Kapitel 4: Small clouds and the mountains
Die Morgenluft war so kühl und belebend wie eh und je, hier in Silber City. Dünne Nebelschleier lagen auf der verschneiten Spitze des Silberbergs und die ersten Taubsi wagten sich aus ihren Nestern, um sich in großen Schwärmen aus den Baumkronen in den noch leicht dämmernden Himmel zu erheben. Erste Sonnenstrahlen kitzelten die Bergspitzen und tauchten das Gebirge in majestätisches Morgenlicht. Ryan stand gerade auf einer kleinen Anhöhe außerhalb der Stadt. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick über sie und gleichzeitig war es der einzige Weg, der direkt nach Süden Richtung Neuborkia führte. Von hier aus blickte man auf ein riesiges Plateau, am Rande des Gebirgsmassivs. Gen Osten zeigte die Natur mit steiler werdenden Hängen, die nicht mehr bebaubar waren, die Stadtgrenzen auf und würden schließlich in den höchsten Berge der Johto-Region münden. In allen anderen Himmelsrichtungen umrahmten scharfkantige Hügelketten die Stadt, hinter denen es dann zügig bergab ging.
Ryan war nur in Ausnahmefällen ein Frühaufsteher, doch hin und wieder verschlug es ihn doch schon zu dieser frühen Stunde nach draußen und er hatte es nicht ein einziges Mal bereut. Wie könnte er auch, wenn man so beeindruckend in den Tag begrüßt wurde? Seit Jahren kannte er diesen Ausblick und war ihm niemals überdrüssig geworden. Tatsächlich gehörten solche Kleinigkeiten noch zu den Dingen, die er auf seinen Reisen am meisten vermisste. Allzu oft was er in tristen Wäldern oder Höhlen erwacht. Zwar verspürte er hierfür ebenfalls keine Reue, doch es war nun mal nicht dasselbe.
Auch heute genoss er den Anblick des Sonnenaufganges in vollen Zügen und vergaß dabei fast seinen Ärger, mit welchem er den Morgen leider begann. Dessen wurde er sich erst wieder bewusst, als er zum wer wusste schon wievielten Mal auf seine Uhr starrte. Er war spät dran. Ryan und Andrew hatten am Vorabend noch beschlossen, sich auf dieser Anhöhe um Punkt sieben Uhr zu treffen, doch nun lag der Ältere der beiden Trainer bereits zehn Minuten hinter dem geplanten Treffpunkt.
Zugegeben, Ryan war auch nicht immer der aller Pünktlichste. Weder zu seiner Zeit in der Pokémonschule, noch auf seinen eigenen Reisen hatte er sich besonders lange an gesetzte Zeitpläne halten können, doch wenn etwas wirklich Wichtiges anstand, war er immer rechtzeitig an Ort und Stelle gewesen. Und wenn man den Aufbruch in eine neue Region nicht als wichtig einstufte, wusste er auch nicht mehr weiter.
Es dauerte noch einige weitere Minuten. Beinahe war er schon so weit, Andrew anzurufen und zu fragen, ob er noch am Pennen war. Fünfzehn Minuten nach sieben sah Ryan dann endlich die Gestalt eines Menschen hektisch den Hügel hinauf stürmen. Aus der Entfernung war die Person nicht wirklich zu erkennen, doch viele Optionen standen schließlich nicht aus. Es war Sonntag. Kaum ein gescheiter Mensch war um diese Zeit hier draußen.
Als Andrew schließlich Ryan erreichte, war er ziemlich aus der Puste. Er stützte sich nach Luft ringend auf den Knien ab und schnaufte wie ein müdes Tauros. Seine Strähnen hingen vom Schweiß getränkt die Stirn hinunter, wodurch sie das Gesicht größtenteils verdeckten.
„Morgen“, war die lässige Begrüßung Ryans, in dessen Stimme ein gewisser Tadel mitschwang. Der Angesprochene konnte nur stückweise antworten, da ihm für einen vollständigen Satz noch der Atem fehlte.
„Sorry… hab… verpennt“,
So eine Überraschung.
„Es gibt da so 'ne ganz tolle neue Erfindung, die heißt Wecker. Solltest dir so´n Teil vielleicht mal zulegen“, riet Ryan. Sein Unmut war in kürzester Zeit reiner Schadenfreude gewichen, denn nur selten bekam man Andrew so zu Gesicht. Schon witzig, den Rastlosen mal außer Atem zu erleben. Während seiner Pokémonreise hatte man ihn so vermutlich nie bestaunen können. Allerdings war so eine auch kein Sprint, sondern ein Marathon.
Das Pochen in der Brust ließ allmählich nach und Andrew konnte sich zu voller Größe aufrichten. Mit einem Unterarm wischte er sich de nSchweiß von der Stirn.
„Wecker war gestellt. Aber Psiana hat das Ding runtergeschmissen, bevor ich wach geworden bin.“
Erst blinzelte Ryan ein paar Mal. Dann prustete er – allerdings nur sehr kurz – regelrecht auf vor Lachen.
„Bitte was? Ich pack´s nicht!”
Andrew rollte mit den Augen, konnte aber nicht unterdrücken, selbst zu lachen. Psiana schlief oft bei ihm im Bett und war eine absolute Langschläferin. Katzenwesen wie sie besaßen einen gewissen Ruf in der Hinsicht. Das kam nicht von ungefähr, wie man hierdurch mal wieder bewiesen war.
„Hat sie ihre Psychokräfte dafür benutzt oder das Ding einfach umgehauen?“, erkundigte er sich mehr rhetorisch. Wenn Andrew das Wecksignal verpennt hatte, wie sollte er dies dann zu beantworten wissen?
„Mit dem Schweif vom Nachttisch geschubst“, konkretisierte er. Ryan lachte noch etwas weiter, stockte aber hierauf und sah seinen Kindheitsfreund an, als fordere er auf, die Scherze sein zu lassen. Der erwiderte jedoch absolut ernst.
„Können wir dann oder brauchst du noch ´nen Moment?“, fragte er dann, als sei es Ryan, der sie aufgehalten hatte und begann den Weg bereits eigenständig. Ihm wurde kopfschüttelnd, aber ausgelassen grinsend hinterhergesehen. Das ging ja gut los heute. Naja, anders wär´s auch zu einfach. Und einfach war langweilig.
Ryan und Andrew waren nun beide so lange auf Reisen gewesen und hatten viele Tage wie den heutigen erlebt. Allerdings hatten sie es noch nie über längere Zeit in gegenseitiger Begleitung getan, was definitiv den großen Bonus dieser Reise darstellte. Sie schlenderten einen staubigen Bergpfad entlang, der schon seit einiger Zeit leicht nach unten abfiel, wodurch sie bereits deutlich Höhenmeter hinter oder besser gesagt über sich gelassen hatten. Die in den Bergen so überwiegend wachsenden Fichten und Kiefern waren bereits herrlich aufblühenden Laubbäumen gewichen, welche in einigen Metern Abstand zum Weg standen. Kniehohes Gras bedeckte die ersten Meter um den Pfad herum. Verschiedene Arten von Bergblumen, Disteln und Nelken zierten das grüne Meer vereinzelt in hellen Frühlingsfarben. Einige Flugpokémon waren in den Wipfeln der Bäume beim Zwitschern zu belauschen, wobei es sich wohl um mehrere verschiedene Arten handeln musste, da kaum ein einstimmiger Ton zu vernehmen war. Das hohe Gras wehte gleichmäßig und sanft in der Brise des späten Nachmittags, die den beiden wandernden Trainern leicht ins Gesicht blies.
Die Stunden hatten sich recht ereignislos dahin gestohlen und die beiden ihre Zeit mit banalen Unterhaltungen verbracht. Da sie für gewöhnlich ansonsten nur ihre Pokémon zum Reden hatten – mit denen nur eine einseitige Kommunikation möglich war – empfanden sie es dennoch als erfrischend angenehm. Und schließlich gab es auch allerhand zu erzählen. Hin und wieder hatten sie dann aber doch eine Zeit lang geschwiegen, wenn die unberührte Natur sie eingefangen hatte. Keine hatte dann gewagt, die stille Idylle zu zerstören. Allerdings brachte die Ruhe auch Nachteile mit sich. So gab es nämlich viel – in Ryans Fall viel zu viel – Zeit zum Nachdenken.
Er hatte sich fest vorgenommen, in die Zukunft zu schauen und die vergangenen Tage, welche so deprimierend für ihn gewesen waren, endlich zu begraben. Doch je länger sich die Stunden hinzogen, desto mehr Erinnerungen und Fragen bohrten sich ihren Weg zurück in seinen Kopf. Wie konnte er beispielsweise, mit einem solchen Optimismus der Hoenn-Liga entgegenblicken, wenn er doch erst kürzlich eine so schmachvolle Niederlage erlitten hatte? Er hatte wirklich alles getan, um seine Pokémon für diesen Kampf bereit zu machen und doch war es nicht genug gewesen. Und nun wollte er in einer neuen Region auch noch ein komplett neues Team zusammenstellen, obwohl sich seine Kenntnis über die dort lebenden Pokémon auf ein Minimum beschränkte? Zudem bezweifelte er ernsthaft, dass es ihm gelingen würde, das Niveau seiner bisherigen Auswahl noch einmal erreichen, geschweige denn übertrumpfen zu können.
Die Situation war für ihn linde gesagt einfach scheiße. Vielleicht war es gestern, als er diese Herausforderung für angenommen erklärt hatte, nur ein Versuch gewesen, seine Unsicherheit zu überdecken. Ein Impuls, wie der eines Karpador, dass einen Köder vorm Maul gehabt und den Verstand hinter den Instinkt angestellt hatte. Zum hatte Ryan zugebissen und war von Andrew eingeholt worden.
Tatsächlich war er wohl noch nie wegen eines verlorenen Kampfes so aufgewühlt gewesen. Eigentlich war dies ja lächerlich, wenn man bedachte, dass er immerhin besser als über zweihundert weitere Teilnehmer abgeschnitten hatte, doch was brachte das schon, wenn man am Ende zu zweiter war. Im Grunde war dies nur ein verschönernder Ausdruck dafür, dass er verloren hatte. Er war quasi der erste Verlierer.
Ryan atmete einmal geräuschvoll aus und blicktet nachdenklich gen Himmel. Nur wenige Wolken trieben dort heute vor sich hin, doch sie erschienen ihm trotzdem irgendwie erdrückend, geradezu passend für seine Gefühlslage. Denn wenn sich nur eines dieser weißen Gebilde vor die Sonne schob, so war sie weg. So mussten die Menschen und Pokémon unter ihr auf ihre hellen, wärmenden Strahlen verzichten und schon käme einem die Erde ein ganzes Stück trister vor. Seine Niederlage war seine kleine Wolke, die ihn am Strahlen hinderte. Ja, manchmal hasste Ryan seinen Drang zur Perfektion, doch ohne ihn wäre er nicht er selbst. Der Erfolg eines Trainers konnte niemals weiter reichen, als sein Ehrgeiz.
Irgendwie hatte er es kommen sehen, dass sich just in diesem Moment seine metaphorische Vorstellung bewahrheitete. Die helle Scheibe am Himmel verschwand für einen Moment vollständig hinter einer Blockade, die Licht und Wärme hier unten spürbar reduzierte. Gar jagte sie Ryan sogar einen Schauer über den Rücken. Der Junge stoppte seinen Gang und lugte unter dem Schirm seines Cappys empor, um diesem Schauspiel entgegenzublicken. Andrew registrierte dies erst einige Schritte später und wandte sich überrascht um.
„Ist was?“
Ryan schien ihn gar nicht wahrzunehmen, schaute nur weiter betrübt zum Himmel hinauf. Seinen betroffenen Blick bemerkte der ältere Trainer gar nicht, da er sich bei der Aktion nicht wirklich etwas dachte und Ryan daher auch nur seine halbe Aufmerksamkeit schenkte. Auch das leichte Zittern von Ryans geballten Fäusten und dem aufgekratzten Schaben mit seinem rechten Schuh im Erdboden blieb von ihm unbemerkt. Und es geschah nur wenige Sekunden später, da die Sonne wieder hinter dem weißen Fleck hervortrat, sodass die Welt wieder mit ihrer Wärme und ihrem Licht beglückt wurde. Öfter als Menschen zu zählen vermochten hatte sich dieses Schauspiel schon abgespielt, doch in diesem Moment hatte es eine seltsame Wirkung auf den jungen Trainer. Seine verkrampften Hände entspannten sich wieder und seine Mundwinkel wanderten sogar ein winziges Stück nach oben. Was machte er sich nur für unsinnige Gedanken? Warum tat er sich so schwer daran, die Vergangenheit ruhen zu lassen? Genau wie die Sonne musste er sich wieder aus seiner Blockade freikämpfen und wie oft hatte er so etwas schon getan? Es war doch alles gar nicht so schwer. Rückschläge wegzustecken, seien sie auch noch so schwer, gehörte zum täglichen Brot eines Trainers. Wie schändlich, dass er das vergessen hatte.
„Alles bestens“, antwortete er schließlich auf die Frage. Ohne jenen auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, setzte Ryan seinen Weg fort und ließ einen verdutzten Andrew hinter sich. Dieser hatte für diese Aktion zunächst nur einen verwirrten Blick übrig, war aber erneut nicht um einen überflüssigen Kommentar verlegen.
„Du drehst jetzt nicht durch, oder? Ein Seelenklempner hat nicht mehr in mein Gepäck gepasst. Hey, warte auf mich.“
Er musste sich eilen, nicht zurückgelassen zu werden. Ryan hatte das Tempo ordentlich erhöht.
Die folgenden Stunden zogen genau so still und friedlich dahin, wie die bisherigen. Kaum ein Wort wurde gesprochen, dafür wurden beidseitig ungewöhnlich viele Gedanken durchgekaut. In Ryans Fall waren sie nun wieder optimistischer und positiver Natur. Bei Andrew handelte es sich eher um Kampfstrategien und Trainingspläne. Doch die beiden Jugendlichen brachen ihre Überlegungen zeitgleich ab, als ein tiefes Rumoren die Stille zwischen ihnen brach. Sofort blieben sie stehen und sahen sich gegenseitig an. Beide ein schalkhaftes Grinsen im Gesicht.
„War heute Gewitter gemeldet“, fragte Andrew höhnisch und zog eine Augenbraue hoch.
Ryan winkte den Spruch lässig ab. Er hatte Besseres auf Lager. Außerdem bedurfte es keiner Erklärung, dass sie beide Hunger hatten. Schließlich hatte ihre einzige Nahrung seit dem Frühstück nur aus ein paar Früchten, Müsliriegeln und ähnlichem Knabberzeug bestanden. Keine ordentliche Mahlzeit. Die war nämlich nicht gerade förderlich, wenn man versuchte, möglichst viel Strecke zu bewältigen und machte den Körper träge und langsam. Allmählich war es aber an der Zeit, dem Körper zu geben, wonach er verlangte. Morgen früh würden sie schließlich wieder Energie brauchen und die Beine wurden ebenfalls langsam müde.
„Die Sonne wird bald untergehen“, stellte Ryan fest, als er die Bergketten in der Ferne inspizierte. Die Sonne würde bald deren Spitzen erreichen. Ihre letzten Lichtreflexe des Tages würden den Himmel bald in feurig rotes Licht tauchen und dann langsam in ein wunderschönes Violett übergehen. Diese Phase des Tages war in der Gegend stets ein Schauspiel, da das Lichtspiel dem inzwischen weit entfernten Silberberg an solch klaren Tagen ein phosphoreszierendes Schimmern verlieh. Die herrliche Natur Johtos faszinierte auch immer wieder. Doch in kürzester Zeit würden sie die Hand vor Augen kaum noch sehen können und die nächtliche Kälte war in diesem Gebiet ebenfalls nicht zu unterschätzen. Sie hatten glücklicherweise geradeso die erhoffte Distanz zurückgelegt und würden eine Übernachtung im Freien halbwegs komfortabel überstehen können. Beide hatten schon an ungemütlicheren Orten gelagert.
„Wir sollten einen Platz finden, an dem wir pennen können, ohne uns dabei was abzufrieren.“
Andrew stimmte nickend zu. Neuborkia lag sicher noch ein gutes Stück entfernt und keiner der beiden hatte vor, sich so lange durch die Nacht der Route 45 zu schlagen. Allerdings lud die Umgebung, welche sich die ganze Zeit über kaum verändert hatte, nicht gerade zum Campen ein. In den nächsten Minuten musste ein geeigneter Platz für ein Nachtlager her.
Doch das Duo hatte Glück. Nur eine Viertelstunde später gelangten die beiden jungen Trainer an eine Stelle, an der das hohe Gras am Wegesrand in einem großen Kreis völlig platt getrampelt und auch noch von vier mannshohen Felsen umgeben war. Angesichts dessen und der Tatsache, dass in der Mitte des Bereiches einige schwarze, leicht verkohlte Überreste eines Lagerfeuers vorzufinden waren, hatte hier wohl erst kürzlich jemand gerastet und nun würde diese Stelle für zwei junge Pokémontrainer als Übernachtungsplatz dienen.
„Na wer sagt´s denn? Eine bessere Stelle hätten wir wohl kaum finden können“, rief Ryan aus, als sie den Platz genauer inspizierten. In der Tat war diese Stelle ideal. Das hohe Gras bot einen weichen Untergrund und die Felsen sowie der nah angrenzende Wald einen zuverlässigen Windschutz. Hätte das Trainerduo jetzt noch ein Dach über dem Kopf, wäre es absolut perfekt, doch angesichts des sternenklaren Nachthimmels, würde ein solches wohl nicht notwendig sein.
„Mach mal Feuer, ja? Ich hol Brennholz für die Nacht“, kommandierte Andrew und verschwand augenblicklich im Dickicht des angrenzenden Waldrandes, kaum dass sie ihre Rucksäcke abgeworfen hatten. Ryan gefiel es normalerweise nicht, wenn sein Kumpel sich als Chef aufspielte, aber zu dieser Stunde hatte er auch keinen Bock auf eine Diskussion. So sammelte er also einige herumliegende Äste, häufte sie an der Feuerstelle zusammen und kramte sein Taschenmesser zusammen mit einem Eisen-Brennstab – ein kleines Überlebenswerkzeug, dass er immer bei sich trug – aus der Tasche. Von einem Ast schnitzte er einige äußerst feine Späne ab, die als Zunder dienen sollten. Wäre das hohe Gras hier nicht ganz so feucht vom Tau und der frischen Bergluft, hätte es dieses noch besser getan, doch so musste nun mal das Holz herhalten. Funktionierte auch. Er kratzte ein- zweimal mit der Klinge über den Brennstab und schon sprang ein Funke über. Mit diesen Dingern konnte wirklich jeder Idiot Feuer machen.
Er blies vorsichtig in die kleine Flamme, die den Sauerstoff schnell in sich aufsog, sodass er nach und nach immer mehr Holz hinzufügen konnte und rasch ein stattliches Lagerfeuer entstand. Feuer zu machen war zwar so viel einfacher, wenn er Hundemon oder Vulnona dabei hatte, doch zu Beginn seiner allerersten Reise hatte er auch ohne ein Feuerpokémon irgendwie klar kommen müssen und allein für den Fall der Fälle hatte er solche Kleinigkeiten immer zur Hand. In der Wildnis konnte man sich keine Nachlässigkeiten erlauben. Erwarte das Unerwartete, lautete das Kredo.
Die Feuerstelle umrandete er anschließend noch mit einem Kreis aus Steinen, um die Flammen einzudämmen. Es dauerte auch nicht lange, bis Andrew, sich mit schweren Schritten ankündigend und mit einem Berg von Brennholz unterm Arm, wieder erschien. Einen Teil davon schmiss er sogleich ins Feuer, den Rest legte er zunächst beiseite. Alles auf einmal zu verbrennen wäre sinnlos, da die Flamme dann zwar höher aber eben auch kürzer brennen würde und schließlich brauchten sie die Wärme die ganze Nacht über.
Eine Decke oder einen Schlafsack mit sich herumzuschleppen, hatten sie schon immer abgelehnt. Wenn man dieses Level von Komfort anstrebte, ließ man es besser ganz bleiben. Eine gefütterte Regenjacke wurde aus dem Rucksack gekramt und sich darauf platziert. Das genügte zum Isolieren und war damit für sie beide ausreichend. Die meiste Wärme verlor der Körper nämlich an den Boden. Das Abendessen bestand aus belegten Baguettes, Grillwurst, die über dem offenen Feuer zubereitet wurde, sowie einigen kleinen Beilagen wie Tomaten und Gurken.
„Mahlzeit.“
„Die Rettung vor dem Hungertod.“
Für sie beide war das ein überdurchschnittlich üppiges und luxuriöses Abendessen. Die Menge an Proviant, die sie mit sich führen konnte, war logischerweise arg begrenzt und oft musste sich das Essen einige Tage halten. Daher würden spätestens ab übermorgen reisetypische und-tauglich Campingmahlzeiten herhalten müssen. Erst wenn sie wieder eine Stadt betraten, konnten einige Vorräte aufgestockt und dann ein, zwei Abende wieder ausgedehnter gespeist werden.
Nach diesem Marsch durch die Berge im Nordosten Johtos tat jeder Bissen so unglaublich gut. Es war ein toller Moment, hier in der Natur an einem selbst entfachten Lagerfeuer zu sitzen, zusammen mit seinem besten Freund. Ryan genoss es, vergaß dabei aber auch nicht sein allergrößtes Geheimnis. Nicht nur wegen der wohltuenden Wärme hielt er sein Gesicht möglichst nah am Feuer, sondern in erster Linie wegen dem, was die Nacht ihm enthüllte. Wenn er Andrew jetzt seine Augen zeigen würde, wäre die Lüge mit den Kontaktlinsen dahin.
„Sag mal Ryan, welches Pokémon hast du denn jetzt mitgenommen?“
Andrews plötzliche Frage ließ ihn aufschauen. Er war mit seinen Gedanken bereits völlig abgeschweift und brauchte daher einige Sekunden, bis er antworten konnte. Vielleicht lag es aber auch noch ein seinem vollen Mund
„War keine einfache Entscheidung, das kann ich dir sagen. Ich hab mich für Panzaeron entschieden“, antwortete er. Darauf erhielt Ryan einen leicht verwunderten Laut seines Kumpanen.
„Hätte drauf wetten können, dass du Impergator nimmst. Das war doch sonst immer deine Nummer eins.“
Ryan rollte nach dieser Aussage mit den Augen. So einen Satz hätte er von einem erfahrenen und reifen Trainer wie ihm sicher nicht erwartet.
„Das hat doch damit nichts zu tun. Ich hab mich für Panzaeron entschieden, weil ich ganz einfach finde, das es sich das verdient hat.“
Die Antwort kam mit fester, überdeutlicher Stimme und klang beinahe schon gereizt, doch Andrew dies nicht zu beachten. Ihm war in diesem Satz etwas anderes aufgefallen.
„Verdient? Wie meinst 'n das?“
Da hatte Ryan wohl etwas vorschnell gesprochen. Sein treuer Stahlvogel hatte damals bei seiner Reise nach Shamouti mit Abstand die schlimmsten Verletzungen davongetragen. Fast hätte er sogar mit dem Leben bezahlt. So hatte er lange Zeit vom Kämpfen, ja selbst vom Fliegen pausieren müssen. In der vergangenen Woche hatte Panzaeron jedoch deutliche Fortschritte gemacht und war wieder reif, für etwas Kampfesluft. Allein das war der Grund, warum Ryan es noch ein wenig Zeit an seiner Seite gönnen wollte. Andrews Frage hatte ihn jedoch unerwartet getroffen, weswegen er in diesem Moment definitiv nicht bereit war, über die Ereignisse auf den Orange-Inseln zu sprechen. Er hatte schon Tags zuvor mit sich und der Entscheidung, seinen Freund endlich einzuweihen, gerungen und sich dagegen entschieden – vorerst, aber vielleicht würde daraus noch ein für immer werden.
„Die Story ist zu lang, um sie jetzt noch runter zu dichten. Ein andern Mal.“
Sicher war Ryan sich nicht, ob er es geschafft hatte, überzeugend gleichgültig zu klingen und ja keinen Verdacht aufkeimen zu lassen. Glücklicherweise ließ Andrew ihn vom Haken und wechselte das Thema.
„Und bist du dir auch sicher, dass es kein Fehler war, all deine anderen Pokémon zu Hause zu lassen?“
„Ich wüsste nicht, was daran falsch sein soll“, entgegnete er schulterzuckend und sehr direkt. Dass er zuvor noch in hektische Überlegungen zu diesem Thema vertieft gewesen war, ließ besser er unerwähnt.
„Ich meine ja nur, dass du in einem Notfall ziemlich aufgeschmissen wärst. Und selbst wenn du dann dein erstes oder später auch zweites Pokémon in Hoenn hast, musst du sie erst einmal trainieren und mit ihnen arbeiten. Du weißt schon, damit sich dann ein Band zwischen euch entwickeln kann. Ich meine ja nur, dass das 'ne Weile dauern kann.“
Andrew klang tatsächlich ein klein wenig besorgt. Da er der ältere der beiden war fühlte er sich in gewissen Situationen ein Stück weit für seine Gesundheit verantwortlich, doch das war im Grunde überflüssig.
„Hab ich das hier in Johto nicht auch ganz gut hingekriegt?“, antwortete Ryan. Sein neuer Reisegefährte ließ nur ein resignierendes Seufzen ertönen. Er hasste es, wenn jemand seine Fragen mit Gegenfragen beantwortete. Vielleicht kümmerte er sich manchmal wirklich zu sehr um Ryan, denn schließlich konnte der ganz hervorragend auf sich selbst aufpassen. Er war ja auch nicht mal ein ganzes Jahr jünger. Dennoch konnte er es einfach nicht lassen, ihn zu ärgern.
„Na klar, weil ich nichts Besseres zu tun habe, als dir hinterher zu schleichen und dein ganzes Leben in einem kleinen Buch mit rosa Einband festzuhalten. Mal ehrlich, woher soll ich wissen, wie´s bei dir Tag für Tag gelaufen ist?“
Dass der Ernst in seiner Stimme aufgesetzt war, konnte man nicht überhören. Ausnahmsweise ging Ryan aber nicht auf diese Stichelei ein, ihm war gerade einfach nicht danach. In einer solch herrlichen Nacht wollte er lieber seine Ruhe haben. So lachten sich die zwei Trainer aus aller Freundschaft durch die ansteigenden Funken des knisternden Lagerfeuers hindurch an. Dass Ryan ihm damit den Wind aus den Segeln nahm, ahnte er nicht einmal.
Wenig später war die Müdigkeit kurz davor, Ryan zu überwältigen. Es lag ja auch eine beachtliche Strecke hinter ihnen, welche eine Menge Energie verbraucht gefordert hatte und so legte er sich bald mit Gesicht zum Feuer gewandt nieder. Geredet wurde ab hier kaum noch. Gedankenverloren schaute er in die Flammen, vernahm das knistern des brennenden Holzes, von dem Andrew gerade noch etwas hinein schmiss und beobachtete die empor fliegenden und wieder herabsinkenden Funken. Es hatte etwas Beruhigendes und Wunderschönes an sich, die Flammen bei ihrem Tanz zu beobachten. Der Fernseher der Natur. Fast wäre es sogar so weit gekommen, dass Ryan sein bevorstehendes Ziel für einen Moment vergaß. Was er wohl in der Hoenn-Region alles erleben würde? Welche Pokémon würde er sehen? Was für Kämpfe gäbe es dort zu bestreiten? Dies waren wohl die typischen Fragen, die sich ein Trainer in seiner Situation stellte. Seine Augen wurden langsam schwer. Träge drehte er sich auf den Rücken, sodass er direkt in den Sternenhimmel blickte. Er vermochte die Lichtpunkte nicht zu zählen, doch sicher ging es in den hunderter-Bereich. Ryan liebte es, in klaren Nächten auf zu sein und dann einfach nur die Sterne zu beobachten. Manchmal hatte er dies stundenlang getan, ehe er eingeschlafen und am Morgen von einer sanften Brise sowie dem Zwitschern der Taubsi geweckt worden war. Manchmal war dies fast noch erholsamer als der Schlaf selbst.
Es war eigentlich völlig egal, wer und was ihn in Hoenn erwarten würde, er musste nur endlich wieder zu seiner Form finden. Es ging bei diesem Vorhaben um niemanden außer ihn selbst. Vielleicht noch um Andrw. Wenn er erst einmal wieder seinen Rhythmus gefunden hatte, würde alles schon um einiges leichter. Er konnte es eigentlich schon gar nicht mehr erwarten, dieses neue Land zu betreten und es sich selbst zu beweisen. Mit diesem Gedanken zog Ryan schließlich die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf und glitt bald darauf ins Reich der Träume. Sein alter Freund tat es ihm nur Minuten später gleich.