es? Welcher Instinkt auch immer mich hierher geführt hat, er will sich mir nicht erklären. Vielleicht sollte ich endlich mehr Vertrauen haben, aus jeder schwierigen Situation komme ich schon irgendwie heraus. Hoffe ich zumindest... - ich höre was! Leises Plätschern, irgendwo in diesem Irrgarten aus in den Himmel aufragenden hölzernen Riesen. Der Duft wird auch stärker.
Wasser. Eigentlich sollte ich mich ja davor fürchten, es sollte keine Anziehungskraft auf mich ausüben. Jedes einzelne Haar sollte sich in meinem Pelz aufstellen und Angst mich erzittern lassen. Doch ich habe gelernt, dass es schlimmeres gibt als Wasser; gelernt, dass es nicht mein Feind sein muss. Ein hitziges Gemüt würde die Kälte dieses Elements fürchten. Doch mein Durst nach Anerkennung hat mich diese Angst verlieren, sogar Freundschaft mit dem unbezähmbaren Nass schließen lassen.
Da vorne muss es sein.
Ich hoffe, der Busch vor mir hat keine Dornen, die ich aufgrund des spärlichen Lichtes nicht erkennen kann. Die Blätter fühlen sich weich an, aber das heißt gar nichts bei Pflanzen.
Nein, er scheint keine schmerzhaften Waffen zu besitzen, also ist es ungefährlich, wenn ich meine Schnauze hindurchstecke. Nur ein kurzer Blick!
Wie dumm -, gut dass mich niemand sehen kann, vor Scham sollte ich ja im Boden versinken wollen. Ein Wesen des Feuers dürstet nach dem Anblick der kalten Fluten. Für diese heimliche Leidenschaft würde mich Groudon persönlich wohl verbannen, wenn der mächtige Herrscher es mitbekommen würde. Ein Bewohner der Erde sympathisiert mit dem Reich seines Erzfeindes!
Andererseits musste er auch nicht ein solches Leben wie ich führen, niemand würde seine Stärke anzweifeln und alle ihn respektieren. Aber ich bin nicht er.
Eine Lichtung! Dort! Rechts von mir kann ich das Wasser sehen. Wie schön es im kalten Licht des Mondes glitzert, als wäre es mit Eis überzogen. Faszinierend, wie sehr mich dieser Anblick beruhigt. Es ist so friedlich. Auf einmal überkommt mich der Wunsch dorthin zu gehen und ins Wasser zu gleiten - eine Runde schwimmen. Soll ich wirklich? - Habe ich die Zeit dafür? Der Himmel ist noch dunkel, aber vielleicht graut es schon und ich kann es wegen der Bäume nicht sehen?
Das Wasser beginnt sich plötzlich zu kräuseln - was ist da los? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich es ja für einen kurzen Windhauch abtun, aber dann hätten auch die Bäume flüstern müssen und ich habe ihre Stimmen nicht gehört. Es ist schwer in der Mischung aus schimmerndem Wasser und Dunkelheit unter den Bäumen etwas zu erkennen, vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Nein, das kann nicht sein! Da - Da kommt etwas aus dem Wasser!
Es ist schwer zu erkennen, der schlanke Körper erscheint feucht und reflektiert das wenige Mondlicht - fast als würde er selbst daraus bestehen. Von dem kragenumrahmten Gesicht abgesehen, kann ich nur noch einen Schweif erkennen, der in zwei Flossen endet und ich überlege schon die ganze Zeit, welches Wesen das sein könnte. Einen Moment schaut es sich um und ich ducke mich hinter den Busch vor mir - lieber nicht entdecken lassen!
Bevor es verschwindet möchte ich es mir noch einmal ansehen! Wie schön die nasse Haut im Licht der Nacht aussieht, als wäre er mit Mondlicht übergossen worden.
Dieser Duft... es ist nun nicht mehr allein die Frische des Wassers die ich rieche, ich glaube es ist auch der Geruch von diesem Pokémon.
Es verschwindet mit fließenden Bewegungen in der Dunkelheit des Waldes und ich komme mir plötzlich komisch vor. Was tue ich hier?
Anscheinend sind doch noch andere Wesen zu dieser Zeit unterwegs - ich muss zurück! Ich kann hier nicht bleiben. Wenn sie nun die Aufmerksamkeit von einem Revierinhaber auf sich gezogen hat? Warum bin ich überhaupt gegangen? Wie konnte meine Neugierde nur stärker als mein Pflichtgefühl sein?! Ich darf keine Zeit verlieren!
Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber der Himmel scheint hier ohne die Abschirmung der Bäume schon etwas heller zu werden, zumindest wirkt es so auf mich. Sie schläft immer noch, auf der Erde, eingerollt in ein paar Decken. Besonders warm sieht es aber nicht aus...
Woher kommt plötzlich diese Müdigkeit?
Ich glaube, ich werde die restliche Zeit bis zum Sonnenaufgang schlafend neben ihr verbringen. Sie wärmen. Wenn ich ihr nicht zeige, dass mir ihre Freundschaft etwas bedeutet, behandele ich sie nicht besser, als sie mich früher.
Jetzt bin ich hier, einsam und verlassen. Ich denke an die Vergangenheit und an die Zukunft,
doch bei beiden sehe ich nichts Gutes. Ich hab’ eigentlich nie richtig gelebt, nun, vielleicht als kleines Kind,
als ich noch keine Probleme, keinen Kummer, gar nichts hatte. Aber an diese Zeit kann ich mich nicht mehr erinnern.
Die Drogen sind Schuld, nein, meine Muter. Ich war ihr nie wichtig, ihr Alkohol und ihre Drogen waren ihre Kinder,
das einzige wofür sie sich interessierte.
Sie gab mir die Drogen, als wären es Süßigkeiten, als wäre es sogar gut für mich,
warum hat sie das gemacht, was hab ich ihr getan?
Als das dann das Jugendamt mitbekam wurde ich wie ein Gegenstand von Familie zu Familie gereicht.
Niemand interessierte es dabei, wie es mir geht.
Ich fühlte mich wertlos, ungeliebt, wie Abfall.
Was habe ich falsch gemacht?
War ich zu ruhig, hätte ich mehr reden sollen? Nein, das hätte alles nur noch viel schlimmer gemacht.
Ich habe nie gelernt, wie es sich anfühlt, wenn man gebrauch wird und ich habe nie gelernt, wie es sich anfühlt,
wenn man geliebt wird.
Nie hat mich jemand in den Arm genommen, nie hat mir jemand einen Kuss auf die Wange gegeben,
das einzige was ich lernte war Schmerzen zu ertragen.
Ich hätte mich schon damals umbringen sollen, mir wäre so viel erspart geblieben.
Als ich mich dann auf die Straße flüchtete wurde es auch nicht besser, das Leben dort war fast schon schlimmer.
Im Mülleimer nach Überästen von altem McDonalds Burgern zusuchen und dreckiges Abflusswasser zutrinken,
war nicht mal das schlimmste,
denn die Kälte im Winter brachte einen fast um und das versetzt mir auch noch heute eine fast schon chronische Gänsehaut.
Womit habe ich das verdient, war ich ein Mörder in meinem vorherigen Leben?
Oder ist es Schicksal, gar Zufall?
Ich frage mich immer, was passiert wäre, wenn ich irgendetwas anders gemacht hätte,
ob ich dann vielleicht Millionär geworden wäre?
Doch auf der Straße habe ich dann wenigsten Leute kennengelernt,
die sich die gleichen Fragen stellen und auch eine genauso schreckliche Vergangenheit haben wie ich.
Diese Leute haben mich aber trotzdem nicht aufmuntern können, geschweige denn mir die Liebe geben,
die ich dringend brauchte.
Mein Leben hatte bereits keinen Sinn mehr , es gab keinen Grund einen weiteren beschissenen Tag zu leben,
keinen Grund aufzuwachen und zu rufen ’Hey ich liebe mein Leben’. Vielleicht gab es schon die ein oder andere Situation,
in der ich mich gut,
lebendig fühlte. Nein, das war dann, wenn ich wieder mal Drogen intus hatte.
Es geht nicht mehr, ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende, es frisst mich von innen auf, es ist vorbei.
Ich laufe jetzt einfach in diesen See, welch Ironie, er glitzert so schön im Mondschein und ich werde mich jetzt an einem so schönen Ort umbringen.
Das kalte Wasser tut so gut, ich lass’ einfach los und vergesse’ alles, ich höre einfach auf zu atmen...
Es ist nicht meine Schuld.
Er hat es sich selbst zuzuschreiben.
Er war es.
Er ist der Schuldige.
Hätte ich es nicht getan, hätte er es getan. Genau, früher oder später wäre ich diejenige gewesen, die dort am Boden lag, ächzend, wäre jämmerlich gestorben. An seiner statt. Und man hätte ihn nicht zur Rechenschaft gezogen – oh, nein! – es wäre nichts ans Licht gekommen. Denn er hat sich auf so etwas verstanden. Geheimnisse. Lügen. Betrug. Verrat. Sein Weg war geprägt von all jenem.
Ob er sich auf Mord verstanden hat?
Ich weiß es nicht. Ich werde es auch nicht mehr erfahren.
Aber ich bin mir sicher, er könnte es auch.
Es ist gar nicht so schwer, wie sie gesagt hat. Es ist wie im Rausch. Ich habe die Beherrschung verloren, bin auf ihn losgestürmt. Ich glaube, er hat gezittert. Ja, ein kümmerliches Elend am Boden, der einst so starke Mann… Er hat Angst gehabt. Wie ein kleiner Käfer hat er dort am Boden gelegen. Irgendwie hat mich dieser Anblick nur noch mehr gereizt, ihn zu zertreten. Wie einen kleinen, hilflosen Käfer unter meiner Schuhsohle zu begraben. Ihn leiden zu lassen – denn schließlich habe ich lange gelitten.
Hat er auch gelitten?
Hat er gefühlt, was ich all die Zeit gefühlt habe?
Hat er bereut?
Ich weiß es nicht.
Leider weiß ich gar nicht mehr, was passiert ist, nachdem ich auf ihn losgestürmt bin. Ich habe das Messer erhoben. Er hat Angst gehabt. Danach Schwärze. Nur einzelne Bruchstücke sind bis zu mir durchgedrungen. Sein Blut an meinen Fingern. Der Aufschlag. Die Stille. Mehr nicht.
Vielleicht auch besser so.
Trotzdem sind sie hinter mir her. Wollen mich finden. Ich will nicht ins Gefängnis. Nicht, wo ich mich doch jetzt von allen Sorgen befreit habe. Dieser triste Ort… Wieso wollen sie mich dorthin bringen? Weil ich ihn getötet habe? Weil ich mich selbst befreit habe?
Wieso soll es verboten sein, anderen das Leben zu rauben, wenn man damit vielen Menschen die Freiheit gibt? Es gibt doch auch die Todesstrafe für Verbrecher. Hier habe ich gerichtet.
Freiheit ist ein Recht.
Wieso suchen sie mich dann? Ich habe doch nichts Schlechtes getan. Sein Tod wird niemandem schaden.
Und dennoch… Irgendwie… Es ist ein seltsames Gefühl. Ich spüre sein Blut an meinen Fingern, obwohl ich sie immer wieder gewaschen habe. Es ist so… Beklemmend.
Und manchmal habe ich Alpträume. Finstere, hoffnungslose Alpträume, in denen sich das Trauerspiel wiederholt. Sein Gesicht. Ich sehe sein Gesicht vor mir. Wie es früher war. Die hohen Wangenknochen umrandet vom fettigen, dunklen Haar; seine schmalen, schattenhaften Augen, das überlege Lächeln auf den Lippen. Sogar den Geruch der Zigaretten habe ich noch in der Nase. Er hat immer eine teure Marke geraucht.
Jetzt sind seine Augen glasig. Auch dieses Bild ist trotz meiner lückenhaften Erinnerungen gestochen scharf. Jetzt kann er nie wieder rauchen.
Früher oder später wäre er an den Zigaretten gestorben. Ich habe ihm eigentlich nur Leid erspart.
Aber mir auch.
Ein gerechtes Ende.
Dennoch sind meine Hände blutbefleckt…
Trotz Allem.
Ich habe kein schlechtes Gewissen. Da nagt nichts. Es beklemmt nur. Wie eine Vorahnung. Aber mehr nicht.
Warum?
Ich habe doch einen Menschen getötet.
Aber nein…
Es ist nicht meine Schuld.
Er hat es verdient.
Er war es.
Er ist der Schuldige.
Wie die Modelleisenbahn zu meinen Füßen drehen sich meine Gedanken ständig im Kreis.
In einem langsamen, unaufhaltsamen Walzer rasen sie so lange umher, bis sie stehen
bleiben. Ausgesondert werden. Von Technik oder Leben verdrängt, das kommt darauf an,
ob es sich um die Maschine oder um mich handelt. Ich weiß nicht, was ärgerlicher ist.
Vater sagt, ohne die Menschen an ihrer Seite wären die Pokémon glücklicher. Es fällt mir
leicht, dies nachzuvollziehen, da sie niemand so kennt und schätzt wie ich. Denn ich hatte
das Glück, mit ihnen meine Kindheit und Gedanken teilen zu dürfen. Wären sie frei und
ungebunden, könnten sie tun, was sie wollen. Ohne die Menschen wäre die Erde ein
besserer Ort, bildet Vater sich ein... Doch ich sehe auf den Grund seines düsteren Herzens
und erkenne, dass er nicht alles preisgibt, was er begehrt. Er verlangt von mir Einsicht in
eine irrwitzige Ideologie, obschon er sie nicht mit mir teilt. Ich möchte, dass alle Pokémon
die Möglichkeit haben, glücklich zu sein, besonders, da mir dies nie vergönnt war. Wenn
das Glück mit den Menschen verknüpft ist, lässt sich das von niemandem korrigieren, auch
nicht von G-Cis.
Das Mitleid in ihren Seelen flüstert ihnen zu, dass er richtig liegt.
Doch er lügt.
Glaube ich... Zweifle ich?
Schade, dass wir uns nicht einig sind.
Gedankengänge rasen, entgleisen, kollidieren.
Oh, jetzt ist sie kaputt...
Verdammt. Es ist doch immer wieder das gleiche. Immer. Der einzige Unterschied scheint darin zu bestehen, dass ich mir manchmal hinterher nicht einmal denken kann, wie ich es hätte besser machen können. Aber das ist nicht wirklich ein Unterschied. Das bekommt außer mir sowieso keiner mit. Nicht Lisa, nicht Paul, nicht Amy. Besonders nicht Amy. Wenn Amy irgendetwas von den Gedanken, die ich mir um sie mache, mitbekommen würde, würde ich vor Scham wohl im Boden versinken. Dabei wäre es doch so einfach, ihr einfach meine Gefühle anzuvertrauen. So wie Paul es bei Lisa gemacht hat. Hat doch super geklappt. Die beiden sind jetzt schon ewig ein Paar.
Paul hat es richtig gemacht. Er hat Lisa seine Liebe gleich nach ein paar Wochen gestanden. Das könnte ich auch, das ist dann nicht so schwierig. Mit Amy war es komplizierter. Wir kannten uns schon viel zu lange, als dass ich eine Abfuhr von ihr ertragen könnte, ohne ihr danach nur noch aus dem Wege zu gehen. Wenn man sich erst kurz kennt, und es dann nicht klappt, hat man nicht die Probleme, die ich mit Amy haben würde – man trennt sich einfach und muss sich nicht wieder sehen. Oder man wird einfach zu Freunden. So herum ist das möglich. Paul, Amy und Ich – und Lisa, als sie durch Paul dann zu uns stieß – trafen uns mehrmals in der Woche. Wir trafen uns in Bars, gingen ins Kino oder zum Bowlen. Wenn ich die Sache mit Amy versaue, weiß ich nicht, wie es weitergehen sollte. Schließlich ist sie auch Pauls und Lisas Freundin. Ich würde die ganze Gruppe auseinanderreißen. Das kann ich nicht riskieren. Verdammt.
Also muss ich wohl irgendwie auf subtilere Art herausfinden, ob Amy vielleicht doch auch Gefühle für mich hegt. So wie die letzten Treffen. So wie heute. Auch, wenn es bis jetzt noch nicht zu Ergebnissen geführt hat. Aber das wird. So oder so. Ich brauche nur bessere Strategien als die, die ich bis jetzt ausprobiert habe. Gar nicht so einfach. Ich könnte Lisa und Paul einweihen. Sie könnten mit helfen. Zur Not mit einem Frontalangriff. Paul könnte ganz unverbindlich in den Raum werfen, dass Lisa und er ein so schönes Paar abgeben würden, und mit seinem sarkastischem Lächeln im Gesicht hinzufügen, dass Amy und ich doch auch zusammen passten. Hm. Obwohl es mich sehr interessiert, wie Amy reagieren würde, wäre das vielleicht doch eine Spur zu gewagt. Andererseits – wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Jedes Wagnis bedeutete aber auch das Risiko auf eine Verlust. Und verlieren wollte ich Amy auf keinen Fall. Verdammt. Ich könnte auch mit Lisa sprechen. Sie und Amy sind doch gute Freundinnen. Und Freundinnen reden doch über alles. Hab' ich gehört. Könnte Lisa Amy nicht direkt fragen? Und mir hinterher genauen Bericht erstatten? Ja. Das klingt gut. Dann weiß ich genau, wo ich stehe. Aber Moment – Wenn Freundinnen wirklich über alles reden, dann bestimmt auch darüber, dass sich eine männliche Person nach den Gefühlen der einen Freundin erkundigt. Würde Lisa meine Gefühle an Amy weitergeben? Nicht auszuschließen. Verdammt. Diese Möglichkeit fällt also auch weg – Lisa kann ich auf keinen Fall einweihen.
Dann also nur Paul. Paul würde mich nicht verraten. Aber in wie weit kann mir das weiterhelfen? Abgesehen vom Frontalangriff fällt mir nicht ein, wie Paul Amys Gedanken besser erforschen könnte als ich selber es kann. Schön, vielleicht kann er sie einfach fragen, ob sie zur Zeit einen Typen im Auge hat. Hatte sie lange nicht. Genau wie ich lange keine Freundin hatte. Dieser Umstand sollte mir eigentlich Mut machen. Vielleicht hat sie auch heimliche Gefühle für mich? Vielleicht weiß Lisa davon? Vielleicht sogar Paul? Vielleicht macht sie ganz ähnliche Pläne?
Nein, das sind zu viele „vielleichts“. Und dennoch, das sie lange kein Freund mehr hatte, ist Fakt. Immerhin etwas. Ich weiß nicht, wie ich es ertragen sollte, wenn Amy zum nächsten Treffen mit einem anderen Typen ankommen würde. Wenn sie sich vor meinen Augen küssen würden. Wenn ich mir vorstellen müsste, was – aber nein. Sie hat keinen Freund. Es gibt keinen Grund, sich unschöne Gedanken zu machen. Noch nicht. Aber zu lange darf ich nicht warten. Will ich nicht warten. Kann ich nicht warten. Eine Idee muss her. Eine Taktik, eine Strategie, ein Schachzug – schreibt sie vielleicht Tagebuch? Hah. Wenn das kein toller Plan ist. Um herauszufinden, ob sie Gefühle für mich hat, schleiche ich mich unbemerkt in ihr Zimmer, suche ihr Tagebuch, und lese es einfach nach! Verdammt. Wenn das heute meine beste Idee dazu ist, kann ich auch gleich schlafen gehen. So wie gestern. Und vorgestern. Die ganze Woche über.
Aber nein. So schnell gebe ich heute nicht auf. Heute sage ich zwar nicht, ich würde erst ins Bett gehen, wenn ich eine Lösung gefunden hätte – das habe ich diese Woche schon zweimal gesagt, das erste mal habe ich es durchgezogen und bin am nächsten Morgen, natürlich ohne geschlafen zu haben, zur Uni gefahren. Um den Schlaf dann während der ersten Vorlesung nachzuholen. Das zweite mal, den darauffolgenden Abend, bin ich trotz Vorsatz sofort am Schreibtisch eingeschlafen – aber ganz ohne mir weitere Gedanken zu machen möchte ich auch nicht schlafen. Aber hey, im Schlaf werden mich die Gedanken an Amy auch nicht loslassen. Wie toll wäre es, im Traum die Lösung zu erfahren? Vielleicht kommt sie mir einfach zugeflogen. Am folgenden Tag muss ich dann nur noch meinen Traum in die Wirklichkeit umsetzen und alles wäre gut. Ach ja. Wenn es doch so einfach wäre. Ist es aber leider nicht. Verdammt.
Was bleibt noch? Ich habe versucht, ihr öfter als gewöhnlich in die Augen zu schauen. Habe sie unter irgendeinem Vorwand beiläufig am Arm berührt. Ihr in wichtigen Streitfragen innerhalb der Gruppe zugestimmt. Saß jedes mal in der Uni neben ihr. Wir haben uns viel unterhalten, viel zusammen gelacht. Es gab nur ein Problem: Das alles hätte ich größtenteils auch als normaler Freund getan. Deshalb hat sie davon wahrscheinlich noch nicht einmal etwas gemerkt. Genauso wenig wie Lisa und Paul. Die beiden hätten mich bestimmt schon darauf angesprochen, wenn sie etwas Auffälliges an mir gemerkt hätten. Also. Mir bleibt nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Dieses Problem löst sich nicht von selbst. Und schon gar nicht über Nacht. Leider. Dann also morgen auf ein Neues. Wenn es morgen nicht klappt, weihe ich Paul ein. Er soll mir einen Ratschlag geben. Er muss mir helfen. Fangen wir halt mit einem Frontalangriff an. Verdammt.
Warum bist du gegangen? Du hast mich allein gelassen in meiner Welt, hast mich fallen gelassen.
Ich trauere um dich, du fehlst mir so sehr. Ich konnte dir nicht einmal 'Lebe wohl' sagen, so schnell bist du weg gewesen. Ich verschließe mich, lasse keinen an mich heran. Du gehörst zu mir, zu einem Teil meines nun zerbrochenen Herzens. Jeden Tag laufe ich traurig herum, wünsche, du wärst bei mir.
Ein Blick zum Himmel, ein weiterer Stich in meiner Seele. Immer hast du Witze gemacht und mit mir zusammen gelacht. Doch dann bist du krank geworden und ich sehe dich gar nicht mehr, du bist wie versteckt vor mir. Ich höre, das du gestorben bist, ich bin geschockt, kann mich nicht mehr rühren.
Meine Existenz, mein Leben, ist wie weggeblasen und ich lebe nur noch für dich. Ich vergieße Tränen für dich, Tränen der Trauer, Tränen des Verlustes.
Warum trifft es nicht mich, warum haben sie dich mir genommen? Die Anderen verhöhnen mich, lachen mich aus, doch ich, ich denke nur an dich.
Gibt es denn keine Schutzengel, die dich hätten beschützen können? Nein, gibt es nicht, denn sie beobachten uns nur, sie helfen nie, es gibt keinen Helden, der dich hätte retten können. Ich gebe mir die Schuld, das du gestorben bist und ich verkrieche mich, will nicht angesprochen werden. Viel zu groß ist die Angst, wieder in einen Fluss von Tränen auszubrechen.
Ich gucke mir jedes Foto von dir an, um die Erinnerung an dich nicht zu verlieren. Wenn ich könnte, würde ich dich zurückholen und in meine Arme schließen, doch das kann ich nicht. Man kann Tote nicht zurückholen, so sehr man es auch will.
Du, der mir am wichtigsten ist. Meine Gedanken sind nun leergefegt, ich bin vollkommen zufrieden...und endlich bei dir.
Wer bin ich? Wieso lebe ich? Was ist der Sinn meines Lebens? Ich bin nur gefangen, gefangen in diesem Körper. Man hat mich geklont. Aus den Genen eines schwächlichen Wesens. Ein Mensch hat mich erschaffen, ein MENSCH! Wie ich diese Wesen verabscheue!
Sie haben mich ausgenutzt und gequält. Ich will ein Leben, ein echtes Leben. Doch dies ist nur ein Traum, er ist nichts wert, nur ein Sandkorn unter tausenden. Ich bin ein Dämon, auf jeden Fall scheint es so. Doch auch ich bin am Leben, auch ich habe Gefühle, selbst wenn ich nur ein Klon bin. Mein Leben, es interessiert niemanden, NIEMANDEN! Eine Kampfmaschine soll ich sein! Doch das will ich nicht sein. Ich will mein eigenes Leben. Fern von den Menschen, fern von allem hier. Diese Welt bedeutet mir nichts, sie hat mir nie etwas bedeutet. Selbst wenn man mich tötet, es wäre mir egal. All das hier, die Qual, die Leiden, all das brauche ich nicht. Ich könnte diese Welt zerstören, doch ich werde es nicht tun. Es gibt Personen, die ich hasse, doch es gibt auch Personen, die mir vertrauen, denen ich vertraue. Aber was tun sie? Nichts! Es ist ihnen egal was mit mir passiert, ich habe ihnen vertraut! Ich hätte es wissen müssen. Auch sie sind nur Menschen, erbärmliche Menschen. Nie wieder, nie, werde ich ihnen glauben können. Sie sind alle gleich. Tötende, egoistische, selbstverliebte Wesen ohne Rücksicht auf Verluste. Das Einzige, das mich leben lässt, ist die ewige Hoffnung. Ohne sie würde kein Wesen leben, weder Mensch, noch Pokemon. Doch es ist nicht nur die Hoffnung, es sind die Träume. Es sind allein die Träume, die dem Leben einen Sinn geben. Aber mein Leben, es hat keinen Sinn. Von allen gehasst und verstoßen. Das bin ich. Wenn ich in die Ferne blicke, sehe ich Freiheit, die nicht für mich bestimmt ist. Trügerische Freiheit. Freiheit hat seinen Preis. Bei mir einen hohen. Wenn ich von hier fliehen würde, würde ich nur erreichen, dass man mich wieder einfängt. Und dann erwartet mich noch mehr Leiden. Als ob man mich noch nicht genug quält! Ach, was soll ich nur tun? Ich bin ratlos. Kein Wesen auf dieser Erde würde mir helfen können! Keiner versteht mich, keiner wird es je können. Tief in mir drin ist es, dieses Gefühl. Das Gefühl, gebraucht zu werden, aber von wem?? Wer auch immer es sein mag, ich brauche ihn nicht! Ich brauche diese Welt nicht! Ich will einfach nur weg von hier, den Sinn meines Lebens finden. Bald, bald werde ich gehen, in die Ferne. Dorthin, wo Arceus über die Pokemon wacht. In eine Welt, wo Gerechtigkeit herrscht. In eine Welt, wo auch ich etwas wert bin. Gibt es eine solche Welt? Die Hoffnung besteht. Sie lebt weiter bis zum bitteren Ende und noch weiter. Denn die Hoffnung, sie stirbt nie. Und ich hoffe, das hält mich am Leben. Bis in alle Ewigkeit.
Ich schaute noch zu, wie Cheren, Lauro und G-Cis den Raum verließen.
Schnell schaute ich nach N. Er schien noch leicht in gedanken zu sein. Es müsste für ihn
wirklich ein Schock gewese zu sein, das er einfach ausgenutz wurde. Soll ich jetzt mit ihm
reden? Doch was sollte ich ihn sagen? Eigentlich hatte Lauro schon fast alles gesagt...
Plötzlich sagte N, dass er mit mir was besprechen wollte. Mein Herz fing an heftig zu
schlagen und ich spürte, dass mein Gesicht leicht rot wird.
Ruhig gingen wir richtung zum neuem Fenster, welches Reshiram vor kurzem hergestellt hatte.
Langsam kamen wir immer näher und näher.
Mir gingen so viele Szenen von Love-Mangas durch den Kopf.
werden wir uns nicht etwa...
Dann fing er was über unsere erste Begegnung zu reden.
Will er jetzt sagen, dass er mich seit dem liebt und das ich die einzige für ihn bin...
Nein, es geht um meine Pokemon. Naja, mindestestens ein Fortschritt.
Eindeutig besser als das, was er im Riesenrad gesagt hatte. Dies war richtig Peinlich
hoch 10!!
Wir gingen einwenig weiter. N redete drauflos. Leider nur nicht das, was ich gehofft habe.
Es sind doch nur drei Wörter. Komm schon, sag sie mir bitte. Nur dieses mal...
Jetzt Standen wir vor dem Loch der Mauer. N rief Reshiram aus seinem Pokéball.
Was hat er jetzt vor? Hoffentlich nicht das, was ich denke.
N meinte , dass ich meine Träume verwirklichen kann.
Ihm habe ich einteil meiner Träume ersählt, aber noch nicht alle. Was wäre, wenn ich ihm
jetzt sage?
Bevor ich noch was dazu sagen konnte, sagte N leb wohl und sprang auf dem Rücken von Reshiram.
Beide verschwanden in der Dunkelheit der Nacht. Soll ich Zerkrom
rufen und denen hinter eilen? Nein, es wäre schon zu spät und man würde mich vermissen.
Doch irgendwann werde ich N wiedersehen und ihm meine Gefühle erzählen! Vielleicht verstehter mich dann auch besser.
Mein Herz, es schlägt so schnell.
Gleich wird es zerspringen. Was soll ich tun? Was tue ich hier? Wie
tief sinke ich denn gerade? Was ist mit meinen Prinzipien? Warum
verrate ich sie, einfach so, als wären sie nichts wert? Ich habe
durchaus meine Gründe, warum ich sie mir selbst so gesetzt habe. Ich
bin doch vernünftig und ich bin doch auch treu. Oder etwa nicht?
Wie konnte ich nur in diese Situation
geraten? Ich sitze wie der letzte Depp auf dieser Kiste auf unserem
Balkon und vor mir hockt sie. Meine ehemals beste Freundin,
die ich auf genauso schreckliche Weise verraten habe, wie sie mich.
Und was sagt sie nun? All diese Prügeleien, von denen ich vor so
vielen Jahren gehört habe, soll sie für mich gefochten haben? Wenn
jemand es wagte, schlecht über mich zu reden, mich zu beleidigen?
Obwohl wir zu dieser Zeit schon zerstritten waren. Sie sagte doch
damals, dass sie mich hasst. Was soll ich davon halten?
Aber andererseits habe ich ihr vor all
diesen Jahren doch niemals wirklich glauben können, oder nicht? Nun
sagt sie die Wahrheit. Ich kenne sie. Sie sagt definitiv die
Wahrheit. Vielleicht rede ich es mir aber auch nur ein. Vielleicht
will ich ihr einfach nur glauben. Wie oft hat sie mich schon
manipuliert? Ich bin ja so ein Idiot, dass ich jetzt schon wieder auf
sie herein falle!
Nein, dass stimmt nicht. Ich bin dumm,
ihr nicht glaube zu wollen, nur weil mich schon so viele verraten
habe. Sie redet mir ruhig zu. Ehrlich. Dennoch zweifle ich. Noch nie
hat sich jemand so mit mir auf eine Stufe gestellt. Es reden doch
immer nur alle auf mich ein, sehen auf mich herab. Und das liegt
nicht nur an meiner Körpergröße! Doch jetzt hockt gerade sie vor
mir. Ihre schönen Augen glitzern. Ich bin so viel schwächer, spüre
die Tränen schon auf meinen Wangen! Wenn ich mich doch nur
zusammenreißen könnte! Aber wie immer entblöße ich meine Seele
vor ihr. Ich Dummkopf! Warum bin ich nur so verletzlich?
Die ganze Situation läuft mir aus dem
Ruder. Ich muss die Hände zu Fäusten ballen, ich muss meinen Körper
spüren und bei mir bleiben. Bloß nicht in die Vergangenheit
abdriften. Sonst bin ich ihr vollkommen hilflos ausgeliefert.
Aber sie ist doch gar keine Bedrohung
für mich. Sie will mir wirklich helfen, mir nur sagen, wie viel ich
ihr bedeute. Die ganze Zeit schon schwört sie es. Selten, nein nie,
habe ich so viel Ehrlichkeit auf einem Gesicht sehen können. Wie
kann ich da überhaupt an ihren Worten zweifeln? Es ist einfach zu
schön, um wahr zu sein. Es war so viele Jahre lang mein geheimster
Traum, dieses Gespräch mit ihr zu führen. Genauso, wie ich es mir
immer erträumt habe. Sie hat mich nie gehasst, ich war ihr stets
wichtig.
Doch es läuft nie etwas so, wie ich es
mir wünsche! Das Pech ist doch mein stetiger Begleiter, Glück ein
selten gesehener Gast. Und wenn mir etwas Gutes widerfährt, dann
nur, damit kurz darauf etwas viel schlimmeres passieren kann! Wenn
das hier nun wirklich wahr sein sollte, ihre Worte wirklich ehrlich
sind, welches gewaltige Unglück kommt dann in Zukunft auf mich zu?
Ich sollte mich hiervon losreißen und verschwinden, solange es noch
geht. Schließlich hätte ich allen Grund dazu. Dort, direkt hinter
dem Fenster neben mir, liegt meine Freundin in ihrem Bett und findet
einen schnellen Schlaf nach all dem Alkohol, dem Tanzen und Trinken.
Sie ruft nach mir, mit herrischer Stimme. Ich sollte zu ihr gehen.
Aber ich bin doch noch gar nicht müde.
Ich fange gerade erst an, richtig zu leben. Sie ist grausam zu mir,
geht mir fremd, hat offiziell sogar einen festen Freund, der bestimmt
nicht ich bin. Es ist nicht, weil ich ein Mädchen bin und sie sich
schämt. Sie sucht das Abenteuer, sucht die Bestätigung, die Lust.
Alle, denen ich dies und all ihre anderen Gemeinheiten – die
Schläge, die Worte, den ständigen Streit, das Herumkommandieren –
gestand, sagen mir immerzu, ich solle sie verlassen. Warum also kann
ich diesen letzten Schritt nicht gehen? Ich bin nicht einmal böse
auf sie, will ihr auch nicht weh tun, aber ich liebe sie nicht mehr.
Das ist doch eigentlich ganz simpel! Warum also verlasse ich sie
nicht? Weil ich ein elendiger Feigling bin. Dabei ist es doch so
offensichtlich, egal wie sehr ich auch dagegen ankämpfe und es mir
ausreden will, dass ich mich inzwischen in jemand gänzlich anderen
verliebt habe. Deshalb kann ich meinen Blick nicht abwenden, von dem
Mädchen, das immer noch vor mir sitzt.
Wie verstohlen sie mich anlächelt! Mir
wird ganz heiß. Ich muss mich jetzt befreien oder ich werde einen
furchtbaren Fehler begehen. Oder wäre das genau das richtige? Wie
soll ich so noch weiterleben? Ich fühle mich wie in einem Käfig,
dessen Tür offen steht. Aber ich kette mich doch selbst an! Wenn ich
schon so feige bin, mich nicht von ihr zu befreien, dann sollte ich
meiner Freundin wenigstens treu sein und nicht heimlich von einer
anderen Frau träumen. Schließlich kann sie so ein liebevolles Wesen
sein.
Doch nicht zu ihrer Liebsten. Furie.
Ich kann das nicht mehr. Ich will mich in den strahlenden Augen
dieser anderen Frau verlieren. Ich will nicht mehr dagegen ankämpfen.
Aber was rede ich mir denn da ein? Als ob hieraus jemals etwas Festes
werden könnte! Eigentlich will ich das ja auch gar nicht. Es fühlt
sich nur so gut an, dass ich ihr wichtig bin. Jetzt beteuert sie es
schon wieder. Ich bin ihr sehr wichtig, sagt sie sogar. Ich bin ihr
eine sehr wichtige Freundin. Wie schön. Ich bedeute ihr viel. Ich
bin ihr die liebste Dienerin.
Jetzt hat sie mich. Und warum? Weil sie
mich ihre Lieblingssklavin nennt. Bravo! Für jeden anderen halbwegs
normalen Menschen wäre das eine Beleidigung. Und ich? Wäre ich ein
Hund, ich würde mit der Rute wedeln! Aber das hatte ich doch schon
alles. Damals habe ich sie meine Herrin genannt, meine Göttin,
Mylady. Unsere Beziehung war sehr eng. Ich habe die letzten Jahre
ständig versucht, das zu verdrängen.
Warum eigentlich? Wir haben gemeinsam
verrückte Erfahrungen gemacht, gemeinsam zu uns selbst gefunden.
Eigentlich haben wir uns doch nur so zerstritten, weil die
Gesellschaft dieses verdammten kleinen Dorfes uns Monster nannte, uns
verachtete, verhöhnte, mit dem Finger auf uns zeigte. Habe ich sie
geliebt? Wahrscheinlich. Aber hat sie mich geliebt? Ich glaube nicht.
Liebe ich sie? Möglicherweise. Sie mich? Wohl kaum. Aber ist das
überhaupt wichtig? Sie liebt mich nicht auf diese Weise, aber auf
eine andere, vielleicht sogar noch viel tiefer gehende.
Ich kann einfach keinen Ton hervor
bringen. Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Soll ich ihr sagen,
was sie mir bedeutet? Noch einmal beteuern, dass alles was damals
passiert ist mir leid tut? Oder sollte ich aufstehen und gehen, bevor
die Situation noch unangenehmer für uns beide wird? Ich Lügner! Es
ist alles andere als unangenehm für mich. Ich will diese Frau nie
wieder verlieren!
Jetzt hat sich meine Zunge selbständig
gemacht, ohne dass ich richtig über meine Worte nachdenken konnte.
Was habe ich gesagt? Lass mich nie wieder allein. Habe ich das
wirklich gesagt? Ja, dass ist es wohl, was mein Herz denkt. Wie
zärtlich sie schaut! So viel Liebe. Wie sehr habe ich mich gesehnt,
nach einem solchen Blick, der mir gewidmet ist? Kann das denn
wirklich wahr sein? Ja, ihre Worte sind die Wahrheit. Sie hat mich
nie wirklich allein gelassen, so wie sie sagt. Ich glaube ihr. Ich
weiß es. Doch was tut sie jetzt?
Sie unterstreicht ihre Worte, nimmt mir
alle Zweifel.
Verdammt, fast sechs Jahre habe ich
davon geträumt und heute bin ich das erste Mal in meinem Leben
angetrunken! Wenn ich mich morgen nicht mehr richtig an das Gefühl
ihrer Lippen erinnern kann, werde ich mich auf ewig hassen! Es stimmt
also doch, dass man nichts denken kann. Da waren nur sie und ich und
unsere Berührung. Nicht mehr, denn mehr geht wohl nicht. So schnell
kann ich also meinen Verstand verlieren, auf den ich doch eigentlich
so stolz bin.
Wie seltsam leicht ich mich plötzlich
fühle. Lächle ich etwa? Ja und zittern tue ich auch. Meine Hände
sind schweißnass. Das habe ich alles gar nicht bemerkt. Warum nur
ist dieser Augenblick schon vorbei? Ich will noch einmal, noch mehr!
Doch sie erhebt sich, was wohl heißt,
dass ich gleich gehen muss. Ja, ich hatte recht. Sie schickt mich ins
Bett. Vielleicht beendet meine Freundin dann endlich ihr hysterisches
Geschrei! Seltsam, wie gut ich es bis zu diesem Augenblick ausblenden
konnte. Noch seltsamer, dass ich kein schlechtes Gewissen verspüre.
Ich bin wohl doch ein böser Mensch. Dabei habe ich immer geglaubt,
ich wäre sozial und hätte gute Prinzipien, gute Einstellungen. Aber
letztendlich bin ich nur ein Heuchler.
Wie konnte ich nur in eine solche
Situation geraten? Warum ist mein Verstand verstummt? Ich habe auf
mein Herz gehört und endete in diesem Labyrinth der Lust und Liebe.
The sound of harmony may reach your heart, but you’re incapable of understanding its meaning.
„Das Leben ist schön.“
Diesen Satz habe ich schon oft in den vielen vergangenen Jahren vernommen und doch bin ich nie hinter seine wahre Bedeutung gekommen. Doch warum hätte ich es mir zur Lebensaufgabe machen sollen, das Rätsel hinter diesen vier Worten zu lösen, um mir schlussendlich sein überquellendes Wissen anzueignen? Ganz einfach.
Ich war schon immer davon fasziniert, es zu erfahren.
Schon sehr früh wurde ich gemieden, weil ich hässlich sei und es nicht verdient habe, auf dieser Welt zu sein. Völlig gleich, wen ich auf meinem Weg traf; ich hörte doch immer wieder die gleichen Aussagen, als hätten sie einen Groll gegen mich entwickelt. Warum aber war das so? Hatte ich etwas Schlimmes verbrochen, dass man mir so begegnete? Durfte ich mein Dasein nicht ausleben, weil ich in ihren Augen abstoßend wirkte? Darf ich das selbst jetzt überhaupt noch?
Meine Hässlichkeit war ihnen also ein Dorn im Auge. Ich kann nicht anders als lachen, dass ich mich damals erst ab diesem speziellen Zeitpunkt bemitleidete und realisierend die Wahrheit vor meine Augen führte. In Wahrheit wusste ich es nämlich von Anfang an, doch erst ein Impuls hat dieses Denken an die Oberfläche gebracht und mein Herz in Mitleidenschaft gezogen. War mir diese, von allen gewünschte, Schönheit einfach vergönnt oder hatte ich mich in eine Sackgasse verirrt, sodass ich nicht anders denken konnte?
Egal, wohin mich mein Weg führte; ich stieß auf Ablehnung. Mir ist nach wie vor bewusst, wie sehr es mich schmerzte, meine Seele verzerrte und so fand ich meinen einzigen Ausweg in der einen Sache, die mich seit jeher begeistert hatte: Das Singen. Was hatte es in mir Emotionen ausgelöst, wenn ich jemand anderem lauschen durfte! Aus dieser Bewunderung entstand schließlich der Wunsch, diese Schönheit der Stimme nachzuahmen und ebenfalls damit zu beginnen. Ein Fehler, wie ich bald feststellen musste.
Noch immer beschämt lernte ich hauptsächlich dann, wenn niemand anwesend war. Wenn ihnen schon meine äußere Erscheinung nicht gefiel, wie sollte das dann die Stimme bewerkstelligen können? Ich wusste es nicht und doch konnte mich nichts davon abhalten, weiterhin zu üben. Einmal jedoch wurde ich überrascht, als sich zwei der anderen Einwohner in der Nähe aufhielten und sich laut fragten, woher dieser liebliche Gesang komme. Als sie mich erblickten und ich noch einen Ton angestimmt hatte, änderten sie schnell ihre Meinung zum Negativen und ließen mich zurück.
Was hatte ihnen nicht gefallen? Ich hatte doch vernommen, wie sie sich über mein Lied gefreut hatten und doch waren sie mir gegenüber wieder unterstellend und abweisend. War es am Ende deswegen, weil ich nach wie vor ich selbst und in ihren Augen hässlich war?
Darauf sollte ich auch bald eine Antwort erfahren, denn eines Tages belauschte ich deren Gespräch mit einigen ihrer Freunde, denen sie von diesem Erlebnis erzählten. Sie schwärmten von dem wundervollen Gesang, der seinesgleichen suchte und als dann bei der Auflösung mein Name fiel, brachen alle in schallendes Gelächter aus. Ich solle mich nicht aufspielen, als wäre ich etwas Besseres, rief einer prustend und ein anderer meinte, das Singen wäre nicht für mich bestimmt.
Damit war mein Herz endgültig gebrochen und ich entfernte mich leise unter Tränen. Ich hatte die wenige Kraft, die ich noch besessen hatte, in all diese Noten gesteckt, meine Leidenschaft gelebt und doch wurde auch das verschmäht. Gab es auf dieser Welt – in dieser Zeit – überhaupt jemanden, der mich, so, wie ich war, akzeptieren konnte oder war selbst das ein Hirngespinst meiner Fantasie? Mir wurde bewusst, dass ich wohl nie die Anerkennung finden würde, die ich schon seit langer Zeit suchte und so streifte ich alleine durch die unendlichen Weiten dieses Meeres.
Jedes Mal, wenn mir danach war, stimmte ich ein Lied an. Von der bisher freundlichen Klangart war nichts mehr zu hören; stattdessen beherrschte mich die Trauer und klagevolle Laute entronnen meiner verletzten Seele. Ich konnte nicht anders; mein Wille veranlasste mich dazu, meine persönliche Wehmut auf diese Art aus dem Körper zu lassen. Ungeachtet der Zuhörer, die womöglich lauschten. Ungeachtet meiner Selbst, die sich nur in Selbstmitleid vertiefte.
Mit der Zeit hatte ich meine eigene Sprache in den Liedern entwickelt, weswegen nur ich sie noch wörtlich verstehen konnte. Aber wenn andere Wesen wirklich zur Empathie imstande waren, so verstünden sie dennoch mein Anliegen und durften mit mir trauern, wenn sie der Klang meiner Stimme berührte.
Seitdem ist viel Zeit vergangen, in der ich meine ungezügelten Emotionen unter Kontrolle gebracht habe. Mein Enthusiasmus hat sich nicht verändert, doch die Themen meiner Gesänge haben sich wieder und wieder gewandelt. Ob auch andere die Gefühle dahinter verstehen? Vielleicht sollte ich einmal jemanden fragen; obwohl mir das wohl wieder nur gehässige Bemerkungen einbringen würde, aber ich bin daran interessiert.
So streife ich durch meine alte Heimat und summe eine neuerliche Melodie, die langsam Gestalt annimmt. Viele andere Bewohner sehen mir hinterher und tuscheln, doch bald begegne ich jenen zweien, die mich damals bei meiner Leidenschaft entdeckt haben. Einer sagt, ich sei bildhübsch und mein Gesang sei nur für auserwählte Ohren bestimmt zu hören. Ein Danke verlässt meine Kehle, woraufhin der andere meint, es erinnere ihn an ein anderes Wesen von früher. Ich hauche mit zarter Stimme, dass ich dieses Wesen gern kennenlernen würde, jedoch lehnen sie es schnell ab, da es wohl schon lange nicht mehr in der Gegend gesehen wurde.
Diese Haltung betrübt mich, doch ich lasse mir nichts anmerken. Schließlich bin ich dieses Wesen, das sie damals ablehnten und nach dieser langen Zeit schließlich annehmen. Liegt es an der Veränderung, die ich durchlaufen habe, an meiner schon seit Langem gewünschten Schönheit? Vielleicht werden sie schlicht dadurch geblendet und sehen mich in einem anderen Licht als früher. Doch meine Seele hat sich nicht verändert, als dass es ein solch großes Ausmaß annehmen würde. Warum haben sie dann ihre Ansicht gewechselt und akzeptieren mich nun?
Schönheit ist Gift und ich frage mich, ob ich nur deswegen die Anerkennung gefunden habe oder ob deren Bewusstsein eine Wandlung durchgemacht hat. Meine Stimme und die damit verbundenen Gefühle, die ich anderen auf diese Weise mitteile, sind mir geblieben; meine Verhaltensweise ebenso. Doch es scheint, dass diese harmonischen Klänge, gepaart mit meiner äußeren Ausstrahlung, die anderen blind für das Wesentliche machen. Im Endeffekt hat das neue Erscheinungsbild keine Verbesserung gebracht. Ich fühle mich nur noch mehr verraten und hintergangen, doch ich lasse mir davon nichts anmerken. Sollen sie doch mein bildhübsches Äußeres, wie sie zu sagen pflegen, oder meine Stimme lobpreisen; es wird nichts daran ändern, dass ich eine einsame Seeschlange bleiben werde, die ihr Dasein gemeinsam mit ihrem Gesang fristen wird. Andere mögen noch so sehr davon eingenommen und beruhigt sein, wenn sie ihn hören, doch niemand wird die Trauer innerhalb dieser Noten und Worte verstehen können.
Das Leben ist schön.
... Oder?
Und ich dachte wirklich, so etwas würde mich kalt lassen. Ich dachte, nachdem ich so viel gesehen, so viel erlebt habe, dass mich ein weiteres zerstörtes Leben nicht interessieren würde.
Warum ist da trotzdem dieses Gefühl? Dieses seltsame, undefinierbare Gefühl? Es schmerzt. Es schmerzt und ich wünschte, es würde verschwinden. Immer, wenn ich bisher jemanden getötet habe, dann war da nichts. Überhaupt nichts. Keine Freude, keine Trauer. Nur Leere. Sie interessieren mich nicht, die Menschen.
Und doch ist es dieses Mal anders. Dieses Mädchen. Wenn ich an es denke, füllt sich mein Körper mit dieser seltsamen Wärme. Sie ist nicht angenehm, nein, es fühlt sich an, als würde sie mich auffressen. Und ich muss an dieses Kind denken. Ständig. Sobald ich die Augen schließe, ist sie da. Sobald es still ist, höre ich ihre Stimme. Und sobald ich endlich meine, sie aus meinem Kopf verscheucht zu haben, spüre ich ihre kleine, zarte Hand, die mir unbeholfen ihr rotes Taschentuch um die meine bindet.
Sie verfolgt mich. Mit ihrer roten Jacke, der großen Kapuze, ihren braunen Haaren und ihrer naiven, kindlichen Art, die mir vertraut, obwohl ich nun wirklich niemand bin, dem man vertrauen sollte. Weshalb fragte sie gerade mich nach dem Weg? Warum nicht irgendjemand anderen?
Ich verstehe das nicht. Und wahrscheinlich werde ich es auch niemals verstehen. Es sollte mir sowieso egal sein. Ich will das nicht! Es soll aufhören. Warum wird es schlimmer, je mehr ich versuche, es zu vergessen? Dieses Kind, dieses verdammte Kind, es ist bloß irgendein Kind! Es kann mir doch vollkommen gleich sein, wie es ihm jetzt geht. Wo es ist. Was es tut. Wie es jetzt von mir denkt. Und doch, da sind diese Worte. Seine Worte.
Du hast mich angelogen. Schon wieder sind sie da. Sie sollen endlich verschwinden, sie sollen –
Du hast mir versprochen, mich zu meiner Oma zu bringen. Aber du hast mir den falschen Weg gesagt. Das war gemein von dir.
Diese vier Sätze. Warum hat sie überhaupt noch mit mir gesprochen? Hätte sie sich nicht fürchten müssen? Hätte sie sich nicht weinend hinter den Polizisten verstecken, nach ihrer Mama rufen und mich abgrundtief hassen sollen?
Stattdessen nur diese Worte. Mit diesem leeren, traurigen Ausdruck in dem kleinen Gesicht. Vielleicht war es kein Hass gewesen, kein Zorn. Vielleicht war es Enttäuschung.
Warum? Es wäre nur verständlich gewesen, wenn sie mich gehasst hätte. Wieso tat sie es nicht? Und noch viel schlimmer, warum… ja, warum verletzt mich das so sehr?
Warum schmerzen die Worte dieses Kindes so viel mehr als die Tatsache, dass ich jetzt im Gefängnis sitze? Warum schmerzen sie mehr als der Gedanke an den Tod, dem ich jetzt wohl nicht mehr aus dem Weg gehen kann?
Ich fürchte mich vor dem Gerichtsverfahren. Vielleicht ist sie da. Das Mädchen. Vielleicht sieht sie mich wieder an, mit diesem leeren Blick. Aber vielleicht habe ich dann wenigstens die Gelegenheit, ihr das rote Taschentuch zurück zu geben, das sie mir geliehen hat. Ob sie es noch wieder haben will? Ob sie mir glaubt, wenn ich ihr sage, dass es mir Leid tut?
Tut es das?
Ja, tut es das?
Ich weiß es nicht. Ich weiß eigentlich gar nichts mehr. Ich weiß nur, dass es weh tut. So weh. Es zerreißt mich. Verbrennt mich. Dieses Mädchen. Mit ihren Augen.
Warum nimmt mich das so sehr mit?
So sehr, dass ich weinen muss?
Ja. Ja, es tut mir Leid.
Verzeih mir, Rotkäppchen.