9. EN PASSANT III
Graue Nebelschwaden drängten sich an den Felsen vorbei und drückten schwer auf Innas Stimmung. Das Waaty kniff die Augen zusammen, um sie vorm steten Nieselwind zu schützen, der sich gegen sie stürzte, während sie sich hilfesuchend an die graue Anzughose klammerte, die Dr. Vanker trug. Neben ihm stand Hetman, andächtig und mit ernstem Gesichtsausdruck. Zu dritt standen sie am Südhang des Pyrobergs und blickten still auf einen Grabstein hinab, bis der alte die Ruhe durch seine raue Stimme durchbrach.
»Danke, dass sie mich begleiten, Hetman.«
Der Angesprochene nickte bloß und studierte den grauen, schlichten Stein zu seinen Füßen.
Ellie Vanker
* 12.08.76
† 11.05.83
Auf dass du wiederkehren magst,
in Gedanken und Gestalt,
du wirst unvergessen sein.
»Ich dachte immer, auf diesem Berg würden nur Pokémon ihre letzte Ruhe finden«, merkte Hetman nach einer Weile an.
»Nein, dieser Ort dient auch den Bewohnern von Seegrasulb City als Friedhof. Früher habe ich mit meiner Familie dort gelebt und geforscht, deswegen liegt meine Tochter auch hier.« Dr. Vanker blickte in Hetmans Augen. »Ich bin so etwas wie der Vater der Wetterstation gewesen, zumindest so, wie wir sie kennen. Deswegen kenne ich die Geschichte vieler Mitarbeiter. Ich habe unter ihnen Freunde gefunden und die meisten von uns landen nicht freiwillig in einer solchen Umgebung.«
»Wohl wahr«, antwortete Hetman.
»Doch von Ihnen weiß ich nichts«, fügte Dr. Vanker hinzu. »Es steht ihnen natürlich frei, zu schweigen. Aber wenn Sie Gehör finden möchten, so können sie sich stets an mich wenden. Ich wollte, dass sie das wissen.«
»Vielen Dank«, gab er zurück. »Ich werde darauf zurükkommen.«
Dr. Vanker lächelte kurz auf. »Das neue Hauptquartier ist eingerichtet, das alte Kapitel abgeschlossen. Es wurden mehrere Mitarbeiter von uns festgenommen, aber im Ganzen lief es gut.«
»Waren das nicht nur Statisten, die wir für die Räumung engagiert haben?«
»Nicht nur«, sagte Vanker. »Dieses Biest hat auch einige Leute in die Hände bekommen, die für uns sehr wertvoll waren.«
»Trauern Sie ihnen nach?«
»Nun, es ist nicht so, als hätte ich Verluste nicht bereits durchmachen müssen«, gab der alte Mann mit Blick auf den Grabstein zu. »Sie war so ein liebes Mädchen …« Inna sah, wie sich seine Augen in tiefes Bedauern hüllten. Er nahm sie hoch und drückte das Pokémon an sich. »Nicht wahr, Inna?« An Hetman gerichtet fuhr er fort: »Inna war Ellies erstes Pokémon. Sie sind zusammen aufgewachsen. Das ist jetzt über 30 Jahre her. Ja, die liebe Inna ist älter, als ihr Äußeres vermuten lässt. Hetman, wollen Sie wissen, was für ein Blut an meinen Händen klebt? Sie sind Teil der Forschungseinrichtung und führen die Experiemente durch, doch wissen Sie überhaupt, woran wir arbeiten?«
Er schüttelte den Kopf, Vanker nickte. »Es wird Zeit, dass Sie es erfahren. Sie haben uns gute Dienste geleistet und ich möchte das nicht länger ungerühmt lassen. Ich bin Biopsychologe. Das ist auch meine Aufgabe innerhalb der Organisation. Eine der großen Aufgaben unserer Forschungseinrichtung behandelt die genaue Beschreibung von Charakteren. Im Speziellen, wie sich Traumata und schreckliche Erlebnisse auf die Psyche auswirken. Im Normalfall lassen sich dazu kaum repräsentative Studien durchführen, weil jeder Versuchsaufbau sofort schwerwiegend gegen ethische Richtlinien verstößen würde.«
Hetman nickte.
»Ich bin«, führ Vanker fort, »außerordentlich bewandert auf dem Gebiet des Klonens. Nachdem meine Tochter starb, setzte ich alles daran, sie zurückzuholen – wirklich alles … doch ich wusste, sie bloß zu klonen würde nicht ausreichen. Das bringt den Charakter einer Person nicht zurück.«
Er sprach mit schwerer Reue in der Stimme. »Also entschied ich, sie noch einmal mit den selben Ereignissen zu konfrontieren, die ihre Kindheit zierten, doch ich scheiterte vergeblich. Und das über ein Dutzend Mal. Jeder Klon, den ich schuf, unterschied sich so sehr von meiner Ellie, dass ich sie nicht wiedererkannte.«
Hetman weichte einen Schritt zurück und Inna krallte sich in Vankers Arme.
»Und dann bekam jemand Wind von meinen Forschungen. Verriet mich. Ich war daran, alles zu verlieren, was mir je teuer gewesen war, bis schließlich eine geisterhafte Gestalt auftauchte und mir einen Handel bot.«
»Wenn Sie für ihn arbeiten, bringt er ihre Tochter zurück?«, riet Hetman mit einem leichten Zittern in der Stimme, doch Vanker schüttelte resignierend den Kopf.
»Ich hatte längst begriffen, dass sie zurückzuholen ein unmögliches Unterfangen darstellte. Derartiges kam mir nicht länger in den Sinn. Ich hatte Blut an den Händen und was mir das Wesen bot, war ein Ausweg. Es bot mir an, mich der Fesseln der Justiz zu bewahren, würde ich meine Hände in seinen Dienst stellen und Dinge beforschen, die zu beforschen sonst keiner fähig war.«
»Und nun stehen Sie hier.«
»Ja, nun stehe ich hier. Ich dachte, wo ich schon so lange nicht hier gewesen bin, wäre es angemessen, diesen Ort zu besuchen, wo er doch fast auf unserem Weg zum neuen Quartier liegt. Danke noch einmal, für die Begleitung, Hetman.«
Hetman nickte und wandte sich vom Grabstein ab.
*
Aus dem Tagebuch von Rooke Noir, vierter Eintrag
Dienstag, 03.07.12
Ich kann kaum glauben, an was für einen wundervollen Ort ich verschleppt worden bin. Vier Tage sind seit meinem letzten Eintrag ins Land gezogen, und es tut mir sehr leid, dass ich seitdem nicht die Gelegenheit hatte, erneut daniederzuschreiben, was mir widerfahren ist, da ich das alles sicher detaillierter und für den Leser angenehmer schildern kann, wenn nur wenig Zeit vergangen ist.
Allerdings hatte ich schlicht nicht die Gelegenheit, mich erneut hinzusetzen und zu schreiben, weil die Ereignisse Schlag auf Schlag passieren und mir kaum Gelegenheit zum Verschnaufen bleibt. Nun sitze ich aber hier unter diesem netten Baum, auf einem netten Stück Land, während die Sonne fröhlich hinunter scheint und eine sanfte, warme Brise, getränkt in den Geruch des Meeres, an mir vorüberzieht.
Ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich die Ereignisse, die kurz vor meiner Abreise vom Himmelturm stattgefunden haben, nur recht kurz und gerafft wiedergebe, da sie in meinen Gedanken schon fast wieder angesichts dessen verblassen, was mir seitdem widerfahren ist, und ich kaum erwarten kann, all das niederzuschreiben. Am liebsten würde ich sprudeln vor Erzählfreude, jedes einzelne Detail erklären und auskosten, auf dass ich es niemals vergesse, doch auch heute ist die Zeit, die ich mir zum Schreiben nehmen kann, leider sehr begrenzt.
Aber zunächst – wirklich, ich kann, obwohl ich hier sitze und die Luft um mich spüre und die Geräusche des Waldes höre, gar nicht glauben, dass ich mich wirklich hier befinde. Ausgerechnet an diesem Ort! Das hätte ich mir niemals träumen lassen. Und wenn der werte Leser jetzt wissen möchte, wo genau dieser denn liegt und wie er heißt, dann möchte ich ihn noch etwas auf die Folter spannen. Ich hatte mich ja schon im ersten Eintrag als miese Sadistin vorgestellt, also gibt es jetzt keinen Grund, so zu tun als wäre man überrascht oder enttäuscht.
Aber nun zur seltsamen Kette der Ereignisse, die mich hier hergeführt hat.
Wie ich im letzten Eintrag bereits beschrieb, wollte ich nach dessen Beendigung nach Pawn suchen. Genau das tat ich dann auch, und ich brauchte tatsächlich nicht besonders lang dafür. Ich schickte sie also wieder in den Pokéball, nachdem ich ihr etwas Mut zugesprochen hatte. Daraufhin lief ich zurück zu Pion und meinen anderen Pokémon.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte er vergnügt, als ich mir den Eingang in das Gebäude näher ansah.
»Da reingehen«, antwortete ich. »Du hast ja gesagt, dass ich lernen muss, im Daam im Team zu arbeiten. Wir haben deswegen vor, uns mal da drinnen etwas umzusehen.«
»Das ist eine hervorragende Idee! Wir sind jetzt seit drei Stunden hier«, fügte er mit einem Blick auf seine Uhr hinzu, »das heißt, es wird in vier Stunden dunkel. Bis dahin solltest du entweder auf dem Turm oder wieder hier unten sein, weil ich dir tunlichst davon abraten kann, Nachts in diesen alten Gemäuern herumzuwandern.«
Ich nickte, denn so einem ähnlichen Gedankengang war ich selber auch schon erlegen. »Möchtest du nicht mitkommen?«
Pion schien durch dieses Angebot sichtlich überrascht. Ich habe noch seine blitzenden Augen in Erinnerung, und sein Nicken hat mir viel bedeutet.
»Natürlich, wenn du mich dabei haben möchtest! Ich war mir nicht sicher, ob du nicht lieber ungestört auf Pirsch gehen willst.«
Eine Weile darauf befanden wir uns also im Inneren des bespukten Wolkenkratzers. Hier geschah tatsächlich nicht sehr viel, muss ich ehrlich sagen, andererseits habe ich aber auch wenig Interesse daran, euch genau zu schildern, in welcher Ebene wir nun durch ein Loch im Boden erneut in die Tiefe stürzten, wie viele Golbats meine teure Daam aus dem Weg schießen musste oder wo zum Teufel die Auftreppe für die nächste Etage lag. Als wir jedoch ein gutes Stück mehr als die Hälfte des Weges hinter uns gelassen hatten, und ich gerade die Stufen zum nächsten Abschnitt betreten wollte, hielt Pion mich an der Schulter zurück.
»Jetzt ist es so weit«, antwortete er und lächelte mich an.
»Was meinst du?«, fragte ich verwundert ob des plötzlichen Abbruchs und sah ihm in seine schönen Augen.
»Ab jetzt treten Altaria auf. Und ich glaube, das ist ein Abenteuer, das du mit Daam alleine bestreiten solltest! Euer erstes Pokémon! Ich wäre da wirklich nur im Weg, zumal dein Drache dann auf zwei Menschen Acht geben muss, was die Kampfbedingungen nur erschwert. Ich werde dann hier auf euch warten. Du kannst aber gern zuvor noch die Spitze des Turms erkunden, ich habe ja meinen neuen Freund bei mir, also wird mir nicht langweilig!«, rief er zuletzt mit einem Verweis auf das Zobiris, das sich vor Angst zitternd an seiner Hose festhielt. Offenbar war es im Alleingang noch nie so weit hoch im Turm hinaufgestiegen.
Ich willigte daraufhin ein und betrat das nächste Stockwerk. Schnell fiel mir auf, dass ab hier die Zerstörung und Verschüttung des Turmes stark abnahm. Offenbar handelte es sich um einen selten betretenen Abschnitt, was ich nicht für unmöglich hielt, da es schwer genug gewesen war, hierher zu gelangen.
Aber jetzt möchte ich euch nicht zu lange mit der Beschreibung der Begegnung mit dem Wolkendrachen-Pokémon langweilen. Nachdem wir die Ebene einige Minuten lang durchkämmt hatten, hörte ich plötzlich einen hohen Ton hinter meinem Rücken. Erst zuckte ich zusammen, bis ich feststellte, dass es sich dabei um Gesang handelte. Ich musste nicht lange nachdenken, bis ich darauf kam, was für ein Wesen diesen verursachen könnte, und genauso erging es auch Daam, die schnurstracks an mir vorüberzischte und ihre Klauen in die Wolken des Drachen-Pokémon versenkte – allerdings ohne viel Erfolg, da sie einfach hindurchglitten.
Das Altaria sang nun noch ein bisschen lauter, während es die Augen schloss und etwas zu Leuchten begann. Kurz darauf begannen sich die Wolken um es herum zu verdichten und größer zu werden. Daam wartete nicht lange und versuchte es mit einem Donnerschlag, der jedoch dieses Mal einfach an der wattartigen Substanz, die das Altaria umhüllte, stoppte.
Kurz darauf ertönte ein Schlafgesang aus dem Mund des Pokémon, der mich fast ohnmächtig werden ließ. Glücklicherweise widerstand Daam dem Angriff und versenkte eine Drachenklaue in den Wattebausch, die jedoch wieder ohne großen Erfolg blieb. Stattdessen verklebten die Klauen meines Pokémon, das daraufhin mit einem Feuerodem aufwartete – doch auch dieser schien keinen großen Schaden anzurichten. Das überraschte mich jedoch nicht groß, da Pion zufolge Altaria das Drachen-Pokémon mit der größten Spezialverteidigung war.
Allerdings schien es mir, als handele es sich hier ohnehin um ein eher friedliebendes Pokémon, da es uns seit der Kampf begonnen hatte, noch nicht ein einziges Mal mit einem offensiven Angriff begegnet war. Wenn das jedoch so weiterging, würde Daam einen Großteil ihrer Kraft einbüßen und wir könnten Schwierigkeiten auf dem Rückweg bekommen.
Nachdem sie es jedoch einige Male mit weiteren Attacken versucht hatte, landete schließlich eine Donnerwelle vollen Erfolg! Ich nutzte die Gelegenheit der gegnerischen Paralyse sofort und warf einen Pokéball. Leider hatte ich bei der Dunkelheit in die falsche Tasche gegriffen und einen Sympaball ergattert anstelle eines Finsterballs. Da die Schnelligkeit des Moments zählte, warf ich diesen trotzdem, auch wenn die Fangrate eines Finsterballes unter diesen Umständen viermal höher gewesen wäre, da ein Sympaball nur dann Erfolg zeigte, wenn das gegnerische Pokémon vom anderen Geschlecht war und mit dem kämpfenden Pokémon paarungsfähig. Leider handelte es sich jedoch um ein weibliches Altaria, worauf ich aus der Tonlage ihres Gesangs schloss.
Dennoch blieb der friedfertige Drache im Ball – ein Umstand, der mich jetzt noch in glückliches Kopfschütteln versetzt.
Nach diesem Erfolg waren sowohl Daam als auch ich außerordentlich glücklich, sodass wir eine Weile tanzend verbrachten. Allerdings will ich mich hierbei nicht allzu lange aufhalten, da ich kurz darauf den nächsten Erfolg zu feiern hatte! Es ist nämlich durchaus erstaunlich, wie positiv sich sowohl meine Laune als auch mein Gemüt verbessert haben, seit ich Pion kennen gelernt habe. Nicht nur laufe ich jetzt grinsend umher statt mit einem mürrischen Gesichtsausdruck – nein, hinzu kommt schlicht und ergreifend der Umstand, dass Menschen in seiner Nähe von einem Goldhändchen gezeichnet sein müssen, da schlichtweg alles gelingt, wenn er einem dabei hilft.
Jedenfalls machte ich mich daraufhin weiter auf den Weg nach oben, denn ich wollte mir die Sicht auf das Meer vom höchsten Gebäude weit und breit nicht entgehen lassen! Und natürlich, das gebe ich im Nachhinein gerne und offen zu, hegte ich die leise Hoffnung, in der ferne den mächtigsten Drachen der Region erspähen zu können.
Es dauerte nicht mehr wirklich lang, bis ich schließlich zur letzten Leiter kam, die zum Dach des Turms führen würde. Dort oben begegnete ich jemandem. Dieses Treffen, so möchte ich den Leser vorwarnen, verlief durchaus kurios, aber nichts Anderes bin ich ja in letzter Zeit gewohnt. Dennoch stellt das so etwas wie einen Meilenstein für mich dar, oder anders gesagt, einen Punkt, an dem sich mein Schicksal durchaus verändert hat. Sicher hätte ich nicht erwartet, dort jemanden zu treffen. Und sicher wird es dem werten Leser schwer fallen, dass ich, als gewöhnliche Raritätenjägerin, die mit wenig Ahnung von der Welt durch die Umgebung streift, die wirklich nichts getan hat, um all das zu verdienen und die sich jetzt einfach glücklich schätzen darf, dieses Erlebnis gemacht zu haben, auf dem Dach des Himmelturms ausgerechnet unter die Augen des legendären Pokémon Rayquaza trat!
Kaum zu glauben, aber „Das Schachspiel“ ist noch nicht vorbei. Aufgrund von privatem Zeugs und RL bin ich nie dazu gekommen, weiterzuschreiben. Und je länger das letzte Kapitel zurücklag, desto mehr geriet in Vergessenheit, sodass ich es weiter vor mir herschob. Nun habe ich mich aber durch die Unterlagen gekramt, alles aufgefrischt und endlich weitergeschrieben. Der größte Teil dieses Kapitels war schon vor einem Jahr fertig, aber jetzt habe ich es endlich fertiggeschrieben - Kapitel 10 liegt übrigens auch schon seit einem Jahr in den Startlöchern und wird demnächst folgen. Auch weitere Kapitel sollten nicht allzu lange auf sich warten lassen, weil mir an dieser Geschichte doch recht viel liegt und ich sie auf jeden Fall beenden möchte.
Neue Version des E-Books:
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(Kapitel 1 - 9, Stand 05.06.2014)
Nächstes Kapitel: MOMENTE DES GLÜCKS I