Der Zorn des Himmels

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  • Kapitel 10: Can´t turn back.


    Erst nachdem der ahnungslose Mann außer Sichtweite war, wagte Ryan es, sich von der Wand zu lösen und erleichtert aufzuatmen. Für solche Dinge fehlen ihm auf Dauer doch die Nerven. Das würde er sicher kein zweites Mal überstehen. Seine Brust schmerzte tatsächlich vom Herzschlag. Ein Wunder, dass der Rocket ihn nicht gehört hatte. Andrew war bereits ein paar Schritte voraus gegangen und riskierte einen Blick um die Ecke in die zwei anderen Gänge. Links führte der Weg ganz normal weiter geradeaus. Eine Tür oder eine weitere Abzweigung war nicht in Sicht. Auf der rechten Seite jedoch endete der Gang nach einigen Metern in Form einer Holztür, wie sie sie zuvor bereits gesehen hatten. Zwar gab es keine stichhaltigen Hinweise, dass sich dort drinnen die gestohlenen Pokébälle oder auch nur ein paar von ihnen befanden, doch wenn der Raum nun schon so nahe lag, konnte es sicher nicht schaden, ihn einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

    Kurz drehte Ryan sich um, um die zwei Nachzügler wissen zu lassen, welche Richtung sie einschlagen würden. Sie nickten, als er in den rechten Flur deutete. Möglichst lautlos huschten sie um die Ecke und positionierten sich in gebückter Haltung vor der Tür. Sie besaß ebenfalls ein Glasfenster und auch wenn im Inneren die gleiche Dunkelheit wie hier draußen herrschte, blieben sie vorsichtig. Immerhin könnte ein weiterer Rocket Agent dort drinnen auf das Wiedereinschalten des Stromes warten. Wenn dieser erst einmal wieder lief, dann wäre eine offene Begegnung mit einem solchen überaus kontraproduktiv. Ryan schloss zu den anderen Beiden auf und spähte durch die Scheibe. Der Raum, der dahinter lag, war sehr klein und beherbergte keine Schreibtische, Schränke oder ähnliches. Jedoch standen einige aufeinandergestapelte Kisten herum, was einen kleinen Hoffnungsschimmer aufkeimen ließ. Ein Lagerraum lag hier verborgen. Vielleicht waren sie hier fündig geworden. Ohne Weiteres öffnete er die Tür und winkte gleich danach Andrew und Birk herein, sah sich vorsichtshalber nochmal auf dem Flur um, ehe er sie gleich wieder schloss. Sofort machten sich alle daran, die Kisten zu inspizierten. Verschiedene Formen und Größen waren unter ihnen, doch allesamt bestanden aus festem Eichenholz. Die Oberseite war nicht zugenagelt, stattdessen waren die Deckel einfach nur darauf abgelegt worden, ohne die Kisten zu schließen. Eine überaus günstige Tatsache, denn so konnte man deren Inhalt in Erfahrung bringen, ohne Lärm zu verursachen. Neugierig öffnete Andrew eine besonders große Kiste in perfekter Würfelform. Was er darin fand, konnte er jedoch zunächst nicht richtig einordnen.

    „Seht euch das mal an“, forderte er mit nicht mehr ganz so stark unterdrückter Stimme. Ryan und der Professor traten heran, wie ihnen geheißen war und schauten nicht weniger verwundert als es Andrew tat. In der Kiste befand ich eine Art Statue, scheinbar aus Marmor. Es handelte sich dabei um eine Skulptur des legendären Mew. Die Farbe war durch die Nachtsichtgeräte nicht zu bestimmen, da man durch diese hindurch alles nur in Grüntönen sah, doch allein von der Detailreichen Feinarbeit her wirkte es beinahe lebensecht. Zweifellos die Arbeit eines überaus begabten Künstlers.

    „Das habe ich schon mal gesehen“, warf Professor Birk plötzlich ein. Neugierige und überraschte Blicke der beiden Trainer legten sich auf den Kittelträger.

    „Ja, das stammt aus der Ausstellung in Wurzelheim“, bestätigte er deren stumme Frage. Richtig, eine solche hatte er vorhin erwähnt.

    „Ein überaus wertvolles Stück. Die Statue wurde erst kürzlich in einer Ruine gefunden, die seit tausenden von Jahren niemand mehr betreten hatte. Doch trotz ihres Alters hat sie nicht einen Kratzer.“

    Nun kam es auch Ryan wieder ins Gedächtnis, dass Officer Rocky zuvor erwähnt hatte, dass einige antike Stücke aus Wurzelheim verschwunden waren. Für eine Sekunde fragte er sich, welchen Zweck solche Überbleibsel ausgestorbener Kulturen für Team Rocket haben sollten, doch wahrscheinlich hegten sie mit dem Diebstahl solcher Gegenstände nur die primitive Absicht, sie für viel Geld zu verkaufen. Oder aber die Polizistin hatte mit ihrer Vermutung, Team Rocket wolle sich endgültig in Hoenn niederlassen, geirrt und sie verfolgten ganz andere Ziele. Vielleicht vermuteten sie irgendwo in Wurzelheim einen Gegenstand, der von anderem Interesse war, als von finanziellem. Immerhin besaß manch ein reicher Sammler auf dieser Welt sicher Dinge, deren wahrer Zweck und Bedeutung viel tiefer reichten, als sich erahnen ließ. Doch das waren nur Vermutungen. Eine solche Kenntnis über alte Artefakte traute er einer Diebesbande nicht zu. Sie wollten nur Macht und Geld. Von letzterem bekam man für ein Stück wie dieses hier auf dem Schwarzmarkt sicher eine hübsche Stange.

    Neugierig durchsuchte die Gruppe einige weitere Kisten. Ryan hockte gerade vor einem Exemplar in Form eines Quaders gefertigte, das ein antikes Zepter beinhaltete. Darauf war etwas in alter Icognito-Schrift eingraviert worden. Stammte dieses Relikt aus Johto? Wohl war ebenfalls Bestandteil der Ausstellung, aber auch nach vielen weiteren Versuchen fanden sich keine Pokébälle, sodass er resignierend seufzte. Schön und gut, dass das Museum sein Eigentum zurückbekommen würde, doch der Wert der Pokémon war für deren Trainer nicht mit Geld aufzuwiegen. Sie waren es, was es hier wirklich und unbedingt zu finden galt.

    Dann hielt Ryan inne. Sein Blick war auf eine sehr kleine Kiste gefallen, die unscheinbar in der Ecke stand. Sie war gerade hoch und breit genug, damit er seine Hand darin vergraben konnte, also mit Abstand die kleinste in diesem Raum. Ryan konnte selbst nicht genau sagen, warum sie auf einmal seine Aufmerksamkeit erregte. Möglicherweise war ihm die geringe Größe suspekt und weckte daher seine Neugier. Vielleicht war es auch Intuition, eine Vorahnung oder sonst irgendwas in der Richtung, doch in diesem Augenblick interessierte ihn alles andere um ihn herum kaum noch. Irgendetwas ging von diesem Behältnis aus, das er nicht betiteln konnte, ihn regelrecht anlockte und dem er nicht widerstehen konnte. Er öffnete den Behälter langsam und vorsichtig. Er hatte ja keine Ahnung, welch Schicksal er damit für sich besiegelte.

    Auf einem Seidenkissen thronte ein kristallener Gegenstand. Zuerst kam Ryan der Gedanke, es könnte ein einfaches Juwel, wie ein Diamant oder Smaragd sein, doch erschien das in der nächsten Sekunde bereits unmöglich. Der Gegenstand schimmerte und leuchtete von innen heraus, sonderte ein zartes Licht ab. Unter seiner Oberfläche schien förmlich ein Nebelschleier oder eine Art Rauch zu wabern, was den Orb in einen mystischen, bezaubernden Mantel der Mystik tauchte.

    Ryan blickte kurz über die Schulter hinüber zu Andrew und Professor Birk, welche weiter die Kisten durchstöberten. Sie hatten ihm den Rücken gekehrt, sodass sie keine Kenntnis von Ryans Fund nahmen. So riskierte dieser es, sein Nachtsichtgerät für einen Moment abzunehmen, um den Orb mit seinen eigenen Augen betrachten zu können. Das Licht, in dem er badete, war ein liebliches Naturgrün, welches ihn zunächst doch als einen einfachen Smaragd erscheinen ließ. Doch es war mehr, viel mehr als nur das! Ryan konnten dies fühlen. Er wollte ihn berühren, seine Oberfläche spüren, ihn in seinen Händen wiegen.

    Langsam streckte er seine Hand aus. Sein Herz schlug immer schneller. Fast konnte er den schnellen Rhythmus in seinem ganzen Körper spüren. Seine Augen wurden immer größer und er schluckte einmal, bevor er seine Finger vorsichtig um das herrliche Objekt schloss. Sein Licht war zu schwach, um die Aufmerksamkeit der beiden anderen zu erregen, was wohl auch den Nachtsichtgeräten geschuldet war. Die Oberfläche war glatt und hart und schien von mehreren Seiten geschliffen. Allerdings besaß er keine symmetrische Form, sondern zeigte mit diversen Ecken und Kanten willkürlich in alle Richtungen. Zwei weitere Punkte, die einen annehmen lassen könnten, dass es sich doch nur um einen Smaragd handelte - wenn auch einen riesigen, da er fast Ryans gesamte Handfläche ausfüllte. Ein Idiot musste man sein, um dies zu glauben, wenn man die vollkommene Schönheit unter der glanzvollen Fassade des schillernden Farbenspiels betrachtete. Fast war er gewillt, seine Lederhandschuhe auszuziehen, um das Gefühl auf seiner Haut spüren zu können, doch das Öffnen der Klettverschlüsse hätte wohl endgültig die Aufmerksamkeit seiner beiden Begleiter erregt. Doch nicht nur sein herrliches Aussehen faszinierte Ryan. Sein Geist wurde erfüllt von einer befreienden Sorglosigkeit. Er fühlte sich, als gäbe es kein einziges Problem für ihn auf dieser Welt, um das er sich kümmern müsste. Gewöhnliche Bedürfnisse waren fort, weggespült. Alles was er brauchte, hatte er mit dieser materiellen Verkörperung von Schönheit und Vollkommenheit erlangt, umrankt von tausend Geheimnissen, die er entschlüsseln wollte.

    Seit er den Orb berührt hatte, war ihm alles um ihn herum völlig egal geworden, hatte es sogar beinahe vergessen. Wozu sich die Mühe machen, einige gestohlene Pokébälle zu finden, die nicht einmal seine waren? Für was um alles in der Welt betrieb er diesen Aufwand? Was kümmerte ihn der Verlust Anderer überhaupt? Was musste er deren Probleme zu seinen eigenen machen? Um was musste man sich denn schon sorgen, wenn man etwas so Schönes in der Hand hielt?

    Unverhofft und wie aus dem Nichts schlug jene Schönheit brutal zurück. Ryan war, als würde seinen Eingeweiden ein Schlag mit der flachen Hand versetzt werden. Seine Augen weiteten sich und die Pupillen zitterten, während ein elendes Schwindelgefühl seine Sinne erfüllte und ihm plötzlich ein pfeifender Ton im Ohr lag. Fast verlor er das Bewusstsein. Geradeso bewerkstelligte er es, sich nach vorne zu beugen, um sich auf die Arme stützen zu können. Ryan sog scharf Luft ein und schüttelte einen Moment den Kopf, während sein Herz, das eben noch wie wild gepocht hatte, für den Bruchteil einer Sekunde stehen blieb und gleich im Anschluss wieder einen gleichmäßigen, wenn auch unruhigen Takt annahm. Was hatte er da gerade eben noch gedacht? Die Pokébälle – egal? Dass der Verlust der anderen Trainer nicht sein eigene und daher nicht relevant war? Das konnte doch nicht er gewesen sein, der das gedacht hatte! Wurde er verrückt?

    Verdutzt betrachtete Ryan erneut den grünen Orb, doch diesmal mit Skepsis und Verwunderung. Er war sich nicht sicher, was er von dem halten sollte, was er gerade erlebt hatte. Das Gefühl, dieses berauschende Gefühl als er sich dem Orb ganz hingegeben hatte... es hatte sich gut angefühlt. Er war so schön, so anziehend, so geheimnisvoll...

    „Jackpot, ich hab die Pokébälle gefunden!“

    Andrews Stimme riss Ryan aus seinen Gedanken. Erschrocken fuhr er hoch und blickte hinüber zu den andere Beiden. Professor Birk war sofort aufgesprungen und herangeeilt, um den Fund mit eigenen Augen bestaunen zu können. Er konnte glatt heulen vor Freude. Ryan überlegte eine Sekunde lang fieberhaft. Wenn er den Orb hier zurückließ, würde die Polizei ihn später mitsamt dem Rest wieder zurück zur Ausstellung bringen. Das wäre gut und richtig so. Aber er wollte ihn auf keinen Fall wieder hergeben, wollte nicht auf seinen Anblick verzichten müssen. Noch auf das Gefühl, ihn zu halten. Er hatte noch nie in seinem Leben etwas gestohlen. Für Ryan war es schon immer völlig unsozial und unmenschlich gewesen, Gegenstände an sich zu nehmen, die ihm nicht gehörten. So rätselte er einen Moment lang, welches Verlangen in ihm größer war – den Orb zu behalten oder an seinen Prinzipien festzuhalten. Notgedrungen traf er einen schnellen Entschluss, da sich seine beiden Begleiter ihm zu jeder Sekunde zuwenden konnten. Mit einer flinken Bewegung ließ er den Orb in die Tasche seines Sweatshirts gleiten.


    Ryan schloss schnell die kleine, nun leere Kiste und stand abrupt auf. Nun wieder durch das Nachtsichtgerät blickend, sah er zu den beiden anderen hinüber. Für einen Moment hielt Ryan angespannt den Atem an und beobachtete sowohl Andrew als auch den Professor sehr präzise, stellte dann aber erleichtert fest, dass sie nichts von seinem Diebstahl bemerkt hatten. Ihre Aufmerksamkeit was völlig von den Pokébällen beansprucht. So trat er nun an die zwei heran und inspizierte ebenfalls den Inhalt der Kiste. Kein Zweifel, das mussten restlos alle sein, die gestohlen worden waren. Die Menge musste sich zumindest schätzungsweise mit der von Officer Rocky berichteten decken. War jedenfalls schwer vorstellbar, dass Team Rocket noch mehr hatte erbeuten können. Professor Birk konnte sogar einen seiner drei eigenen Exemplare wiederfinden, was wohl auf deren Zustand zurückzuführen war. Die meisten darunter waren recht zerkratzt und schmutzig, wiesen deutliche Gebrauchsspuren auf, während die des Professors nicht einen Makel besaßen. Klar, wenn man einem neuen Trainer sein erstes Pokémon überreichte, musste der dazugehörige Pokéball in einwandfreiem Zustand sein. So fischte der Pokémonprofessor den Pokéball für Cody heraus und steckte sie in seine braune Umhängetasche. Prüfend warf er einen weiteren Blick in die Holzkiste und wühlte ein wenig in dem Ballhaufen, in der Hoffnung, die anderen beiden ebenfalls zu finden. Und tatsächlich...

    „Ja, hier ist noch einer aus meinem Labor“, stellte Birk freudig fest, was Ryan dazu veranlasste seine Euphorie etwas zu bremsen. Er war etwas zu laut geworden, weshalb sich Andrew gleich zur Tür begab und nach draußen spähte. Es war weiterhin niemand in Sicht. Birk suchte weiter nach dem letzten seiner Pokebälle. Sicher war er viel zu sehr in Sorge um seine Schützlinge, um sie auch nur für eine weitere Minute hier herumliegen zu lassen. Ryan kannte dieses Gefühl gut. Würde er in dieser Kiste auch nur ein einziges von seinen eigenen vermuten, würde er das Ding notgeringen auskippen, um den richtigen Ball wiederzufinden. Daher konnte er den Professor gut verstehen, was angesichts der Tatsache, dass ihm die gestohlenen Pokémon eben noch völlig egal gewesen waren, doch als recht seltsam erschien. Es half jetzt allerdings überhaupt nichts, darüber zu spekulieren und sich in Grübeleien zu verirren. Weder Ort noch Zeit waren richtig dafür. Stattdessen half er bei der Suche nach dem dritten Pokéball. Im Prinzip musste er nur den heraussuchen, der einen absolut einwandfreien Zustand aufwies. Als jedoch nach minutenlangem Wühlen weder er noch Birk oder Andrew das gesuchte Objekt gefunden hatte, machte sich ein wenig Ratlosigkeit in der Gruppe breit. Das konnte doch jetzt nicht sein, dass ausgerechnet dieser eine Pokéball fehlte!

    „Giebt´s denn das?“, fluchte Andrew als würde es hier um sein eigenes Pokémon gehen und krämplete abermals des gesamten Kisteninhalt um. Ryan stützte sich dagegen resignierend auf die Kante.

    „Er ist wohl nicht hier.“

    Obwohl Andrew und Birk längst dasselbe gedacht hatten, zeugten ihre Reaktionen nicht gerade von Zustimmung. Man weigerte sich, die Tatsachen zu akzeptieren. Während der Professor stur weitersuchte, als ob nichts gewesen wäre, breitete der ältere der beiden Trainer frustriert die Arme aus.

    „Wo soll er denn bitte sonst sein?“

    Der giftige Unterton gefiel Ryan überhaupt nicht. Er war schließlich nicht derjenige, der die Bälle gestohlen oder den bislang vergeblich gesuchten versteckt hatte Dafür hatte er etwas anderes gestohlen. Fast automatisch wollte seine rechte Hand nach dem grünen Orb in seiner Jackentasche tasten, doch er widerstand der Versuchung, danach zu greifen. Zu groß war die Gefahr, dass Andrew etwas bemerken würde. So schüttelte er diesen Gedanken ab und gab schließlich eine nicht minder gereizte Antwort.

    „Rede nicht mit mir als wäre ich für den ganzen Dreck verantwortlich!“

    Dieser leichte Ausbruch – Ryan hatte darauf geachtet, seine Stimme noch stark genug zu zügeln, damit niemand ihn von draußen hören konnte – blieb unkommentiert, doch Andrews Blick sprachen für sich. Selbst mit dem futuristischen Gerät auf der Nase. Er hatte es ebenso wenig wie er selbst verdient, wegen der aktuellen Situation beschimpft zu werden. Das realisierte Ryan nun auch, doch anstelle einer Entschuldigung wandte er sich von den Kisten ab und trat an die Tür heran. Die Situation schien ihnen langsam ans Gemüt zu gehen. Sie mussten sich zusammenreißen.

    Vor seinen Gedanken flüchtend warf er nun ebenfalls einen frustrierten Blick durch das darinsitzende Fenster, der ihm verriet, dass der Strom wohl noch immer nicht wieder eingeschaltet worden war. Niemand war auf dem Flur zu sehen oder zu hören.

    „Wir sollten zusehen, dass wir hier rauskommen.“

    Damit zog er zwei entgeisterte Blicke auf sich. Andrew musste all seine Beherrschung aufbringen, um es mit der Lautstärke nicht zu übertreiben. Dabei war ihm fast nach Schreien zumute.

    „Was soll das denn jetzt? Wir können die Pokébälle nicht einfach hierlassen! Und dem Professor fehlt auch noch einer!“

    Ryan ließ keine Pause entstehen, antwortete fest und bestimmend, kaum dass die letzte Silbe des Protests geendet hatte.

    „Willst du die ganze Kiste hier raustragen, oder was?“

    Eigentlich müsste er von allen Kisten sprechen, da die gestohlenen Pokémon zwar Priorität hatten, aber er auch die Reliquien nur äußerst ungern Team Rocket überlassen würde. Er wollte diesen Typen rein gar keine Beute gönnen!

    Ryan atmete einmal geräuschvoll aus und versuchte Andrew etwas Vernunft einzureden. Er wollte ja auch am liebsten alles sofort einpacken und zurückbringen und vor allem Birks letzten Pokéball finden. Aber er befand, dass sie es weit genug getrieben hatten. Vielleicht gingen ja auch ein bisschen die Nerven mit ihm durch, doch eingestehen würde er sich das nicht.

    „Wir können froh sein, dass wir´s unentdeckt bis hierher geschafft haben. Weiter sollten wir unser Glück nicht ausreizen. Wir wissen, wo das Versteck und das Diebesgut ist. Das reicht für´s Erste. Ich halte es für klüger, wir belagern den Eingang und warten auf Rockys Polizeitruppe. Einer von uns kann zurück zum Labor und Bescheid geben.“

    Es herrschte einige Sekunden Stille nach diesem Vorschlag. Ryan war sich durchaus bewusst, dass man selbigem mindestens mit einem Hauch Wiederwillen Folge leisten würde, war aber sicher, hiermit die beste Vorgehensweise gefunden zu haben.

    „Die können hier schließlich genauso wenig einfach alles rausschaffen, wie wir. Und das letzte Pokémon aus dem Labor wird sich schon noch finden.“

    Auch damit hatte Ryan ein stichhaltiges Argument. Wenn sich zwei Stück hier befanden, musste Nummer drei auch irgendwo sein. Schließlich waren sie alle von derselben Person entwendet worden. Birk, der die Suche mittlerweile endgültig aufgegeben hatte, richtete sich auf und sah rüber zu Andrew. Jeder Trottel konnte erkennen, dass er hier nicht bloß halb verrichteter Dinge wieder abziehen wollte. Aber was war die Alternative? Einfach alles raustragen? An so einen Schwachsinn brauchten sie gar nicht erst denken.

    „Ich stimme Ryan zu“, pflichtete der Professor trotz einem Rest an Ernüchterung bei. Andrew, der von der neuen Situation wohl am wenigsten begeistert war, seufzte resignierend. Er hatte sich sehr gewünscht, hier gänzlich fertig zu sein, bis Officer Rocky eintraf, aber allein konnte er das ganze Versteck bestimmt nicht ausräuchern. Draußen ließe sich die Polizistin sicher auch kontaktieren. Hier unter der Erde würde das garantiert nicht funktionieren. Und wenn sie dem Fund dieses Verstecks nicht die zuvor verhandelte Priorität einräumen konnte, wüsste er auch nicht mehr weiter.

    Gerade als Andrew doch seine Zustimmung geben wollte, durchzuckte ganz plötzlich ein blendender Schmerz seine Augen. Reflexartig kniff er diese zusammen und wankte für einen Moment irritiert auf seinen Beinen.

    „Verdammte...“, stieß Ryan, den eigentlichen Fluch hinunterschluckend, wütend hervor, was wohl bedeutete, dass es ihm nicht besser erging und dem Professor folglich auch nicht. Es war sofort klar, warum alle drei so plötzlich geblendet wurden. Das Licht war wieder angegangen.

    Zwar war die Beleuchtung hier unten lediglich auf die Kraft einiger weniger Glühbirnen an der Decke beschränkt, jedoch reichte ihre Stärke völlig aus, um das Trio dank der Nachtsichtgeräte durch ein unerträglich helles Licht für einige Sekunden zu desorientieren. Instinktiv riss Ryan sich das Gerät von seinem Kopf und rieb sich die Augen. Auch wenn der Raum, in dem sich die drei befanden, nur wenige schwache Lichtquellen besaß, konnte er zunächst nur durch schwach geöffnete Lider und stark blinzelnd seine Umgebung fahl erkennen. Team Rocket hatte das Stromproblem also behoben. Nicht dass Ryan angenommen hatte, hier ewig im Dunkeln zu bleiben, doch er hatte gehofft, dass sie wenigstens den Weg nach draußen im Schutz der Dunkelheit antreten konnten, bevor sie sich wieder bei Licht auf die Flure begaben. Eben diese Aufgabe wurde durch diese neuen Umstände erheblich erschwert, was die Moral der Gruppe spürbar drückte. Nicht weniger beunruhigend war die Tatsache, dass hier augenblicklich alle Alarmglocken angehen würden, sobald dieser Phil, wie er zuvor noch genannt worden war, wieder zu sich kam und die Anwesenheit dreier Eindringlinge ausplauderte, was nur eine Frage der Zeit war. Dies setzte das Trio zusätzlich unter Druck, doch ein Zurück gab es schon längst nicht mehr. Entweder sie boxten sich hier irgendwie durch oder sie konnten sich Team Rocket gleich stellen.

    „Na gut“, seufzte Andrew schließlich. Lamentieren half jetzt auch nichts. Sie mussten die neue Situation akzeptieren und sich anpassen.

    „Wenn wir hier rumsitzen, wird auch nichts besser. Sehen wir zu,...“

    „Warte“, unterbrach Ryan plötzlich. Schlagartig herrschte Ruhe in dem kleinen Raum, nicht jedoch außerhalb von diesem.

    „Hört ihr das?“, erkundigte er sich. Jedoch wartete er nicht auf eine Antwort, sondern trat nahe an die Tür heran und lauschte aufmerksam. Er war sich mehr als sicher, eben noch etwas gehört zu haben. Und tatsächlich konnte er die dumpfen Klänge von Schritten vernehmen, die auf den harten Stahlplatten widerhallten. Einmal mehr war Ryan froh darüber, dass der Boden derart ausgelegt war. Andrew und Birk horchten ebenfalls und schienen das anhaltende und langsam lauter werdende Geräusch ebenfalls zu registrieren. Zudem wurden sie nun von den Stimmen von mindestens zwei sich unterhaltenden Personen begleitet.

    „Dieser dämliche Stromausfall versaut uns unseren ganzen Zeitplan“, motzte eine junge Männerstimme. Die zweite Person – dem Ton nach ganz offensichtlich eine Frau – schien nicht auf das Thema einzugehen, sprach dafür aber viel interessantere Worte.

    „Dieses Hydropi soll also aus dem Labor dieses Pokémonprofessors sein?“, fragte sie leicht ungläubig klingend. Ryan, Andrew und Birk wurden augenblicklich hellhörig, während sich ihre Augen schlagartig weiteten.

    „Wenn ich´s dir doch sage, ich hab´s schließlich selbst mitgehen lassen. Wäre dabei fast am Sack gekriegt worden, weil mich so ´n dämlicher Junge verfolgt hat.“

    „Ich mein ja nur. Wenn du mich fragst, sieht dieses Hydropi schon recht alt aus, um einem neuen Trainer übergeben zu werden.“

    Fragende Blicke seitens der beiden Trainer aus Silber City fielen auf Professor Birk, worauf dieser sich leicht verlegen und schuldbewusst wirkend am Hinterkopf kratzte. Ryan schüttelte diesen Gedanken gleich wieder ab und konzentrierte sich. Für so etwas war es nun bei weitem nicht der richtige Zeitpunkt. Viel interessanter war, dass sich genau dort draußen der Dreckskerl befand, der ihm bei der Verfolgung im Wald noch entwischt war. Vorsichtig lugte er aus dem Glasfenster, das in der Tür saß und spähte auf den Flur. Genau von geradeaus kamen zwei voll in schwarz gekleidete Rockets. Die Frau war Ryan gänzlich unbekannt und er musterte sie einen Moment lang. Sie war ziemlich klein und äußerst schlank. Unter ihrer Baskenmütze war lediglich ein roter Haaransatz zu erkennen, da die Frisur offensichtlich hochgesteckt war und von der Kopfbedeckung verdeckt wurde. Keine Anzeichen also, dass sie von größerer Bedeutung war. Es handelte sich nur um eine weitere kleine Diebin, also schenkte er ihr auch keine weitere Aufmerksamkeit.

    Der Mann war im Grunde auch nur ein schmieriger Handtaschendieb, doch war er eben jener aus dem Labor des Professors. Nun, da er ihn einer genaueren Betrachtung unterziehen konnte, erkannte er, wie klein der Mann tatsächlich war. Wirkte selbst neben der rothaarigen Frau schlank und fast schon etwas zerbrechlich. Auch waren beide noch sehr jung. Die Volljährigkeit konnten sie vor nicht allzu langer Zeit erlangt haben. Seinem Äußeren widmete sich Ryan allerdings nur sehr kurz, denn viel mehr interessierte ihn das, was er in seinen Händen hielt. Es war ein kleiner Metallkäfig in dem ein kleines, blaues Pokémon saß. Auf dem Gehäuse lag ein Pokéball – wohl der des gefangenen Wesens.

    „Und was sollte die Untersuchung vorhin jetzt eigentlich bringen?“

    „Nur den allgemeinen Zustand checken. Der Doc will keine schwachen oder kranken Pokémon für die Forschung“, antwortete der junge Mann.

    „Heißt das, wir müssen jeden einzelne von den Viechern ins Labor schaffen?“

    „So sieht´s aus.“

    Das genervte Stöhnen der Frau war unüberhörbar. Ryans Augen waren während der Unterhaltung groß geworden. Die trugen die Pokémon also zu einem Doktor und wieder zurück. Was bedeutete, sie würden gleich den Lagerraum öffnen, in dem er sich zusammen mit Andrew und Birk aufhielt!

    „Na wenigstens müssen wir die anderen nicht im Käfig hinschleppen“, seufzte die Frau noch.

    „Wie hast du´s eigentlich hingekriegt, den Pokéball von dem Vieh zu beschädigen?“

    Den faden Ausreden und Erklärungsversuchen schenkte Ryan schon gar kein Gehör mehr. So, so. Beschädigt also. Das erklärte, warum das Pokémon in einem Käfig transportiert wurde. Es konnte vorkommen, dass ein solcher Pokéball das entsprechende Pokémon nicht mehr einzuziehen vermochte. Nur vor dem Fang durch einen anderen Trainer war es dann noch geschützt und meist ließ sich der Schaden leicht beheben.

    Nun stellte sich die Frage, was sie tun sollten. Eine Konfrontation mit den Beiden schien ab hier unausweichlich. Sich hinter oder gar in den Kisten zu verstecken, schien aussichtslos. Die waren nicht groß genug. Fand sich hier vielleicht erneut ein Gegenstand, mit dem man die zwei K.O. schlagen könnte, wie Ryan es bei Phil getan hatte? Oder sollten sie doch das Risiko mit Psiana eingehen?

    Durch stumme Blicke tauschten die beiden Trainer und der Pokémonprofessor diese Fragen aus und wirkten dabei recht ratlos. Aus der Not heraus langte Andrew jedoch bereits nach einem Pokéball.

    Die Entscheidung wurde ihnen nur eine Sekunde später abgenommen, da sich ihre Tarnung von alleine auflöste. Eine schrille Sirene dröhnte urplötzlich laut an ihre Ohren, während von irgendwoher eine Stimme aus einigen nicht sichtbaren Lautsprechern ertönte.

    „Achtung, Alarmstufe Rot! Mehrere Eindringlinge im Komplex gesichtet! Wiederhole. Eindringlinge gesichtet, Alarmstufe Rot!“


    Anscheinend war dieser Phil wieder zu sich gekommen und hatte sie verpfiffen. Ihre Anwesenheit war nun allgemein bekannt, was bedeutete, dass sie hier schleunigst die Kurve kratzen mussten. Jedoch nicht ohne dieses Pokémon, welches die Frau eben noch als Hydropi benannt hatte, zu befreien. Allerdings befand sich die Dreiergruppe nun gewaltig unter Druck, da die beiden Rockets sich nun aufmerksam auf dem Flur umsahen und der Blick des Mannes schließlich an eben jener Tür hängen blieb, hinter der sie sich verbargen. Ryans Herz schlug nun wie ein Hammer gegen seinen Brustkorb. Er konnte zwar nicht wissen, was in dem Kopf des Rockets vorging, doch so eindringlich, wie er zu ihnen herübergesehen hatte, musste er ihn bemerkt haben oder war möglicherweise von selbst auf den Trichter gekommen, dass sich in dem dahinter liegenden Raum jemand verstecken könnte. Damit läge er ja auch goldrichtig und eben dies schien auch Andrew gerade zu erahnen. Anders konnte Ryan sich die überstürzte Reaktion seinerseits nicht erklären.

    Er stieß nämlich urplötzlich die Tür auf und rannte hinaus auf den Flur, direkt auf die beiden schwarz gekleideten zu. In den Augen der zwei Diebe spiegelte sich deutliche Überraschung und Verwunderung, was Grund zur Annahme ließ, dass sie die Gegenwart der Eindringlinge wohl doch nicht bemerkt hatten. Umso ärgerlicher war die Tatsache, dass Andrew seine Begleiter nun ebenfalls mit in die Scheiße ritt. Doch der schien gar nicht mehr zu denken, schien gar in einem Rausch zu sein, als er auf das Ziel zu stürmte. Einer Dampfwalze ähnlich warf er sich mit der Schulter in seine Ziele und stieß beide in den Torso. Alle drei fanden sie sich auf dem Boden wieder, aber nur zwei Drittel der Beteiligten stöhnten wütend. Der Käfig mit Hydropi war laut krachend auf den Stahlboden aufgeschlagen. Aufgeregt und ängstlich schrie das Pokémon auf und kauerte sich in Anbetracht des plötzlich herrschenden Lärms zusammen.

    Äußerst schnell, wenn auch schmerzvoll grunzend machte der schlanke Mann Anstalten, wieder aufzustehen, wobei er bedrohlich auf Andrew herabsah. Was der sich wohl gerade für einen Racheakt im Kopf zusammenschusterte? Geradeso konnte er aus dem Augenwinkel noch erkennen, wie ein zweiter Jugendlicher auf ihn zu rannte, bevor ihm dieser sein Knie in die Seite rammte. Erneut stöhnte er auf, hielt sich mit beiden Händen die getroffene Stelle und krümmte sich auf dem Boden. Der Treffer hatte ihm ein, zwei Organa durchgeschüttelt und bewirkte fast einen Brechreiz. Professor Birk war ebenfalls herangeeilt und bückte sich sofort nach dem Käfig des verängstigten Hydropi sowie dessen Pokéball.

    „Keine Angst mein Freund, du bist gleich wieder in Sicherheit“, sprach der dem Pokémon zu. Die kläglichen Laute verstummten augenblicklich. Natürlich erkannte Hydropi das Gesicht des Professors wieder und das fürsorgliche Lächeln, das dieser ihm nun schenkte, schien es ein wenig zu beruhigen. So machte sich ein wenig Hoffnung in seinem Gesicht breit. Hoffnung auf baldige Freiheit, fort von deisem ominösen Gestalten.

    „Finger weg“, kreischte die rothaarige Frau ihn an, als auch diese sich nun langsam aufrappelte. Sie wirkte wie ein rasendes Snobilikat und der Professor erstarrte für einen Moment angesichts dieser Furie. Doch gerade als sie auf ihn zuspringen wollte, griff Andrew, der noch immer am Boden lag, nach ihrem Standbein, sodass sie zu Fall kam und mit dem Gesicht ungeschützt auf den Stahl knallte. Schmerzvoll hielt sie sich die Hand vor den Mund und krümmte sich neben ihrem Partner auf dem Boden zusammen. Wäre wenig verwunderlich, wenn sie sich bei dem Sturz die Nase gebrochen oder einige Zähne verloren hatte. Tatsächlich tropfte etwas Blut durch ihre Finger. Doch Mitleid ließen Ryan und Andrew dem Diebesgesindel nicht eine Sekunde lang zukommen. Eher würden sie noch einmal nachtreten. Stattdessen ergriffen sie aber lieber die Flucht.

    Von dem Jüngsten im Bunde angeführt rannten sie den Gang entlang, den sie hierher gekommen waren. Birk hielt nach wie vor den Käfig mit Hydropi in seinen Händen, während Andrew die Nachhut bildete. Sie passierten sehr bald die Tür, welche zu dem Raum führte, in dem sie die Nachtsichtgeräte gefunden hatten. Nun lagen selbige achtlos auf dem Boden des Lagerraumes und leisteten den gestohlenen Stücken aus dem Museum Gesellschaft. Folglich knickte der Weg nun ab und führte zurück die die Kreuzung, von welcher aus die Gruppe zu Beginn ihrer Suche in den Nebengang gezwungen worden war. Natürlich erinnerten sich noch jeder an die Richtung und so bogen sie allesamt nach rechts ab.

    „Hey, stehen bleiben!“, ertönte auf einmal eine kraftvolle Männerstimme hinter ihnen. Ein weiteres Team Rocket Mitglied hatte die Flüchtenden erspähte und die Verfolgung aufgenommen. Mit dem im Schlepptau rannten Ryan, Andrew und Birk den quälend langen Gang entlang und beteten innerlich, dass sie bald den Ausgang erreichen würden. Das Adrenalin quoll nun geradezu über. In seiner Hektik hatte Ryan beim Laufen kurzzeitig das Atmen vergessen, weshalb er bereits geräuschvoll schnaufte und nach Luft rang. Doch energisch wie er war, verlangsamte er seinen Lauf nicht, versuchte sogar noch, sein Tempo zu steigern. Andrew ging es ähnlich. Er drehte sich gar nicht erst nach dem Verfolger um. Abhängen würden sie ihn sowieso nicht und sein Gesicht zu sehen, brachte ihm keinen Vorteil. Letztlich erreichte das Trio nun die Einstiegsluke, durch die sie das Versteck betreten hatten. Sie war nach wie vor offen und erlaubte den Einlass von hellem Tageslicht, welches das der spärlichen Deckenbeleuchtung bei weitem übertrumpfte.

    „Sie gehen zuerst Professor“, forderte Ryan selbigen auf, welcher nicht widersprach und sich sofort an den mühsamen Aufstieg machte. Damit er beim Erklettern der Leiter beide Hände benutzen konnte, übernahm der junge Trainer für einen Moment den Käfig. Sobald Birk oben angelangt war, warf er das Gefängnis kurzerhand nach oben, wo der Professor es auffing. Auch wenn Hydropi das nicht gerade gefallen hatte.

    „Lasst sie nicht entkommen“, brüllte einer lautstark. Keiner hatte bemerkt, dass sie inzwischen von drei Rockets verfolgt wurden, obgleich ihr ältester Anhängsel noch einen leichten Vorsprung den beiden anderen gegenüber hatte.

    Andrew überlegte mal wieder nicht lange und zückte einen Pokéball. Dem weißen Lichtschein entsprang erneut seine geliebte Psychokatze, die für den vorherigen Stromausfall verantwortlich war.

    „Psiana, Psychokinese“, befahl er selbstsicher. Das Pokémon stieß ein entschlossenes „Psi“ hervor und ließ den Vorauslaufenden der drei Feinde anschließend mittels seiner Psychokräfte in die Luft abheben. Dabei leuchteten Psianas Augen in einem mystischen Blau, während der Rocket von einer dünnen Aura in derselben Farbe eingehüllt war. Bereits im nächsten Moment spendierte sie ihm auch schon einen Freiflug in Richtung der anderen zwei schwarz gekleideten, wobei er direkt gegen sie geschleudert wurde und sich die ganze Gruppe auf dem Boden wiederfand. Andrew grinste zufrieden.

    Ryan hatte inzwischen das obere Ende der Leiter erreicht. Gerade stemmte er die Arme in den Waldboden, schwang sich mit einem Ruck aus der Öffnung und rollte sich zur Seite, um rasch Platz zu machen. Somit machte sich nun auch Andrew daran, dieses dreckige Loch endlich zu verlassen und stieg die Metallstäbe empor. Um Psiana brauchte er sich nicht zu kümmern, da sich dieses einfach mittels des kürzlich erlernten Teleports an die Oberfläche beförderte. Kaum schien dem Trainer die späte Mittagssonne ins Gesicht, erschien das katzenartige Wesen auch schon in einem schwachen Lichtblitz direkt neben ihm. Das grelle Licht blendete leicht. In der letzten geschätzten halben Stunde hatten sich die Augen der beiden Trainer und es Pokémonprofessors stark an die spärliche Beleuchtung des Verstecks gewöhnt, sodass der Lichtwechsel nun einen ziemlichen Kontrast darstellte. Ryan reichte seinem Kindheitsfreund die Hand und half ihm mit einem Ruck, aus der Luke. Aus selbiger ertönte nun das wütende Gebrüll der schwarz gekleideten Verfolger.

    „Sie dürfen die Lage unseres Verstecks nicht verraten“, hallte die wütende Stimme wider. Die beiden Trainer sahen sich für einen Moment stumm an und Birk hätte schwören können, dass sie sich erneut per Telepathie verständigten. Anschließend nickten sich die zwei Jugendlichen zu.

    „Worauf wartet ihr?“, fragte der Kittelträger eingehend. Er drang eindeutig zur Eile.

    „Lasst uns schnell hier verschwinden.“

    Das kleine Hydropi, dessen Käfig er nach wie vor in den Händen hielt, schien den Rat von Birk zu unterstützen, da es ebenfalls eindringliche Rufe an Ryan und Andrew zu wenden schien. Diese allerdings schienen keine Anstalten zu machen, dem Drängen nachzukommen. Sie standen in einigen Metern Abstand zu der Einstiegsluke und blickten mit entschlossener Kampfeslust darauf.

    „Sie können ruhig vorgehen, Professor“, sprach Ryan dann, ohne sich umzudrehen.

    „Wir kümmern uns um die Nachzügler.“

    Für eine Sekunde wusste Birk nicht, was sie damit bezwecken wollten, dabei lag die Lösung eigentlich auf der Hand. Ewig konnten sie schließlich nicht weglaufen und außerdem waren Ryan und Andrew nicht komplett wehrlos. Und er selbst nebenbei auch nicht.

    Gerade reckte der erste der drei Rockets, die das Trio verfolgt hatten, den Kopf aus der Öffnung im Boden als der Professor einen Entschluss fasste. Wortlos stellte er den Käfig mit Hydropi ab und stellte sich zu Ryan und Andrew.

    „Was soll das denn werden?“, fragte nun Andrew ob dieser Geste. Die Antwort des Gefragten zeugte ebenso von Entschlossenheit und Kampfeswillen wie sein Gesichtsausdruck.

    „Ich werde euch ein wenig unterstützen. Meine Knochen machen so eine Rennerei sowieso nicht lange mit.“

    Doch recht verwundert über diesen plötzlichen Sinneswandel tauschten die zwei Jungen einen verblüfften Blick aus. Wirklich verstehen konnten sie diese unerwartete Entscheidung nicht, doch immerhin konnte Birk tun und lassen, was er wollte. Wenn er hierbleiben und kämpfen wollte, dann sollte ihm dies nicht verwehrt werden. Nur waren sie sich nicht so sicher, ob er ihnen mit zwei Starter-Pokémon, die im Kampf nahezu unerfahren waren, wirklich eine Hilfe sein würden. Allerdings würden sie ihn wohl kaum zum Gehen überreden können.

    „Sie können gerne bleiben Professor“, antwortete Andrew schließlich, strahlte nebenbei völlige Ruhe und Souveränität aus.

    „Aber lassen sie uns ruhig den Spaß.“

    Wieder tauschten die beiden Trainer einen Blick aus, der diesmal von kameradschaftlicher Treue zeugte, welche Birk zutiefst beeindruckte. Wirklich faszinierend, wie geschlossen und zielorientiert sie zusammenstandenm obwohl vor wenigen Minuten noch spürbare Spannungen sowie die ein oder andere Uneinigkeit zwischen ihnen geherrscht hatten. Diese spielten nun, wo man dem unmittelbaren Feind endlich offen entgegenzutreten gedachte, allerdings keine Rolle mehr. Waren bereits fast vergessen. Dies brachte Birk schließlich dazu, den Pokéball, den er in seiner Tasche bereits umfasst hatte, wieder loszulassen.

    „Hey, ihr da“, knurrte die wütende Stimme, die sie schon die ganze Zeit über verfolgte.

  • Hallo! o/
    Ich habe gerade festgestellt, dass ich irgendwie auf dem neusten Stand war, aber die letzten Male gar nicht kommentiert hab x: Deswegen setz ich mich jetzt direkt mal dran.
    Schriftlich hab ich jetzt glaube ich nur zwei, drei Fehler gefunden und die doppelten Wörter die ich schonmal bemängelt habe, haben sich hier nicht wiedergefunden. Beschreibungen waren diesmal durchgängiger und recht gut. Bei der Stelle wo Ryan dann den Orb fand, war mir der Vergleich zum Smaragd doch schon zu oft. Auch das du mehrmals beteuert hast wie schön dieses Gefühl der Sorglosigkeit war, fand ich ein bisschen "zu dick aufgetragen". Der Unterschied zum "normalen" Ryan kam da irgendwie durch diese sehr übertriebene Beschreibung imo etwas unrealistisch rüber, aber die Botschaft wurde dadurch natürlich eindeutig verstanden. Und auch als Ryan den Orb dann klaut fand ich später nochmal die Erwähnung, dass er ja was geklaut hat und das er seine Hand nicht wieder um ihn schließen könnte, weil Andrew was bemerken kannte eher ungelungen. Ich finde es super was du eigentlich damit ausdrücken und bezwecken wolltest, aber die Umsetzung mag mir aufgrund auch der Wort- & Formulierungswiederholung nicht so recht gefallen. Ansonsten hat es mir aber wieder recht gut gefallen und auch, ass sie Hydropi über den Weg laufen, genau als das Licht wieder da ist. Jetzt hoffe ich allerdings noch darauf, dass im nächsten Kampf gegen Team Rocket wieder gezeigt wird, dass sie ja doch nicht ganz ohne sind. Bin mir aber sehr sicher, dass du das wieder umsetzt. Ansonsten ist inhaltlich doch einiges passiert und es waren auch wieder recht nette Wendungen drin. Vom Gesamtpacket her muss ich aber sagen, dass mir das neunte Kapitel eher zugesagt hat. Da wurden die richtigen Spannende Momente, wie gegen Ende, viel passender Gestaltet als im aktuellen. Das hat mir hier so ein bisschen gefehlt, da es hier nicht ganz so passend wirkte wie sonst üblich. Vom Inhalt her an sich sonst sehr interessant, da der Orb noch eine wichtige Rolle spielen wird wie ich annehme. Auch was Team Rocket eigentlich mit den Ausstellungsstücken wollte, hoffe ich noch zu erfahren, da mich auch dies irgendwo interessiert. Ebenso was genau es mit dem Hydropi auf sich hat, wenn es doch älter wirkt. Auch auf den unvermeidlichen (?) Kampf im nächsten Kapitel bin ich gespannt, da der vielleicht auch noch einige Fragen aufklären dürfte.
    Ansonsten hoffe ich dir hat das kleine Geschreibsel hier irgendwie weitergeholfen. :3


    LG
    Mrs. Plutonium

  • Kapitel 11: Reine Routine


    Der Rocket traktierte die zwei Pokémontrainer sowie den Pokémon Professor dahinter mit feindseligen Blicken. Andrew wurde nach wie von seinem Psiana flankiert. Ansonsten war das einzige anwesende Pokémon das Hydropi von Birk, doch dieses war noch immer in seinem Käfig eingesperrt. Er hatte bereits flüchtig versucht, das Metallschloss des Gefängnisses aufzubrechen – erfolglos. Doch so sehr sich das Wasserpokémon auch nach seiner beraubten Freiheit sehnte, nun blieb dafür keine Zeit. Der schwarz gekleidete schien zutiefst abgeneigt, auch nur einen einzigen der flüchtenden Eindringlinge entkommen zu lassen. Dass sie einen winzigen Teil ihrer Beute zurückgeholt hatten, spielte vermutlich keine Rolle. Dass sie die Lage des Verstecks kannten, dagegen eine sehr große. Selbst wenn er sie an der Flucht hinderte, konnten sie hier nicht länger bleiben. Wenn sie es gefunden hatten, würden es auch andere finden.

    Die beiden jungen Trainer schienen von seinen Bemühungen allerdings nur minder überrascht, geschweige denn beeindruckt.

    „Na wie sieht´s aus. Bock zu spielen?“, fragte Andrew provokant und breitete die Arme etwas aus. Nun da ihm sein Gegner offen gegenüberstand, nahm er sich nebenbei die Zeit, um ihn genauer zu mustern. Zugegeben, der Mann wirkte mehr oder weniger eindrucksvoll. Er war hochgewachsen und sehr kräftig gebaut. Die Augen gestochen scharf und wiesen keine Spur von Nervosität oder Ähnlichem auf. Dafür von immensem Zorn und absoluter Bereitschaft, sie beide aufzuhalten. Dies ließ ihn zwar sehr entschlossen, aber auch unbedacht erscheinen. Er trug die übliche Uniform seiner Organisation, verzichtete aber auf Maske und Mütze, wodurch er ein ziemlich zerfurchtes Gesicht und außerdem einen kahl rasierten Schädel preisgab. Er war wohl an die vierzig Jahre alt. Wahrscheinlich handelte es sich bei ihm nicht nur um einen gewöhnlichen Rüpel. Wohl war er von höherem Rang. Es blieb abzuwarten, was dieser wert war.

    „Ihr nervigen, kleinen Kröten. Glaubt ihr ernsthaft, dass ihr einfach in das Versteck von Team Rocket eindringen und wieder verschwinden könnt?!“

    Der Mann wirkte bereits ziemlich aufgebracht, was wohl die Ursache für seine raue und kratzige Stimme war. Eine wütende Ader trat an seiner Schläfe hervor und seine dunkelbraunen Augen funkelten in energischer Kampfeslust.

    „Naja, rein sind wir unbemerkt gekommen und draußen sind wir auch wieder“, spottete Andrew keck und zuckte unschuldig mit der Schulter.

    „Freut euch nicht zu früh, ihr werdet keinen Meter weiter kommen.“

    Nun endlich erschien auch der erste seiner beiden Kollegen bei der Einstiegsluke und machte Anstalten, sich zu dem Glatzkopf zu gesellen. Dieser wies ihn jedoch zurück, ohne sich ganz umzudrehen.

    „Verschwindet, die Scheißer gehören mir. Geht zurück und macht eine Durchsage. Code: six.“

    „Jawohl, Sir,“ gehorchte der Rangniedere sofort und verschwand augenblicklich wieder unter der Erde.

    Noch bevor ein weiteres Wort gesprochen wurde, holte Andrew ein zweites Pokémon hervor. Es handelte sich dabei um den grau- schwarzen Wolf Magnayen. Dieser erfasste die Situation augenblicklich und reagierte auf die Feindseligkeit des Uniformierten mit einem warnenden Knurren. Allerdings wirkte der Rocket nur äußerst minder beeindruckt. Auch als es bedrohlich die Lefzen hochzog und sein mörderisches Gebiss entblößte schien sich bei ihm nichts zu regen. Den beiden Trainern war dies nicht geheuer. Eine Erscheinung wie Magnayen löste bei den meisten Feinden Furcht aus. Wenn dieser Drohung so einfach widerstanden wurde, musste es einen Grund dafür geben. Nun zückte der Glatzkopf gleich zwei Pokébälle.

    Aus einem der weißen Lichter formte sich eine Libelle deren Körper größtenteils von einem tannengrünen Chitinpanzer ummantelt war. Hier und da wurde es von roten Punkten und schwarzen, hornartigen Auswüchsen an Kopf und Rücken durchzogen. Seine erste Evolutionsstufe war in der Heimatregion von Ryan und Andrew zu Hause. Doch dies, ein Yanmega, bekam man äußerst selten zu Gesicht. Der zweite Gegner war ihnen zwar unbekannt, wirkte aber alles andere als harmlos. Das Pokémon erinnerte an eine Wildkatze, dessen weißes Fell an Armen, Kopf und Brust von markanten Linien in blutigem Rot durchzogen wurde. Der Schweif war sehr buschig und es konnte sowohl auf zwei als auch auf vier Beinen stehen.

    „Seid vorsichtig. Das ist ein Sengo. Sehr aggressiv und brutal“, warnte Professor Birk die beiden Trainer.

    „Immer mit der Ruhe“, winkte Ryan gelassen ab. Was glaubte er denn, mit wem er hier sprach?

    „Ist nicht unser erstes Rodeo mit Team Rocket. Das ist für uns reine Routine. Und außerdem haben wir noch ein Ass im Ärmel.“

    Ein selbstsicheres Grinsen trat auf Ryans Gesicht. Der Professor wusste zunächst nicht, auf welches Ass er verwies, verstand aber, als er Ryans Blick in die Kronen der Bäume folgte. Tatsache, er hatte seinen Gegner genau da, wo er ihn haben wollte und wartete nur noch auf den richtigen Moment. Eben dieser zögerte sich nicht lange hinaus.

    „Yanmega, Aero-Ass, mach schon! Sengo, du nimmst Kreuzschere!“

    Andrew biss sich auf die Unterlippe. Sengo beherrschte also eine Käfer-Attacke und Yanmega gehörte diesem Typ grundsätzlich an. Psiana und Magnayen waren gegen solche Angriffe stark verwundbar, doch da mischte sich plötzlich Ryan ein.

    „Lichtkanone!“, befahl er aus heiterem Himmel. Ein weißer Lichtstrahl aus dem Blätterdach zu ihrer Rechten schoss hervor. Er blendete die heranstürmenden Pokémon, ließ die Kronen der Bäume erzittern. Der Libelle gelang dank ihrer Wendigkeit gerade noch ein Ausweichmanöver, brach jedoch den Angriff ab und nahm panisch Reißaus an die Seite des Rockets. Doch Sengo hatte nicht mehr rechtzeitig reagieren können, wurde von der Druckwelle des Aufschlags erfasst und wild durch die Luft geschleudert. Mit einer bösen Schramme an der linken Schulter, dafür jedoch augenscheinlich ziemlich wütend, raffte es sich wieder auf. Es fletschte nun ähnlich drohend die Zähne, wie es der Wolf auf der Gegenseite tat.

    „Wo kam das denn jetzt her?“, fragte der Rocket, der nach wie vor mit verschränkten Armen und mit feindseliger Miene die Situation observierte. Sein Ton klang dabei eher genervt, als überwältigt oder überrascht. Aus dem gewaltigen Blätterdach stoben augenblicklich einige Äste auseinander und verloren ihr Laub, als ein Vogel, dessen Körper in silbrig glänzenden Stahl gehüllt war, wild daraus hervorbrach. Panzaeron hatte seine Stellung gehalten, wie es ihm befohlen worden war, was nun diesen Überraschungsangriff ermöglicht hatte. Doch insgeheim hatte Ryan gehofft, beide Gegner zu erwischen und ihnen auch ernsthafteren Schaden beizubringen. Sei es drum. Er hatte seinen Partner wieder bei sich, konnte hinter ihm stehen und sich dem Feind stellen. Endlich Schluss mit Schleichen und Verstecken!

    „Showtime“, hauchte er dennoch in erregender Vorfreude und fiebriger Kampfeslust. Andrew war von ihr ebenso angesteckt und knackte hörbar seiner Fingerknöchel, als wollte er selbst in den Ring steigen. Jedoch war Vorsicht geboten. Ein einziger Treffer des Typs Käfer würde für Andrews beiden Pokémon äußerst schmerzhaft ausfallen. Panzaeron besaß mit seinen Flug-Zügen zwar einen Vorteil Yanmega gegenüber, doch wusste Ryan nicht, zu welchen Tricks ihr Gegner fähig waren. Und nicht zu vergessen war, dass Team Rocket große Gefahren rücksichtslos aus dem Weg räumte, wie er gestern erst hatte feststellen müssen. Eine Sekunde nahm er sich, um ein Stoßgebet an Arceus zu senden, dass der hier keine Waffe bei sich trug und Ryan auch nicht als bekannten Feind der Organisation erkannte.


    „Will das HQ mich eigentlich verarschen? Die schicken ja von Mal zu Mal schwächere Pokémon.“

    Die angeklagten Kämpfer drehten sich überrascht, gekränkt und allem voran wütend um. Besonders Sengo fauchte rebellisch, während Yanmega ein tiefes Brummen ertönen ließ, das sicher Empörung vermitteln sollte.

    „Ja euch meine ich. Werdet nicht auch noch so dreist, euch aufzulehnen. Jedes halbwegs fähige Pokémon hätte den Angriff durchgezogen. Ihr seid absolut nutzlos.“

    Auf dem Gesicht des Rockets machte sich urplötzlich ein hämisches Grinsen breit. Diese widerliche Grimasse gefiel Ryan und Andrew ganz und gar nicht.

    „Jetzt werde ich euch eine Lektion meiner persönlichen Marke erteilen, die ihr Jungs niemals vergessen werdet“, zischte er wütend, wobei er eine weitere ballförmige Kapsel zutage förderte und diese in die Luft warf. Aus dem weißen Lichtschein materialisierte sich eine Art Lava-Schnecke. Der Körper bestand größtenteils geschmolzenem Gestein, das karminrot glühte. Auf dem Rücken thronte ein mächtiger Felsbrocken, den das Feuerpokémon zur Verteidigung nutzen konnte, indem es sich bei Bedarf in ihn zurückzog und versteckte. Es verströmte eine enorme Hitze, als würde man zu dicht an ein offenes Feuer treten. Ein leichter, stechender Brand legte sich auf die Gesichter beider Trainer und trieb ihnen den Schweiß aus den Poren. Für einen Moment hoben sie die Arme schützend vor ihre Augen und kniffen diese zusammen. Es war unglaublich, welche Hitze dieser Körper verströmte.

    Allen war dieses Pokémon bekannt, es trug den Namen Magcargo. Das war ein Problem, denn Feuer-Typen waren grundsätzlich sehr ungesund für Stahlpokémon wie Panzaeron. Doch sie hatten sich für den Kampf entschieden und nun mussten sie die Sache durchziehen. War ja auch nicht das erste Mal, dass sie unter benachteiligten Umständen kämpften.

    „Na los doch“, forderte der Rocket höhnisch.

    „Zeigt was ihr und eure armseligen Pokémon könnt. Ich hoffe, sie sind stärker, als sie aussehen. Aber ich würde glatt wetten, dass sie totale Schwächlinge sind.“

    Es musste Zufall sein, dass er an den Mut der beiden Trainer und an die Stärke ihrer Pokémon appellierte, denn unmöglich konnte er wissen, welche Auswirkungen dies hatte. Vor allem Ryan reagierte äußerst gereizt, wenn er so bezeichnet wurde. Er hatte nicht so viel Zeit und Mühe in die Aufzucht seiner Pokémon investiert, um als Schwächling abgestempelt zu werden und sei es nur von einem elenden Kriminellen. Für derartigen Spott war er einfach zu stolz. Zornig biss er sich auf die Lippe und schien mit Magnayen um die Wette zu knurren.

    „Schrei nicht in die Schlucht, wenn du das Echo nicht verträgst.“

    Andrew, der von etwas ruhigerer und bedachterer Natur war, verkniff sich, eine beruhigende Hand auf seine Schulter zu legen. Es würde dem Rocket nur noch größere Genugtuung verschaffen. Er beließ es bei einem mahnenden Seitenblick und gesenkter Stimme.

    „Ganz ruhig, Kumpel. Wenn du dich jetzt zu irgendwas hinreißen lässt, spielst du ihm nur in seine ungewaschenen Hände. Zieh´ einfach dein Ding durch, dann sieht er kein Land. Auf die Weise zahlst du´s ihm am meisten heim.“

    Die so selten bei ihm zu vernehmende Stimme der Vernunft besänftigte Ryans reizbare Seite – seine wohl mit Abstand größte Schwäche, die Andrew nur allzu bekannt war. In der Vergangenheit hatte sich der junge Hitzkopf des Öfteren zu sinnlosen Kämpfen verleiten lassen, die nur sein Ego hatten befriedigen sollen. Ein paar Mal war Andrew bereits Zeuge eines solchen Kampfes gewesen.

    Der Gegenüber lachte zufrieden auf. Offenbar waren Provokationen genau das richtige Mittel für diesen Jungen, auch wenn er bereits wieder völlig konzentriert und beherrscht wirkte. Jedoch galt das nicht für dessen Kumpanen, wie sich gleich herausstellen sollte.

    „Was für eine beschissene Lache du hast“, kommentierte Andrew das Gelächter abfällig, welches augenblicklich verstummte. Der heimtückische Gesichtsausdruck blieb allerdings noch für eine Sekunde, bevor der Rocket dann zu einem gellenden Schrei ansetzte.

    „Magcargo ist aus meiner eigenen Aufzucht. Ihr habt keine Chance. Ich werde euch zu Asche verbrennen“, versicherte er und eröffnete gleich darauf den Kampf.

    „Grill Panzaeron mit Flammenwurf!“

    Die Lavaschnecke schien beweitem nicht den energischen Eindruck seines Trainers übernommen zu haben, wirkte offen gesagt etwas unbeteiligt und… nun ja, fast schon unterbelichtet. Aber diese Speziest besaß eine immense Feuerkraft. Es sammelte nun einen züngelnden Feuerball in seinem Maul. Seltsam, dass der Typ nun doch selbst die Initiative ergriff, hatte er doch gerade eben noch Ryan und Andrew zum Angriff verleiten wollen.

    „Psiana, mit Lichtschild dazwischengehen.“

    Das Katzenwesen positionierte sich ein Stück vor seinen Kameraden und ging in eine tiefe Position. Sie erschuf eine halb transparente Energiewand in sonnigem Gelb. Die Feuer-Attacke, welche dem Stahlvogel wohl ernste Verletzungen beigebracht hätte, prallte zu allen Seiten ab und verpuffte an dem glänzenden Schild. Psiana würde einen Teil der Kraft dieses Flammenwurfes spüren, aber diese verminderte Menge konnte sie problemlos wegstecken. Nun gedachte auch Ryan, ins Kampfgeschehen einzugreifen.

    „Jetzt sind wir dran. Greif Yanmega mit Bohrschnabel an!“

    Das stählerne Pokémon schraubte sich mit einigen wenigen Flügelschlägen in die Höhe und stürzte sich dann mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf die Libelle herab, seinen Körper in ein lebendes Geschoss verwandelnd und rotierende Bewegungen andeutend, war der Schnabel präzise auf das Ziel gerichtet. Ein Treffer mit einer starken Flug-Attacke könnte das sofortige K.O. für Yanmega bedeuten, doch Sengo und vor allem Magcargo durften dabei nicht vergessen werden.

    „Sengo, halte mit Nahkampf dieses Panzaeron auf.“

    Blitzschnell sprang die weiße Katze vorwärts, befand sich mit unglaublicher Geschwindigkeit direkt vor dem Stahlvogel und ließ seine Klauen im grellen Sonnenlicht aufblitzen.

    „Psychokinese“, sprach Andrew nun langsam aus. Keinen Moment zu früh machte die lavendelfarbene Katze von ihren Psychokräften Gebrauch. Eine Sekunde später und Panzaeron hätte mit den gefährlich scharfen Krallen Sengos Bekanntschaft gemacht, was wohl dank seiner Panzerung nicht allzu schmerzhaft, aber keinesfalls wünschenswert gewesen wäre. So schloss sich eine bläuliche Aura um die Wildkatze und hielt sie bewegungsunfähig in der Luft. Panzaeron sauste wie ein silberner Blitz an ihm vorbei und nahm Yanmega ins Visier. Dessen Besitzer schien sich keine weiteren Mühen zu machen, den Angriff abzufangen. Selbst der Befehl an Sengo hatte sehr halbherzig geklungen. Er schien wie diese beiden Pokémon wahrlich keine warmen Gefühle zu hegen. So musste selbige mit den Konsequenzen – einem schweren Körpertreffer mit dem spitzen Schnabel des Stahlvogels – leben. Auf Anordnung seines Trainers setzte dieser sogleich mit einem Schlag seiner scharf geschliffenen Schwingen nach. Das Geräusch ließ einen glatt zusammenzucken. Es wurde auf den Boden geschmettert und krümmte sich dort vor Schmerzen. Der Chitinpanzer seines Körpers war tief verwundet. Der Stahl hatte in mühelos durchbrochen.

    „Jetzt bist du dran Magnayen“, verkündete Andrew nun, worauf der Wolf die Muskeln spannte. Unter seinem Fell konnte man dies außergewöhnlich gut beobachten.

    „Nimm Finsteraura gegen Sengo!“

    Da die Wildkatze nach wie vor von Psianas Psychokinese unschädlich gemacht wurde, hatte der graue Wolf alle Freiheiten für seinen Angriff. Eine schwarze Energiemasse erschien in seinem Maul und wurde von dunkelvioletter Aura umhüllt, welche ihr ein gefährlich-schönes Aussehen verlieh. Schon in der nächsten Sekunde verwandelte Magnayen die dunkle Masse in eine Energiewelle, die alles auf ihrem Weg mit Schatten überrollte. Sie verschlang Sengo, wie ein Tsunami ein Kajak. Die Wildkatze verschwand vollkommen darin. Nur ihre panischen Schmerzensschreie waren zu hören. Selbst danach hielt Psiana es noch immer in der Luft, warf es dann aber wenige Lidschläge später gegen den nächstbesten Baum. Auch die weiße Katze blieb dort einen Moment liegen, wie es Yanmega eben noch getan hatte. Jene grüne Libelle hatte sich gerade wieder aufgerappelt und wagte einen Flugversuch. Es hing recht wackelig in der Luft und wirkte längst nicht so sicher und beweglich, wie noch zuvor, doch auf der anderen Seite war es auch keine Selbstverständlichkeit, dass es überhaupt noch kämpfen konnte. Sengo schien erzürnt und stemmte, wütend gegen die Schwerkraft ankämpfend, die Pfoten in den Waldboden. Ihr gemeinsamer Trainer schien für dafür nur Spott übrig zu haben.

    „Oh Mann, ihr seid wirklich das Letzte. Seht zu und lernt was, ihr dämlichen Viecher.“

    Seine abfällige und geringschätzige Stimme wandelte sich in einen erneuten Kampfschrei, gerichtet an die Lavaschnecke.

    „Steinhagel, los!“

    Magcargo richtete seinen elastischen Körper auf und warf ihn anschließend mit ganzer Kraft auf den Boden. Sofort begann die Erde zu beben, brach nur Sekunden später auf und ließ einige schwere Felsbrocken als Gesteinsregen auf die Pokémon von Ryan und Andrew niederprasseln. Ein Ausweichen war unmöglich. Dafür deckten die Brocken eine zu große Fläche ab. Doch war es noch immer möglich, sie abzuwehren.

    „Reflektor!“, war die einfache Anweisung von Andrew, welcher die Psychokatze unverzüglich nachkam. Lichtschild war bei dieser Art von Attacke nutzlos. Stattdessen wechselte Psiana auf einen zunächst unsichtbaren Körperschild. Erst als die Brocken nahe genug waren, wurde er in Form eines Netzes aus bläulich schimmernden Hexagonen sichtbar, an welchen das Gestein abprallte und zerbröckelte.

    „Jetzt Flammensturm!“

    Ryan und Andrew brauchten eine Sekunde, um zu realisieren, dass sie gerade in eine Falle getappt waren. Der Steinhagel war lediglich ein Mittel gewesen, um Psiana zu beschäftigen und die übrigen Feinde der Illusion von Unantastbarkeit auszusetzen. Doch genau wie Lichtschild bei Steinhagel unwirksam war, würde Reflektor gegen eine Attacke wie Flammensturm nutzlos sein. So rasch konnte das Katzenwesen die Verteidigung nicht wechseln, wodurch das gesamte Trio schutzlos im Angesicht einer der gefährlichsten Feuer-Attacken blieb. Der Flammensturm war zwar nicht die stärkste unter den Attacken jenes Elements, aber zweifellos besaß sie die größte Zerstörungskraft, war außerdem eine der nützlichsten, da sie das gesamte Umfeld einäscherte. Eigentlich hätten Yanma und Sengo davon ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen werden müssen, doch da diese nach wie vor mit der Schwerkraft kämpften und sich in ausreichendem Abstand hinter der Lavaschnecke befanden, blieben sie verschont. So ließ Magcargo eine alles vernichtende Flammenwalze über die Lichtung fegen. Begleitet von einem sprühenden Funkenregen und dichtem, schwarzem Rauch, der vollends die Sicht auf alles Dahinterliegende verschlang, raste die brennend heiße Feuerwand auf die drei völlig überraschten Pokémon zu. Psiana versuchte noch, hinter den Felsen in Deckung zu gehen und rechtzeitig einen Lichtschild zu erschaffen, doch die unglaubliche Hitze, die ihnen allen entgegenschlug, ebenso wie ein bösartiger, wütender Windstoß, störten ihre Konzentration, was diesen Plan zunichte machte.

    Professor Birk, der dem Schauspiel bislang stumm mit dem Käfig Hydropis in den Händen beigewohnt hatte, war regelrecht entsetzt über diese Zerstörungskraft. Das blaue Pokémon zuckte ängstlich zusammen, schien sich in die hinterste Ecke seines Gefängnisses verkriechen zu wollen, als würde es sich dort sicherer fühlen. Die kläglichen Schmerzensschreie von Psiana, Magnayen und Panzaeron drangen jedoch deutlich an sein Ohr, genau wie bei dem Professor und auch den beiden Trainern. Letzteren war ihre Sorge um ihre Pokémon und ihr Ärger über sich selbst, da sie sich von ihrem Gegner hatten hinters Licht führen lassen, deutlich anzusehen. Es schmerzte so fürchterlich, ihre Partner in dem Flammenmeer untergehen zu sehen und ihre entsetzlichen Schreie zu hören, ohne selbst etwas tun zu können. Dass sie selbst beinahe in die gleiche Situation gerieten, realisierten sie dabei gar nicht, obwohl sich die Flammen bereits in ihren entsetzten Augen widerspiegelten und ihr Lodern und Knistern sogar ihre besorgten Rufe fast vollständig verschluckte. Ihre Gedanken waren nur bei ihren Freunden und bevor nicht ihre eigene Haut verbrannte, würden sie auch nicht von ihnen weichen.

    Jedoch waren sie an dem Schlamassel selbst schuld. Viel zu sicher hatten sie sich durch Psianas Reflektor gefühlt und dem Gegner absolut freie Hand gelassen. Sie hatte ihre vorrübergehende Überzahl rein gar nicht ausgenutzt, stattdessen allesamt auf einem Fleck gekauert und sich zu sehr auf den Schutz von Psiana verlassen. Den Preis dafür zahlten die Pokémon, von denen besonders Panzaeron stark unter der Attacke litt. Nun hatte ein alleinstehender Gegner mit einer einzigen Attacke trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit einen fast vernichtenden Schlag gelandet. Doch diese Kraft, diese Zerstörung war schlicht und ergreifend beängstigend. Erst nach einer ganzen, quälend langen Minute stoben die Flammen langsam auseinander und erstarben, wodurch sie den Blick auf Psiana, Magnayen und Panzaeron frei gaben. Zwar hatten alle drei den Angriff überstanden, waren aber stark von ihm gezeichnet worden. Schwere Brandwunden zierten ihre Körper und griffen wie eine glühende Hand nach ihren Muskeln, mit dem Ziel, diese zur Erschöpfung zu treiben und ihre Träger in die Knie zu zwingen. Doch tapfer, wie sie alle drei waren, kämpften sie sich zitternd und schwer atmend wieder auf. Der Stahlvogel blieb noch am Boden, da ihm für den Moment wohl die Kraft zum Fliegen fehlte.

    Ein einziger Treffer hatte ihnen so viel Schaden zugefügt – ein Gefühl, dass die zwei Jugendlichen schon fast nicht mehr gekannt hatten. Lange waren sie nicht auf so einen Widersacher gestoßen. Auch Ryan musste innerlich fluchend sowohl die Stärke Magcargos als auch die Gerissenheit des Rockets anerkennen und das tat er sicher nicht gerne. Dieser grinste nur, offensichtlich zufrieden mit dem, was er sah.


    Nun da Ryans und Andrews Pokémon kaum noch die Kraft hatten, sich auf den Beinen zu halten, schalteten sich Yanmega und Sengo wieder in den Kampf ein. Teilweise erholt und neue Kampfkraft schöpfend stürmten die beiden Pokémon wieder auf das Kampffeld, was jedoch bei ihrem Trainer nicht gerade auf Begeisterung stieß.

    „Mischt euch nicht ein ihr Versager. Euch kann ich nicht gebrauchen, ihr seid nur im Weg.“

    Die raue Stimme mit dem gereizten Unterton ließ die zwei Kämpfer und ihren Ansturm stoppen.

    „Los, Magcargo. Nochmal Flammensturm!“, befahl er schließlich ohne seinen verdutzen Pokémon auch nur die Chance zu geben, sich aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Erneut entsandte die Lavaschnecke eine Feuerwand, welche sich explosionsartig über die Lichtung ausbreitete und diesmal auch seine Mitstreiter traf. Yanmega und Sengo gingen schreiend in den Flammen unter, wie es die Pokémon auf der Gegenseite eben schon hatten müssen. Der kaltherzige Blick ihres Trainers war unschwer zu deuten. Er hatte mit diesen beiden abgeschlossen. Er sah in ihnen nur Werkzeuge, die ihren Zweck nicht erfüllten.

    Ryan und Andrew hatten jedoch ganz andere Probleme. Nie und nimmer könnten ihre Pokémon diese Tortur ein weiteres Mal überstehen und ebenso wenig wollten die beiden ihnen dies zumuten. Die einzige Möglichkeit, die ihnen spontan einfiel, war sie alle zurückzurufen, doch wie sollte es dann weitergehen? Wie sollten sie weiterkämpfen? Zumindest Andrew hatte noch Schwalboss und Dragonir in der Hinterhand. Verflucht, wie sehr wünschte sich Ryan in diesem Moment sein einzigartiges Impergator herbei oder Despotar oder Nidoking – scheißegal wen. Er verfluchte sich. Sich und seine Dummheit zu glauben, er könne einfach so von vorne anfangen. Er brauchte einfach seine erfahrenen Kämpfer für eben solche Situationen. Sicher, Panzaeron gehörte ebenfalls zu seinen besten, aber in diesem Szenario war es schlichtweg unterlegen.

    Als wolle er das Gegenteil beweisen, erhob sich der geschundene Stahlvogel unerwartet in die Lüfte. Die zittrigen Flügel schienen den schweren Körper jedoch trotz des eisernen Willens kaum tragen zu können. Doch trotzig unterdrückte es die Qualen seines Körpers Die Frage war nur, was es vorhatte. Sich einfach nur selbst in Sicherheit zu bringen, wäre ganz und gar nicht seine Art. Ryan hatte noch sehr gut den Tag in Erinnerung, an dem es beinahe gestorben wäre, weil es stur an seiner Seite verblieben war. Nein, Panzaeron teilte lieber das Leid jener, die ihm lieb waren und mit denen es gemeinsam kämpfte, als sich selbst zu retten und sie zurückzulassen.

    Doch ganz offensichtlich war es auch nie die Absicht des Stahlvogels gewesen, den Flammen zu entkommen, sondern sie zu löschen. Allerdings wollte es dies offenbar mit einem Windstoß erreichen, da es überschwänglich mit den stählernen Flügeln ausholte. Für den Bruchteil einer Sekunde keimte eine Saat von Entsetzen in seinem Trainer auf. Bei einem Feuer dieser Größe würde die starke Luftzufuhr eines Windstoßes die Flammen nur anfüttern und noch weiter wachsen lassen. War Panzaeron jetzt durchgedreht? Wieso handelte es ausgerechnet jetzt auf eigene Faust?

    Jedoch verflog jenes Entsetzen im nächsten Moment bereits wieder und wich der Verwunderung. Als der Stahlvogel seine Schwingen nach vorne schlug, entwichen ihm mehrere weiß leuchtende Luftklingen, welche sich in den Flammensturm stürzten und diesen wahrhaftig stoppten. Es war, als würde die Feuerbrunst von einer unsichtbaren Kraft verschluckt werden. Sie verpuffte regelrecht unter dem Einfluss der offenbar gerade neu erlernten Attacke.

    „Hey Ryan, seit wann hat dein Panzaeron Luftschnitt drauf?“, erkundigte sich Andrew, der nicht weniger überrascht schien als Ryan selbst. Eine enorme Anzahl an Funken regnete noch auf die Erde herab und entzündete an einigen Stellen das ausgetrocknete Gras, doch diese stellten für den Augenblick keine Gefahr dar. Die entstehenden Flämmchen am Boden blieben nicht unbemerkt, jedoch genoss der Kampf eindeutig noch Priorität. Der verdutzte Trainer könnte hier und jetzt mit dem Fuß in einem davon stehen und würde nicht mal zucken. Er konnte sein Glück kaum fassen.

    „Keinen Schimmer“, gestand er völlig unverfroren, während er noch immer fassungslos seinen Stahlvogel anstarrte. Der Anführer der Rockets brach völlig aus seiner selbstbewussten und überlegenen Rolle heraus, da ihn nun die Fassungslosigkeit überkam.

    „Ey, was ist das los?“

    Alle Augenpaare folgten dem entrüsteten Gbrüll zu seiner Quelle.

    „Wie kann das sein, dass so ein bisschen Luft meine Flammen aufhält?“

    „Das ist einfache Chemie“, kommentierte Professor Birk aus heiterem Himmel. Er war inzwischen fast vollständig in Vergessenheit geraten und spielte nun ganz plötzlich beinahe schon provozierend sein Wissen aus.

    „Die Luftklingen, die bei der Attacke Luftschnitt abgesondert werden, entziehen ihrem unmittelbarem Umfeld den Sauerstoff. Durch ihn werden sie angetrieben. In einem luftleeren Raum beispielsweise wäre die Attacke vollkommen nutzlos. Und da den Flammen somit jener Sauerstoff entzogen wurde, sind sie fast vollständig erloschen.“

    Der Zeitpunkt könnte wohl kaum schlechter für einen Schulvortrag sein. Birk konnte wohl auch nicht aus seiner Haut. Seine Erklärung bedachte der Rocket mit einem wütenden Schnauben. Panzaeron begab sich derweil wieder mehr in Bodennähe, sodass Ryan die Gelegenheit war nahm, ihm seine Begeisterung kundzutun.

    „Verflucht gutes Timing! Das mit dem Luftschnitt hast du ganz alleine hinbekommen. Ausgezeichnet.“

    Der Stahlvogel antwortete mit einem triumphalen Krächzen, ließ seinen Gegner allerdings nicht aus den Augen. Doch mitten in all der Freude stellte Andrew plötzlich fest, dass es allmählich recht heiß wurde. Nicht die Sonne war der Grund für die plötzlich auftretende Hitze, sondern die Überbleibsel des Flammensturms. Überall hatten kleine Glutnester das trockene Gras und die nahestehenden Bäume entzündet. Blitzartig breiteten sie sich aus und begann nach und nach, die ganze Lichtung in Brand zu setzen. Für den Moment war die Situation noch relativ ungefährlich, doch wenn die Flammen weiter in diesem Tempo wuchsen, würden sie es bald mit einem Waldbrand zu tun bekommen.

    „Ryan, dein Panzaeron beherrscht nicht zufällig eine Wasserattacke?“

    Der Sarkasmus in seiner Frage war nicht zu überhören und kam dem von Ryan sogar ziemlich gleich. Jetzt reichte es aber mit den Ansprüchen. Sie konnten froh über diese eine Rettung sein. Lieber sollten sie selbst zusehen, wie sie die Situation zum Besseren wenden konnten.

    „Sonst noch Wünsche?“

    Nervosität griff nun auch nach den zwei unbeachteten Pokémon des Rockets, die so rücksichtslos von ihrem eigenen Kameraden aus dem Spiel genommen waren worden. Jedoch würden sie wohl in Anwesenheit ihres Meisters nicht wagen den Rückzug anzutreten, obwohl sie mit grässlichen Bandwunden übersät und kaum in der Lage waren, bei Bewusstsein zu bleiben. Dieser hatte sich nicht einen Zentimeter bewegt und schenkte den Flammen gar keine Beachtung. Stattdessen biss er wütend die Zähne zusammen und schien zu grübeln, wie er ohne seine stärkste Attacke gewinnen könnte. Ryan hatte unterdessen eine Idee.

    „Andrew, kannst du Magcargo für einen Moment alleine beschäftigen?“

    „Klar, wenn du mir den Grund sagst.“

    Die Verwunderung, die in seiner Stimme mitschwang, war überdeutlich und nur allzu gut nachvollziehbar.

    „Ich will Hydropi befreien.“

    Mit diesen Worten eilte er hinüber zu Professor Birk – den verwunderten Blick Andrews in seinem Rücken spürend – und bat ihn, Hydropis Käfig auf den Boden zu stellen, während sich Panzaeron zu seinem Trainer gesellte. Vorne an der Front wandte man sich rasch wieder Magcargo zu. Wenn er das Vieh nur eine Sekunde zu lange aus den Augen ließ, würde er teuer bezahlen. Auch wenn der Stahlvogel gerade nicht am Kampf teilnahm, würde er im Falle eines erneuten Flammensturms vorbereitet sein. Zwei Mal fiel er nicht auf denselben Trick herein.


    „Panzaeron, öffne den Käfig mit Bohrschnabel.“

    Diesmal führte der Stahlvogel seine Attacke aus dem Stand aus, weshalb sie deutlich schwächer ausfiel als zuvor. Jedoch reichte es allemal aus, um das schwere Metallschloss zu zertrümmern.

    Die Tür schwang schließlich beinahe von selbst auf, kaum dass das Schloss in mehrere Teile zersprungen war und das kleine Wasserpokémon sprang freudig heraus. Es war das erste Mal, dass Ryan Hydropi in seinem vollen Antlitz begutachten konnte. Es lief auf vier Beinen und besaß sowohl auf dem großen Kopf als auch am Schwanz eine breite Flosse. Seine knallorangenen Wangen standen in einem starken Kontrast zu dem ansonsten glatten, meerblauen Körper. Schnell schickte Ryan seinen Stahlvogel mit der Anweisung, Magcargos Flammenstürme fortan mit Luftschnitt zu unterbinden, zu Andrew zurück. Dies veranlasste es zu einem fragenden Krächzen. Wurde tatsächlich von ihm verlangt, ohne seiner Trainer zu kämpfen? Das stellte zwar kein Problem dar, doch was bezweckte er ausgerechnet jetzt damit?

    „Nun mach schon, ich bin gleich wieder da“, versuchte Ryan die offenkundige Verwirrung sowie Sorge des Stahlpokémons zu beschwichtigen. Ein weiteres Mal musste er seine Anweisung nicht wiederholen, Panzaeron hob an Ort und Stelle ab und wandte sich erneut dem Kampfgeschehen zu. Ryan konnte gerade erblicken, wie Psiana sich selbst mit Teleport vor einem erneuten Steinhagel davonstahl, während Magnayen einen Spukball auf Magcargo schleuderte. Dieser kollidierte schließlich mit einem Flammenwurf und ging in einem rauchenden Knall auf. Der Feuerstrahl wurde dadurch aber nicht gebremst. Er durchschlug die dunkle Energie und zielte nach dem Wolf, der nur um Haaresbreite ausweichen konnte. Jedoch versengte ihm die Hitze einen Teil seines Fells.

    Er durfte jetzt keine Zeit verlieren. Dieses Magcargo war einfach zu stark, um sich Trödeleien zu erlauben. Schnell wandte sich der junge Trainer an das kleine Hydropi, da er durch die heranwachsenden Flammen daran erinnert wurde, was er ursprünglich vorgehabt hatte.

    „Hydropi, ich möchte, dass du Aquaknarre einsetzt, um das Feuer zu löschen.“

    Einen kurzen Moment lang, reagierte das kleine Wesen nicht. Wohl schätzte es ab, ob es den Menschen, der vor ihm stand, ausreichend vertraute und respektierte, um Befehle von ihm entgegenzunehmen. Der Entschluss kam aus naheliegenden Gründen schnell und felsenfest.

    „Hydro-Hy“, rief das blaue Pokémon laut aus und sprang voller Tatendrang auf. Diesem Menschen konnte es vertrauen, da gab es keinen Zweifel und in gewisser Weise war es ihm diesen Dienst schuldig, da er ihm seine Freiheit zurückgegeben hatte.

    Die Flammen hatten bereits große Teile des trockenen Grases in Brand gesteckt und warfen giftige Rauchschwaden gen Himmel. Funken stiegen empor, um sogleich wieder zu Boden zu sinken und eine brühende Hitze machtet sich langsam aber sicher breit. Man fühlte sich wie in einem Dampfkessel. So gut es nur konnte, kämpfte Hydropi gegen das zerstörerische Element an, indem es einen Wasserstrahl spie. Weißer Qualm entstand zischend an den betroffenen Stellen, welcher alle Anwesenden zu einigen gereizten Hustenanfällen zwang und ihnen Tränen in die Augen trieb. Dennoch wich Andrews Konzentration nicht von dem Kampfgeschehen.

    Magcargo schien der Rauch relativ wenig auszumachen, was allerdings nicht für seinen Trainer galt, da dieser nicht anders erging als dem Jugendlichen selbst. Und ohne einen Trainer, der Befehle erteilte, war die Lavaschnecke auf sich selbst gestellt. Sollte sie also das eigenständige Kämpfen nicht gewohnt sein, so war das ihre Chance. Das Problem war nur, dass auch seinen eigenen Pokémon im wahrsten Sinne des Wortes die Sinne vernebelt wurden. Doch da mischte sich Ryan wieder ein.

    „Panzaeron, Wirbelwind!“

    Der Stahlvogel erhob sich weiter in die Höhe und fächerte heftig seine Schwingen. Ein starker Windstoß kam auf und vertrieb den Rauch innerhalb von Sekunden, sodass wieder freie Sicht herrschte.

    „Hydropi, kannst du mir noch einmal mit deiner Aquaknarre helfen?“

    Ohne zu zögern nickte es entschlossen und gab ein zustimmendes „Hy-“ von sich. Zufrieden lächelte Ryan.

    „Dann los, greif Magcargo an!“

    Erneut schoss eine kalte Wasserfontäne aus dem Maul des blauen Wesens und hielt auf das Feuerpokémon zu. Wasser-Attacken waren Magcargos absolute Schwachstelle und würden es ungeachtet des Kräfteunterschieds vor ernste Probleme stellen.

    „Mit Flammenwurf dagegen!“, befahl der Rocket seinem Pokémon darauf. Seine Stimme klang etwas rauer, als sie ohnehin schon war, was wohl auf den Rauch zurückzuführen war, der seine Lungen angegriffen hatte. Doch auch in dieser tiefen Stimme war zu erkennen, dass er langsam aber sicher nervös wurde. Die Situation geriet für ihn außer Kontrolle.

    Magcargo ließ von den offensichtlichen Problemen seines Trainers nicht ablenken und spie einen Flammenstrahl, stark wie eh und je. Zweifellos war die Lavaschnecke deutlich erfahrener im Kampf als Hydropi, doch dass es die Aquaknarre so spielerisch übertrumpfen würde, hatte Ryan nicht erwartet. Die Attacke verdampfte in Sekunden. Hydropi stand dem Flammenwurf schutzlos gegenüber.

    Ohne die Anweisung seines Trainers warf sich plötzlich ein grau-schwarzer Wolf in die Flammen hinein. Magnayen knurrte ihnen aggressiv entgegen, als könnte es sie so in die Flucht schlagen, bevor es eine finstere Energie in seinem Maul sammelte und entgegenschleuderte. Die darauffolgende Explosion, bestehend aus heißen Flammen und dunkelviolettem Rauch war so nahe, dass Magnaye ihre volle Kraft zu spüren bekam. Der Schrei, hervorgerufen durch heißen, brennenden Schmerz in der Flanke, fiel besonders rau und kehlig aus. Es klang, als hätte es kaum noch Luft in seinen Lungen, die es hinausbrüllen konnte.

    „Magnayen!“

    In diesem Augenblick konnte Andrew nicht sagen, ob es mutig oder einfach nur dumm von seinem Schützling gewesen war, sich für Hydropi aufzuopfern. Edel war die Tat in jedem Fall, aber ob er sie auch klug war, konnte er jetzt einfach nicht bestimmen. Das entschied sich ab hier allein daran, was das Wasserpokémon aus seiner gewonnenen Zeit machte. Doch allen Umständen voran konnte er einfach nicht anders als fassungslos und gefrustet mit den Zähnen zu knirschen. Dieses eine Magcargo. Dieses eine verfluchte Pokémon nahm es mit ihm und Ryan gleichzeitig auf. Dabei zählten sie zu den besten Trainern ihrer Generation. Er musste nachdenken. Irgendeine Schwachstelle hatte jedes Pokémon. Welche hatten Magcargo noch gleich?

    „Andrew, Magcargo wird müde.“

    Für wahr, die Lavaschnecke keuchte und hing sichtbar in den Seilen. Der Angesprochene wartete einen Moment, als würde noch etwas folgen. Doch Ryan schwieg.

    „Noch was?“

    „Idiot. Das bedeutet, dass der Rest des Körpers abkühlt. Wir können es direkt angreifen!“

    Nun kam auch Andrew die Erleuchtung. Ein Magcargo mit einer physischen Attacke direkt zu treffen war im Normalfall einfach nur dumm, da man sich auf diese Weise ernsthafte Verbrennungen zufügen würde, obwohl seine Haut nur einen Bruchteil der gespeicherten Hitze absonderte. Immerhin war das Innere des Körpers zirka 10.000 Grad heiß. Dies war seine einzige, dafür aber äußerst wirksame Verteidigungsmaßnahme bei Kämpfen mit Körperkontakt. Wenn ihm aber die Energie ausging, leitete es die Hitze, aus welcher es seine Kraft bezog, in das sichere Gehäuse auf seinem Rücken, quasi als Reservesicherung. Folglich war der zähflüssige Teil nun nicht länger unantastbar. Mehr brauchten sie gar nicht.

    „Psiana, setz Teleport ein, um hinter Magcargo zu kommen!“, befahl Andrew. Schon im nächsten Moment löste sich das Psychopokémon in einem Lichtblitz auf und erschien im Rücken seines Gegners. Dieser drehte sich alarmiert um, nicht ahnend, dass es sich bei dieser Aktion lediglich um ein Ablenkungsmanöver handelte.

    „Schnell Magnayen, Knirscher!“

    Blitzartig sprintete der Wolf los und weitete seine Kiefer. Erbost wandte sich Magcargo abermals Magnayen zu. Genau darauf hatte Andrew gehofft.

    „Psiana, Psystrahl!“

    Die Psychokatze begab sich in eine leicht gebeugte Kampfposition und feuerte aus ihrem aufleuchtenden Stirnamulett einen siebenfarbigen Strahl ab.

    „Felsgrab!“

    Beinahe war der rau klingende Rocket in Vergessenheit geraten. Dies war eindeutiges Zeugnis von der mangelnden Kontrolle, die er in der vergangenen Minute gehabt hatte. Doch inzwischen gewann der – wenn auch noch hustend und röchelnd – wieder die Übersicht in den Kampf. Aber damit war für Ryan und Andrew noch nichts verloren. Noch hatten sie ihre Chance. Sie mussten in den Nahkampf kommen. Da Magcargo träge und unbeweglich waren, hatten sie hier eindeutige Vorteile.

    Psianas Strahl traf auf eine massive Felswand, die sich plötzlich aus dem Boden erhob und Magcargo von allen Seiten schütze wie ein Schild. Allerdings war dies für Magnayen kein Hindernis. Mit einem einzigen Sprung überwand es die felsige Blockade und visierte die Lavaschnecke unter sich an. Es landete auf dem Gehäuse und vergrub sein Gebiss in dem zähflüssigen Genick. Es war wie ein Biss auf heißen Kaugummi. Damit hatte Magcargo noch Glück, da der Wolf es eigentlich auf seine Kehle abgesehen hatte. Doch der Schmerz setzte selbstverständlich ein. Ein heulender Schrei stieg dem Himmel empor und der Rocket biss sich wütend auf die Lippe.

    „Ihr verdammten Plagen. Schüttle den Köter ab, Magcargo!“

    In diesem Moment setzte ein Schutzreflex des Feuerwesens ein. Ungesehen und unerwartet von beiden der jungen Trainer türmte sich von einer Sekunde auf die nächste eine mannshohe Flamme auf dem Gehäuse des Magmawesens auf. Dem Wolf darauf erging es, als sei er auf eine Landmine getreten. Unverhofft bekam er die feurige Macht ohne Vorwarnung zu spüren. Erst in diesem Moment dämmerte es Andrew.

    Das steinerne Gehäuse auf seinem Rücken besaß an der Seite eine winzige Öffnung, aus der eine kleine Flamme austrat. Diese wuchs binnen einer Sekunde zu einer gewaltigen Flammensäule, der Magnayens ungeschützte Unterseite traf. Sofort jaulte es erneut und sprang von seinem Gegner ab. Noch in der Landung versagte ihm die Kraft und seine Beine knickte ein. Es hielt sich nur noch mit einer Vorderpfote aufrecht.

    „Magnayen!“

    Wieder hallte Andrew besorgter Ruf über die Lichtung, doch er durfte sich nicht ablenken lassen. Der Kampf lief schließlich noch. Das Unlichtpokémon würde durchhalten müssen.

    „Psiana, Psychokinese. Reiß die Brocken ab!“

    Auch wenn das verhältnismäßig kleine Katzenwesen ihren Gegner nicht genau ins Visier nehmen und diesen daher mit ihren Kräften nicht direkt ergreifen konnte, besaß die doch die Möglichkeit, ihre Kameraden entscheidend zu unterstützen. Die telekinetische Energie schloss sich zielsicher um die Gesteinsbrocken und ließ die Barriere aus Felsgrab mit einem kräftigen, mentalen Stoß wie ein Haus im Wind dahinraffen. Der Schild war durchbrochen, die Chance war da.

    „Was? Wie kann das sein?“, rief der schwarz gekleidete Mann schockiert. Seine Barrikade – zerstört, von einer einzigen Attacke, als sei sie nichts.

    „Ryan!“, rief Andrew seinen Kumpanen auf den Plan.

    „Alles klar, jetzt sind wir nochmal dran. Hydropi, Panzaeron.“, rief Ryan nun, um die beiden Pokémon, die ihn flankierten in Bereitschaft zu versetzen.

    „Glaub ja nicht, dass wir uns so einem wie dir geschlagen geben. Wenn ihr euch mit uns anlegt, schmeißen wir euch von dieser Insel!“

    Der absolute Wille, dem Feind seine Stärke zu zeigen und sich gegen Team Rocket zu behaupten ließ Ryans Stimme zu einem wütenden Schrei heran wallen, der seinem Ehrgeiz gerecht wurde und dieselbe Entschlossenheit in Hydropi und Panzaeron heraufbeschwor, sodass diese dem Gegner ebenfalls ihren Kampfschrei hören ließen.

    „Aquaknarre und Lichtkanone!“

    Nur allzu bekannt war ihm dieser Ablauf. Panzaeron schoss in den Himmel hinauf, während ein helles Licht durch den schmalen Schlitz seines leicht geöffneten Schnabels nach außen drang. Ein weißer Energiestrahl schoss schon im Nächsten Moment daraus hervor. Da Magcargo auch zum Teil ein Gesteinpokémon war, würde der Angriff seine Wirkung nicht verfehlen. Gleichzeitig setzte das kleine Hydropi nochmal mit einer weiteren Wasserfontäne nach.

    „Noch einmal Flammenwurf, zeig ihnen deine Kraft!“

    Die Lavaschnecke kämpfte wirklich bis zum bitteren Ende. All seine verbliebene Energie musste es mobilisieren, um diesen weiteren Flammenstrahl entfesseln zu können. Tatsächlich war er sogar noch stark genug, um sich mit den feindlichen Angriffen die Waage zu halten. Keiner ließ nach. Keiner gewann die Oberhand. Keiner unterlag.

    „Psiana, Spukball!“

    Noch immer im Rücken Magcargos war das Katzenwesen bereits beinahe in Vergessenheit geraten. Mit einem eleganten Sprung gelangte es über seinen Gegner, während ein dunkelvioletter Energieball vor ihrem Stirnamulett erschien. Sie ging diesmal volles Risiko, sprang auf das Gehäuse Macgarcos, obwohl sie genau beobachtet hatte, welche Gefahr von dieser Position aus drohte. Sie verblieb allerdings nur eine Sekunde. Dann detonierte der Spukball und hüllte beide Pokémon in einen Rauchball derselben Farbe. Während Magcargos jaulender Schmerzensschrei gen Himmel stieg, kam Psiana gleich wieder anmutig und grazil daraus hervorgesprungen. Sie teleportierte sich in sichere Entfernung an die Seite ihrer Kameraden, um einem möglichen Vergeltungsschlag zu entgehen. Dafür besaß die Lavaschnekce jedoch nicht mehr die Kraft. Der Rauch verzog sich rasch wieder. Es war zusammengesackt sein Angriff verebbt.

    Die kombinierte Energie, die Panzaeron und Hydropi ihm entgegenwarfen, setzte dem Feuerpokémon weiter übel zu. Noch immer wollte es nicht aufgeben, gab alles, um sich zu behaupten, doch mehr und mehr kam der elastische Körper zum Erliegen. Für eine kurzen Moment berührten ich die Aquaknarre und die Lichtkanone, vermischten ihre Kräfte und ließen sie in einem grellen Lichtblitz detonieren, sodass ein lauter Knall die Folge war. Grell und stechend in den Augen war Anblick. Ein zischender Laut klang mit ihm mit und sandte Schockwellen durch die Luft, die alle Anwesenden als Vibration im Brustkorb wahrnahmen. Laub regnete von den flankierenden Bäumen. Dreck und Kies waren längst in alle Winde verstreut worden, doch ein Energiestoß, der den Boden unter den Füßen für einen Moment erzittern ließ, riss schmale Öffnungen in jenen und brachte neuen Sand an die Oberfläche. Dieser behinderte die Sicht jedoch kaum. Das Ende des Kampfes war erreicht. Magcargo blieb schlaff und kraftlos auf dem Boden liegen.

    „Magcargo, steh sofort wieder auf!“, brüllte der Rocket entrüstet. Sein Befehl blieb aber ungehört. Wütend biss er die Zähne zusammen, sodass man meinen könnte, sie würden gleich splittern. Diese Niederlage schien ihm ganz und gar nicht zu behagen. Zudem schien ihn nun endgültig die Angst zu packen, da er wohl gerade realisierte, dass ihm eine womöglich lange Zeit im Knast bevorstand.

    „Saubere Arbeit“, lobte Ryan die erschöpften Pokémon, welche weiterhin die Gegner im Auge behielten, sich jedoch ein erleichtertes Schnaufen erlaubte. Auch Andrew fuhr sich deutlich gelöst durch die Haare, wusste jedoch um seine beiden Schützlinge, dass sie den Feind nach wie vor konzentriert beobachteten. Allein Hydropi ließ es sich nicht nehmen, einen für seine Verhältnisse lauten Jubelschrei anzustimmen.

    Im nächsten Moment hallte der Ruf einer weiblichen Stimme durch den Wald.

    „Ich glaube der Rauch kam von hier!“


    Nur wenige Augenblicke nachdem Ryan und Andrew den Rocket besiegt hatten, näherte sich eine Menschengruppe der Lichtung. Bei der Frau, die eben noch gesprochen hatte, konnte es sich um niemand anderes handeln als Officer Rocky. Nur Sekunden später bestätigte sich die Vermutung, als die Polizistin zusammen mit gut einem Dutzend weiterer Uniformierter in Sichtweite kam.

    Der schwarz gekleidete Gauner machte langsam einige Schritte zurück, in Richtung der Einstiegsluke zu dem Versteck. Doch clever wie es war, hatte Magnayen sich schnell und unauffällig hinter ihn gestohlen und schloss den Eingang, indem es die Luke mit seinen Vorderpfoten hinunterdrückte. Der falsche Strauch darauf war durch das Gefecht niedergerissen und das Metall auf der Oberfläche daher kaum noch übersehbar. An Ort und Stelle verbleibend, knurrte es ihn drohend an und zeigte sein furchteinflößendes Gebiss. Der Fluchtweg war versperrt, er saß in der Falle.

    Officer Rocky war inzwischen an die Seite der beiden Trainer und Professor Birk getreten, während ihre Männer die Lichtung umstellten.

    „Keinen Moment zu früh“, kommentierte Andrew lachend. Professor Birk musste sich trotz der Freude über ihr Erscheinen gleichermaßen wundern. Das war viel schneller gegangen als bei ihrer letzten Begegnung angekündigt.

    „Wie kamen sie so schnell hierher? Es war von ein paar Stunden die Rede.“

    Die Polizistin wollte sich nicht lange mit Erklärungen aufhalten. Nicht, bevor sie selbst einige Antworten erhielt und fasst sich daher kurz.

    „Wir wären auch noch längst nicht hier, wären uns nicht mehrere Explosionen und Rauchsäulen gemeldet worden.“

    Da musste der Professor fast lachen und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Er hatte nicht erwartet, wie weit der Kampf noch sicht- und hörbar sein würde. Aber nun, da er erstmals Gelegenheit hatte, genauer darüber nachzudenken – ja, hier hatte es schon ordentlich gekracht.

    „Ist das der gesuchte Dieb?“, fragte die Uniformierte weiter.

    „Eher nicht. Aber auf jeden Fall gehört er zum Team Rocket und genau hinter ihm befindet sich der Eingang zu ihrem Versteck“, bestätigte der Professor. Magnayen bestätigte das sofort mit einem Bellen und trat mit seinen Vorderpfoten auf die Einstiegsluke.

    „Seid ihr drinnen gewesen?“

    „Sind wir. Das ganze Diebesgut wird dort in einem Lagerraum aufbewahrt“, verkündete Ryan rasch. Die Sachlage schien sonnenklar.

    „Dann habe ich mit Ihnen einiges zu bereden, fürchte ich“, sagte sie an den Rocket gewandt. Daraufhin wies die Polizistin augenblicklich einen Teil ihrer Leute an, das Versteck zu untersuchen, während eine andere Gruppe die Verhaftung übernahm. Er leistete keinen weiteren Widerstand. Das hätte ihn nun nicht mehr weitergebracht. Er resignierte und hob kapitulierend die Hände, obgleich sich seine ganze hässliche Visage in Frustfalten legte. So hörten er einfach stumm zu, wie Officer Rocky ihm seine Rechte vorlas, während ihm die Handschellen angelegt wurden.

    „Sie haben das Recht zu schweigen. Alles was sie von nun an sagen kann und wird vor Gericht gegen sie verwendet werden. Sie haben das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen. Sollten sie sich keinen Anwalt leisten können, wird ihnen von der Staatsanwaltschaft einer zugeteilt werden.“

    Ryan und Andrew sahen dem Schauspiel einige Minuten amüsiert zu und machten sich gar nicht erst die Mühe, ihr Grinsen vor dem vor Wut schnaubenden Rocket zu verbergen. Der jedoch schien entschlossener denn je, sie beide aus dem Verkehr zu ziehen. Zwar würde er selbst das nicht mehr bewerkstelligen können, doch es gab sicher genügend andere seine Sorte.

    „Das wird euch noch leid tun. Ihr habt nicht zum letzten Mal von Team Rocket gehört“, hatte er nur zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor gezischt.

    „Ich freue mich schon drauf“, kommentierte Ryan die Drohung aufmüpfig. Erst als er mit drei weiteren Polizisten zwischen den Bäumen verschwunden war, erlaubte er sich ein Durchatmen und ließ sich zusammen mit Andrew erschöpft ins Gras fallen. Der Geruch von Erde haftete längst an den zwei Trainern, doch war er allemal besser als stinkender Rauch.

    „Und das nennst du Routine?“, fragte Andrew mit einem neckischen Seitenblick. Ryan schüttelte lachend den Kopf.

    „Die aller simpelste Form davon.“


    Nach einer kurzen Verschnaufpause wandte sich Ryan seinem Panzaeron zu, um es auf Verletzungen zu untersuchen. Wie erwartet hatte es schweren Schaden durch die Feuer-Attacken Magcargos abbekommen, doch würde eine erholsame Pause mit einigen leichten Medikamenten wohl ausreichen, damit es bald wieder fit war.

    Das Trio verweilte noch einige Zeit auf der Waldlichtung, um das Ergebnis der Durchsuchung des Verstecks abzuwarten. Sie selbst hatten nur einen Bruchteil davon gesehen, daher nahm dieses Vorhaben bereits einige Zeit in Anspruch. Professor Birk hatte in der Zwischenzeit seinen Assistenten Jürgen per Handy informiert, dass sie die Pokémon zurückgeholt hatten und diese auch unverletzt waren. Selbst aus der Entfernung hatte Ryan deutlich die erleichterten Jubelschreie Codys aus dem Hintergrund vernommen.

    Mit dem wohltuenden Gedanken, einen jungen, neu angehenden Trainer glücklich gemacht zu haben, wandte er sich Andrew zu, der noch immer seine beiden Pokémon versorgte. Magnayen hatte einen dünnen Verband um seinen Körper sowie an seiner rechten Vorderpfote und war an einigen Stellen im Gesicht mit einer wohltuenden Salbe behandelt worden, womit es sich nicht sonderlich von Panzaeron unterschied, welches noch immer an der Seite seines Trainers verweilte. Auch der Stahlvogel musste sein schillerndes Antlitz vorübergehend mit diesen unschönen Kampfspuren einbüßen. Der pflanzliche und unangenehm stechende Geruch der Salbe stieg Ryan gnadenlos in die Nase und ließ in das Gesicht verziehen. Dieses Zeug roch wirklich übel. Wie der graue Wolf mit seinem feinen Geruchssinn dies aushalten konnte, war ihm wirklich schleierhaft.

    Psiana wurde gerade mit derselben Salbe an der linken Flanke eingerieben und hatte auch schon die Behandlung mit dem Kühlspray über sich ergehen lassen müssen. Das Katzenwesen zuckte schmerzlich zusammen, als die weiße Substanz ihre angebrannte Haut berührte. Brandwunden waren einfach schwierig zu behandeln. Ein empörtes „Psi-“ konnte sich das Pokémon nicht verkneifen. Es war kein Fan von Medizin.

    „Okay, okay, tut mir leid“, seufzte Andrew schuldbewusst, fuhr aber unbeirrt mit der Behandlung fort. Ryan beneidete ihn oftmals für seine medizinischen Kenntnisse bei Pokémon. Natürlich konnte er selbst immerhin erste Hilfe leisten, doch wenn es über das Anlegen irgendwelcher Verbände hinaus ging, hörte sein Wissen auf. Andrew dagegen hatte schon immer bei so ziemlich jedem Notfall sofort gewusst, was zu tun war. Fast mochte er sich so gut auskennen, wie eine Schwester Joy – vielleicht ein künftiger Spitzname für ihn, dachte Ryan. Doch da sein Vater selbst Pokémondoktor war, verwunderte dies auch überhaupt nicht.

    Als hätte er seine Anwesenheit gerade eben erst bemerkt, sah Andrew zu Ryan auf und versuchte sein leeres Starren zu deuten.

    „Ich weiß Ryan, ich bin cool, anbetungswürdig und sehe verdammt gut aus, aber so viel Aufmerksamkeit ist mir unangenehm“, scherzte er, als er die Salbentube schloss und Psiana eine kurze Streicheleinheit an dessen Lieblingsstelle hinter dem Ohr zukommen ließ.

    „Du hast schon bessere Witze erzählt“, entgegnete Ryan trocken, um die Neckereien schnell beiseite schieben und das Thema wechseln zu können. Ein besorgter Blick legte sich auf die geschundenen Pokémon, deren Behandlung gerade zum Ende kam.

    „Wie geht´s den beiden?“

    „Nichts allzu Ernstes, abgesehen von Magnayens Flanke. Die ist von den Flammen ziemlich abgefackelt worden. Außerdem wird´s wohl eine Zeit lang problematisch mit dem Laufen. Kämpfe sind jedenfalls erst mal nicht drin. Und bei dir?“

    Ryan bedachte seinen Stahlvogel mit einem stolzen Blick und einem sanften Streichen seiner Hand über den angelegten Flügel. Für die nächsten Stunden würde sich dieser wahrscheinlich ziemlich träge fühlen. Das war die kleine Nebenwirkung der Medizin, die Ryan Panzaeron verabreicht hatte, doch das war schließlich nicht ihr erster harter Kampf gewesen und würde schon gar nicht ihr letzter gewesen sein.

    „Nichts, was Panzaeron nicht schon mal durchgestanden hätte.“

    „Ihr kümmert euch wirklich vorbildlich um eure Pokémon.“

    Die Stimme von Professor Birk ließ die beiden Trainer reflexartig zusammenfahren. Waren sie nur unaufmerksam gewesen oder hatte er tatsächlich ein Talent dafür, sich heranzuschleichen? Wenn man bedachte, wie groß und kräftig der Kittelträger war, erschien das eher unwahrscheinlich. Umso seltsamer war es, dass keiner der Jugendlichen ihn hatte kommen hören. Dass das kleine Hydropi zu seinen Füßen wohl unbemerkt geblieben wäre, stellte da eine weitaus geringere Überraschung dar.

    „Ich schätze, ein bisschen Basiswissen in Sachen Behandlung sollte jeder Trainer besitzen“, entgegnete Andrew, den Professor nun freundlich anlächelnd und mit einem leichten Schulterzucken.

    „Eine kluge Einstellung“, kommentierte dieser darauf. Das freundliche Lächeln in Birks Gesicht war, wie Ryan fand, irgendwie besonders. Dass er ein wahrlich lebensfroher und offener Mensch war, hatte er ihm schon bei ihrer ersten Begegnung sofort angesehen, doch irgendwie schien er auch mehr zu sein als das. Für ihn schien die ganze Welt ein rundum fröhlicher und glücklicher Ort zu sein, doch wenn man bedachte, dass er vor nicht einmal einer Stunde aus dem Versteck einer Pokémondiebesbande gekrochen war, erschien dies eigentlich eher widersprüchlich. Eine Erklärung für diese These konnte Ryan somit nicht wirklich finden. Manchmal waren Menschen eben nicht weniger mysteriös als Pokémon.

    „Hört zu“, setzte Birk anschließend großspurig an.

    „Ich weiß, ihr zwei wollt hier noch auf Officer Rockys Bericht warten, doch solange die Durchsuchung noch läuft, würde ich gerne etwas mit euch besprechen.“

    Ryan und Andrew wandten nun ihre ganze Aufmerksamkeit dem Pokémon Professor zu, als dieser seine braune Tasche öffnete und darin herumkramte. Nach einigen Sekunden förderte er schließlich zwei verkleinerte Pokébälle zutage.

    „Eurer Hilfe ist es zu verdanken, dass Cody das Geckarbor bekommen wird, das er sich so gewünscht hat und sollte Team Rocket den Rest der gestohlenen Pokémon nicht irgendwie aus dem Versteck gebracht haben, habt ihr vielen anderen Trainern eine ebenso große Freude gemacht. Aus diesem Grund möchte ich mich unbedingt bei euch revanchieren.“

    Die Pokébälle verschwanden wieder in der Tasche und Birk breitete offen und einladend die Arme aus.

    „Also, wenn ich irgendetwas für euch tun kann, zögert bitte nicht, mich zu fragen.“

    Andrew winkte sofort ab und spielte den Bescheidenen. Er war noch nie der Typ gewesen, der Geschenke annahm. Selbst zu seinem Geburtstag beteuerte er immer noch, dass er keine wollte. Ihm reichte es schon, wenn er eine tolle Feier veranstalten konnte. Und Team Rocket hatte er ganz sicher nicht bekämpft, da er eine Belohnung erwartet hatte. Das gebot ihm allein schon sein Stolz und sein Ehrgefühl.

    Ryan war in dieser Hinsicht ein klein wenig offener. So auch in diesem Fall, denn er hatte bereits etwas ins Auge gefasst. Dennoch galt es, Anstand zu bewahren, weshalb er seine Frage vorsichtig formulierte.

    „Naja, wenn´s nicht zu viel des Guten wäre... würde ich sehr gerne dieses Hydropi trainieren.“

    Für den ersten Moment wusste sein Trainerkumpane nicht so richtig, wie er reagieren sollte. Ryan hatte seit dem Start seiner Trainerkarriere bislang nur ein einziges Mal ein Pokémon geschenkt bekommen. Doch wie er schon so oft erzählt hatte, hatte es sich schon damals bei Professor Lind seltsam angefühlt, als dieser darauf bestanden hatte, dass Ryan das Karnimani bei sich aufnahm, welches heute nun sein mächtiges Impergator war.

    Ryans Gesichtsausdruck zeugte von ein wenig Angst. Angst, dass er es zu weit getrieben haben könnte. Schließlich war das Weitergeben eines Pokémon alles andere als eine banale Sache.

    „Aber gerne doch, es wäre mir eine Freude.“

    Verdutzt blieben beiden Trainern die Worte im Hals stecken. War das sein Ernst gewesen? Nahm er die Sache so locker?

    „Echt jetzt? Also das ist kein Scherz oder so?“

    Natürlich hatte Ryan auf das Einverständnis von Professor Birk gehofft, aber dass es so leicht gehen würde, hatte definitiv außerhalb seiner Erwartungen gelegen. Da hatte er es ja noch für wahrscheinlicher gehalten, dass er ihm eine verpasst hätte. Diese Gedanken verflogen allerdings, als plötzlich Hydropi auf ihn zu getapst kam und sich an Ryans Bein hoch stemmte.

    „Ich schätze Hydropi hat dich bereits liebgewonnen.“

    Der Trainer suchte mit einem fragenden Blick in Richtung des Professors nach Bestätigung, worauf dieser knapp nickte.

    „Und Sie würden es wirklich nicht vermissen, wenn ich es mitnehme?“, fragte er unsicher weiter, wobei Birk bereits die Befürchtungen des jungen Trainers heraushörte. Dies ließ ihn zufrieden lächeln, während er zu einer offenen Erklärung ansetzte. Etwas aus seinem tiefsten Inneren.

    „Weißt du Ryan, ich vermisse jedes einzelne Pokémon, das ich an einen Trainer weitergebe auf eine gewisse Weise. Als Freund, verstehst du? Ich lerne jedes Einzelne schon wenige Tage nach der Geburt kennen und sehe sie heranwachsen. Natürlich macht es mich ein wenig traurig, sie ziehen zu lassen.“

    Die beiden Trainer merkten, dass er hier etwas sehr Persönliches mit ihnen teilte. Sie hatten gar nicht gewusst, dass Professoren so viel Zeit mit den Pokémon verbrachten. Aber vielleicht war Birk auch in diesem Segment ein Ausnahmefall.

    „Doch das ist in Ordnung, wenn ich weiß, dass das Pokémon von einem verantwortungsvollen Menschen aufgezogen wird, der sich gut um es kümmert. Außerdem wird der nächste Trainer, den ich erwarte, erst in ein paar Wochen seine Reise beginnen und wir haben noch genug Exemplare in unserer Zuchtstation. Wie du außerdem vorhin vielleicht vernommen hast, ist dieses Hydropi schon recht alt, um an einen Anfänger übergeben zu werden. Es ist eigentlich schon zu lange bei in meinem Labor. Die Zeit ist längst reif, dass es die Welt kennenlernt.“

    Noch immer etwas unsicher huschte der Blick Ryans abwechselnd zu Professor Birk und Hydropi, welches nach wie vor sein Bein auf Standfestigkeit prüfte, hin und her.

    „Ich meine es völlig ernst, Ryan. Nimm es an“, bat er noch einmal eindringlich. Offenbar hatte er gemerkt, dass man den Blonden deutlich einfacher zu einer Handlung überreden konnte als Andrew. Der hatte seinen Standpunkt schnell klar gemacht. Normalerweise war dies eigentlich auch für Ryan nicht unbedingt typisch, da er für gewöhnlich eisern an seinen Prinzipien festhielt, doch als er diesem kleinen Wasserpokémon in die knopfartigen Augen sah, wurde er von Sekunde zu Sekunde schwächer. Schließlich setzte er ein gutmütiges Lächeln auf und ging in die Hocke, um mit Hydropi zu sprechen.

    „Dann sind wir jetzt wohl Partner, Hydropi. Ich freue mich schon darauf, mit dir zu arbeiten.“

    Als Antwort erhielt er einen überglücklichen Ausruf des Namens des blauen Wesens, bevor dieses in seine Arme sprang.

    „Willkommen an Bord. Aber ein Ritual müssen wir nachher noch hinter uns bringen.“

    „Allerdings! Kein neues Pokémon, ohne Kampf“, stimmte Andrew zu. Auch Birk nickte beipflichtend.

    „Korrekt, was sein muss, muss sein.“

    Dass Panzaeron selbst in seinem angeschlagenen Zustand spielen mit Hydropi fertig werden würde, stand außer Frage. Es handelte sich hierbei für Ryan – wie er so treffend betont hatte – nur um ein Ritual. Somit war Hydropi nun ein Bestandteil von Ryans Pokémonteam. Ein zwei-Mann-Team, für den Moment jedenfalls noch. Doch der Entschluss, Hydropi aufzunehmen, würde sich auch auf Panzaeron auswirken, da dessen Trainer bereits im Voraus beschlossen hatte, es wieder nach Hause zu schicken, sobald er sein erstes Pokémon in Hoenn besaß. Und nun war es bereits soweit. Eigentlich passte es ihm aber ganz gut in den Kram. In der kurzen Zeit, die diese Reise nun andauerte, hatte der Stahlvogel bereits viel einstecken müssen. Nach der langen Verletzungspause war dies sicher ein großer Schritt in Richtung seiner ursprünglichen Form gewesen. Doch bald würde es allein daran arbeiten müssen, wieder in Bestform zu kommen. Doch es hatte ja in zu Hause genug Trainingspartner. Es war einfach an der Zeit, den Neuanfang endgültig zu besiegeln.


    „Ma´am!“

    Die hektische Stimme des heraneilenden Polizisten zog mit einem Mal sämtliche Aufmerksamkeit auf sich und ließ Ryan seine Gedanken verwerfen.

    „Was gibt es?“, erkundigte sich Rocky sogleich.

    „Wir haben das gesamte Versteck durchsucht Ma´am. Die gestohlenen Pokébälle und die anderen entwendeten Wertsachen scheinen größtenteils vorhanden zu sein. Von den Verbrechern selbst fehlt allerdings jede Spur.“

    Die Verwunderung in den Gesichtern aller Anwesenden war überdeutlich. Team Rocket war geflohen? Wie und wann denn das? Sie hatten doch unmöglich etwas von dem Erscheinen der Polizisten bemerken können! Oder etwa doch? Und wenn ja, wo waren sie jetzt? All diese und viele weitere Fragen überschlugen sich in den Köpfen der beiden Pokémontrainer, welche sich fragende und gleichzeitig vielsagende Blicke zuwarfen. Offenbar waren diese schwarz gekleideten Freaks doch besser organisiert, als sie es ihnen zugetraut hätten.

    „Wie kann das sein? Und was heißt größtenteils?“, fragte Officer Rocky nach einem kurzen Schockmoment, ohne eine richtige Antwort zu erwarten.

    „Ich kann´s ihnen nicht sagen, Ma´am. Wenn es einen weiteren Ausgang aus dem Versteck geben sollte, hätten wir diesen finden müssen, aber wir haben nichts entdeckt. Was die Pokébälle angeht, wir haben noch nicht alle durchgezählt, aber wir schätzen die Menge auf weniger, als uns gemeldet wurde. Vielleicht sind einige der Diebe mit ihrer Beute noch nicht ins Versteck zurückgekehrt.“

    Wütend biss sich die Uniformierte auf die Unterlippe. Wohl hatte sie sich innerlich bereits über die Verhaftung der Rockets gefreut, und nun das.

    „Durchsucht auf der Stelle das Gebiet, sie können noch nicht weit gekommen sein. Alle Einheiten ohne Priorität werden sofort für die Suchaktion abkommandiert!“

    Salutierend wandte sich der Polizist ab, um die Befehle Rockys weiterzugeben. Unter den Männern machte sich in den folgenden Sekunden eine gewaltige Hektik breit, da es höchstwahrscheinlich fatale Folgen haben würde, sollten die übrigen Mitglieder des Team Rockets entkommen. Einige gaben die neuen Befehle über Funk weiter, während andere sich bereits an die Durchsuchung der Umgebung machten. Lediglich zwei Leute, welche den verhafteten Anführer bewachten, und Rocky selbst blieben auf der Lichtung zurück.

    Diesem waren längst Handschellen angelegt worden, sodass er nun tatenlos auf dem Waldboden verweilen musste. Die rasch abnehmende Anzahl an Gesetzeshütern in seiner Umgebung hätten ihn vielleicht zu einem Fluchtversuch hinreißen können, doch noch bevor er einen Gedanken daran hegen konnte, machte die blauhaarige Polizistin diese Pläne bereits zunichte.

    „Bringt den Verdächtigen unverzüglich aufs Revier. Ich werde ihn persönlich verhören. Und kümmert euch um die sichergestellten Pokémon.“

    Auch diese zwei Polizisten Salutierten auf die Anweisung der Officer hin und hievten die in Gewahrsam genommenen auf die Beine. Der Rocket grollte ein letztes Mal zornerfüllt und wollte Ryan und Andrew noch einen wütenden Blick zum Abschied dalassen. Dies blieb ihm allerdings verwehrt, da jene sich mit Officer Rocky besprachen, anstatt ihn noch eines Blickes zu würdigen.

    „Können wir noch irgendwie helfen?“, erkundigte sich der ältere im Duo, worauf die Polizistin allerdings nur lächelnd den Kopf schüttelte.

    „Ihr wart uns bereits eine sehr große Hilfe. Ab hier schaffen wir das alleine.“

    Sie warf einen zufriedenen Blick in Richtung ihrer abrückenden Männer und dem Gefangenen.

    „Sollte die Suchaktion nicht erfolgreich verlaufen, werden wir die nötigen Informationen von ihm bekommen. Nur keine Sorge, wir kriegen die Bande schon.“

    So zuversichtlich Rocky auch klang, Ryan konnte sich ihrer Überzeugung nicht wirklich anschließen. Zwar war die Festnahme von einem offenbar hochrangigen Rocket immerhin ein kleiner Erfolg, doch hinterließ er einen fahlen Beigeschmack und die Gewissheit, dass eine weitaus höhere Zahl an ihnen entkommen war. Allein die Tatsache, dass sie die genaue Zahl nicht kannten, machte die Sache unglaublich knifflig.

    „Ihr zwei habt heute vielen Trainern sowie der Polizei einen großen Dienst erwiesen“, fuhr die Uniformierte schließlich fort.

    „Die bestohlenen Bürger von Wurzelheim werden sich sehr über die Rettung ihrer Pokémon freuen. Im ihrem und im Namen der Stadt möchte ich euch aufrichtig danken.“

    Respektvoll salutierte nun Officer Rocky vor den beiden Trainern und schenkte ihnen ein dankendes Lächeln. Ryan wusste die Bedeutung dieser Geste durchaus zu schätzen, konnte sich aber nicht so richtig an ihr erfreuen und so tat er sie mit einem abwesenden Nicken ab. Er war mit den Gedanken bei Team Rocket. Genauer gesagt, dachte er gerade an seine und Andrews Anreise zurück, bei der sie von Carlos und Lydia aufgehalten worden waren. Auch sie waren ihm entwischt! Und als wäre das noch nicht der Gipfel, scheinen nun doch einige Pokémon zu fehlen. Wut keimte in ihm auf, Wut auf sich selbst und auf sein Versagen. Krampfhaft verstärkte sich der Griff um das Hydropi, das er noch immer in den Armen hielt. Dieses litt zwar nicht unter dem Druck, vernahm aber deutlich den Missmut seines neuen Trainers. Nachdenklich schaute es zu ihm auf.

    Andrew schien sich spürbar geringere Sorgen um den Verbleib der Diebesbande zu machen, da er im Gegensatz zu Ryan völlig entspannt wirkte und das Lächeln erwiderte.

    „Ach, das war doch unsere Bürgerpflicht“, scherzte er grinsend. In diesem Moment konnte Ryan nicht anders, als in die Tasche seines Sweatshirts zu greifen und seine Hand um den grünen Orb zu schließen, der darin verweilte. Andrew und die übrigen Anwesenden bekamen davon nichts mit. Das Gefühl seiner glatten, asymmetrischen und doch perfekten Oberfläche beruhigte ihn, lenkte ihn von seinen frustrierten Gedanken ab. Die Berührung erfüllte ihn mit einer wärmenden Zufriedenheit und schenkte ihm innerliche Ruhe. Doch jenes Gefühl schwand sogleich wieder, als er sich in Erinnerung rief, wie er in seinen Besitz gekommen war. Wie betäubt starrte Ryan gen Himmel.

    Was hatte er nur getan?


    „Bist du ganz sicher?“

    Sehr nah war der in schwarze Kleidung gehüllte Mann an seine Partnerin herangetreten und folgte mit seinem Blick dem Lauf des elektronischen Fernglases, das sie in den Händen hielt. Sinnlos war es dennoch, da er aus dieser Distanz kaum eine Bewegung auf der Lichtung erkennen konnte. Doch jeder Meter, den sie näher herangegangen wären, hätte auch mehr Gefahr bedeutet.

    „Ja, in seiner rechten Tasche“, konkretisierte die schlanke Frau. Der verdammte Bengel hielt kaum einen Moment still, doch er umklammerte definitiv etwas, das er darin aufbewahrte. Man erkannte es an der Körperhaltung und dem verkrampften Arm, der darin verschwand. Und für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie sogar den richtigen Blickwinkel, um ein natürgrünes Schimmern zu erspähen. Er schien sehr bedacht, bei seinem Kumpel und dem aufgeblasenen Professor keinen Verdacht zu erregen. Aber sie konnte er damit nicht täuschen.

    „Kein Zweifel, der Junge hat ihn bei sich. Melde es dem HQ.“

    Die Frauenstimme klang überaus zufrieden. Zeitgleich wohnte ihr etwas Bösartiges inne. Unter ihrem Atemschutz umspielte ein heimtückisches Grinsen ihre Lippen als sie das Gerät senkte und ihre Augen bereits in Vorfreude auf ihr nächstes Treffen mit diesen beiden Trainern glänzten. Rache war so ein süßes Gericht und wurde bekanntermaßen am besten kalt serviert. Und dies würde sie mit allergrößtem Vergnügen tun.

    „Team Alpha an schwarzer Lotus. Melde Erfolg der Operation.“

    Ein kurzes Rauschen ertönte in dem Funkgerät, in welches der versteckte Mann gesprochen hatte, bevor eine unheilvolle und äußerst düstere Frauenstimme sehr monoton antwortete.

    Hat auch keiner der Männer ihn berührt?“

    „Nein, der Junge ist der erste seit Jahrhunderten, der ihn mit seinen eigenen Händen hält. Die Evakuierung lief ebenfalls wie geplant. Nur Bax haben sie erwischt.“

    Gut, zieht euch vorerst zurück. T1 wird sich an ihre Fersen heften. Sie hat Befehlsgewalt. Ihr selbst haltet in jeder Hinsicht sicheren Abstand. Lasst eure Tarnung auf keinen Fall auffliegen, bevor wir die nächste Phase einleiten.“

    Der Mann befeuchtete die Lippen und musste große Mühe für eine feste Stimme aufbringen. Ungeachtet von Status und Ruf seiner Vorgesetzten durfte er nicht kleinlaut und unterwürfig klingen. Wenn sie den Verdacht erhielt, dass er schwach war, würde er rasch ausgetauscht werden.

    „Mit Verlaub, wir könnten die zweite Phase sofort ausführen. Niemand hat Verdacht geschöpft und die Polizei ist bereits abgerückt. Bitte um Einsatzerlaubnis.“

    Der Mann klang eindringlich, aber auch vorsichtig. Unbedingt wollte er den Plan so schnell wie möglich vorantreiben und nicht mehr Zeit als nötig mit Beobachtungen und Beschattungen verschwenden. Jedoch würde er es nicht wagen, sich dem Befehl zu widersetzen oder ihre Entscheidungen auch nur anzuzweifeln. Einmal hatte er gesehen, was jenen blühte, die dumm genug waren, das zu tun. Es war definitiv kein schöner Anblick gewesen und er war sicher nicht darauf aus, diese Erfahrung am eigenen Leib zu machen. Jedoch schien er schon mit diesem simplen Vorschlag eine Grenze überschritten zu haben, von der er sich besser ferngehalten hätte.

    Das war kein Vorschlag, Alpha. T1 hat das Kommando. Zieht euch zurück oder ich lasse euch an Ort und Stelle beseitigen.“

    Da schluckten tatsächlich beide. Na toll. Jetzt waren sie bei ihrem Boss so stark im Kurs gefallen, dass die Befehlsgewalt an eine Söldnerin übertragen wurde. Was für eine Demütigung.

    Und noch etwas. Wenn ihr klug seid, leistet ihr euch nicht noch so einen Fehler wie auf der Fähre. Schwarzer Lotus Ende.“

    Eine unnachahmliche Kälte begleitet von todernster Finsternis klang selbst noch aus dem Funkgerät an das Ohr des Rockets. Deutlich hörbar schluckte dieser und übte sich augenblicklich in Schweigen. Nicht dass es etwas bewirkt hätte, ein weiteres Mal Protest einzulegen – von der „Beseitigung“ seines Daseins einmal abgesehen –, da die Frau am anderen Hörer den Kontakt bereits eigenständig beendet und ihr Ton keine zweite Option offen gelassen hatte. Jeder Idiot hätte sofort gemerkt, wie ernst jedes ihrer Worte gemeint gewesen war und dass sie ihre Drohungen jederzeit wahr machen würde, war im gesamten Team Rocket bekannt. Der Mann nickte seiner Partnerin zu, der augenscheinlich ebenfalls ein eisiger Schauer über den Rücken gejagt war. Diskussionen waren hier fehl am Platz. Es hieß Gehorsam leisten oder mit Strafen rechnen. Und die Strafen des schwarzen Lotus wollte keiner von ihnen aufgebunden bekommen.


    Nur wenige Meter entfernt, trat eine Gestalt aus dem Schatten eines stolzen Laubbaumes. Sie stand offen und ungeschützt, versteckte sich nicht. Sie schätzte die Entfernung ein. Drei, maximal vier lange Schritte sollten genügen, um den beiden die Halswirbeln durchtrennen zu können. Es wäre so leicht. Und diese Narren hielten sich für Spione? Für diese Dreistigkeit sollte sie es erst recht tun.

    Sie schüttelte resignierend den Kopf. Warum nur war es ihr verboten worden, auf eigene Faust zu handeln? Sie war die beste Tötungsmaschine der Welt, zudem mit einem ausgereiften Verstand und somit durchaus in der Lage, in heiklen Situationen sowie über Leben und Tod eines Menschen selbst zu entscheiden. Aber nein, es war ihr verboten worden. Warum? Weil ihre Entscheidungen doch meist mit einer Leiche endeten. Doch darin sah sie keinen Fehler. Es war alles so viel unkomplizierter, wenn man einen Menschen einfach umbrachte. Wenigstens eine Botschaft wollte sie ihnen gerne hinterlassen. Ein Zeichen für die Verwundbarkeit der beiden. Eine Demonstration ihrer Überlegenheit, die sie mit Furcht erfüllen sollte. Doch nicht einmal dies war ihr vergönnt. So drehte sie sich um. Blickte nicht mehr zurück, trauerte der Gelegenheit nicht länger nach. Es war ihre Anweisung gewesen, zu horchen. Nur zu horchen. Sonst nichts.

    Nur zehn Meter weiter hob sich ein schwarzer Mantel vom sommerlichen Grün des Waldes ab. Getragen wurde er von einer femininen Gestalt, die ebenfalls den Schatten eines Baumes aufgesucht hatte und entspannt an seinem Stamm lehnte. Die Arme waren verschränkt und der Kopf in den Nacken gelegt. Einige Strähnen lagen auf ihren Gesicht, doch das meiste ihres blonden Haares fiel ihr hinab bis zu den Schenkeln, wie es dies immer tat. Sie ließ sich von den schimmernden Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen drangen, blenden. Ein Windstoß spielte mit dem Geäst und ließ die Frau für einen kurzen Augenblick in vollem Licht erstrahlen. Schon einen Lidschlag später wurde das Licht wieder vom Blätterdach verschluckt.

    „Haben sie uns bemerkt?“

    Ihre Stimme war nüchtern, fast desinteressiert. Sie fragte, ohne das ankommende Mädchen anzublicken. Selbiges trat in aller Ruhe und ohne Eile an sie heran, bevor sie antwortete.

    „Sie ziehen sich zurück.“

    „Also doch“, schlussfolgerte die Frau. Verächtlich schnaubte das Mädchen und wollte schon auf den Boden spucken, doch sie wollte sich nicht die Mühe machen, den dunkelblauen Schal, der ihr Gesicht verhüllte, zu entfernen. Darum lies sie es sein.

    „Die zwei Bauerntölpel haben wohl kaum einen Schimmer. Vermutlich ahnt ihre Anführerin etwas.“

    Nun senkte die Frau das Haupt ein wenig. Nur sehr schwach, nicht mehr als nötig. Gerade so konnte sie das Mädchen anblicken. Die Strähnen glitten von ihren Wangen.

    „Der schwarze Lotus?“

    Ein Nicken, war alles, was sie erhielt. Wieder richtete sich der Blick gen des verdeckten Himmels. Eine Hand streckte sich ihm mit gespreizten Fingern entgegen, als wollten sie die wenigen Strahlen einfangen. Dann schob sich ein Schatten vor selbige. Die kleine, wabernde Gestalt eines schwarzen Geistes mit Totenkopfmaske sank herab und drehte verspielte Kreise um das Handgelenk der Frau. Lieblich strich sie mit zwei Fingern über seine Wange und man mochte meinen dieses Zwirrlicht wolle der Zärtlichkeit nie wieder entsagen. Diese so sanfte Berührung, die es so zutraulich empfing. Die vertraute Geste brachte sie zum Lächeln.

    „Wenn sie abwarten, werden wir an ihrer statt die Initiative ergreifen.“

    Das Mädchen horchte auf. Die Worte klangen vielversprechend. Eventuell bekam sie Arbeit nach ihrem Geschmack. Mit Blut als Entlohnung. Bittere Enttäuschung erfuhr sie jedoch.

    „Lege endlich deine Lederrüstung ab. Wir werden uns in nächster Zeit anpassen müssen.“

    „Wir mischen uns unter die Massen? Ist das nicht zu riskant?“

    Ein einzelner Mundwinkel zuckte nach oben.

    „Wie es den Anschein hat, sind wir ohnehin nicht so unsichtbar, wie wir gehofft haben. Doch wenn wir diesen jungen Männern gegenübertreten, ist es vielleicht besser, man erkennt uns nicht sofort als das, was wir sind.“

    „Trotzdem gefällt es mir nicht“.

    Der Wind spielte mit ihrem nachtlauem Haar. Das tat er immer. Es lud dazu ein. Vielleicht sollte sie es mal wieder kurzschneiden.

    „Weil du die Kleidung verabscheust“, durchschaute sie sogleich und machte sich nicht die Mühe, ihr Schmunzeln zu verbergen. Ihre Partnerin ging nicht darauf ein. Nachdenklich blickte sie über die Schulter und inspizierte das Dickicht. Sie beschäftigte ein anderer Gedanke.

    „Ich frage mich, warum der schwarze Lotus gerade jetzt so passiv bleibt. Eine Vorahnung oder ein Verdacht wird sie wohl kaum von ihrem Plan abhalten.“

    Die Stimmung schwang um. Ernst war auf einmal die Luft.

    „Meinst du, jemand beobachtet uns?“

    „Ich bin mir sicher ich weiß bereits, wer es ist.“

    Die Blicke trafen sich. Ein Paar aus himmelblauen Augen und ein rubinfarbenes. Es gab nur einen Menschen im Team Rocket, der gut genug sein konnte, sie zu beschatten.

    „Bella?“

    „Bella.“

  • Huhu, bin mal wieder da. ^^ Wieder mal ist gut XD
    Mir hat das Kapitel wie gewohnt gut gefallen. Zuerst dacht ich jedoch, dass du bei "den Bösen" auf bisschen Klischee setzt. Du weißt schon, schwach und dumm und so... aber dass deine Protas doch noch, auch wenn nur kurz, überrascht waren, fand ich gut.^^
    Allerdings war ich fast enttäuscht, als er doch Hydropi wiederbekam. Das war eine eindeutige Win-Lose-Situation und ich warte, auch wenn ich böse bin, noch drauf, dass sie zumindest mit einem lachenden und einem weinenden Auge gewinnen/verlieren.


    Acht ein wenig mehr darauf, dass du dich nicht zu sehr ins Tell hineinstürzt. Eigentlich stört mich das nicht, was Kämpfe und Landschaften betrifft.

    Zitat von You

    Andrew, der von etwas ruhigerer und bedachterer Natur war, legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter.


    Das mein ich. ^^
    Manchmal formulierst du auch etwas umständlich, aber ich hab das Beispiel aus den Augen verloren ^^"


    Den letzten Absatz fand ich am interessantesten, weil... keine Ahnung warum XD
    So, mal schauen, was mit Bella ist.=*


    LG ^^

  • Wird mal Zeit für Re-Kommi!


    Zitat

    Zuerst dacht ich jedoch, dass du bei "den Bösen" auf bisschen Klischee setzt. Du weißt schon, schwach und dumm und so... aber dass deine Protas doch noch, auch wenn nur kurz, überrascht waren, fand ich gut.^^


    Ja, inzwischen hab ich mir dieses Klischee abgewöhnt und ich kann vesprechen, dass die Bösen nicht schwächer werden. Das wird im Prinzip keiner von Ryans und Andrew künftign Gegnern.


    Zitat

    Allerdings war ich fast enttäuscht, als er doch Hydropi wiederbekam. Das war eine eindeutige Win-Lose-Situation und ich warte, auch wenn ich böse bin, noch drauf, dass sie zumindest mit einem lachenden und einem weinenden Auge gewinnen/verlieren.


    Wenn du einen bestimmten Abschnitt nochmal überdenkst, lässt sich erahnen, dass dies eben kein klarer Sieg war und ich dachte eigentlich, das wäre auch angekommen. War wohl doch zu wenig -.-


    Sehr interessant, dass du dir jetzt schon Gedanken um Bella machst, wo du doch noch nicht einmal die beiden Charas kennst, die über sie geredet haben. Letztere werden in nicht ferner Zukunft aber enthüllt (wie ich mich darauf schon freue). Als nächstes folgt jedoch ein kleines Spezial-Kapitel, auf das ich persönlich schon recht stolz bin. Ich hoffe, ich kann dich und alle anderen auch damit begeistern.


    Bis dahin vielen Dank und Gruß an dich, Bastet

  • Kapitel 12: Just a step from the edge


    Wie ein zorniger Blitzschlag durchzuckte stechende Qual sein Herz, ließ es für einen einzelnen Schlag unglaublich kraftvoll und schmerzhaft gegen seinen Brustkorb pochen. Die gelben Augen riss er reflexartig weit auf, sodass sich ihr Kern in winzige schwarze Punkte verwandelte. Eine seiner Klauen fuhr augenblicklich zu der schmerzenden Stelle, an welcher schon in der nächsten Sekunde wieder behutsam und rhythmisch der bereits seit Jahrtausenden fortwährenden Ablauf wiedergefunden worden war. Der Schock saß ihm jedoch selbst eine ganze stille Minute später noch in jedem Knochen, jeder Vene seines Körpers und ließ ihn – ihn! – erschaudern. Schwer atmend führte er sich die Bedeutung dieses Gefühls, das seinen Körper erstarren ließ, vor Augen. Nach all den Jahrhunderten war es also wieder passiert. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass ein Mensch diesen törichten, gar wahnsinnigen Schritt wagen würde. Nur sehr langsam glitt seine Klaue von seiner Brust herab und offenbarte die grässliche Narbe, die er sich vor hunderten von Jahren selbst zugefügt hatte. Eine Tat, von der er bis heute nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob sie weise oder unsagbar dumm gewesen war. Sollte sich letzteres als die Antwort herausstellen, so würde er keine Wahl mehr haben. Sollte sein letzter und zugleich größter Akt der Gnade das Leid in seiner Blutlinie nur weiter verlängern, so würde auch jegliches Flehen und Bitten der Zwillingsdrachen ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen, die Menschheit auszurotten. Oh, wenn er nur wieder daran dachte, wie süß der köstliche Geschmack der Vergeltung sein würde. Welche Genugtuung es sein würde, endlich menschlichen Blut von seinen Krallen herabtropfen zu sehen und ihre Städte in einen trostlosen Haufen aus Schutt und Asche zu verwandeln.

    Ganz tief atmete er einmal durch und zwang sich zur Ruhe, indem er sein Mantra wiederholte.

    'Noch nicht, gib sie noch nicht auf...', redete es sich wieder und immer wieder ein. Wie oft hatte er diese Worte im letzten Millennium wohl wiederholt? Wie oft hatten die Menschen ihren eigenen Untergang geradezu gefordert, waren sie doch immer und immer wieder einen Schritt weiter gegangen, gleich wie oft man ihnen die Fehler ihres Tuns aufgezeigt hatte? Und nun war tatsächlich wieder ein weiterer fataler Schritt getan worden, welcher die törichten Zweibeiner dort unten auf der Erde ihrem traurigen Ende näher denn je gebracht hatte.

    Hatten diese närrischen Wesen denn noch immer nicht dazugelernt? War die Menschheit wahrhaftig so dumm und so ignorant, dass sie dieselben Fehler wieder und wieder begangen? Was im Namen des großen Schöpfers musste denn noch geschehen, damit endlich die Vernunft ihren Weg in die Herzen der Menschen fand? Ganz langsam, über viele Jahre hinweg, hatte der Gedanke in seinem Kopf Gestalt angenommen, dass sie gar keine Herzen besaßen. Jedoch war dies selbstverständlich eine ganz und gar groteske Vorstellung, von der sie auszuweiten selbst er, ein Legendärer, zurückschreckte. Doch in manchen, äußerst kurzen Momenten, in denen der Schmerz vergangener wie frischer Erinnerungen ihn heimsuchte, keimte in ihm doch der Gedanke auf, die Menschen seien seelenlose Geschöpfe und dort wo bei jedem Pokémon eine Herz schlug, existierte bei ihnen nur eine schwarze Leere. Als seien die Menschen nur erschaffen worden, um ihr Antlitz von dieser Welt zu tilgen – oder damit sie eben dies mit seinen Kindern taten. Ein Spiel, wenn man so wollte. Eine kranke Laune des Schöpfers, um sich zu unterhalten. Ein gnadenloser Kampf zweier Parteien, von denen der Verlierer ausradiert wurde und der Preis des Siegers eine Welt war, die um eine Rasse ärmer und lediglich ein bisschen leerer geworden war.

    Was war diese Vorstellung doch absurd, doch von Zeit zu Zeit wanderten seine Gedanken diesen Pfad entlang. Einen immer steiler werdenden Pfad der Wut, der fort führte von Logik und Scharfsinn, sobald er nur an die Menschen dachte. Das Verlangen nach Rache wuchs stetig weiter. Schließlich hatte er schon einmal von ihr gekostet.


    Zufrieden war sein Blick, ein Stück weit mehr erlöst seine Seele und getan war ein weiterer Schritt zur Vollendung einer längst überfälligen Aufgabe. Keine Mühe gab er sich, sein Werk, so grauenhaft und tragisch es für seine Opfer auch war, zu ignorieren. Das Gegenteil war der Fall. Gar erfreute er sich an den panischen Schreien der Menschen, wie sie zwischen den lodernden Flammen, welche ihre Behausungen verschlangen und nichts als Asche hinterließen, hin und her rannten. Hals über Kopf und alle materiellen Besitztümer hinter sich lassend, suchten sie ihr Heil in der Flucht, nahmen keine Rücksicht auf das Schicksal derer, die in den Flammen ihr Ende fanden.

    Gerade verzehrte sich jenes Feuer an einem hölzernen Wachturm, ließ ihn krachend einstürzen und verwandelte sich in einen Trümmerhaufen. Der hilflose Mensch an seiner Spitze, schrie laut und von kalter Angst erfüllt, während seines Todessturzes und schwieg erst mit seinem Verschwinden in den Resten aus Glut und Holz. Einige Pokémon, welche die Menschen hier hielten, um ihre Nahrung zu sichern oder ihre Arbeit zu erleichtern, flohen ebenfalls panisch und aufgeschreckt durch das Chaos und den Lärm durch die Tore der Stadt in die Wälder hinaus. Als menschliche Fackeln rannten einige dort unten kreischend umher, erhellten die Nacht zum Preis ihres Lebens. Nicht einmal klar denken konnten diese niederen Kreaturen in diesem Moment, geschweige denn ihren Familien helfen – oder sich selbst. Sie waren zu nichts anderem fähig als zu schreien, ob der Qual, die sie in ihrer brennenden Kleidung erfuhren. Alles andere war aus ihrer Wahrnehmung verschwunden. In einem langsamen und grausamen Ableben fiel schließlich einer nach dem anderen langsam zu Boden und mit jedem von ihnen erstarb eine weitere Stimme. Einige unter den Menschen, welche sich in glänzendes Metall gehüllt hatten, das sie im Kampf schützen sollte, versuchten so viele ihresgleichen zu retten, wie es ihnen möglich war, indem sie ihnen zur Hilfe kamen. Andere ließen ihre eisernen Klingen fallen, ebenso entledigten sie sich Schilden, Helmen, Schulterplatten und jeder schweren Last, derer sie sich auf die Schnelle entledigen konnten. Sie flohen vor ihm, sie flohen zusammen mit dem Rest, hinaus in die Wildnis oder in die nächste Stadt.

    'Wie naiv', dachte das mächtige Wesen am Nachthimmel. Ganz gleich, wohin sie auch flohen, früher oder später würden sie ihren toten Artgenossen folgen. Kein Ort bot ihnen Sicherheit vor seinem Zorn, kein Versteck Zuflucht vor seiner Rache. Dies war nur eine von vielen Nächten gewesen, in denen Blut vergossen worden war und es würde bei weitem nicht die letzte sein. Kein Menschenleben würde er verschonen. Gegen die Pokémon, welche den skrupellosen Zweibeinern ihre Dienste boten – sei es nun gezwungenermaßen oder aus freien Stücken – hegte er keinen Zorn, doch Rücksicht nahm er auch nicht auf sie. Nur noch sein eigenes Volk war jetzt wichtig. Das Überleben seiner Kinder.

    Eine Schande war es, dass es für viele unter ihnen bereits zu spät war. So auch für das arme Wesen, welches dort unten im Dorf zur Schau gestellt wurde. Betrübt sank der Drachengott hinunter zwischen die Flammen, sodass diese seinen riesigen, schlangenhaften Körper in ein unheimliches, gar furchterregendes Licht hüllten. Die wenigen Bewohner dieses Ortes, die hier noch verweilten, wichen ängstlich vor ihm zurück, stolperten über ihre eigenen Füße und flohen schließlich, um ihr Leben bangend, wie der ganze Rest. Doch ihnen schenkte er keine Beachtung. Es gab mehr als genug Zeit, um sie erneut aufzuspüren und ihr Leben zu beenden und er würde dem auch nachkommen. Jedoch galt seine ganze Aufmerksamkeit in diesem Augenblick einem seiner toten Geliebten. Es war keiner aus seiner direkten Linie, jedoch gehörte es zu seinem Volk. Seit Jahrmillionen existierte seine Gattung bereits, war – von den Legendären abgesehen – eines der ersten Lebewesen gewesen, welche die Luft der Erde geatmet hatten. Kein Drache vom Blute, jedoch von jedem als solcher angesehen und somit einen Teil seines Herzens besitzend. Seine Haut besaß die Farbe des Felsens und war ebenso hart und rau. Ein massiger Schädel thronte auf knochigen Schultern, hing jedoch schlaff und leblos gen Erdreich hinunter. Der Körper wies zahlreiche Wunden auf, verursacht von den Waffen der Menschen und der Schweif war ihm im Kampf abgeschlagen worden, sodass nur ein blutiger Stummel blieb. Seine violetten Schwingen waren ebenfalls mehrfach durchlöchert und ebenso wie der Körper auf einem Holzpfahl aufgespießt worden. Eine Demütigung für ein so stolzes und altes Geschöpf. Um mehrere Millionen Jahre älter als die Menschheit und doch gnadenlos von ihr getötet, ohne Grund und ohne Sinn.

    Doch auch wenn es für diese Seele zu spät war, würde ein derart entwürdigendes Ende nicht in Frage kommen. Eine Klaue sank langsam zu dem Dahingeschiedenen herab und hob diesen von den Pfählen. Es rann keine weiteres Blut seinen Leib herunter, zu lange schlug sein Herz bereits nicht mehr. Doch ein letztes Mal erhob sich dieser Körper in den Himmel, getragen vom Vater seines Volkes. Zu einem würdigen Ort würde er ihn bringen, wo er friedlich und mit einem Rest Würde vergehen konnte. Ein tragisches Schicksal, allerdings bei weitem kein Einzelfall, doch gerade aus diesem Grund sollte ihm diese letzte kleine Ehre erwiesen werden. Nicht so den Menschen. Ihr Ende würde um ein vielfaches grausamer sein.


    Die Erinnerung an Tage und Nächte wie diese waren noch so frisch, dass die Schreie noch immer in seinen Ohren lagen, dass das Licht des Feuers weiterhin in seinen Augen loderte und seine Hitze auf seiner Haut zu spüren war. Es war eine traurige Geschichte, doch er hatte so handeln müssen, allein da es gerecht war. Nicht zu vergessen, dass er dadurch sein eigenes Volk rettete.

    Manchmal fragte er sich, warum es sich selbst dies antat und sich von zweien seines Blutes, die ihm eigentlich folgen sollten, gleich welche Entscheidung er auch traf, von seiner Erlösung und der seiner Kinder abhalten ließ. Gar war es schleierhaft, warum sie dies überhaupt wollten, warum sie noch immer an die Menschen glaubten. Dies fragte sich das Wesen oft, wenn die Wunden, geschlagen durch die vergangenen Taten, wieder zu schmerzen begannen, sich auftaten, dann wieder schlossen, nur um ein weiteres Mal aufgeschlagen zu werden. So war es auch jetzt, in diesem Augenblick. Und wie jedes Mal, erinnerte er sich sofort an den Grund. Den Grund, warum er inne hielt, seinen Zorn bändigte und weiter hoffte. Dieser Schimmer der Hoffnung war so klein wie ein einzelner dieser Menschen in dem unendlichen Universum und doch stark genug, um die Existenz der Zweibeiner aufrecht zu erhalten – wenn auch nur vorerst. Tatsächlich wollte diese Metapher recht gut passen, denn auch damals war es ein einzelner Mensch gewesen, der die Rettung für sein Volk gebracht hatte. Selbst als seine Entscheidung bereits getroffen war, als sein gnadenloser Vergeltungszug begonnen hatte, so hatten noch immer einige Drachen an das Gute in den Menschen geglaubt. Selbstverständlich hatten die Zwillingsdrachen auch zu ihnen gezählt und sie waren es auch gewesen, die eines Tages ihren Vater hoch am Himmel gerufen hatten, um ihnen zwei besondere Besucher anzukündigen. Zwei Besucher von verschiedenen Rassen, doch mit dem gleichen Belangen und einer offenen Zuneigung füreinander im Herzen. Und so glitten die Erinnerungen ein weiteres Mal an jenen schicksalhaften Tag zurück, an dem der mächtige Legendäre nicht nur seine Prinzipien vergessen, sondern auch einen Teil seiner selbst aufgegeben hatte.


    Jemand wünscht dich zu sehen, Vater“, rief die junge Drächin in den wolkenverhangenen Himmel hinauf. Natürlich war ihre Stimme über diese Entfernung nicht hörbar, doch ihre Bitte – das wusste sowohl sie als auch ihr Bruder an ihrer Seite – würde sein Herz erreichen. Nur selten machte er sich die Mühe, wahrhaftig selbst zu erscheinen. Zumeist schickte es die Wesen, die ihn sehen wollten, einfach wieder fort oder sandte die Zwillingsdrachen, um ihnen seine Worte zu überbringen. Heute hegte er ein Mal mehr die Absicht, dies zu tun, doch er war nicht so dumm, nicht nach dem Pilger zu fragen.

    Kriivar. Sag, wer wagt es nun schon wieder, mich zu stören? Welchen Belang hat der Pilger?“

    Nicht er, sondern sie. Es sind zwei Besucher. Und ich fürchte, wir müssen auf dein Kommen bestehen, liebster Vater“, antwortete seine Tochter.

    Wütend grollte und brüllte das mächtige Wesen, was jedoch nur die beiden Drachengeschwister zu hören vermochten, befand sich ihr Vater doch kilometerweit von der Erde entfernt.

    Wie absurd! Img tagnazoriy. Die Sterblichen haben zu folgen, wenn ich sie rufe. Nicht umgekehrt! Wer erdreistet sich, mein Kommen zu verlangen?“

    Es war nicht überraschend, dass diese Neuigkeit ihren Vater ungehalten machte und er seinen Unmut zum Teil in der alten Sprache der Drachen äußerte. Leider allzu oft wallte das Blut in seinen Adern rasch an und ließ ihn zornig werden. Seine raue, fauchende Stimme hätte wohl ein jedes Wesen in einen Zustand der Schockstarre und dem eiskalten Gefühl der Verwundbarkeit versetzt. Doch es war nur gerechtfertigt, wenn ein legendärer Drache sich fragte, warum er dem Wort zweier sterblicher Lebewesen folgen sollte, stellte dies doch nicht weniger als eine dreiste Anmaßung dar. Allerdings war die Situation... besonders.

    Es ist eine Menschenfrau“, offenbarte die Drächin kleinlaut. Wohl war ihr bewusst, was nun folgen würde.

    Waaas!?“

    Man vermochte den Himmel erzittern zu hören und die Luft zwischen ihm und der Erde zerreißen zu spüren, sodass das endlose Blau auf ein jedes Wesen nieder ging.

    Was fällt euch ein, mir einen Vertreter dieser verabscheuungswürdigen, niederen Rasse anzukündigen? Ariic ny gradast i ma'scir devamitos! Akir argon. Der einzige Grund, warum ich zu dieser Frau hinunterkommen sollte, wäre ihr skan rgio, das Fleisch von den Knochen zu reißen!“

    „Es ist in deinem eigenen Interesse, Vater“, versuchte nun der Sohn die aufgebrachte Gottheit zu beschwichtigen. Für gewöhnlich erhielt er mehr Zutrauen für Scharfsinn als seine etwas jüngere Schwester, doch meist wurde ihr Vater von beiden gleichermaßen enttäuscht, da ihre Ansichten in der Regel die gleichen waren. Jedoch war er für sein junges Alter äußerst weise und wortgewandt.

    „Wir würden nicht wagen, dich zu rufen, wäre es nicht wichtig.“

    Einfache Worte und nicht sehr überzeugend. Viele seiner Kinder hatten mit der Zeit die Menschen zu hassen gelernt, wie er es bereits seit Jahrhunderten tat. Doch nicht diese beiden. Die Zwillinge hatten immer schon eine nur zu verschwommene Ansicht von ihrem Wesen gehabt und schon mehrfach derartige Bitten an ihn gerichtet, welche damit endeten, dass er die vertrsuten Menschen der Zwillingsdrachen tötete. Sie waren unehrlich, handelten nur aus Angst. Angst vor Schmerz, Angst vor dem Tod, Angst vor der Ausrottung. Allein darum baten sie ihn um Vergebung, allein darum suchten sie ihn auf. Ihr Flehen nach Gnade und ihre Entschuldigungen für ihre Taten waren unaufrichtig und wurden bestenfalls als Beleidigung von ihm aufgefasst. Allein dafür verdienten sie den Tod. Doch irgendwie vermochten die Stimmen seiner Kinder ihn immer und immer wieder zu Taten zu bewegen, die er schon im Voraus als grotesk erachtete. Ihnen wohnte die verwunschene Kraft der Überzeugung inne, der man einfach nicht den Rücken kehren konnte. Gab es irgendetwas in diesem Universum, das so entwaffnend war, wie die eigenen Kinder?

    „Bitte Vater, ein Bruder ist an ihrer Seite“, fügte der Sohn hinzu. Dies war schon ein besserer Grund, warum er sich zeigen sollte, jedoch noch lange kein Anlass, auf ein Treffen von Wichtigkeit zu hoffen. Einige wenige gab es noch immer unter seinen Kindern, die sich für die Menschen aussprachen, doch traute er dem Frieden prinzipiell niemals. Dass ein Zusammenleben zwischen den Menschen und den Drachen nicht unmöglich war, hatte er bereits vor langer Zeit eingesehen, doch eine wahrhafte Freundschaft, die hatte er noch nie bei ihnen erkennen können. In der Not würden auch diese Mitglieder seines Volkes von ihren ach so geschätzten Menschen verraten, zurückgelassen oder getötet werden. So fragte er sich selbst immer aufs Neue, warum er die Bitten der Zwillinge erhörte, ohne eine Antwort zu finden. Er vermutete jedoch, dass er sie einfach zu sehr liebte. Doch er tat es wieder und wieder, so auch diesmal.

    „Arrrgh. Far amir gjevanskar. Ist das lästig. Ich bin auf dem Weg.“


    An einem Ort, wo das Land den Ozean traf, erwarteten die Zwillingsdrachen ihren Vater. Ruhig und in selten zu bewundernder Sänfte lag das Meer da als wolle es die die gewaltigen Felsen am Ufer nicht verärgern, indem es mit seinem Wellen darauf einschlug. Daher auch der Name, den die Menschen dieser Gegend gaben: Stille Küste. Hohe Klippen dominierten die Grenzen des Festlandes und dahinter erstreckten sich grüne Laubwälder so weit das Auge reichte. Kaum hundert Meter vor der Küste ragte ein gewaltiger Felsen aus dem Wasser, erhob sich – bedachte man seinen Standort – in unglaubliche Höhen, sodass man ihn fast schon als Berg betiteln konnte. Unter der Wasseroberfläche hatte sich über Jahrzehnte ein Netz aus Korallen und Anemonen zwischen ihm und dem Küstenriff gebildet. Seit der Wasserstand im Laufe der Zeit abgesunken war und schließlich einen Teil des Konstruktes entblößte, war es sogar möglich, den inzwischen nur noch nackten Fels zwischen Festland und dem gewaltigsten Steinriesen als Verbindungsweg zu nutzen. Dies war natürlich rein fiktiv, denn so weit der Mensch auch die Welt erobert und die weißen Punkte seiner Landkarten gefüllt hatte, war er noch nie in diese Gegend vorgedrungen. Es war einer der raren, unberührten Flecken Erde, die die Welt noch bot. Ein entscheidender Grund, warum er den Zwillingsdrachen als Zufluchtsort diente. Kaum hatte ein Mensch auch nur von diesem Ort gehört, musste man doch ungeahnte Weiten ungezähmter Wildnis durchqueren, um hierher zu gelangen. Da es hier jedoch nichts gab, was für die Menschen von Interesse wäre, mühte sich niemand, diese Klippen aufzusuchen. Doch heute war es doch soweit. Wenn auch der Grund dafür ein anderer war, als einfache Erkundung.

    Hier war der Ort, an dem die Drachengeschwister auf ihren Vater warteten, über den Felsen schwebend und gen Himmel blickend. Sie hofften und bangten, dass es dieser Mensch nicht wie seine Vorgänger, mit dem Leben dafür bezahlen sollte, hierher gekommen zu sein. Sie beteten innerlich, dass sie es schaffen würden, ihn von ihren und ihres Gefährten Absichten zu überzeugen. Nie hatten sie die Handlungen ihres Vaters unterstützt, wenn er die Menschen getötet hatte, die sie ihm vorgestellt hatten. Doch so grob und unzugänglich er auch manchmal war, wollte er nur das Beste für sie und alle ihre Blutsverwandten und sie würden nicht so respektlos sein, ihn dafür zu tadeln.

    Kaum dachte man nur an ihn, so kam er bereits. Mit einem Gebrüll, dem ein Donner zu folgen schien und sich über den gesamten Himmel ausbreitete, brach schneeweiße Wolkendecke auf, als ein riesiges Lebewesen von schmaler und zugleich sehr langer Körperform sich rasant seinen Weg zur Erde hinab bahnte. Schon von weitem war ihr Vater unverkennbar. Wie von magischer Hand geführt und der Schwerkraft trotzend schlängelte es sich durch die Lüfte, wie das Wasser eines gewaltigen Flusses. Smaragdgrüne Schuppen mit einer markanten Zeichnung aus gelben Linien bildeten ein einzigartiges Farbmuster auf seiner Haut. Im Nacken, direkt hinter einem massigen Schädel, ragten in der Anordnung eines Kreuzes, vier dünne, längliche Auswüchse hervor. Zwei schmale Arme besaß das Wesen, welche sich präzise dort befanden, wo man den Brustkorb vermutete und die mit tödliche Klauen bestückt waren. Beine besaß er nicht, sein ganzes Leben verbrachte er schwebend. Ein gewaltiges Maul samt scharfer Zähne boten einen furchterregenden Anblick. Über den Klippen stoppte es schließlich, als die Zwillingsdrachen unmittelbar unter ihm verweilten und zu ihm aufsahen. Es war, als würde er die Sonne verdunkeln.

    „Also, wo sind die, die mich zu sehen verlangen?“, verlangte der Vater in überaus harschem Ton zu wissen. In seinen Augen war sein Erscheinen jetzt schon nichts weiter als eine Verschwendung von Zeit und seiner absolut nicht würdig. Er schwor sich, kaum hatte er seine Frage ausgesprochen, dass er die Menschenfrau ohne zu zögern umbringen würde, sollte sie ihm nicht schnell einen Grund geben, dies nicht zu tun.

    Die Drachenzwillinge antworteten nicht, wandten lediglich den Blick hinab zur Erde, welchem ihr Vater folgte. Dann entfernten sie sich, in die Weiten der Welt hinaus. Was auch immer gleich geschehen würde, ihre Anwesenheit war von keinem Nutzen und sollte der schlimmste Fall eintreten, so würden sie keine Zeugen dessen sein wollen, was ihr Vater mit den Pilgern anstellte. Rasch waren sie nur noch ein blauer und ein roter Punkt in der Ferne.

    Dort unten sah er sie. Klein, schwach, verletzbar, doch in recht untypischer Gestalt. Zumeist trugen die Menschen, denen er auf diese Weise begegnete, glänzende Rüstungen und große Waffen bei sich, um sich sofort als ruhmreiche Kämpfer ihres Volkes zu erkennen zu geben. Außerdem kamen für gewöhnlich nur Männer. Doch das dort unten war – wie bereits bekannt – ein Weib, gehüllt in einen schwarzen Stoffumhang. Nicht die typische Kleidung eines Kriegers, doch ein Schwert trug sie unübersehbar an ihrer Hüfte, da der vergoldete Griff unter der Kleidung hervorschaute. Blondes, glänzendes Haar ergoss sich wie ein spiegelglatter, Fluss aus Gold von ihrem Haupt hinab bis zu ihren Kniekehlen. Ihr Gesicht wirkte jung, unschuldig und aufrichtig. Ihr Blick war geziert von Reue und einem gebrochenen Ehrgefühl, doch von Äußerlichkeiten ließ sich der Drachengott schon lange nicht mehr täuschen.

    Zu ihrer Rechten baute sich eines seiner Kknder auf. Groß, von himmelblauer Färbung sowie mit rubinroten Schwingen und auf vier stämmigen Beinen stehend. Ebenso rote Schuppen zierten Teile des Gesichts, weiße dagegen den Bauch. Ähnlich wie bei ihm selbst, ragten stumpfe Zacken aus dem Nacken hervor, jedoch waren es hier auf jeder Seite drei an der Zahl. Ein prachtvolles, stolzes und starkes Wesen stellte es dar. An der Seite eines Menschen zu stehen, war absolut unter seiner Würde.

    „Sprich besser schnell aus, was du zu sagen hast, oder ich zerquetsche dich augenblicklich dort, wo du gerade stehst“, sprach der Legendäre zu der Frau. Obwohl er noch weit über ihr schwebte, schlug sein Wort wie eine wütende Böe auf sie ein. Nicht zu deuten war der Blick, mit dem sie zu jenem mächtigen Wesen hinaufschaute, doch wie schon zuvor angedacht, ließ er sich längst nicht mehr von einer simplen Mimik täuschen. Bevor sie jedoch den Mund öffnete, griff sie mit der rechten Hand nach ihrem Schwert und zog es langsam aus der Scheide. Die Klänge des schabenden Stahls begleiteten ihre Bewegung und offenbarten nach und nach eine schmale, doch zugleich sehr lange Klinge. Eine elegante Waffe, definitiv nicht für einen kräftigen Männerarm geschmiedet, sondern für bescheidenere Kräfte erschaffen. Ohne viel Federlesen richtete die Frau die Schwertspitze gen Boden und rammte sie in jenen hinein, sodass es dort stecken Blieb. Wie er diese Handlung auffassen sollte, darüber war sich der Himmelsdrache noch nicht gewiss, jedoch durchaus auf die darauffolgende. Sie straffte sie ihren Körper, sank sodann auf ein Knie und ging in eine tiefe Verbeugung über.

    „Oh großer Gott des Himmels und der Drachen, der du keinen Namen besitzt. Ich verneige mich vor dir.“

    „Erspare mir diese lächerliche gzeelva!“, schrie er ungehalten herab. Das Krachen und Donnern eines Unwetters erklang aus seiner rauen Kehle.

    „Verhöhne mich nicht mit solch leeren Worten. Sag mir, was dein Wille ist und ich sage dir, ob du danach weiterleben wirst.“

    Ganz kurz war die Menschenfrau unter dem Aufschrei zusammengezuckt, doch schon im nächsten Moment war sie wieder ruhig und stand fest auf beiden Beinen. Sie legte eine Hand in die andere und führte sie zu ihrem Herzen. Ihre Bewegungen gingen nur sehr langsam vonstatten, was das mächtige Wesen am Himmel beinahe als Verhöhnung auffasste, hatte er ihr doch Eile befohlen.

    „Demütig und voller Reue für mein Volk komme ich heute zu dir. Auf Knien erflehe ich die Besänftigung deines Zorns und vertraue mich deiner Gnade an.“

    Schwach und kraftlos wirkte die Frau, als auch ihr zweites Bein einknickte und sie auf beide Knie fiel.

    „Mein Leben soll dir gehören, doch bitte verschone die übrigen Seelen dort draußen.“

    Das Haupt gesenkt und mit bebender Stimme sprechend, war es unverkennbar, wie sie um des legendären Drachens Gnade betete, hoffte, ein Umdenken zu erreichen. Jedoch erntete für sie ihren Mut nur spöttisches Gelächter.

    „Hahahahaha, du glaubst tatsächlich, du könntest mich von meinem Vorhaben abbringen, indem du mir dein wertloses Leben anbietest? Img baladore, wie einfältig, hahaha.“

    Nicht einmal eine Wimper zuckte bei der angereisten Frau auf diese Reaktion. Bereits hatte sie mit ähnlichen Worten fast gerechnet. Alles Andere wäre naiv gewesen.

    „Hast du denn allen Ernstes geglaubt, ich würde dich oder irgendeinen anderen deiner Rasse verschonen?“, sprach er nun wieder völlig ernst und mit düsterer Stimme. Er raunte sie auf unheilvolle Weise in ihr Ohr und ihren Geist, was wohl die meisten Menschen bereits in ein zitterndes Häufchen Elend verwandelt hätte. Natürlich hatte sie das nicht geglaubt. Lediglich einen winzigen Funken Hoffnung hatte sie in sich hierher getragen. Ihr Kommen war letztendlich nichts weiter als ein letzter, verzweifelter Versuch gewesen, um ihr Volk zu retten, doch wenn sich der Drachengott nicht darauf einließ, wäre davonzulaufen lediglich das Hinauszögern des Unausweichlichen. Hätte er sich mit dieser Geste zufrieden gegeben, so wäre sie mit Freuden ins Totenreich übergegangen, doch etwas anderes als ihr Leben konnte sie ihm nicht bieten. Wenn ihre Bitte abgelehnt würde, so konnte sie genauso gut hier und jetzt sterben. So sie auch um das Schicksal der Menschen trauerte, war es wohl doch der Wille nicht nur dieses, sondern eines jeden Gottes. Denn alles geschah so, wie es von ihnen bestimmt war. Ruhig schloss sie die Lider und hielt das Haupt gesenkt, um ihr Ende zu erwarten. So sah sie nicht das weit aufgerissene Maul des mächtigen Drachen am Himmel und die entblößten Schwerter in seinem Maul. Wahrscheinlich war es besser so, denn die Zähne zu sehen bedeutete unweigerlich, sich den eigenen Körper zwischen ihnen vorzustellen.

    „Ich werde jeden einzelnen von euch vom Antlitz der Welt tilgen, bis den droev, den Drachen endlich wieder ein friedliches Dasein vergönnt ist. Talasza iehra qjantomary eszaga. Solltest du nichts Besseres vorzubringen haben, so werde ich dennoch deinen Wunsch zum Teil erfüllen und dich töten.“

    Langsam kam der Himmelsdrache einiger Meter gen Erde hinab geschwebt und legte seinen blutrünstigsten und unheilvollen Blick auf die Menschenfrau. Der gewaltige Schatten, der auf ihr lag, wuchs weiter, als würde die Sonne in Gänze verschluckt. Sie schien die perfekte Größe zu haben, mit einem Bissen direkt in seinem Rachen zu landen, so schätzte er. Jedoch hielt sie den Kopf weiter gesenkt, sodass sie die todbringenden, gelben Juwelen in seinen Augenhöhlen nicht erblickte, was ihm deutlich missfiel.

    „Hebe deinen Blick, ich will dir dabei in die Augen sehen.“

    Immer näher kam er dem wehrlosen Geschöpf am Boden, das sich noch immer dagegen sträubte, seinem Wort nachzukommen. So war der blaue Drache an ihrer Seite bereits außerhalb seiner Sicht gerückt und tat nun, indem er sich vor der knienden Frau aufbaute, seine Anwesenheit und seinen Einspruch kund.

    „Krou shgva amir? Was soll das? Wagst du es, dich deinem eigenen Vater entgegenzustellen?“

    Keine Antwort erhielt der Gott der Drachen. Starr und fest ruhten die Augen seines Kindes auf den seinen und forderten stumm sein Einhalten.

    „Tritt beiseite, dieser bzacha wird nun sterben, selbst wenn ich an dich Hand anlegen muss.“

    Ganz und gar nicht wollte ihm die Antwort seines Kindes gefallen. Der Rebell nämlich wagte es gar ihm zu drohen, indem er einen Flammenatem aus seinen Nüstern ausstieß und seine messerscharfen Zähne zeigte.

    „Ungehobelter droev. Dich werde ich später Respekt lehren. Doch nun tritt beiseite, bevor ich die Beherrschung verliere!“

    Kaum konnte sich der erzürnte Drachenvater bändigen, so enttäuscht, so wütend war er in diesem Moment. Verraten von seinem eigenen Blute. Genau. Verraten fühlte er sich, hintergangen und gekränkt. Ganz langsam kam er immer näher herabgeschwebt, mit seinen tödlichen Krallen spielend, um zu verdeutlichen, dass seine Worte nicht nur leere gewesen waren. Doch bevor er etwas tun konnte, das er vielleicht einmal bereut hätte, trat die Menschenfrau wieder vor ihn. Sie schlang ihre dünnen Arme um den Hals des blauen Drachen und drückte sich an ihn, als wolle, als könne sie ihn beschützen.

    „Tu das nicht, mein Freund. Niemand hat etwas davon, wenn wir beide leiden müssen.“

    Der riesige Drachen hielt inne. Mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Da stellte sich ein stolzes Wesen zwischen sie und ihren Tod und sie lehnte seinen Schutz ab? Nahm sie ihn etwa nicht ernst oder hatte sie noch etwas vorzubringen, das ihn unter Umständen doch zum Zuhören bewegen würde?

    „Sehnst du dich nach dem Tod, Menschenfrau? Wenn du glaubst, ich würde davor zurückschrecken, dich zu zerfetzen, nur weil sich mein Kind für dich stark macht, dann irrst du.“

    Rasch wandte sie nun ihren Blick wieder zu dem, den sie hierher hatte rufen lassen. Und jener konnte nicht fassen, was er sah. Die Frau,... sie weinte. Schimmernde Tränen rannen über die geröteten Wangen ihres widerwärtigen Gesichts und ein klägliches Schluchzen entkam ihrer Kehle. Was hatte dies zu bedeuten? Versuchte sie nun Mitleid zu erregen? Ihn weich werden zu lassen? Nein. Sie wirkte nicht länger flehend, bestürzt oder ängstlich, sondern... zornig? Gar enttäuscht?

    „Wie in aller Welt kannst du nur einem deiner eigenen Kinder Gewalt androhen? Bedeutet dir deine Rache so viel, dass du dabei jene vergisst, die deine Liebe besitzen?“

    Wie ein Donnerknall entfachten diese Worte eine Welle an Emotionen, die durch den Körper des Himmelsdrachen schossen und gemischter kaum sein könnten. Zum einen war da der Zorn, da die niedere Kreatur es wagte, so respektlos mit ihm zu sprechen, als sei er ein Gleichgesinnter. Zum anderen war da der Zwiespalt zwischen seinen Rachegelüsten und dem Wunsch, sein Volk zu beschützen. Denn er vollführte dieses Blutbad an den Menschen schließlich nur zum Wohle aller Drachen. Es durfte nicht geschehen, dass ein Mensch seinen verdienten Tod fand, aber dennoch ein Drache leiden musste, denn so hätte er sein Ziel und sein Rachezug seinen Sinn verfehlt. Aber das stärkste Gefühl war in diesem Moment die Verwirrung. Konnte dieser Mensch dies tatsächlich ernst gemeint haben? Sträubte sie sich wahrhaftig gegen jede Hilfe seines Kindes? War dies nicht nur eine Lüge, die ihn überzeugen sollte, dass sie doch ein Leben verdient hatte? Eben dies hatte er nämlich angenommen und so wäre sie auch nicht anders gewesen als all die anderen Menschen, die er abgeschlachtet hatte.

    „Ich flehe dich an, lege nicht Hand an deinesgleichen. Nimm mein Leben, wenn es dir danach verlangt, aber vergib meinem Freund seine Torheit“, flehte die Frau mit eindringlicher Stimme. Erneut kniete sie vor ihm nieder, drückte ihr Gesicht in den Staub der Erde und weinte ihren Kummer heraus.

    Es war das erste Mal, dass ein Mensch ihm so begegnete. Diese Frau, sie bat nicht länger um Gnade für sich oder ihr Volk, sondern um das Wohl eines Drachen, obwohl ihr eigenes Ende bereits besiegelt war. Der Himmelsdrache konnte nicht anders – er empfand aufrichtigen Respekt für diese Seele, doch umstimmen ließ er sich davon nicht.

    „Ich muss zugeben, du überraschst mich. Imgraé vios interessante Entwicklung. Du besitzt mehr Würde und Aufrichtigkeit als all deine Vorgänger zusammen.“

    Wienehrlich er diese Worte meinte, mochte man nicht infrage stellen. Denn zum ersten Mal hatte er den feindseligen und herabwürdigenden Ton abgelegt. Allerdings hielt dies nicht lange, denn schon mit seinen nächsten Worten fand er zu seinen blutigen Absichten zurück.

    „Jedoch bist du nur ein einzelner reiner Tropfen in diesem Morast aus Hass und Egoismus. Ich werde die Menschen ausrotten, daran vermagst du nichts zu ändern. Doch ich achte deine Worte und dein Handeln, daher werde ich dir einen xya riát, einen schnellen Tod gewähren.“

    Erneut sank der riesige Drache weiter zur Erde hinab, kam dem Menschenwesen immer näher, das sich seinem Schicksal bereits ergeben hatte. Gierig streckte er eine Klaue nach ihr aus, mit der er ihr Ableben zu bewerkstelligen gedachte. Er zögerte keine Sekunde, sein Entschluss war gefasst und er das Warten leid, sie noch länger atmen zu lassen. Doch er hielt erneut inne, als sich ein weiteres Mal ein blauer Drache in seinen Weg stellte und ihn aufbegehrend anfauchte. Nun ließ sich der Zorn des Legendären nicht länger bändigen. In schier endlosem Entsetzen schrie er zu den Wolken hinauf, sodass sämtliche Lebewesen in mehreren Kilometern Umkreis sofort das Weite suchten. Unverkennbar war es nämlich, dass hier ein Wesen von enormer Macht kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren. Durch Mark und Bein ging diese tosende Stimme und ließ den Körper erbeben. Gar schien selbst der Himmel unter dem Wort seines Meisters zu zittern.

    Aufgeschreckt von dem Gebrüll hob die weinende Frau nun wieder ihr Haupt und hielt sich reflexartig die Ohren zu. Der Schrei war so laut, so unglaublich laut, ihr Kopf schmerzte von der von Qual erfüllten Stimme dieses mächtigen Gottes. Nun erst realisierte sie, dass ihr Gefährte sich ein weiteres Mal zwischen sie und seinen Vater gestellt hatte, was ohne Zweifel der Grund für dessen Ausbruch sein musste. So hatte sie das nie gewollt, das durfte nicht sein. Rasch wollte sie sich erheben und ihren Freund zur Vernunft bringen, doch dieser drückte sie sofort mit einem Bein wieder zu Boden, gerade so stark, dass sie nicht aufstehen konnte, aber auch nicht verletzt wurde.

    „Was tust du da? Hör auf mit diesem Wahnsinn, sonst ereilt dich noch dasselbe Schicksal wie mich!“

    Ihre verzweifelten Worte blieben ungehört. Der blaue Drache stellte sich stur seinem Vater entgegen und rührte sich nicht von der Stelle.

    „Du närrischer Rebell!“, schrie dieser nun mit weit aufgerissenen Augen, deren gelbe Farbe beinahe einem rasenden Rot wichen. Aus den Böen seiner mächtigen Stimme war nun ein Erdbeben geworden. Bröckelige Felsen lösten sich von der stillen Küste und schlugen in der aufgewühlten See auf. Jeder Baum, jeder Stein und jedes Lebewesen zitterte vor Ehrfurcht.

    „Inrante ubnigios kru ventza i nagara. Geh mir sofort aus dem Weg, diese Frau wird nun sterben!“

    Fast war sein Zorn so groß, dass er es tatsächlich in Erwägung zog, auch das Blut seines eigenen Kindes zu vergießen, um sein Vorhaben voranzutreiben – doch eben nur fast. All die Drohungen und all die Rage waren nichts weiter als eine Fassade, mit der er den ungehorsamen Drachen einzuschüchtern versuchte. Doch was er auch tat, es gelang nicht. Was sollte er nun tun? Wie könnte er nur mit der Schande leben, dass sich diese Frau mehr um diesen Drachen gesorgt hatte, als er selbst – sein Vater? Oder die Tatsache, dass jener Drache sogar gegen ihn aufbegehrte, um sie zu schützen? Er wollte es einfach nicht erdulden, dass die Menschen seine Kinder weiter quälten, doch ebenso wenig konnte er dies selbst tun. Sein Herz konnte einfach nicht damit Leben, dass diesem Drachen eine Menschenfrau mehr bedeutete als das Wort seines Vaters. Wie sollte man jemanden dafür bestrafen, dass er jene, die er liebte, verteidigte? Dies war der springende, der ausschlaggebende Punkt – er liebte sie, liebte sein Leben mit ihr, tat alles für sie und das aus freien Stücken. Und die Frau... ihre erste Sorge galt selbst in diesem Augenblick noch immer ihrem Drachengefährten. So etwas hatte er noch nie zuvor erlebt und nie hätte er gedacht, Zeuge etwas derartigem werden zu können.

    Hin und her gerissen von tausend Gedanken starrten die gelben Augen in die Ferne, ohne etwas zu erfassen, während die Schreie der beiden Wesen dort unten auf der Erde über die Klippen hallten. Der Ruf des Drachen nach der ersehnten Besinnung seines Vaters und der Ruf der Menschenfrau, die sich um das Wohl ihres Drachenfreundes fürchtete. In seinem Kopf entstand ein heilloses Durcheinander. Zum ersten Mal zweifelte er daran, dass sein Vorhaben wirklich die einzige Lösung sei. Mehr noch zweifelte er daran, dass es der beste Weg war. Wenn es doch noch Menschen dieses Schlages gab, existierte vielleicht noch Hoffnung, doch auf der anderen Seite hatte er mehr Tod und Leid unter seinesgleichen erlebt, als sein Herz zu verkraften vermochte. Was war nun richtig, was falsch?


    Sein Herz, sein Herz pochte so unglaublich laut und stark gegen seinen Brustkorb, dass jeder einzelne Schlag ihm Schmerzen bereitete. Es war als wolle es aus dem beengenden Körper ausbrechen. Er konnte nicht mehr denken, war blind und taub für die Welt. Da war nur noch sein Herz, dass nach Freiheit verlangte und ihm in seinem Protest endlose Qualen bescherte. Es ließ nicht zu, dass er diesen Schritt tat, dass er diesen fatalen Schlag ausführte. Sein Herz stand ihm bei jeder Entscheidung im Weg.

    Ungehört blieben die andauernden Rufe der beiden Seelen am Boden. In diesem Augenblick gab es für ihn nur noch diese eine Hürde, die er zu seinem Entschluss überwinden musste. Der Legendäre ächzte und stöhnte in seiner Verwirrung, als jegliche Kontrolle über seinen Körper schwand. Und dann plötzlich, seinem eigenen tun nicht gewahr, bemerkte er, wie seine Klaue, mit der er die Frau vor wenigen Augenblicken noch hatte vernichten wollen, an seine Brust wanderte. Dort, genau über der Stelle, an der sein Herz so schmerzvoll hämmerte, hatte sie soeben angesetzt. Entsetzen griff mit rauer Hand nach ihm. Wieso tat er dies? Warum wusste er nicht, wieso er es tat? Das ergab keinen Sinn! Wie konnte er, ein Wesen von solch uralter Macht, nur so verwirrt, verunsichert und in seinem Weltbild erschüttert sein, nur durch einen Menschen? Dieses betäubende Gefühl in ihm. Es wollte nicht aufhören. Er dachte gar nicht mehr nach, war längst nicht mehr fähig dazu. In seinem Kontrollverlust bohrten sich die Klauen durch die grüne Haut tief in den Körper hinein. Und obgleich es seine eigene Handlung war, empfing die so rachsüchtige Bestie den Schmerz unerwartet. Nur ein kurzes Aufstoßen brachte er heraus – zunächst. Schon im nächsten Moment erschallte ein qualvoller, von energischem Widerstand erfüllter Schrei aus seiner Kehle. Das Maul weit aufgerissen wurde der massige Schädel panisch mal auf die eine, mal auf die andere Seite und dann wieder gen Himmel gerissen. Der lange Körper wand sich in der Luft im Einklang zu seiner Qual. Die beiden übrigen Stimmen verklangen, als ihre Besitzer dies sahen und hörten. Der Schock saß tief in ihren Knochen, die Anspannung war greifbar und erneut hallte der bebende Schrei des Himmelsdrachen über die Landschaft. Diesmal jedoch war er nicht geprägt von Zorn und Enttäuschung, sondern von körperlichem Schmerz. Dennoch, er machte weiter. Er spannte die Muskeln in seinem Arm, rang die Folter der Selbstverletzung nieder. Eigenhändig schlitzte er sich den Brustkorb auf.

    Es war nicht in Worte zu fassen, welch ein Anblick sich bot. Haut und Fleisch wurden zerrissen, eine klaffende Wunde zog sich diagonal über dem Herzen des mächtigen Drachen. Rinnsale aus roter Flüssigkeit fielen der Erde entgegen und der Geruch von Blut wurde sofort allgegenwärtig. Und da sah man etwas in seiner Brust. Smaragdgrün war es, wie die Haut seines Besitzers und es schimmerte, wie ein Kristall. Kaum konnte man die Umrisse erkennen, so stark war das Licht, und kaum konnte man den winzigen Einschnitt darin erkennen. Es war sein Herz. Er hatte sich wahrhaftig ins eigene Herz geschnitten.

    Der blaue Drache am Boden schrie nun in Angst und Verzweiflung zu seinem Vater hinauf, nicht mehr rebellisch und ungehorsam. Ehrliche Sorge um einen Geliebten entfesselte sich in einem erschütternden Gebrüll. Was hatte dieser Irrsinn zu bedeuten? Das hatte er sicher nicht erreichen wollen. Die hilflose Frau ließ ihren Widerstand gegen die Last ihres Gefährten ersterben. Sie wollte ihren Augen nicht trauen und die Frage nach dem Sinn dieses Handelns ergriff vollends Besitz von ihrem Verstand.

    Und genau in diesem Augenblick beobachtete sie, wie ein Tropfen grünen Blutes aus dem Herzen des Drachengottes heraustropfte. Wie eine einsame Träne in einem roten Regen fiel sie dem Erdreich entgegen und schimmerte dabei noch immer so stark wie das Herz des Legendären selbst. Alle Augen waren auf die grüne, schillernde Flüssigkeit gerichtet, wie sie sich dem Boden näherte und dann... wie ein fester Klumpen, wie ein Stein darauf aufschlug.

    Einige Sekunden verstrichen, doch niemand konnte die Situation wahrhaftig verstehen. Was hatte diese Tat zu bedeuten und warum lag der Tropfen nun als ein greifbarer Gegenstand zwischen Dreck und Blut? Er war nicht länger flüssig, er war... in Sekunden verhärtet.

    „Hebe ihn auf“, befahl der Drachengott monoton und langsam. Unnötig zu erwähnen, dass dieser Befehl an die Menschenfrau gerichtet war, ließ der blaue Drache von ihr ab, sodass sie sich aufrichten konnte. Nur sehr langsam schritt sie voran, unsicher und nervös waren ihre Bewegungen. Innerlich tadelte sie sich dafür, schließlich könnte das Wesen am Himmel dies als Beleidigung auffassen, da sie ein derart hohes Maß an Misstrauen ausstrahlte, obwohl er ihr zum ersten Mal nicht mit dem Tod drohte. Jedoch geschah nichts. Keine weiteren Worte, keine verärgerte Mimik oder eine andere Boshaftigkeit fand statt. Auch der Tumult um sie herum hatte sich nun in Schweigen verwandelt. Die Bäume wehten nur noch in zarten Brisen sanft hin und her. Das Meer lag so still und friedlich wie eh und je vor den Klippen und glänzte erhaben im Sonnenschein. Es war, als hielte die Welt den Atem an und starrte auf sie herab. Für wenige Momente fühlte sie sich als Mittelpunkt der Erde. Doch so lange sich der Weg auch hinzog, er fand doch sein Ende. Sie ging in die Hocke, um den noch immer grün schimmernden Gegenstand zu betrachten. Er wirkte asymmetrisch, hatte aber eine glatte Oberfläche, als hätte ein geschickter Juwelenschleifer seine Arbeit daran verrichtet. Und genau so sah dieser verhärtete Blutstropfen auch aus – wie ein Juwel. Ein Kristall von unerreichter Schönheit, von lieblicher, grüner Farbe und von sanftem Licht umhüllt. Sein Inneres offenbarte nebelartige Schleier, welche ihm ein mystisches Antlitz verliehen. Es war ein Schatz.

    „Nie traf ich einen Menschen wie dich.“

    Die Worte des Drachenvaters klangen mit einem Mal wie verändert. Ruhig und beseelt war seine Stimme, sanft sein Klang und aufrichtig, wie sie schätzte. Seine Verletzung schien ihm mit einem Mal keinerlei Schmerzen mehr zu bereiten, obgleich er eine Klaue noch immer auf die blutende Wunde drückte.

    „Was du in deinen Händen hältst, ist etwas, das ich noch keinem Wesen zuvor geschenkt habe. Es ist ein Zeichen meines Respekts und zugleich ein Symbol meiner Gnade. Dies ist ein Drachensplitter.“

    Ehrfürchtig hob sich ihr Blick hinauf. Die Augen von dem Drachensplitter, wie er ihr soeben benannt worden war, loszureißen, stellte dabei eine Prüfung dar, die ein unerwartetes Maß an Überwindung forderte. Zu schön war er, als dass man ihn nicht ansehen wollte, zu gut fühlte er sich in den Händen an. Jene Gefühle schien der mächtige Drache augenblicklich bei ihr zu erkennen.

    „Sei gewarnt. Der Drachensplitter verfügt über eine enorme Verführungskraft bei deinesgleichen. Du wirst es vielleicht bereits selbst bemerkt haben, dass er von deinen Grii, deinen Sinnen Besitz ergreift und dich nicht mehr loslässt. Willensschwache Menschen könnten sich in ihm verlieren und somit auch sich selbst“, erklärte er. Wie unter einem Zauber stehend, ruhte der fassungslose Blick der Menschenfrau auf dem Wesen über ihr. Was sie hier erfuhr, würde wohl den Unterschied zwischen Gedeih und Verderb ihres Volkes ausmachen können. Vorausgesetzt...

    „Heißt das, du bist gewillt, uns zu vergeben?“

    „Nein.“

    Die Hoffnung, welche in ihrer Stimme mitgeschwungen war, verpuffte mit dieser einen Silbe in eine wertlose Staubwolke. Jedoch stellte sich die wahre Bedeutung der Absichten des Drachen erst noch heraus.

    „Vergeben werde ich euch nie, dafür ist zu viel geschehen. Aber ich gewähre euch die Ehre, weiterleben zu dürfen. Solange der Drachensplitter in sicheren Händen ist und dein Volk seinem Treiben Einhalt gebietet, werde ich keinen von euch mehr töten.“

    Die Miene der Frau erhellte sich. Ihre Augen begannen dankbar und fast ungläubig zu funkeln. Zwar hatte sie mit all der Kraft ihrer Seele darum gebetet, dass ihr Kommen den rachsüchtigen Gott umstimmen würde, und hatte gleichzeitig nicht gewagt, an Erfolg zu glauben. Doch nun war es tatsächlich geschehen. Die Menschen waren sicher.

    „Bedenke jedoch“, setzte der mächtige Drache nun erneut an und unterbrach die aufstrebende, endlose Erleichterung.

    „Ich habe dir einen Teil meines Herzens überlassen. Sollte ich enttäuscht werden, so werde ich dir deines als erstes herausreißen.“

    Ein kaum merkliches Nicken ging von der überwältigten Frau aus. Zu verstehen war es ohne Frage, dass der Himmelsdrache seinen Hass nicht innerhalb weniger Sekunden einfach begraben konnte. Doch er gab der Menschheit noch eine Chance und die wollte sie um jeden Preis nutzen.

    „So sei es. Ich schwöre dir hiermit, bis zum Tage meines Todes den Drachensplitter zu beschützen. Dein Wille sowie die Nachricht deiner unendlichen Güte und deiner Gnade soll in alle Winde getragen werden. Ich gebe dir mein Wort, dass wir die Drachen nun achten und schützen werden, wie auch ich den Drachensplitter.“

    Es war ein seltener Anblick, der sich in diesem Augenblick bot, doch zum ersten Mal seit Jahrhunderten lächelte der göttliche Drache. Dieser Mensch hatte ihn tatsächlich berührt, tief in seinem Inneren. Zweifellos war diese Frau etwas Besonderes.

    „Crauuf img jaztole iiek. Sprich, wie ist dein Name?“

    „Er lautet Mirjana.“

    Mirjana. Er musste gestehen, der Name klang wundervoll. Für einen Menschen, verstand sich.

    „Doch sag, gibt es auch einen Namen, bei dem ich dich nennen kann, großer Gott der Drachen?“

    Es war fast zu absurd, dass diese beiden Wesen nun miteinander sprachen wie Gleichgestellte, doch aufrichtiger Respekt und Ehre im Herzen vereinten in diesem Moment die Seelen zweier grundverschiedener Wesen und erlaubten eine zuvor undenkbar geglaubte Art der Bindung. Beachtlich, schließlich herrschte vor wenigen Minuten noch der Hass in einem der beiden. So wollte der Legendäre eine solch einfache Bitte auch nicht ausschlagen. Jedoch besaß er, wie Mirjana zuvor schon angemerkt hatte, so etwas wie einen Namen nicht. Rasch kam ihm etwas in den Sinn.

    „Dein Volk nennt mich auch den 'im Himmel Geborenen', so viel ich weiß. In der Sprache der droev heißt dies: Ray qua za.“

    Mirjana neigte ein weiteres Mal das Haupt. Von nun an, sollte ihr Leben den Drachen gewidmet sein, um der Gnade ihres Vaters genüge zu tun. Auf dass sich die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Wochen nie wiederholen mögen.

    „Nun denn, sei dir bitte meines ewigen Dankes gewiss, Rayquaza.“

  • Kapitel 13: Eine Frage der Ehre


    Ein donnernder Knall zerfetzte die Luft, welche augenblicklich von düsteren Rauchschwaden erfüllt wurde. Bäume und Sträucher, welche dem Ursprung der Erschütterung zu nahe waren, mussten um ihre Zweige und Blätter bangen, da diese durch die Druckwelle schlagartig in die entgegengesetzte Richtung zu verwehen drohten. Sämtliche Geschöpfe des Waldes verkrochen sich verängstigt und alarmiert in ihre schützenden Löcher und Höhlen, doch nur wenige brachten den Mut auf, nach der Quelle der Explosion zu sehen. Erst nach einigen Sekunden nahm der aufgekommene Wind ab und der giftige Rauch stob langsam auseinander. Schließlich gab er langsam, aber sicher die schlangenartige Gestalt eines blau und weiß geschuppten Drachen Preis. Ihm gegenüber stand ein Wolf mit buschigem, grauem Fell, der bedrohlich knurrte und sein tödliches Gebiss zeigte.

    „Für den Anfang nicht schlecht, aber du musst noch schneller werden.“

    Andrew machte ein paar Schritte auf seine beiden Pokémon zu, wobei er allerdings ausschließlich mit Dragonir sprach.

    „Du musst deinen Körper in jeder Situation für einen Abwehrschlag bereithalten, wenn du Angriffe mit Eisenschweif abblockst. Du lässt dich überrumpeln und schlägst deinen Schweif wild hin und her. Versuche, fließende Bewegungen zu machen, dann bist du schneller und es ist weniger kräftezehrend. Wenn Magnayen seine Spukbälle mit vollem Tempo abfeuern würde, hättest du so keine Chance.“

    Die Drachenschlange nahm jedes Wort ihres Trainers aufmerksam auf und nickte verständlich, als dieser geendet hatte.

    „Okay, dann nochmal von vorne“, befahl er und entfernte sich wieder etwas.

    Ryan beobachtete das Training seines besten Freundes, welches bereits eine ganze Weile andauerte, nur halbherzig. Er hatte sich an den Stamm eines Baumes gelehnt und studierte mit seinem Pokégear ausgiebig die Routen im Westen von Hoenn. Dafür, dass er nach der Aufregung des vergangenen Tages noch daran gedacht hatte, Professor Birk nach einem Kartendownload zu fragen, hatte er es sich nicht nehmen lassen, sich selbst auf die Schulter zu klopfen. Dieses Gebiet war mit Abstand am dichtesten besiedelt und bot eine große Auswahl an Arenen. Doch bevor Ryan selbst in einer von ihnen antreten konnte, würde er noch mindestens ein Pokémon für sein Team gewinnen müssen. Panzaeron hatte er nach ihrem erst kurz zurückliegenden Aufenthalt in Wurzelheim wie geplant nach Hause geschickt. Der Notwendigen Teleporter hatte sich bei Birk im Hause gefunden und er hatte ihn selbstverständlich ohne Weiteres benutzen dürfen. Nach seiner überwundenen Verletzungsphase hatte der junge Trainer ihm viel zu viel zugemutet. Es hatte die ruhige Zeit sicher mehr als nötig, um wieder zu voller Gesundheit und Stärke zu gelangen. Das vorangegangene Telefonat mit seiner Mutter war linde gesagt verdammt unangenehm gewesen, doch auch, wenn er sie nicht anlügen konnte, hatte er es doch geschafft, nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. So hatte er die Waffe, die auf ihn gerichtet worden war, sowie das Inferno im Wald einfach unerwähnt gelassen. Ryan war wirklich dankbar, dass seine Mom zwar zu der sentimentalen, aber nicht überfürsorglichen Sorte Frauen gehörte. Eine solche wäre wohl eigens nach Hoenn und wieder zurück geschwommen, um ihn heim zu holen.

    Von Professor Birk hatte Ryan sich nicht schnell genug verabschieden können, da ihn ein stechendes Schuldgefühl plagte, seit er diesen grünen Orb aus der Basis gestohlen hatte. Was er sich dabei gedacht hatte, wusste er auch bis jetzt nicht zu beantworten. Sein Verstand war von einer ihm unbekannten Kraft ausgeschaltet worden und sein Körper hatte eigens gehandelt. Es war ein Fehler gewesen. Sogar ein gigantischer Fehler, doch seine Tat hinterher zu gestehen, war für ihn keine Option gewesen. Den Grund dafür kannte er aber ebenfalls nicht.

    Resignierend seufzte er und streichelte geistesabwesend den Rücken Hydropis, welches neben seinem Trainer saß und angespannt die Übungen von Andrews Pokémon beobachtete. Die Sonne strahlte als kleine, aber unglaublich starke Lichtquelle durch das Blätterdach hindurch und stach Ryan in die Augen. Er verfluchte sie und ihr Licht, da es ihn immer wieder mal zwang, seine geblendeten Augen zusammen zu kneifen, was jedes Mal das Abspielen seines Diebstahls vor seinem inneren Auge mit sich führte. Wie hatte er den Mut für ein solches Wagnis aufgebracht, war aber anschließend zu feige gewesen, dafür geradezustehen? Er verstand sich selbst nicht mehr.

    Er dankte Andrews trainierenden Pokémon innerlich, als sie seine Aufmerksamkeit erregten und somit von seinen quälenden Gedanken ablenkten. Weitere Explosionen erschütterten das Grün in der nahen Umgebung, als Magnayen eine ganze Salve seiner Spukbälle auf seinen Trainingspartner abgefeuert hatte. Diesem war es nicht gelungen, alle Geschosse mit Eisenschweif abzuwehren, weshalb es nun schmerzhaft aufheulend hinweggeschleudert wurde und am Stumpf eines riesenhaften Baumes zum Erliegen kam. Weder Ryan noch Andrew verzogen auch nur eine Miene, beobachteten sie Szene nüchtern und ruhig. Lediglich eine Hand Andrews griff in den Nacken und massierte skeptisch die Halswirbel. Die beiden waren sicher nicht kalt oder erbarmungslos, doch solche Dinge gehörten zum Training nun einmal dazu. Dass Andrew nicht die Geduld hatte aufbringen können, um nach einer größeren und somit geeigneteren Lichtung für Dragonirs Trainingseinheit zu suchen, stellte eigentlich einen eher unnötigen Umstand dar, da die Bäume nur im Weg waren und in diesem Fall zu einem schmerzhaften Hindernis für den Drachen wurden.

    Der junge Trainer wanderte gemächlichen Schrittes zu seinem angeschlagenen Pokémon hinüber und ging vor ihm in die Hocke. Dieses schaute aus seinen treuen, unschuldigen Augen auf und erwartete tadelnde Worte, vielleicht sogar Beschimpfungen. Doch legte er lediglich seine Hand beruhigend auf die Stirn Dragonirs.

    „Ich denke, heute bringt es nichts, noch weiter zu trainieren. Das war noch nicht das Gelbe vom Ei, aber wenn wir dranbleiben, wird das schon werden.“

    Magnayen erschien bei seinem Kameraden und stupste ihn aufmunternd mit seiner Schnauze an. Dieser begann nun wieder zu lächeln, wenn auch bescheiden. Ja, dieses Training konnte man nicht wirklich als nennenswerten Erfolg betiteln, aber es klappte eben nicht jeden Tag alles und es war auch noch kein Meister vom Himmel gefallen. Dragonir war erst seit kurzem ein Mitglied seines Teams und würde das Kämpfen erst noch erlernen müssen. Dies erledigte sich nicht von heute auf morgen. Der Lernprozess für die hohe Kunst des Kampfes war schon immer ein langwieriger gewesen, der fast vergeblich nach Perfektion suchte. Doch eine gute Einstellung brachte es allemal mit, war es doch voller Energie und Elan an die Sache herangegangen und eine solide Basis an Wendigkeit und Kraft konnte man ihm ebenfalls nicht absprechen. Als erstes musste es jedoch schneller werden und ein schärferes Gespür für den Takt des Kampfes entwickeln. Heute jedoch sicher nicht mehr. Vorerst war es erschöpft und angeschlagen, was man Dragonir nach diesem Training auch nicht wirklich ankreiden konnte. So verfrachtete Andrew den geschlagenen Drachen in seinen Pokéball und begab sich zu Ryan, der nun wieder konzentriert seinen Pokégear anstarrte.

    „Wie sieht´s aus, Meister?“

    Ryan hatte bereits angekündigt, zunächst die Karten zu studieren, ehe er selbst eine Trainingseinheit startete. Außerdem würde er Andrew als Sparringpartner brauchen, weshalb er ihm mit seinen eigenen Pokémon den Vortritt gelassen hatte

    „Ich denke ich hab ´ne ordentliche Route für uns zusammen bekommen.“

    Dass sie bereits in nordwestliche Richtung losgezogen waren, noch bevor sie die erste Arena ausgesucht hatten, in der sie antreten wollten, war auf die Lage der Städte zurückzuführen. Ryan hatte nämlich darauf bestanden, zunächst einmal den Reiseführer, welche auch einige Infos über die regionalen Arenen bereithielt, zu studieren, aber dennoch diese Richtung einzuschlagen, da die meisten, in Frage kommenden Arenen nur über diesen Weg erreichbar waren.

    „Am nächsten läge ja Blütenburg City, aber ich glaube das mit dem Orden dort können wir uns erstmal abschminken“, erklärte Ryan zwar zu Ungenüge, was aber dennoch mit einem Nicken befürwortet wurde. Wohl wusste Andrew schon, dass Norman, der Leiter von Blütenburg, als einer der stärksten der Region galt und sogar ein Kandidat für die Top Vier Hoenns war. Somit hätte ein Besuch zu diesem Zeitpunkt für Ryan wenig Sinn und auch Andrew wollte seine Pokémon noch etwas weiterbringen. Fast alle seiner stärksten befanden derzeit in der Pension. Mit Psiana würde er das Ding zwar schon schaukeln, aber wenn er immer nur auf seine Prinzessin zurückgriff, würden die anderen nie den nächsten Schritt machen. Wo käme er denn hin, wenn er stets nur mit einem Pokémon kämpfte, sobald er mal wirklich gefordert war?

    Selbst wenn sie beide zum gegenwärtigen Zeitpunkt stark genug wären, hätten sie wohl eher die östliche Richtung und damit die Hauptstadt Graphitport gewählt. Dort würde nämlich in ein paar Wochen ein weltweit anerkanntes Turnier eröffnet werden. Doch die Option schied in erster Linie wegen Ryans aktuellem Pokémonkader aus. So blieben noch Metarost City, was noch eine Ecke weiter im Norden lag, und Faustauhafen, eine Insel vor der Westküste.

    „Aber wir sollten trotzdem dorthin. Die Stadt liegt in Küstennähe und es gibt dort eine Anlegestation für die Fähre nach Faustauhafen.“

    Ryan reichte seinem die aufgerufene Karte auf seinem Pokégear weiter, auf welcher bereits der Weg von ihrem jetzigen Standort zu besagter Stadt angegeben war.

    „Soll eine recht anspruchsvolle Kampfpokémon Arena sein, für den Anfang versteht sich. Wenn wir dort fertig sind, nehmen wir Kurs auf Metarost City. Danach können wir in südwestlicher Richtung mehrere Arenen der Reihe nach abgrasen. Auch Blütenburg.“

    Der Weg war sinnvoll und zeiteffizient gewählt, doch keimte eine Frage in Andrew auf.

    „Wäre es mit Hydropi nicht cleverer als erstes nach Metarost zu gehen? Du weißt schon, dass die Leiterin dort wortwörtlich auf Stein baut, oder?“

    Sein zweifelnder Blick war ohne Frage ein Appell an Ryans Vorbereitung und sollte eine versteckte, stichelnde Provokation darstellen. Dieser riss die elektronische Karte wieder an sich und presste genervt die Lippen zusammen.

    „Klar weiß ich das, ich kann ja lesen. Aber wie viel Sinn macht es von Metarost nach Faustauhafen und dann wieder zurück zu fahren? Wäre doch schwachsinnig. Außerdem soll es auf dieser Insel einige gute Fanggründe für Pokémon geben.“

    Die Reaktion war sehr zufriedenstellend. Aber er ließ Ryan rasch vom Haken und die Albernheiten sein.

    „Klingt nach ´nem Grund. Heißt wohl so oder so schon wieder viel Meer und wenig Land.“

    Womit dieses Thema geklärt wäre. Faustauhafen sollte es also sein. Gegenüber Kampfpokémon besaß Hydropi weder Vor- noch Nachteile, aber so oder so waren noch einige Trainingsstunden fällig, bevor es sich einem Arenakampf stellen konnte – und zwar genau jetzt.


    Kurzerhand hatten sich Andrew und Psiana ihre Hilfe zur Verfügung gestellt. Die beiden Trainer teilten die Ansicht, dass es vergeudete Zeit war, wenn man zu vorsichtig war und ein Pokémon zu langsam an das Kämpfen heranführte, sprich seine Attacken nur an leblosen Objekten in der Natur ausprobierte. In einem richtigen Kampf waren die Gegner in Bewegung, schlugen zurück und ergriffen – sofern man sie ließ – auch selbst die Initiative. Vor allem Ryan setzte ein gewisses Engagement sowie eine solide Grundbasis in kämpferischen Fähigkeiten stets voraus, wenn er ein neues Pokémon zum ersten Mal trainierte. Hydropi die Bäume mit seinen Attacken beschießen zu lassen, das wäre nichts, was er als Kampfsimulation einstufen würde. In einem richtigen Match würde das Wasserpokémon am besten lernen, davon war er überzeugt.

    Psiana saß unschuldig und unbekümmert in einigen Metern Abstand zu Hydropi, welches aufgeregt und voller Tatendrang wirkte.

    „Sei ein bisschen nachsichtig Das ist Hydropis erstes Training“, stellte Ryan nochmals klar, wofür Andrew sich mit einem Nicken einverstanden erklärte.

    „Dann zeig mal, was du kannst. Benutze Aquaknarre“, befahl Ryan seinen neuesten Pokémon. Sein Tonfall war ruhig und konzentriert, sein Blick prüfend und erwartungsvoll. Dass er ein Pokémon bei sich aufgenommen hatte, über dessen Stärke er sich nicht ganz im Klaren war, barg durchaus seine Risiken. Sollte sich Hydropi als Fehlgriff erweisen, wäre das sehr frustrierend, da es zurzeit seinen einzigen Kämpfer darstellte. Doch gegen den Agenten Team Rocket hatte es nicht gerade wie ein Schwächling gewirkt. Er war sich sicher, dass mit Hydropi etwas anzufangen war.

    Jenes Wesen öffnete in erregter Kampferwartung sein Maul und feuerte eine kalte Wasserfontäne in Richtung Psiana. Die Kraft der Attacke ließ sich erst wirklich einschätzen, wenn sich ihre Auswirkungen auf den Gegner zeigten, weshalb Ryan diesen Moment genau einzufangen versuchte, um einen möglichst präzisen Eindruck zu erhalten.

    Andrew jedoch reagierte mit Lichtschild – einem gelblichen Energieschild in Form eines Würfels, der die Psychokatze einschloss. Durch diese Schutzattacke würde die Aquaknarre nur die Hälfte des normalen Schadens verursachen, doch eine kleine Auswirkung sollte die kalte Dusche auf das Ziel haben. Zumindest war Ryan davon ausgegangen, doch blieb Psiana völlig unbeeindruckt an Ort und Stelle, während Hydropis Angriff an dem Lichtschild abprallte. Als schließlich beide Attacken eingestellt wurden, hockte Psiana wie eine völlig unschuldige Katzenseele auf dem Waldboden, beäugte das Wasserpokémon mit niedlichen Augen, legte dabei den Kopf schief. Es machte gar den Eindruck, überhaupt nicht an einem Kampf interessiert zu sein, doch Ryan wusste nur zu gut, dass dies eine heimtückische Fassade war. Dieses Psychopokémon war milde gesagt eine Wucht, wenn es in Fahrt kam, nur seine Verteidigung war eher schwach. Genau deswegen verteidigte sie sich oft mit verschiedenen Schilden oder entkam dem Gegner mit Teleport. Es würde nicht leicht werden, ihr einen nennenswerten Treffer beizubringen. Zunächst musste Hydropi mehr Kraft in seine Aquaknarre legen. Sonst konnte sie Psiana den ganzen Tag beschießen, ohne die geringste Wirkung zu erzielen.

    „Nicht gut genug. Versuch es nochmal und gib diesmal alles.“

    Gehorsam nickte das kleine Wasserpokémon und wiederholte den Angriff. Ryans Blick war binnen der letzten Sekunden von optimistisch zu skeptisch gewechselt. Hydropi hatte doch beim Kampf gegen Team Rocket gezeigt, dass es Talent besaß. Hoffentlich kam es noch in den Rhythmus.

    Andrews Blick ließ sich erheblich schwieriger deuten. Es war nicht mit Sicherheit zu sagen, was in ihm vorging und was er von der Situation hielt, doch es war zu befürchten, dass er den gleichen Gedanken hatte, wie sein Reisegefährte. So entschied er sich, der Aquaknarre diesmal anders entgegenzuwirken.

    „Psystrahl dagegen, aber nicht zu grob.“

    Zum ersten Mal seit dem Beginn des Kampfes erhob sich Psiana auf alle vier Pfoten und ließ ihr Stirnamulett in schillernden Farben erstrahlen, um einen gleißenden Lichtstrahl zu entfachen. Er war allerdings deutlich schmaler und schwächer als noch beim Kampf gegen Team Rocket. Die Attacken der Kontrahenten kollidierten auf halbem Weg miteinander. Psiana legte gerade Mal halbe Kraft in ihren Psystrahl, doch das Kräfteverhältnis war absolut ungleich. Die Wasserfontäne kam nicht ansatzweise dagegen an. Er schnitt durch den Wasserstrahl hindurch wie ein Pfeil und traf das ungeschützte Hydropi. Ein stechender, zwickender Schmerz breitete sich in dessen gesamten Körper aus, während es von den grellen Lichtstrahlen erfasst und einen Meter zurückgeschleudert wurde. Ein sanfter Staubschleier wurde aufgewirbelt, als das blaue Wesen in den Dreck fiel. Unverzüglich forderte es seine Muskeln auf, den Körper wieder anzuheben, seinen Besitzer wieder in den Kampf zu tragen. Dies gelang erst nach einigen Sekunden und nur unter höchster Anstrengung. Hydropis Glieder zitterten bereits stark und es wankte beträchtlich.

    Ryan verstand die Welt nicht mehr. Was war da los? Warum machte Hydropi schon beinahe schlapp? Von solch einem Psystrahl konnte es sich doch nicht allen Ernstes so großen Schaden davongetragen haben.

    Andrew unterdessen wollte den Trainingskampf fortführen, denn das war schließlich genau das, worum Ryan ihn gebeten hatte. Ein richtiger Kampf, nur eben nicht mit der vollen Kraft von Psianas Attacken, sollte dem kleinen Amphibium ein Gefühl dafür geben. Sollte das Training nicht nach seinen Wünschen verlaufen und Hydropi irgendwann am Rande der Erschöpfung stehen, so würde es nur eine Erfahrung machen, die sich nicht umgehen ließ und die man nicht früh genug machen konnte.

    ,,Mach mit Sternenschauer weiter", befahl er Psiana. Fast gleichgültig und gelangweilt öffnete die Psychokatze ihr Maul. Es war nur ein winziges, goldfarbenes Glitzern, das darin aufflackerte, doch sammelten es sich vor den Schnurrharen zu glänzenden, scharfkantigen Sternengeschossen. Wie hundert Sternschnuppen segelten sie durch die Luft, blendeten leicht ob der Einwirkung der Sonnenstrahlen auf sie. Es war ein schöner Anblick zweifellos, doch für Hydropi würde es schmerzhaft enden, wenn Ryan nichts unternahm. Mit einer eigenen Attacke zu kontern, war also sinnlos. Dafür war Kräfteunterschied zu groß und somit musste er sich auch komplett umstellen, da sein typischer Kampfstiel somit zunichte gemacht wurde. Daher gab er einen Befehl, den er nur selten einem seiner Kämpfer erteilte.

    ,,Weich nach rechts aus. Bleib tief am Boden", rief er in der Hoffnung, dass Hydropi wenigstens etwas Schnelligkeit vorweisen konnte. Außerdem sollte es für Bewegungen in tiefer Position ausgezeichnet veranlagt sein und unter dem Sternenschauer hindurchschlüpfen können. Vielleicht könnte er dann mithilfe eines Überraschungsangriffs einen Treffer landen, der die Moral des kleinen Wasserpokémons sicher stärken würde. Und er würde beobachten können, wie schnell Hydropi von Defensive auf Offensive umzuschalten vermochte. Dies war ebenfalls ein wichtiger Teil seines Kampfstils.

    Die Ernüchterung traf ihn noch härter als die glänzenden Sternengeschosse Hydropi trafen. Es war noch nicht einmal in die tiefe Haltung gekommen, da traf der erste Stern bereits direkt in sein Gesicht. Ein weiterer folgte in die Seite, bis das Wasserpokémon den Schmerz schließlich am ganzen Körper spürte. Das traf fast alles sein Ziel. Es vermochte keinen Aufprall mehr als einzelnen wahrzunehmen. Einfach alles tat nun weh und es gab keinen Ausweg.

    Doch gerade, als sich das blaue Geschöpf zusammenkauerte, um den wohl nie enden wollenden Strom der Qual über sich ergehen zu lassen, brach der Angriff Psianas ab. Es flogen keine Sterne mehr und auch setzte es zu keiner weiteren Attacke an. Der Schmerz war deshalb aber noch lange nicht verebbt. Einfach alles fühlte sich taub an und sein gesamter Körper verkrampfte sich, gepeinigt von dem Hagel aus glitzernden Geschossen. Doch es wollte mutig sein, wollte seinen neuen Trainer auf keinen Fall enttäuschen. Er sollte doch stolz sein, sollte sich mit Fug und Recht als glücklichen Menschen bezeichnen können, da er es nun an seiner Seite hatte. Die kurzen Beinchen stemmten sich in die Erde, sollten das Gewicht noch einmal in die Höhe hieven, doch es brach auch nach mehreren Versuchen immer wieder zusammen.

    Auf Ryan wirkte dieser traurige Anblick – anders konnte man dieses Bild nicht betiteln – seines getroffenen Pokémons, welches mit zitternden Muskeln versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, absolut niederschmetternd. Wie konnte das sein? Psiana hatte es definitiv nicht übertrieben und die Entschlossenheit Hydropis hatte zuvor keine Zweifel aufkeimen lassen, dass es seine Stärke unter Beweis stellen wollte. Doch nun sah der entrüstete Trainer das hier – ein Pokémon, dass nach nicht einmal fünf Minuten des Trainings bereits an seine Grenzen stieß, obwohl es nur wenige Treffer hatte einstecken müssen. Zwar bewies es Moral und Ehrgeiz, da es sich auf die Beine zu kämpfen versuchte, doch weder Angriffskraft noch Schnelligkeit waren dadurch wettzumachen. Das war völlig inakzeptabel!

    Strammen Schrittes marschierte er zu dem kleinen, blauen Wesen auf dem Boden. Es brauchte gerade all seine Beherrschung. Jedes seiner anderen Pokémon hätte sich nun ordentlich was anhören können. Ryan schrie nur äußerst selten während oder nach den Trainings und wurde niemals ausfallend. Er ließ sie dennoch sehr deutlich wissen, wenn ihre Leistung oder ihre Einstellung ungenügend war. Da das Wasserpokémon noch vergleichsweise jung und zudem neu in seinem Team war, beschloss Ryan, sich etwas mehr in Geduld zu üben. Es sollte nicht beim ersten Mal schon eine Standpauke abbekommen. Erfahrungsgemäß wusste er aber, dass er sich nicht sehr lange zu solch einer Ruhe überwinden konnte. Auf die Weise würde es Hydropi nicht weit bringen. Keinen Meter, um genau zu sein. Nicht bei den hohen Ansprüchen des Blonden.

    „Wir haben wohl eine Menge Arbeit vor uns.“

    Das geschundene Wesen blickte auf, sah direkt in die Augen seines Trainers. Sein Gesicht lag in Falten der Sorge, der Nachdenklichkeit und sein Schnauben zeugte von der großen Ernüchterung, die er soeben erfahren hatte. Dies war definitiv nicht das, was er sich von Hydropis Können versprochen hatte. Fragte sich nur, wie auf einen solch eindrucksvollen Kampf, wie es ihn gegen Team Rocket noch gezeigt hatte, ein derartiges Desaster folgen konnte? War es zuletzt vielleicht das Adrenalin gewesen, das es zu seinen Leistungen angetrieben hatte? Hatte vielleicht Glück eine Rolle gespielt?

    „Für gewöhnlich ist es der Trainer, der das Training beendet“, erläuterte Ryan mahnend, wobei deutlich zu spüren war, wie er sich zur Ruhe zwingen musste. Es folgte eine kurze Pause, damit Hydropi die Worte verinnerlichen konnte, denn ein zweites Mal würde Ryan das was er jetzt tat nicht in Erwägung ziehen.

    „Wir lassen es für heute gut sein. Und bis zum nächsten Mal muss dir klar werden, dass du aus der Kinderstube raus bist.“

    Mit einem abschließenden Seufzen hob er den Pokéball, der das vernichtend geschlagene Pokémon mit einem roten Lichtstrahl erfasste und in das Gehäuse sog. Ryan hatte die Lust nach dem Training innerhalb weniger Minuten verloren und würde er erst einmal einen Trainingsplan für Hydropi ausarbeiten müssen, wenn Andrews Kämpfer als Sparringpartner zu stark waren. Frustriert rieb sich der jüngere Trainer die Augenlider. Das war es wohl, was man einen fliegenden Start nannte.


    Andrew ließ die Szene unkommentiert und reagierte auch nicht auf den dezenten Hinweis Psianas, dass es gerne gestreichelt werden wollte. Sich nun mit Ryan zu unterhalten oder nur zu versuchen ihn aufzumuntern, wenn dieser so schlechte Laune hatte, brachte keinerlei Vorteile mit sich. Eher war es in dieser Situation angebracht, das Thema zu wechseln, seine Gedanken von der Enttäuschung abzulenken.

    Langsam machte er einige Schritte auf Ryan zu und nuschelte vorsichtig einige Worte herunter.

    „Also nach Blütenburg?“

    Ryan beantwortete die Frage nur mit einem Nicken, wobei er ihm noch den Rücken gekehrt hatte. Nach diesem Dämpfer

    „Tolle Vorstellung, richtig begeisternd.“

    Beide Blicke schwankten zeitgleich in die Richtung, aus der diese höhnischen Worte gekommen waren. Ryan schwor sich, sollte er durch einen unglaublichen Zufall Johnny und seinen dickwanstigen Kumpanen Kev erblicken, würde er ihnen die Fresse polieren. Dies war natürlich nicht der Fall, doch der junge Mann, der sich nun zeigte, machte das Ganze weder besser, noch hätte Ryan jemals erwartet, ihn hier anzutreffen. Er war gut ein oder zwei Jahre älter als er selbst und um ein paar Zentimeter größer. Eintönige Kleidung bestimmte sein Äußeres, welche aus einer langärmligen Weste in betongrau und dunklen Jeans bestand. Die rechte Hälfte seines Oberteils war von diagonal verlaufenden, düsterblauen Linienmustern gezeichnet und auf das linke Hosenbein waren mehrere weiße Abdrücke von Pokébällen genäht worden. Besonders auffällig an diesem jungen Mann war sein blassrotes Haar, welches nur ein klein wenig kürzer war als das von Andrew. Um sein rechtes Handgelenk lagen drei graue Metallringe, die schon bei der kleinsten Bewegung ein leises Klackern ertönen ließen. Sein Gesicht zeigte einerseits Belustigung, doch war sein Tonfall gerade eben von unglaublicher Geringschätzung geprägt gewesen.

    Abermillionen von Menschen trieben sich auf der verfluchten Insel mit dem Namen Hoenn herum und ausgerechnet ihn musste Ryan zu diesem unpassenden Zeitpunkt treffen. Wieso liefen eigentlich jene Menschen, denen man am wenigsten begegnen wollte, einem immer am häufigsten über den Weg?

    „Wer zum Geier bist du denn?“, fragte Andrew mit einer Spur von Abfälligkeit. Der Neuankömmling wirkte auf ihn echt unsympathisch. Wie könnte es auch anders sein, bei solch liebevollen ersten Worten? Selbst Psiana zeigte ihm die kalte Schulter und offenkundige Abneigung.

    „Die Welt ist klein, nicht wahr Ryan?“, sprach er ruhig, ohne auf die Frage nach seiner Person zu antworten, während er nun einige Schritte auf die beiden Johtonesen zuging. Begleitet wurde er von den Klängen der Metallringe an seinem Handgelenk.

    „Die Welt ist ein verdammtes Dorf. Wie soll man deine Visage denn vergessen, wenn sie einem ständig über´n Weg läuft?“

    Dass Ryan ebenfalls keine positiven Gefühle für den Rotschopf hegte, war geradezu lächerlich offensichtlich. Sein Tonfall war giftig, abweisend, feindselig. Andrew sah hektisch zwischen ihnen hin und her. Handelte es sich hier um einen Rivalen von Ryan?

    „Ich hatte mich in den letzten Tagen oft gefragt, was wohl aus dir geworden ist“, setzte der Fremde an. Der Blonde trat diesem nun ebenfalls einige Schritte entgegen, sodass sie kaum mehr ein Meter Entfernung zwischen ihnen lag.

    „Und nun muss ich sehen, dass dich deine Niederlage wohl in eine Krise gestürzt hat. So einen peinlichen Auftritt hätte man früher nicht von dir bestaunen können.“

    „Hör mir mal gut zu“, holte Ryan nun aus, wobei seine Stimme bald die Beherrschung zu verlieren schien. Es war Ryan eigentlich zuwider, zu glauben, dass das hier gerade wirklich passierte, doch er träumte definitiv nicht. Vor ihm stand sein so verhasster Erzrivale.

    „Ich weiß, du bist nicht gut darin, aber versuch dich zur Abwechslung mal aus meinen Angelegenheiten rauszuhalten. Ich hab grade echt beschissene Laune und hätte nicht übel Lust, mich an dir abzureagieren.“

    Wie ernst diese Drohung gemeint war, konnte der Rotschopf natürlich nicht wissen, doch zweifelte Ryan ernsthaft daran, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Das überhebliche Grinsen seines Gegenüber war die reinste Provokation und versetzte ihn in Rage. Die Situation floss über vor dicker Luft und wurde von einem bereits bedrohlich nahem Aggressionsgefühl begleitet, das eigentlich nur in einem Kampf enden konnte. Doch wie sollte dieser aussehen? Schließlich besaß Ryan gerade kein kampffähiges Pokémon bei sich.

    Bevor jedoch weitere Worte gesprochen werden konnten – und sei es von den Fäusten – schaltete sich Andrew ein.

    „Okay, tretet jetzt alle mal auf die Bremse.“

    Mit einer Hand ergriff er die Schulter Ryans und zog diesen einige Schritte zurück, mit der anderen bedeutete er dem anderen, dort zu bleiben, wo er gerade stand.

    „Kannst du mir erst mal erklären, wer dieser Vogel ist?“

    „Jetzt verletzt du mich. Wie kann man mich dieser Tage noch kennen? Aber mach nur Ryan, stell mich deinem Freund vor“, trällerte der Fremde höhnisch. Eigentlich hatte Ryan erwartet, dass Andrew den ominösen Neuankömmling längst erkannt hatte, doch wenn dem nicht so war, musste er seinem Gedächtnis eben auf die Sprünge helfen. Seine Schulter zunächst von dessen Griff befreiend tat Ryan widerwillig, worum er gebeten wurde.

    „Terry Fuller, arroganter Schnösel und Mistkerl ersten Grades“, erklärte er mit einem angewiderten Nicken in dessen Richtung. Bei dem Namen klingelte es tatsächlich in Andrews Gedächtnis. Ungläubig musterte er den jungen Mann vor sich und wägte ab, ob er das wirklich sein konnte. Und nun, da er zum ersten Mal seine volle Aufmerksamkeit genoss, erlangte Andrew schnell Gewissheit. Ryan beendete die Vorstellung dennoch, obgleich die folgenden Worte bitter wie Schwefelsäure schmeckten.

    „Gegen ihn hab ich bei der Silberkonferenz verloren.“


    Innerlich stöhnte Andrew fassungslos auf. Dass ausgerechnet jetzt der aktuelle Champion von Johto hier aufkreuzen musste, trug nicht gerade zu Verbesserung der momentanen Stimmungslage bei. Er kannte Ryan gut genug, um zu wissen, welchen Effekt dies auf ihn hatte und wie gerne er diesem Terry nun ein Rematch abringen würde. Doch das war in seiner derzeitigen Situation ein Ding der Unmöglichkeit. Nebenbei kannte er diesen Terry Fuller zwar nicht persönlich, hatte aber im vergangenen Jahr so einiges über ihn gehört. Das Meiste von Ryan und verflucht, der konnte ihn auf den Tod nicht ausstehen.

    „Ich hätte ja nicht gedacht, dass du daran so zerbrichst. Aber jemandem, der seine Pokémon aus einem Siegeswahn heraus trainiert, ist das eigentlich zuzutrauen.“

    Die Worte waren wie giftige Nadeln, die sich langsam in Ryans Fleisch und seinen Stolz bohrten. Was Terry ihm über die Monate, die sie sich nun kannten, hinweg unterstellte, nahm er seither sehr persönlich und er wollte es sich nicht länger anhören. Hier in Hoenn sollte doch ursprünglich alles anders werden und nun drohte dieser Plan wegen einem aufgeblasen Klugscheißer zu zerplatzen, den er einfach nicht los wurde.

    „Behalt deine beschissene Meinung verdammt nochmal für dich!“, fuhr Ryan seinen Erzrivalen nun harsch an. Er kam wieder einige Schritte auf ihn zu und deutete mit einem wütenden Zeigefinger in seine Richtung.

    „Ich glaub´s ja nicht, Mann. Redest noch immer denselben Mist vom Himmel, wie in Johto.“

    „Weil du noch immer derselbe Drecksack bist, wie in Johto“, entgegnete Terry nun seinerseits mit erhöhter Lautstärke und äußerst scharfem Vorwurf in seiner Stimme.

    „Du sieht doch immer nur, was du sehen willst. Und dafür, dass ich meine Pokémon stark machen will, muss ich mich vor niemandem rechtfertigen. Erst recht nicht von so einem Arsch wie dir!“

    Die letzten Worte hatte er nur noch zischend zwischen den Zähnen hervorgestoßen, doch Terry hatte sie zweifellos vernommen. Außerdem schienen sie ein Ende seiner höhnischen und selbstsicheren Haltung bewirkt zu haben, sodass ebenfalls ein zorniger Ton von seiner Stimme Besitz ergriff.

    „Weißt du eigentlich, dass es mir mit dir bis hier oben steht? Du benimmst dich wie der letzte Penner und machst jeden dumm an, der sich darüber äußert“, entgegnete er der Beleidigung und machte ebenfalls einen Schritt auf seinen ungeliebten Gegenstreiter zu.

    „Nein, ich mach nur dich dumm an, weil du regelrecht drum bettelst. Und glaub nicht, dass du hier den Tugendhaften spielen müsstest. Du weißt überhaupt nichts von mir!“

    Manchmal würde er wirklich gerne verstehen, was Terry in ihm zu erkennen glaubte. Als ihre Bekanntschaft noch jung gewesen war, hatte er ihn oft danach gefragt, doch mittlerweile gab er keinen Heller mehr darauf.

    „Das denkst du vielleicht, aber ich weiß genau, was für ein Mensch du bist und ehrlich gesagt hat der mir schon damals in Viola nicht gefallen.“

    „Kleiner Vorschlag: Geh mir doch einfach aus dem Weg. Warum suchst du immer Stress mit mir? Warum kannst du dich nicht einfach um deinen eigenen Scheiß kümmern?“

    Der Streit der Rivalen war nun endgültig in vollem Gange. Fast stießen die vor Zorn kochenden Gesichter der beiden Trainer aneinander und man konnte jedem von ihnen ansehen, wie sehr sie ihre geballten Fäuste im Zaum halten mussten. Fast schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis eine von ihnen auf dem Kinn des Gegenübers landen sollte.

    „Ich fange den Streit an? Wer von uns beiden geht denn immer als erster los, wie eine Bombe?“, erwiderte Terry nun auf Ryans Anschuldigung.

    „Du legst es doch immer wieder drauf an! Du solltest mal lernen, einfach die Fresse zu halten.“

    „Ich...“

    Terry stoppte. Sein eigener Zeigefinger ruhte auf seiner Brust und ein eindringlicher Blick war auf deinen Konkurrenten gerichtet. Er schien von seinem Standpunkt absolut überzeugt und war nicht bereit, auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen.

    „Ich habe jedes Recht, mich hier einzumischen, weil du dieses Hydropi quälst du Mistkerl. Es war völlig am Ende und dann hast du noch verbal nachgetreten.“

    Diesen Appell an Ryans Charakter und seine Methoden konnte nun auch Andrew nicht mehr verstehen. Dieser hatte inzwischen etwas Abstand genommen, da er zu der Erkenntnis gekommen war, dass es wohl sinnlos war, die Streithähne auseinanderbringen zu wollen. Wenn sie sich prügeln wollten, sollten sie das tun. Er spielte hier mit Sicherheit für keinen das Kindermädchen. Doch was seinen besten Freund anging, so war Andrew heilfroh, dass niemand diese verbale Auseinandersetzung beobachtete, denn das wäre für dessen Ruf sehr kontraproduktiv. Fast noch mehr als der Vorfall auf der Fähre.

    Die Diskussion war zudem recht interessant. Wenn er selbst sich mal mit anderen Trainern gezankt hatte, waren es meist gefühlskalte Folterknechte gewesen, die den Wert einer Freundschaft zu einem Pokémon niemals verstanden hatten. Doch wohl war dieser Terry keiner von der groben Sorte, wie er es ursprünglich angenommen hatte. Im Gegenteil, er beschuldigte Ryan, eben ein solch skrupelloser Trainer zu sein, dem die Gefühle seiner Partner völlig egal waren. Dass er damit falsch lag, schien er entweder nicht begreifen zu können oder zu wollen. Eventuell zog er aus Beobachtungen, wie der von gerade eben, auch einfach nur falsche Schlüsse und wertete das Gesehene viel zu dramatisch auf. Außerdem hatte er vorhin erwähnt, dass ihr erstes Treffen in Viola City in Johto stattgefunden hatte, weshalb sie sich schon länger kennen mussten, da es eine ganze Weile her sein musste, da Ryan in der Arena von Flugmeister Falk angetreten war.

    Psiana befand das Gezanke für weniger interessant. Das Katzenwesen hatte sich mittlerweile zu Andrews Füßen niedergelegt und ließ ihren Blick müde durchs Unterholz wandern. Sie schien den Tumult vor ihrer eigenen Nase gar nicht zu registrieren.

    „Hältst du dich eigentlich für die Trainerpolizei?“, fragte der nun ganz rhetorisch, fast schon zynisch.

    „Wie ich meine Pokémon erziehe geht nur allein mich etwas an und was für ein bescheuertes Bild du davon hast, ist mir sowas von egal.“

    Dem war wirklich so. Zumindest war Ryan sicher, dass er sich das nicht einredete. Das eigentliche Problem war, dass Terry sich immer wieder dazu berufen fühlte, ihm jenes Bild vorzuhalten und die übelsten Vorwürfe auszupacken. Von niemanden, aber wirklich niemandem ließ sich Ryan beschuldigen, er würde seine Pokémon quälen. Er war streng, wenn es ums Training ging, das entsprach der Wahrheit. Aber er liebte jeden seiner Schützlinge und ließ es sie auch spüren. Das war immer seine Philosophie gewesen.

    „Wenn es dich nicht kümmert, warum drehst du dann andauernd durch?“

    „Weil du mir auf den Zeiger gehst! Du bist eine Krankheit!“

    Ryan war mittlerweile kurz davor, handgreiflich zu werden. Dieser Terry begriff einfach nicht, dass er seine Meinung nicht hören wollte und diese zudem völliger Bockmist war. Das wirklich Schlimme daran war, dass er meinte, sich für Ryans Pokémon einzusetzen zu müssen. Zu glauben, ihnen helfen zu müssen. Es verletzte seine Ehre und die Bindung, die er zu jeden einzelnen pflegte – auch zu Hydropi. Dieser Idiot hielt sich für so was Besseres und meinte seinen unqualifizierten Senf immer und überall verbreiten zu müssen. All das würde Ryan bald alles nur noch durch einen roten Mantel der Wut sehen lassen und bestärkte immer mehr das Verlangen, auf irgendetwas einzuschlagen.

    „Was muss ich denn tun, damit du dich einfach verpisst, Terry?“

    Er hatte seit ihrem ersten Treffen nur äußerst selten die Konfrontation gesucht, war lieber bemüht gewesen, seinem Rivalen aus dem Weg zu gehen. Es kam nichts Gutes dabei raus, wenn diese zwei sich trafen. Im besten Fall ruinierten sie einander den Tag. Aber Terry hatte es nie auch nur ein bisschen versucht, sondern das Vorhaben scheinbar bewusst sabotiert. Auch heute dachte er offensichtlich gar nicht daran, das Feld zu räumen. Trotzig hatte er sich nun vor Ryan aufgebaut und die Arme eisern verschränkt.

    „Ich sag dir, was du tun kannst.“

    Er lange mit der rechten Hand in die Innentasche seiner Jacke. Die Ringe am Gelenk schallten erneut. Ryan hatte das Geräusch zu hassen gelernt. Jedes Mal, wenn es sich näherte, war es wie eine Warnsirene.

    Aus der Tasche wurde schließlich ein Pokéball zutage gefördert.

    „Du kämpfst gegen mich und lässt dir von mir beweisen, dass meine Methoden die Besseren sind.“


    Das war genau der Punkt, den Andrew bereits hatte kommen sehen. Wenn ein Trainer die Methoden eines Konkurrenten kritisierte, war es fast unumgänglich, dass besagte Trainer ihre Kräfte in einem Match unter Beweis stellen und somit den Appell des Anderen zerschlagen wollten. Doch für Ryan war dies außerhalb des Machbaren.

    „Das hättest du jetzt gerne, was?“

    Um zu verdeutlichen, was Ryan von der Herausforderung hielt, zeigte der seinem Rivalen unverfroren den Vogel.

    „Als ob ich dir nach den Anschuldigungen noch genau das geben würde, was du willst.“

    Wenn er es nicht besser wüsste, würde Andrew glatt sagen, die Tatsache, dass er nur Hydropi bei sich führte, spiele gar keine Rolle für den Blonden. Jedenfalls schien es nicht einmal Argument Nummer eins zu sein. Er fragte sich, ob das nur gut gepokert war oder der Wahrheit entsprach.

    „Versuch es bei der Hoenn-Liga nochmal. Bei meinem Glück wirst du mich dort auch wieder belästigen“, entgegnete Ryan überraschend ruhig. Ein wenig schienen sich sein Gemüt abgekühlt zu haben. Wenn man nicht zum Kämpfen in der Lage war, war es auch durchaus klüger, nicht länger mit Provokationen und Streitereien darauf hinzuarbeiten.

    „Klar werd ich da sein, aber es ist eine lange Zeit bis dahin. Außerdem gibt´s keine Garantie, dass wir dort aufeinandertreffen.“

    Da sagte er ausnahmsweise mal etwas, woran sich nicht rütteln ließ. Gleich darauf musste er jedoch wieder protzen und schmähen.

    „Und wenn ich dich so sehe, kommst du wahrscheinlich eh nicht weit. Also mach schon, ich will dir zeigen, wie stark ein Pokémon sein kann, wenn man sich gut um es kümmert“, forderte Terry. In seinem Gesicht spiegelte allerdings nicht etwa Häme, sondern Enttäuschung. Wohl hatte er nicht erwartet, dass Ryan hier den Rückzug antreten würde. In der Regel tat er dies auch nicht. Er gehörte zwar nicht zu der hitzköpfigen Sorte, die blind jedem Match zustimmte, doch er vertraute seinen Fähigkeiten sowie seinen Pokémon in der Regel viel zu sehr, um eine Herausforderung abzulehnen. Wenn es keinen triftigen Grund gab, war er für gewöhnlich immer dabei. Ein solcher existierte heute jedoch durchaus. Ryam seufzte niedergeschlagen, denn er freute sich nicht auf die Worte, die gleich aussprechen musste. Wenn er einfach nur aus Sturheit ablehnte, würde er Terry nie loswerden. Mit sowas hatte er sich noch nie abspeisen lassen.

    „Das kannst du vergessen. Ich werde ein neues Team aufstellen und du musst dich gedulden, bis bereit ist.“

    Wie gerne hätte er jetzt ein paar Pokémon von zu Hause bei sich und wäre gegen Terry angetreten. Doch Tatsache war nun einmal, dass er nur Hydropi dabei hatte und dieses nicht einmal in bestem Zustand auch nur eine Minute gegen diesen Gegner bestehen würde. Das Einzige, was Terrys nervtötenden Charakter in den Schatten stellte, war sein Talent. So sehr Ryan ihn auch hasste, musste er ihm dies zugestehen. Jeder musste das! Er war wahnsinnig gut, doch schließlich hatten seine Eltern ihm schon in jungen Jahren alles in die Wege gelegt – ach was, hatten den Weg selbst geebnet. Ryan war noch lange nicht bereit für einen Kampf mit ihm, aber die Zeit würde kommen. Er musste sie nur reifen lassen.

    „Das sieht dir eigentlich ähnlich“, kommentierte Terry dann abfällig.

    „Deine Pokémon haben gegen meine verloren und nun schiebst du sie ab. Dabei wirst du so nur noch stärker enttäuscht werden.“

    Wieder so eine hinterhältige Anschuldigung, die Ryans Umgangsformen kritisierte. Und dann traf er auch noch diese empfindliche Stelle. Ryan war sich selbst kaum noch sicher, wie er das Zurücklassen seiner Pokémon nun wirklich betrachtete. Er liebte jedes einzelne von ihnen. Er war sich absolut sicher, dass er das tat. Doch warum war es ihm dann so leicht gefallen, ihnen den Rücken zu kehren? Hatte er etwa eine völlig falsche Auffassung seiner Gefühle ihnen gegenüber?

    Es war nicht zum Aushalten. Er verstand es einfach nicht. Doch Ryan hatte nun endgültig genug. Einen Kampf zwischen ihnen würde es so oder so nicht geben – noch nicht – und weitere Diskussionen waren frei von jedem Sinn, würden ihm nur noch mehr seiner ohnehin fast aufgebrauchten Nerven rauben. Kopfschüttelnd wandte er sich ab.

    „Dir ist echt nicht mehr zu helfen. Ich kapier einfach nicht, wie du so etwas in mir sehen kannst, aber eigentlich interessiert´s mich auch nicht.“

    Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen und entfernte sich von seinem unliebsamen Rivalen. Man würde als Beobachter nicht einmal auf die Idee kommen, dass er die Flucht antrat. Er entfernte sich weder kleinlaut noch geduckt oder niedergeschlagen. Er hatte einfach bloß die Schnauze voll.

    „Du bekommst deine Packung noch, aber heute muss ich mir das nicht länger antun“, giftete er wütend vor sich hin. Er kam an Andrew vorbei, der sich bemerkenswert still verhalten hatte. Er musterte den Rotschopf mit einem Blick, den er nicht zu betiteln wusste. Andrew wirkte regelrecht steif gefroren, doch ein seltsames Aufflammen war in seinen Augen zu erkennen. Ryan hatte dies zwar bemerkt, setzte seinen Weg aber unbeirrt fort, hob seinen Rucksack auf, der noch an einem Baum lehnte, und schlug die Richtung ein, die sich bei seinen Kartenstudien zuvor noch als Nordwest herausgestellt hatte. Plötzlich jedoch spürte er die Hand Andrews, die seinen Oberarm ergriff und ihn stoppte. Böse Vorahnungen krochen in ihm hoch, als er über die Schulter lugte, doch sein älterer Kumpel hatte noch immer Terry fixiert und sprach auch zu jenem, ohne Ryan freizugeben.

    „Hey, Kotzbrocken!“

    Irgendwie stellte es eine Genugtuung dar, dass Terry sich angesprochen fühlte – wenn auch nur eine kleine – und innehielt. Er hatte sich ebenfalls schon zum Gehen abwenden wollen. Wohl hatte die Neuigkeit bezüglich Ryans Pokémonteam genügt, um seine Beharrlichkeit zu ersticken.

    „Wenn du unbedingt einen Kampf willst...“

    Plötzlich sah auch Psiana neugierig auf und erhob sich sogar. Ryans Augen wurden größer. Er glaubte, sich zu verhören. Gerade jetzt, wo er angenommen hatte, Terry endlich loszuwerden.

    „... kann ich gerne aushelfen.“

  • Ach scheiße, schon lange keine Kommentare hier im BB geschrieben, generell ôo
    Natürlich will ich noch benachrichtigt werden, just why not ^^


    Was mir an den Kapitel besonders gefällt ist Terry. Eher die Situation mit Terry, der Typ rennt in dem Alter noch mit aufgenähten Pokebällen auf der Hose rum, pff – und läuft durch die Gegend und hält andere Moralpredigten, während er betont, dass sie gar nichts von ihm wissen würden. Aber wer kennt es nicht, dass man die Leute am öftesten trifft, die man am wenigsten treffen will. ^^“
    Zumindest sind Ryan und Terry witzig zusammen. Jeder wirft dem anderen vor ein Arschloch zu sein, that’s new. :D
    Während Ryan selbst Typen nicht leiden kann, die Pokemon mies behandeln. Und jetzt bekriegen sie sich beide wegen ihrer … joa, wegen ihrer Moral, während du schön andeutest (ich hoffe, das tust du und ich interpretiere es nicht nur XD), dass sich Ryan auch nicht 100 % korrekt verhalten muss / sich immer korrekt verhält, weil er der Protagonist ist.
    Das kleine Hydropi kann ja kaum ein paar Angriffe aushalten, das wird nicht leicht, vielleicht sollte er sich seine alten Partner doch holen, einfach um einen Vorteil zu haben ^^".


    Was ehrlich gesagt etwas beim Lesen stocken lässt sind Bezeichnungen wie „lavendelfarbene Katze“, das fand ich früher auch recht gut, mittlerweile ist das viel zu kompliziert umschrieben imo. Ansonsten sind mir wieder einige Kleinigkeiten aufgefallen, die ich jetzt aber nicht mehr finde. Ach ja, warrte, da ist das Wort Kumpane. Das hat das Feeling von... alt halt, ich würd Kumpel sagen. Ey Kumpel... Passt schon viel besser in eine moderne Geschichte. :D

  • Hi ^^


    Ich bereue es ehrlich, mich nicht schon früher an diese Geschichte gewagt zu haben (und nicht nur deshalb weil ich dann weniger am Stück hätte lesen müssen, haha). Aber ich will nicht alles am Anfang vorweggreifen, daher komm ich später nochmal auf die Gründe zu sprechen ;) Und, omg, ich habs auf die Liste deiner Danksagungen geschafft? Wie cool ist das denn, das freut mich! ^^


    Und da ich jetzt nach über 2 Jahren erstmals einen Kommi schreibe, werd ich auch ganz vorne anfangen. Auch wenn ich nicht zu jedem Kapitel extra was sagen werde, sondern nur auf Sachen eingehe die mir besonders aufgefallen sind.


    Startpost: Sag ich nicht viel zu, schön übersichtlich, wenn auch umfangreich. Ein besonderes Danke für die Vorgeschichte von Ryan – es ist inzwischen so lange her, dass ich deine alte Fanfiction gelesen habe, dass ich mich wirklich nur noch seeehr grob daran erinnern kann.^^“


    Prolog: Der hört sich auf jeden Fall interessant an. Sehr cool dass du offen gelassen hast wer denn der Sprecher ist. Ich würde ja irgendwie auf Arceus tippen, aber im Grunde… hab ich eigentlich keine Ahnung. Wenn es Arceus wäre, wären die Kinder wohl die Pokemon, aber das würde ja bedeuten dass die Menschen diese früher getötet haben? Oder es sind die gemeint die wie dieses gruselige Mädchen sind, was später noch erwähnt wird… Irgendwie denk ich dass sie kein Mensch ist, aber vielleicht täusch ich mich ja auch. Sehr mysteriös alles. Interessant finde ich auf jeden Fall, dass dieser Prolog so absolut nichts mit der Story zu tun zu haben scheint, sondern komplett davon abgesetzt da steht. Ich frage mich wann wir den Zusammenhang mit der Story erkennen werden…


    Ein paar kürzere Anmerkungen zu den ersten Kapiteln:
    Ehrlich gesagt, ich finde es sehr gut dass Ryan den Pokal nicht bekommen hat. Hört sich im ersten Moment gemein an, aber du weißt ja wieee oft ich kritisiert hatte wie übertrieben perfekt er doch ist. Und endlich, endlich ist er einmal nicht der Beste! ;P Wie lange hab ich auf den Beweis gewartet, dass er doch kein unbesiegbarer Übermensch ist! Dass ich das noch erleben durfte! (Okay okay, ich lass es ja schon wieder gut sein ^^)
    Übrigens, weil auch im ersten Kapitel: Es waren ihnen zwar nur wenige Sätze gewidmet, aber ich fand das Hundemon-Vulnona-Pärchen sooo niedlich ^^ Das musste einfach mal gesagt werden. So.


    Zum 2. Kapitel:
    Als du im Startpost geschrieben hattest, es wäre dir egal wenn manche Pokemon bestimmte Attacken laut den Spielen eigentlich nicht beherrschen würden, war ich zugegebenermaßen skeptisch. Ich hatte schon irgendwelche total absurden Attacken befürchtet ^^ Aber so ist es ja gar nicht. Ich finde es zum Beispiel in keiner Weise schlimm dass Psiana Teleport beherrscht. Als es Teleport in den ersten Spielen noch als TM gab, konnten nämlich sogar Pokemon wie Arkani Teleport lernen und das ist ja nun wirklich viel unlogischer als wenn ein anderes Psychopokemon es kann.
    Weitere Anmerkung: Die Beschreibungen der einzelnen Pokis haben sich vielleicht etwas gezogen, jedoch fand ich sie wirklich ausgesprochen gut! In der Hinsicht kann ich noch was von dir lernen.^^


    3. Kapitel:
    So wie Bastet schon vor zwei Jahren sagte (ja, ich hab auch noch manche Kommis zumindest überflogen), fand ich es auch doof dass Ryan keines seiner alten Pokis mitnehmen wollte. Sie hat recht, wenn sie sagt dass sie dadurch austauschbar wirken. Allerdings gehst du in späteren Kapiteln ja nochmal auf diesen Umstand ein, und ich fand es auch gut, dass auch andere wie Prof. Birk oder Andrew die Skepsis des Lesers teilen ;)


    Generell muss ich allerdings sagen, dass sich die ersten Kapitel bis in etwa Kapitel 5 schon sehr ziehen. Viele (wenn auch gute) Beschreibungen, viele Dialoge zwischen Andrew und Ryan, später auch mit seiner Mutter… aber einfach sehr wenig Handlung. Daher fand ich die stellenweise etwas anstrengend zu lesen. Jedoch machst du wie gesagt nach Kapitel 5 plötzlich einen Sprung nach vorne und die Handlung nimmt dermaßen schnell ihren Lauf, dass wirklich ein Ereignis nur so das nächste jagt. Spätestens ab da konnte ich einfach nicht mehr aufhören zu lesen! ^^ Sehr erfreulich: Deine Story hat sehr viel von der Vorhersehbarkeit verloren, wie sie noch für die vorhere FF typisch war. Dieses Mal ist es dir sogar recht oft gelungen, mich zu überraschen.


    Gleich noch eine Anmerkung zum 5. Kapitel: Ich fand den Streit mit den zwei Vollpfosten ziemlich genial ^^ Gab ein paar sehr geile Sprüche wo ich lachen musste xD Besser hättest du Andrews Schlagfertigkeit nicht hervorheben können ^^


    Jetzt zu den anderen Ereignissen auf dem Schiff:
    Irgendwie dachte ich bei der ersten Beschreibung der Verbrecher erst an Jessie und James von Team Rocket, nur die genauere Beschreibung passte nicht dazu, also mussten es wohl doch andere sein. Carlos und Lydia sind eine Eigenkreation von dir oder? Jedenfalls, eine kreative Idee, dieser Trick mit der Pokeball-deaktivierenden Maschine. ^^
    Und oha, ich glaube ich hätte mich nicht getraut, den Pokeball dermaßen gewaltsam zu öffnen. Irgendwie hätte ich gedacht, das „beschädigt“ (lol) vielleicht das Pokemon innendrin, aber du hast recht, warum eigentlich? Die simpelsten Ideen sind manchmal echt die besten^^
    Übrigens, ich fand es jetzt nicht so schlimm, dass Ryan die beiden ohne große Probleme besiegt – denn erstens: tut er das denn? Also da waren doch einige Momente dabei, wo er fast im absoluten Niedergang begriffen war, wo es wirklich sehr knapp für ihn ausging. Und zweitens: Hey, immerhin ist er der Champ. Und die anderen zwei nur zwei, ich sag mal „Rocket-Rüpel“, die sich auf ein Schiff voller Durchschnittstrainer eingestellt hatten und wofür ihr können auch mehr als ausgereicht hätte. Und so mies wie Jessie und James gewesen wären, fand ich die beiden jetzt gar nicht. Gerade Omot wirkte dadurch dass es schon Psychokinese beherrschte, und das als Nicht-Psycho-Pokemon, äußerst stark.


    Jedenfalls, hier überschlagen sich die Ereignisse, und mit keinem davon hätte ich gerechnet:
    Zuerst passiert etwas, das wir im Anime wohl nie sehen werden: Eine Schusswaffe kommt ins Spiel! Ich habe mich schon öfter gefragt, was wohl wäre wenn Menschen anfangen würden, Waffen statt nur Pokemon einzusetzten, um ihre Ziele zu erreichen… Und hier sieht man sehr deutlich, wer eine Waffe hat, hat die Macht. Die plötzliche Angst von Ryan konnte man da sehr gut nachvollziehen. Ich denke es würde jedem so gehen, wenn jemand anderes eine scharfe Waffe auf einen richtet. Naja, zum Glück kommt Ryan dank Panzaeron da unbeschadet wieder raus. Und als Stahlpokemon ist Panzaeron ja zumindest vor Streifschüssen recht gut geschützt.
    Nun kommt die nächste Überraschung: Ich hatte mir zwar gedacht, dass das Zerstören des Pokeballs bestimmt noch irgendwelche Konsequenzen nach sich ziehen würde, aber dass die zwei von vorhin so dreist sein könnten fand ich unglaublich! Damit hatte ich echt nicht gerechnet. ^^
    Und die letzte Überraschung in dieser Serie (lol): Ein weiterer Chara taucht auf einmal auf, und damit wird EINMAL nicht alles von Ryan oder Andrew geregelt ^^ Schön zu sehen, dass es noch andere Menschen (Menschen?) gibt, die mehr tun können als dumm rumstehen^^ Und dann ist es aber auch noch eine dermaßen gruselige und gnadenlose Person… Ist sie überhaupt ein Mensch? o.o Auf mich wirkt sie sehr… exotisch *hust* Ich frage mich wer sie wohl ist... An dieser Stelle noch ein dickes Lob: Die Beschreibung dieses Mädchens, insbesondere den Ausdruck ihrer Augen und die Stimme war einfach überwältigend! Anders kann man es nicht sagen. Ich hab sie so klar vor mir gesehen, als ob sie mich selbst anstarren würde! (Und das ist echt unheimlich xD)


    Ich fands übrigens gut, dass Andrew Ryan später nochmal ins Gewissen geredet hat. Ich hatte da schon gar nicht mehr dran gedacht, dass er natürlich als Champ drauf achten muss wie er sich verhält, fand es aber gut dass es nochmal angesprochen wurde. Wobei Ryans Reaktion ja wirklich sooo verständlich war und ich vermutlich ähnlich reagiert hätte – diese unglaubliche Dreistigkeit die Schwäche seines Pokemons auszunutzen um es zu stehlen! Es war absolut kein Wunder wie krass er danach abgegangen ist und der andere hatte es ja echt herausgefordert. Dummheit tut weh! Manche Leute müssen das echt lernen… Aber es war irgendwie auch klar, dass Ryan diesem Gespräch im Nachhinein ausweichen würde – das passt zu seinem Charakter.
    Und am Ende dieses actionreichen Kapitels gab es dann noch diese spannende, tausende Fragen aufwerfende Szene. Wer ist das Mädchen? Und wer ist die Frau? – Kein Zweifel: Kapitel 7 ist bisher mit Abstand das Beste.


    Weiter im Text: Das Zusammentreffen mit Cody dem Fanboy war irgendwie niedlich. ^^ Aber schön dass auch hier gleich wieder was Unvorhergesehenes passiert, so wird es nicht langweilig. Auch wenn es für Cody natürlich gerade sehr doof ist.


    Das Team Rocket-Versteck: Diese Kapitel waren wirklich sehr spannend umgesetzt. Ich hab so gezittert als die Rockets vor der Tür zu dem Raum standen, in dem sich die drei versteckt hatten xD Ich dachte echt die kommen gleich rein XD Gute Idee mit den Nachtsichtgeräten, wobei ich da auch drauf gekommen wäre. Entspricht etwa der Art wie ich in so Geschichten denke. Die Szene als sich ein Rocket direkt an den dreien vorbeigequetscht hat ohne sie zu bemerken fand ich fast ein wenig unrealistisch. Aber gut, das kommt auf die Breite des Gangs an, und den hab ich mir evtl. schmäler als beabsichtigt vorgestellt. Das war auf jeden Fall eine seeeehr knappe Sache.


    Richtig lachen musste ich, als Ryan den grünen Diamanten entdeckt. Als er ihn in der Hand hielt musste ich SO sehr an den Einen Ring aus Herr der Ringe denken XD Mich hätte es nicht mehr gewundert wenn Ryan plötzlich „Mein Schaaatzzz“ geflüstert hätte, haha! XD Aber natürlich frag ich mich schon, wozu dieser offenbar äußerst mächtige wie gefährliche Gegenstand wohl gut sein mag.^^


    Klasse Erklärung, warum eine Windattacke Feuer löschen kann. Dem Logikfehler erfolgreich vorgebeugt ^^ Außerdem fand ich es toll wie du die Umgebung mit einbezogen hast, denn natürlich hinterlässt so ein Kampf auch Narben auf der Erde.
    Ich fands irgendwie witzig wie Rocky dem besiegten Rocket-Typen seine Rechte vorliest wie in einer Krimiserie. Aber klar, nur weil es im Anime nie so lief gehört es eigentlich dazu!


    Dass Ryan allerdings Hydropi bekommt, hat mich ganz und gar nicht überrascht. Dieses Gerede der Rockets, dass Hydropi doch schon zu alt sei um einem neuen Trainer übergeben zu werden, war schon Hinweis genug. Genau diese Szene gab es schließlich auch im Anime, als Ash Geckarbor bekommen hat, da dieses schon zu stark geworden war um noch einen Anfänger als Trainer zu akzeptieren.


    Interessant fand ich wiederum, dass der grüne Stein mit Absicht in Ryans Hände gespielt worden ist. Es scheint mir fast ein zu großes Verlassen auf den Zufall, das Team Rocket da eingegangen ist. Es sei denn der Stein hat irgendeine Verbindung zu Ryan, so dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen musste, dass er ihn an sich nimmt… Sehr mysteriös jedenfalls. Überhaupt frage ich mich langsam, wer der Schwarze Lotus ist. Auf jeden Fall scheinen sie noch um einiges böser zu sein als Team Rocket. Bzw. vielleicht wird ja auch die Obrigkeit von TR so bezeichnet… (Kleine Anmerkung: Ich würde Schwarzer Lotus groß schreiben, da es sich offenbar um einen Eigennamen handelt.)
    Und danach wieder diese Szene mit den beiden Frauen! Sehr spannend gemacht, man erfährt nur ganz häppchenweise langsam mehr über sie. Offenbar sind sie mit TR und dem SL wohl verfeindet, immerhin etwas. Aber noch ist nicht ganz eindeutig, ob das sofort bedeutet dass sie die Freunde unserer beiden Helden sind…


    Und danach kommt also endlich ein Abschnitt der an den Prolog anschließt… Hm, interessant. Eigentlich dachte ich nach dem ersten Abschnitt, dass es Arceus wäre und der grüne Kristall vermutlich… das Juwel des Lebens? Aber nach der Rückblende sieht es mir doch eher nach Rayquaza aus. Mit den Zwillingsdrachen könnten Latias und Latios gemeint sein. Nur entzieht sich mir immer noch, was genau Rayquazas Kinder sein könnten.
    Okay, die Drachen also, jetzt ist es klar. Hätte man sich eigentlich denken können, da stand ich wohl echt lange auf dem Schlauch^^“ Und natürlich, Menschen haben früher Drachen getötet, wohl vor allem um Ruhm zu erlangen. Siegfried der Drachentöter lässt grüßen. Jetzt ergibt das also alles einen Sinn!
    Übrigens, ich fand dieses Kapitel unglaublich stark geschrieben. Rayquaza, die Große Bestie. Ich habe nie eine so ergreifende Beschreibung dieses Pokemons gelesen. Bei dir fühlt man geradezu diese unglaubliche, fast schon absurd große Macht, die diesem Pokemon innewohnt. Und angesichts dessen wird es umso deutlicher, wie unendlich mutig diese Frau und ihr Pokemon sind, sich dieser Naturgewalt entgegenzustellen! Die folgende Szene wirkt ein wenig wie aus dem Film Dragonheart, auch dort schenkt ein Drache einem Menschen einen Teil seines Herzens. In deiner Geschichte hat es aber eigentlich eine ganz andere Bedeutung, musste ich nur gerade dran denken. Jedenfalls wird erst jetzt wirklich deutlich, wie wichtig dieser Kristall ist und wie gefährlich es für die ganze Welt wird, sollte er in die falschen Hände geraten. Und anscheinend scheint es Rayquaza nicht gerade zu mögen wenn jemand sein Herz berührt. Ryan sollte sich auf jeden Fall vorsehen. Aber ich denke trotzdem, dass es nicht nur negativ ist dass er den Stein mitgenommen hat. Denn in jeden anderen Händen ist der Drachensplitter besser auf gehoben als bei Team Rocket.


    Zurück in der Gegenwart wundert es mich ein wenig, dass Ryan so überrascht darüber ist, dass Hydropi kaum gegen Psiana ankommt. Immerhin ist es ein vollkommen untrainiertes Pokemon, das zudem auch noch von Menschen aufgezogen wurde. Sein Level muss dementsprechend noch sehr niedrig sein. Psiana dagegen ist das Pokemon eines Top-Trainers mit viel Kampferfahrung, entsprechend auf einem hohen Level. Natürlich kann Hydropi dem nichts entgegensetzen… Daher fand ich es auch ein wenig dumm von ihm, sein anderes Pokemon zurück zu schicken. Nur mit Hydropi wird er keine Chance gegen andere Trainer, geschweige denn Arenaleiter haben.
    Und ich muss sagen, so unerwünscht Terrys Einmischung in Sachen die ihn nichts angehen ist, kann ich die Meinung die er von Ryan hat durchaus verstehen. Auf einen Außenstehenden muss es so wirken, als wären Ryan seine Pokemon egal und als hätte er die anderen wegen der Niederlage zurückgelassen. Allerdings find ichs cool dass Andrew sich jetzt für ihn einsetzt, und bin schon sehr gespannt, Terrys Pokemon und Kampfstil zu sehen.


    So, der Kommentar ist nun wirklich sehr lang geworden, aber ich musste halt zu allem mal meinen Senf dazu geben und bei 13 Kapiteln kommt da eben einiges zustande^^
    Abschließend kann ich nur sagen, dass du dich gegenüber der ersten Fanfiction, gerade was den Bereich Story und Spannung angeht, wirklich enorm verbessert hast. Es macht wirklich Spaß, deine FS zu lesen und ich kann dir versichern dass du, nachdem ich endlich alle 13 Kapitel geschafft habe, auch für Zukunft einen neuen treuen Leser dazu gewonnen hast. ^^

  • Moin, moin und hallo


    Danke an euch beide für eurer Lob, eure Kritik und Denkanstöße und bis zum (hoffentlich bald vollendetem) nächsten Kapitel.
    Wiederschauen, reingehauen.

  • Kapitel 14: Charaktertest


    „Du willst mich herausfordern?“

    Terry Fuller hob skeptisch eine Braue. So gerne er auch Ryan eine Lehrstunde erteilt hätte, schien sich der Eifer bei einem fremden Trainer in Grenzen zu halten.

    „Hab ich gerade getan.“

    Terry hatte Andrew noch halb den Rücken gekehrt, und betrachtete diesen nun prüfend aus dem Augenwinkel. Da seine Aufmerksamkeit zuvor ausnahmslos Ryan gegolten hatte, nahm er den anderen Trainer nun zum ersten Mal wirklich genau in Augenschein. Seine Haltung war stramm, zeugte von Leichtigkeit und Selbstvertrauen. In seinen Augen loderte das Feuer der Leidenschaft. Oh, der schien echt Bock zu haben. Es war ein Ausdruck, den alle Anfänger anstrebten, alle Routiniers suchten und ausnahmslos jeder zu schätzen wusste. Denn dieser kurze Blick reichte aus, um sein Charisma, seine Entschlossenheit und das Vertrauen in sich und seine Partner felsenfest zu untermauern und flößte dem Gegenüber unweigerlich zumindest einen ersten Funken Respekt ein.

    Terry musste feststellen, dass dieser Junge eine alles andere als lächerliche Erscheinung darstellte. Dass dieser offenbar ein Kumpel von Ryan Carparso war, spielte in dieser Sache keine Rolle. Rivalitäten hin oder her, er war Manns genug, seinen Gegnern Anerkennung für ihre Courage zu zollen – mit Ausnahme von Ryan selbst. Ein Hoffnungsschimmer keimte in Terry auf. Die Hoffnung, dass dieser Typ ihm einen passablen Kampf liefern konnte. Doch bevor er sich einige passende Worte zurechtgelegt hatte, um die Herausforderung anzunehmen, schoss Terry plötzlich eine verrückte Idee durch den Kopf. Konnte es sein, dass er diesen Kerl schon einmal gesehen hatte?

    „Was is jetzt? Musst du noch jemanden um Erlaubnis bitten, oder was?“

    Andrews Worte verunsicherten Terry nicht im Geringsten. Seine einzige Reaktion bestand darin, sich nun vollständig zu seinem Gegner umzudrehen und zwei langsame Schritte auf ihn zuzugehen. Selbst diese vorsichtige, bedachte Bewegung ließ die aneinanderschlagenden Armringe ertönen.

    „Wie heißt du?“, verlangte er mit einem interessierten Kopfnicken in seine Richtung zu wissen.

    „Ich wurde schon vieles genannt. Aber ich bin ein Bescheidener und du kannst dir vermutlich eh nicht alles merken. Also hast du die große Ehre mich einfach Andrew nennen zu dürfen.“

    Terrys Augenbrauen zogen sich skeptisch zusammen.

    „Etwa Andrew Warrener, der Rastlose?“, hakte er nach. Die durch den geschmacklosen Humor unnötig lang ausgefallene Antwort auf seine erste Frage umging er spielend.

    „Du hast also schon von mir gehört. Bin geschmeichelt.“

    Die Antwort platzte förmlich vor gespielter Bescheidenheit und vorgegaukeltem Ehrgefühl. Längst war es für Andrew nichts Besonderes mehr, wenn er für Fremde Leute kein Unbekannter war. Über diese Grenze hatten er und Ryan sich schon vor langer Zeit hinweggesetzt. In der Regel war es aber immer noch erfreulich, da es in gewisser Weise eine Bestätigung dafür war, dass er seinen Zuschauern gute Vorstellungen bot und über ihn unbedingt geredet, von ihm erzählt werden musste. Doch dies war eine Ausnahme. Terry Fuller war Andrew unsympathisch. Und das lag bestimmt nicht an dessen Feindschaft zu Ryan.

    „Nicht direkt“, entgegnete der Rotschopf mit der Andeutung eines kurzen Kopfschüttelns.

    „Es war mehr ein der Langeweile geschuldetes Interesse, das mich dazu gebracht hat, einen deiner Straßenkämpfe anzusehen. Noch heute ein zweifelhaftes Vergnügen für mich.“

    Es war schwer, das also Lüge zu enttarnen, aber Andrew war auch nicht sonderlich interessiert an seiner Meinung. Nach der hatte er schließlich nicht gefragt. Aber aus der Diskussion mit Ryan war ja hervorgegangen, dass er diese immer und überall kundtun musste.

    „Dreh es doch wie´s dir passt. Nimmst du jetzt an oder was?“

    Die Luft zwischen den beiden potenziellen Gegnern war zum Schneiden dick und die Atmosphäre zum Zerreißen gespannt. Andrew mochte Terry nicht wirklich. Wer sich mit solch arroganten Worten, wie er sie zuvor gewählt hatte, seinen Ersteindruck verschaffte, konnte bei ihm nicht wirklich auf viel Sympathie stoßen. Die Rivalität zwischen ihm und Ryan spielte für ihn selbst keine Rolle. Er sah einfach einen Trainer vor sich, der eine etwas zu hohe Meinung von sich hatte und seine Gegner gerne in den Dreck zog. Unmöglich konnte er alles, was er Ryan eben noch unterstellt hatte, ernst meinen – es sei denn er hatte irgendeine Auffassungsschwäche. So oder so war das Grund genug, ihm ins Sitzfleisch zu treten, denn das hatte er seiner Meinung nach dringend nötig.

    Terry selbst hatte seine Entscheidung längst getroffen, doch es konnte nicht schaden, diesen Andrew noch etwas auf die Folter zu spannen. Er überbrückte die Zeit, indem er versuchte, sich ein Bild von jenem zu machen. Ein wenig hitzköpfig war er jedenfalls und auch schien er sich nicht von großen Namen beeindrucken zu lassen, was sowohl von enormen Selbstvertrauen als auch von etwas Ignoranz zeugte. Leute von seinem Schlag gab es zuhauf in aller Herren Länder und in gewisser Weise waren sie in Terrys Augen Segen und Fluch zugleich. Einerseits waren sie mit ihrer Eigenschaft, ihn immer und immer wieder zu Duellen herauszufordern, egal wie oft er sie schon geschlagen hatte, unheimlich lästig. Doch sie waren ehrgeizig wie zielstrebig, das war allgemein bekannt und so etwas respektierte er.

    „Wie du willst. Es kann nicht schaden, meinen Ruf noch ein bisschen weiter zu verbreiten", antwortete Terry schließlich, als er zu der Ansicht gekommen war, dass er ihn lange genug hatte zappeln lassen. Recht gleichgültig und leicht gelangweilt griff er an seinen Gürtel, um den ersten Pokéball davon zu lösen. Seine erste Wahl war bereits gefallen und da er die Rolle des Herausgeforderten übernahm, hielt er sich für berechtigt, die Regeln festzulegen.

    „Aber ich habe nicht allzu viel Zeit. Also kämpfen wir zwei gegen zwei, ohne Auswechslungen."

    „Soll mir recht sein.“

    So nahmen die beiden Kontrahenten ein wenig Abstand zueinander, um genügend Platz zwischen sich zu schaffen. Da die Lichtung, auf der sie sich befanden, eine eher bescheidene Größe aufwies, würde es nicht allzu viel Spielraum für großartige Ausweichmanöver geben, sofern kein Pflanzenpokémon in den Kampf einstieg. Ein solches hätte sich in dieser Umgebung sicher äußerst wohl gefühlt.

    Ryan eilte rasch an die Seite seines Kumpels, der rückwärtsgehend seinen Gegner immer im Auge behielt.

    „Du musst aufpassen, Mann. Terry ist verdammt gut. Der Kerl kommt aus Einall und kämpft immer mit den gleichen Pokémon. Das heißt, er ist mit jedem unglaublich vertraut und er hat sie stark aufgezogen. Geh es also vorsichtig an.“

    Die Worte klangen eindringlich, zur Vorsicht mahnend. Zurecht, denn das Wissen der beiden Johtonesen in Bezug auf Pokémon sowie deren Techniken und Fähigkeiten beschränkte sich größtenteils auf ihre Heimatregion sowie die Nachbarregion Kanto. Hoenn, Sinnoh und Kalos genossen noch etwas Teilwissen, doch was ausgerechnet Einall anbelangte, waren sie im Großen und Ganzen wenig bewandert. Ryan kannte auch nur die sechs von Terry gut und sonst fast überhaupt keine Gattung. Aber seine Worte schienen auf die berüchtigten tauben Ohren zu stoßen.

    „Ich mach das schon, danke.“

    Mit diesen Worten schob Andrew ihn zur Seite und förderte nun auch seinen ersten Pokéball ans Tageslicht. Dies tat er vor allem deshalb, weil er sich durch seinen Konkurrenten, der bereits dasselbe getan hatte, umso mehr herausgefordert fühlte. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, er würde die Wahl des Gegners abwarten, um einen Vorteil zu genießen. Er schien sich seines Sieges ziemlich sicher zu sein und diese Erscheinung musste er erwidern.

    Ryan konnte nur resignierend seufzen. Wie hatte er nur für einen Moment die Hoffnung, dass Andrew es wenigstens in Erwägung ziehen würde, seinen Rat anzunehmen, überhaupt andenken können? Dieser Dickschädel rannte immer ins offene Feuer, kannte keine Vorsicht und fürchtete keine Konsequenzen. Dies traf allerdings erst zu, wenn es um einen schlichten Pokémonkampf ging. Jedes Bisschen an Besonnenheit wurde dann einfach deaktiviert. Und wenn er dabei auf der Nase landete, stand er einfach wieder auf und ging beim nächsten Mal wieder genauso vor. So war er eben. Doch Ryan hatte nicht vor, sich in die Angelegenheiten Andrews einzumischen, denn dann täte er genau das, was er an Terry so verabscheute. So fügte dieser sich seiner machtlosen Lage, nahm im Schatten eines Baumes an der Seite des Kampffeldes Platz und machte sich noch vor Kampfbeginn daran, nervös mit den Zähnen zu malmen. Er hoffte wirklich inständig, dass das Match zu Andrews Gunsten ausgehen würde, doch wenn er ehrlich und realistisch die Daten und Fakten über die beiden Kontrahenten zusammenkratzte, wäre er schon ansatzweise zufrieden, wenn Terry ihn nicht völlig auseinandernahm.


    „Soll ich mein Pokémon zuerst zeigen?“, fragte Terry mit einem höhnischen Grinsen. Scheinbar glaubte er, einen Vorteil gewähren zu müssen.

    „Ist mir ziemlich egal. Ich hab meine Wahl schon getroffen“, antwortete Andrew selbstsicher. Ob einer der beiden nervös oder gar ängstlich war, konnte Ryan nur mutmaßen. Äußerlich wirkten sie jedenfalls absolut ruhig, konzentriert und entschlossen. Folglich wäre die einzig angespannte Person er selbst, was ziemlich bizarr war, wie er befand.

    „Ich werde dennoch eröffnen“, stellte Terry klar und ging in eine leicht breitbeinige Position, während er mit dem Arm ausholte und den darin liegenden Ball mit Schwung in die Luft beförderte.

    „Dein Auftritt, Washakwil!“

    „Viel Glück Andrew“, nuschelte Ryan so leise vor sich hin, dass es keiner der Kämpfenden zu hören vermochte. Er wusste wohl besser als jeder andere, dass er es brauchen würde. Kaum konnte er klar denken, so eingenommen war er vor dem sogleich beginnenden Match. Wie unter Hypnose starrte er auf den weißen Lichtblitz, welcher der rot- weißen Kapsel entsprang und rasch eine feste Form annahm. Ryan kannte dieses Pokémon bereits sehr gut, doch ließ er es sich nicht nehmen, das fliegende Wesen erneut von Kopf bis Fuß genau zu mustern. Es handelte sich um einen großen Adler, welcher bekanntermaßen über eine für Flugpokémon nahezu unnatürliche Menge an Kraft verfügte. Das Muskelspiel war selbst unter dem dichten Federkleid noch zu erkennen und da er stehend mehr als einen Meter Höhe maß, würde ihn das Tragen von selbst zwei jugendlichen Personen vor nicht allzu große Probleme stellen. Seine Federn waren auf der Unterseite des Körpers dunkelblau und auf dem Rücken Rostfarben. Der Kopf war dagegen komplett mit weißen Federn geschmückt und wirkte etwas zerzaust, was dem Vogel eine wilde Note verlieh. Zusammen mit seinen unglaublich scharfen Augen und den tödlichen Krallen, welche im Nahkampf durchaus effektive Waffen darstellten, war Washakwil eine überaus beeindruckende Erscheinung.

    Obwohl Andrew zweifellos denselben Gedankenhaben musste, ließ er sich nicht einmal eine Spur von Anerkennung anmerken. Sein Pokerface leistete mal wieder ganze Arbeit und erlaubte ihm einen selbstsicheren Ausdruck sowie eine ruhige Hand, als er seinen Pokéball hob.

    „Achtung, hier kommt Schwalboss!“, rief er euphorisch aus und schleuderte das Objekt in außergewöhnliche Höhen. Dass er den schwarz- weißen Vogel auswählen würde, war Ryan bereits klar gewesen. Dragonir war schließlich ziemlich gerädert vom Training und außerdem bestimmt noch nicht stark genug für solch einen Gegner. Magnayen hatte zwar zuvor noch mit jenem Drachen trainiert, doch für einen ernsthaften Kampf war seine verletzte Pfote noch nicht gut genug verheilt. Dann bliebe sonst nur noch Psiana, welches verspielt um Andrews Beine herumpirschte und alles aufmerksam beobachtete. Doch die Psychokatze war sein Trumpf und den spielte man erst zum Schluss aus.

    „Aha, ein Luftkampf also“, bemerkte Terry gelassen.

    „Für dich wird´s kein Kampf, sondern ein Absturz. Mehr nicht“, korrigierte Andrew trocken Eine Antwort von der anderen Seite blieb aus. Stattdessen weitete sich sein Lächeln noch ein wenig, während sich seine Augen zu Schlitzen verengten. Wohl schien Andrew zu der Annahme gekommen zu sein, dass es mit den Sticheleien und Kampfansagen nun genug war, da er eine ausholende Bewegung mit dem rechten Arm machte und den ersten Befehl an seinen Kämpfer erteilte.

    „Dann mal los Schwalboss, steig hoch in die Luft.“

    Gehorsam schwang sich der schwarz- weiße Vogel in unermessliche Höhen, war schon bald kaum mehr als ein schwarzer Punkt am Himmel. In einem Kampf unter Flugpokémon war eine erhöhte Position zum Gegner durchaus vorteilhaft, doch Terry schien das ziemlich gut in den Kram zu passen, wie sich an seinem unheilvollen Lächeln und dem Befehl an Washakwil erkennen lies.

    „Klauenwetzer.“

    Dem Namen der Technik entsprechend, wetzte der Adler die ohnehin schon tödlich wirkenden Krallen an seinen Füßen, sodass gar ein Geräusch erklang, das entfernt an einen Schleifstein erinnerte. Wie durch Magie schienen sie zu wachsen und an Glanz zu gewinnen. Die Sekunden verstrichen, doch auf eine weitere Aktion wartete man vergebens. Andrew beobachtete Washakwil aufmerksam, musste aber schließlich feststellen, dass wohl kein Angriff erfolgen würde.

    „Scheinbar keine offensive Attacke“, überlegte er. Wenn er doch von ihr wenigstens schon mal gehört hätte.

    „Du siehst nachdenklich aus. Kennst du etwa Klauenwetzer nicht?“, rief Terry höhnisch. Dem kurz darauf folgenden Lachen nach zu urteilen, verstand er den Gesichtsausdruck seines Gegenüber als Sprachlosigkeit. Doch da kannte er Andrew Warrener schlecht.

    „Nein, ich frage mich bloß, wie ich deine Visage einordnen soll. Ich dachte so in die Richtung Chemieunfall.“

    Das Lachen von Terry endete abrupt. Nicht jedoch vermochte die schlagfertige, wenn auch etwas kindische Antwort das selbstsichere Grinsen aus seinem Gesicht zu verbannen.

    „Soll ich dein Wissen erweitern?“ bot er so höhnisch, dass man nicht davon ausgehen würde, eine ehrliche Antwort zu erhalten. Diese Peinlichkeit wollte sich Andrew ohnehin nicht antun.

    „Lass stecken. Du bist hier derjenige, der was zu lernen hat.“

    Andrew überlegte noch einen Moment angestrengt. Wenn diese Technik auf Washakwil selbst wirkte, war musste es sich um eine handeln, die seine eigenen Fähigkeiten steigerte. Vermutlich die Kraft, vielleicht auch die Präzision. Umso ärgerlicher war es für ihn, dass er es Terry unfreiwilliger Weise erlaubt hatte, sein Pokémon ohne jegliche Komplikationen stärken zu können. Doch Andrew vertraute ganz auf die Stärke seines eigenen Partners. Er hatte nicht umsonst so viele Trainingsstunden in die Taktiken und Angriffsmuster von Schwalboss gesteckt.

    „Aero-Ass, Trichterflugbahn!“

    Bei Terry zogen sich augenblicklich die Brauen zusammen. Gleichzeitig verengten sich seine Augen ob einer unguten Vorahnung zu Schlitzen und er schaute sogleich gen Himmel. Der schwarz- weiße Vogel begann dort oben flotte Kreise zu ziehen, ohne wirklich den Eindruck zu machen, gleich einen Angriff starten zu wollen. Doch der Trainer aus Einall machte nicht den Anfängerfehler, sich in Sicherheit zu wiegen. Hinter diesem zugegebenermaßen leicht sonderbaren Befehl steckte bestimmt nicht nur heiße Luft.

    „Halte dich bereit Washakwil.“

    Der Adler blieb absolut stumm. Die scharfen Augen hafteten wie Magnete an seinem Gegner direkt über ihm. Jener war es, der nun seinen Flug zu senken begann und an Tempo zunahm. Weiter und immer weiter richtete sich der Schnabel der Schwalbe in die Senkrechte, ließ seine Geschwindigkeit weiter steigen und vollführte dabei weiterhin immer enger werdende Spiralen. Nun erahnte auch Terry, was sich hinter dieser Attacke verbarg. Nicht schlecht, ganz und gar nicht schlecht.

    In diesem Moment setzte Aero-Ass ein. Helle Luftschleier zogen sich von der Schnabelspitze aus zu allen Seiten des Körpers entlang und verschnürten sich hinter ihm. Der Temposchub, den Schwalboss dabei hinlegte, war absurd. Wie ein Geschoss, welches für das menschliche Auge inzwischen kaum mehr als Vogel zu identifizieren war, raste es in spiralförmiger Flugbahn auf seinen Gegner zu. Terry hatte so gut wie gar keine Zeit, um zu reagieren – doch sie reichte ihm aus, um einen Entschluss zu fassen.

    „Halte ebenfalls mit Aero-Ass dagegen.“

    Beide Flügel weit über seinen Kopf hebend, katapultierte sich Washakwil, einer lebenden Rakete ähnlich, in die Lüfte, Schwalboss direkt entgegen. Andrew grinste ob dieses Befehls nur selbstsicher. Die meisten seiner Gegner reagierten auf diese von ihm selbst erdachte Methode von Aero-Ass mit irgendeiner Gegenattacke. Es blieb gar nicht mehr Zeit, um über Terrys Gegenzug und die Frage nach dessen Effektivität zu spekulieren. Die Leiber der beiden Flugpokémon prallten aufeinander. All ihre Kraft konzentrierte sich in ihren Schnabelspitzen.

    Doch ein von Schmerzen geplagtes, schrilles Kreischen verkündete den eindeutigen Sieger dieses offenen Schlagabtausches. Der Schnabel von Terrys Adler hatte sich direkt in den Rumpf von Schwalboss gebohrt, malträtierte die empfindliche Haut unter dem weißen Federkleid am Unterbauch. Andrew sah den Flugpokémon hinterher, ohne wirklich zu realisieren, dass seines gerade das unterlegene war. Wie um alles in der Welt hatte das jetzt passieren können? Noch nie hatte es ein Gegner geschafft, diese Form von Aero-Ass zu kontern.

    Die getroffene Schwalbe war nicht in der Lage, sich aus dieser Position heraus zu manövrieren. Weit aufgerissene Augen und ein bis zum Äußersten geöffneter Schnabel zeugten von seinem Leid. Washakwil raste weiter dem Himmel entgegen und zog seinen Gegner unwillkürlich mit. Erst als Terry die Attacke Zermalmklaue anordnete, änderte es seine Richtung. Gerade noch rechtzeitig fand der völlig überrumpelte Andrew seine Stimme wieder.

    „Schnell, Doppelteam!“

    Gerade streckte der größere Vogel seine tödlich aufblitzenden Klauen nach Schwalboss, als sich sein Abbild innerhalb von Sekundenbruchteilen zu duplizieren begann. Aus einem wurden drei, aus drei wurden neun. Danach konnte man die ungefähre Zahl höchstens noch schätzen. Schließlich war Washakwil von einer ganzen Schar an Schwalboss-Kopien umringt. Jene, an deren Stelle zuvor noch das echte Schwalbenpokémon gewesen war, hatte sich nach dem Kontakt mit den Adlerklauen einfach in Luft aufgelöst.

    Terrys Blick war ähnlich dem von Ryan, als er mit Hydropi sein Training begonnen hatte. Er war konzentriert, prüfend, wirkte kritisch und leicht mürrisch. Doch wollte er hier nicht sein eigenes Pokémon beurteilen, sondern das seines Gegners und natürlich auch diesen selbst. Bislang wartete er noch auf ein beeindruckendes Manöver und da stellte der Einsatz von Doppelteam, keine Ausnahme dar. Obwohl er gestehen musste, dass es sich um ein starkes Doppelteam handelte. Schwalboss hatte es selbst nach diesem Treffer blitzschnell ausführen und obendrein eine beachtliche Zahl an Kopien erzeugen können. Aber selbst mit hundert davon würde es nicht entkommen.

    „Hoch. Dann Windstoß.“

    Nun stellte das Flugpokémon aus Einall nicht nur seine Stärke und Präzision, sondern auch sein Geschick und auch eine gewisse Eleganz unter Beweis. Mit weiteren Flügelschlägen schraubte es sich in die Höhe und stoppte etwa acht bis zehn Meter über den Trugbildern, indem es die Rotation einstellte und seine Schwingen auf ihre volle Breite spreizte. Für einen kurzen Moment schien die Gestalt Washakwils in Zeitlupe zu verlaufen, gar fast schon stehen zu bleiben, bevor es ein weiteres Mal – diesmal mit bedeutend mehr Kraft als zuvor – einen Luftschlag ausführte. Sogleich entfesselte sich die geballte Macht des Windes. Stürmische Böen wehten vom Himmel herab auf die Abbilder von Schwalboss. Auch die Trainer wurden von Washakwils Angriff nicht verschont. Der aufkommende Wind zerrte wütend an Andrews Jeansjacke und zwang ihn, seine Arme zu erheben, um sein Gesicht vor Staub und Steinchen zu schützen, welche in alle Winde verstreut wurden. Ryan musste sein Cappy festhalten und ebenfalls einen schützenden Arm erheben. Einzig und allein Terry zeigte kaum eine Reaktion. Er schien den Wind, welcher zweifellos auch gegen seinen Körper drückte, einfach zu ignorieren, stand weiter fest und regungslos an Ort und Stelle und wandte das Gesicht ob der aufgewirbelten Staubwolke nur leicht und äußerst gelangweilt ab.

    Andrew konnte sich dies nur schwer erklären. Entweder musste er solche Aktionen bereits gewohnt sein oder Washakwil hatte darauf geachtet, seinen Trainer möglichst nicht in Mitleidenschaft zu ziehen. Sollte letzteres der Fall sein, so müsste man dem Adler aber wiederum Respekt zollen, da es sicher nicht einfach war, eine großflächige Attacke wie Windstoß so gezielt einzusetzen.

    Der Wind an sich vermochte zwar nicht, die Abbilder von Schwalboss zu vernichten, doch das Original musste nun enorm viel Kraft aufbringen, um von dem plötzlichen Wind nicht zu Boden geschleudert zu werden. Beinahe panisch schlug es mit den Schwingen auf und ab und verlor dabei die Konzentration. Nur für einen kurzen Moment flackerten die Abbilder wie ein flimmerndes Fernsehbild und verrieten damit die Position des echten Schwalboss. Terry lächelte zufrieden.

    „Erwischt, Washakwil nimm nochmal Zermalmklaue!“

    Mit einem lauten Kreischen raste der Adler im Sturzflug auf Andrews Pokémon zu. Und wieder zeigte sich der Vorteil einer erhöhten Position. In dieser Lage war es für Schwalboss ein absolutes Ding der Unmöglichkeit, dem Angriff entgegenzuwirken. Da musste man sich schon fragen, wie es umgekehrt eben noch gelungen war, als er mit Aero-Ass angegriffen hatte. So blieb für den Augenblick nur die Flucht.

    „Weich mit einer Rolle aus!“, schrie Andrew, gehetzt durch das Tempo dieses Matches. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt war ihm klar geworden, dass er es hier nicht mit irgendeinem eingebildeten Typen mit großer Klappe auf hohem Ross zu tun hatte. Terry war sehr gut. Ebenso Washakwil. Einen Volltreffer direkt von oben sollte er tunlichst vermeiden, wenn er seine Chancen auf einen Sieg wahren wollte. Dies war natürlich auch Schwalboss klar. Mehr als zwei rasche Schläge mit den Flügeln waren nicht nötig, um etwas Geschwindigkeit aufzunehmen. Anschließend legte es diese an und drehte sich wie eine Schraube.

    „Zwecklos“, kommentierte der rothaarige Trainer gelassen.

    „Hä?“

    Erneut ein Aufschrei, erneut war er laut und schrill und erneut stellte Schwalboss die Quelle dar. Während sich die Schwalbe in Rückenlage befunden hatte, waren Washakwils Klauen bereits nach ihm ausgestreckt gewesen, bereit den Gegner zu Packen und zu Boden zu bringen, wie eine hilflose Beute. Doch kaum war das Ausweichmanöver von dem Adler durchschaut worden, hatte dieser eigenständig seine Flugbahn korrigiert und mit dem Schnabel, anstelle der Krallen angegriffen. Es traf Schwalboss erneut mitten in den Rumpf. Damit nicht genug, knüpfte Washakwil nun an seinen vorangegangenen Angriff an. Die ausgestreckten Klauen schlossen sich mit eisernem Griff um den Hals den schwarz- weißen Vogels und zogen ihn gewaltsam zur Erde hinab. Als wolle er jeden Knochen im Leib seines Gegners zertrümmern, rammte der Adler Schwalboss in den trockenen Waldboden. Seine Schreie erstarben augenblicklich. Das grässliche Bild des Aufpralls wurde zum Glück weitestgehend von erneut aufwirbelndem Staub verdeckt.

    Für einen Moment blieb Washakwil auf dem geschlagenen Körper seines Widersachers ruhen, spreizte die Flügel und setzte zu einem triumphalen Siegesschrei an. Der zerzauste Kopf richtete sich gen Himmel als er seine schrille Stimme erhob. Jeder sollte wissen, was sich hier für ein Kampf abspielte und wer als Sieger aus ihm hervorging. Einen letzten, vernichtenden Blick ließ Washakwil dem Jungen in der Jeansjacke noch zukommen, als wollte es ihn warnen. Dieser reagierte darauf nicht, erwiderte den Blick lediglich, bis der Adler sich schließlich mit einigen Flügelschlägen von seinem Opfer erhob und wieder vor seinem Trainer Position bezog.


    „Warum hast du nicht auf mich gehört, du Idiot“, knirschte Ryan frustriert vor sich hin. Er achtete allerdings darauf, seine Stimme nicht zu stark zu erheben, sodass Andrew sie nicht würde hören können. Kommentare dieser Art halfen jetzt in keinster Weise weiter, dessen war er sich bewusst. Er selbst hatte sich diese Form der Rücksicht in der Vergangenheit nicht selten von anderen Trainern gewünscht, welche seinen Kämpfen beigewohnt hatten. Vermutlich war Andrew sich seines Fehlers inzwischen auch bewusst geworden, doch nun musste er eben damit leben, dass die Erkenntnis wohl zu spät kam.

    „Ich muss sagen, ich hatte mehr von dir erwartet“, stichelte Terry von der anderen Seite des Kampffeldes herüber.

    „Du hättest mal sein Gesicht sehen sollen, als dein Schwalboss den Staub gekostet hat. Was ein Anblick.“

    Dann geschah allerdings etwas Unerwartetes. Andrew schnaubte auf und es klang... belustigt? Nein, mehr noch, es klang siegessicher, gar schon spöttisch.

    „Halte den Moment gut fest, Amigo. Wir drehen den Spieß jetzt um.“

    Wieder zogen sich Terrys Augenbrauen zusammen. Woher um alles in der Welt nahm der Kerl bitte diese Zuversicht? Washakwil hatte sein Schwalboss nach alles Regeln der Kunst verdroschen und selbst nichts abbekommen. War er irre?

    „Oder was meinst du, Kumpel? Komm schon, gib mal´n Laut von dir!“, rief er in die Staubwolke hinein, in der irgendwo sein Partner lag. Zunächst ließ nichts darauf schließen, dass Schwalboss dem Wunsch seines Trainers nachkommen konnte. So lange, bis sich langsam die dunkle Silhouette eines Vogels erhob. Die Flügel, hingen sie erst noch schlaff und kraftlos hinab und bewegten sich nur mit der keuchenden Brust auf und ab, wurden dann aber in die Breite geschlagen, wodurch die Wolke verweht wurde und das Antlitz von Schwalboss wieder freigab. Des Gegners Illusion von einem schnellen, einfachen Sieg wurde geradewegs mit fortgeweht. Mit wildem Kreischen sowie einem energischen Funkeln in den Augen zeigte es deutlich seine Entschlossenheit. Es ließ sich nicht unterkriegen. Nicht hiervon.

    „Gar nicht übel“, erkannte er widerwillig an. Dieses Schwalboss konnte doch was einstecken. Ferner ließen sich beide nicht im Geringsten entmutigen oder abschrecken. Gar schienen sie den Sieg nun mehr denn je zu wollen.

    „Eines musst du mir verraten Terry. Wie hast du es geschafft, unser Aero-Ass am Anfang des Kampfes zu kontern?“

    Der Trainer aus Einall hätte die Chance wahrnehmen können, Andrew aufzuziehen und zu verspotten. Völlig ohne Anlass tat der sowas aber nicht. Es imponierte ihm, dass er so unverfroren und hemmungslos fragen konnte, obwohl man sich damit eine Art der Unterlegenheit eingestand.

    „Ich habe deine Taktik durchschaut. Du hoffst durch die spiralförmige Flugbahn deinen Gegner zu verunsichern. Aero-Ass kann man so gut wie gar nicht ausweichen und auf diese Weise willst du einen Gegenschlag erschweren.“

    Dabei spielte es nicht einmal eine Rolle, ob man mit einem Fernkampfangriff oder einer direkten Attacke antworten wollte. In beiden Fällen war es äußerst schwer, die Flugbahn zu erahnen und das Ziel zu treffen.

    „Ist an sich auch eine gute Strategie, da sich der richtige Moment so nur schwer abschätzen lässt. Aber für mein Washakwil so etwas kein großes Problem.“

    Demonstrativ spreizte der Adler erneut die Schwingen und kreische überlegen, um die Aussage seines Trainers zu unterstreichen.

    „Wenn du aufgepasst hast, wirst du bemerkt haben, dass Washakwil bei seinem zweiten Angriff genau die gleiche Stelle getroffen hat, wie zuvor.“

    Es war Andrew durchaus aufgefallen und ihm war wohl bewusst, dass er seinen Gegner eventuell unterschätzt hatte. Und auch wenn er bis hierhin im Grunde gar nichts hatte bewirken können, um dieses Match zu seinen Gunsten auszurichten, wuchs nun sein Ehrgeiz. Jetzt hatte er ein erstes Bild von Terry und dessen Kampfstil bekommen. Jetzt konnte er ihn und seine Stärke einschätzen und das bedeutete, dass er ihn schlagen konnte. Jedoch musste er es schnell tun, da Schwalboss eine weitere Attackenkombination dieses Kalibers vermutlich nicht würde standhalten können. Sein Federkleid war völlig zerzaust, mehr sogar noch als die Kopffedern von Washakwil und aus der Brust trat sogar tropfenweise Blut aus, was wohl auf die beiden Treffer zurückzuführen war, welche sein Gegenüber bereits angesprochen hatte.

    „Was ist, machen wir weiter?“, fragte dieser nun als würde er eine Aufgabe von Andrew erwarten. Wenn er dies tat, so dachte der, war er noch dämlicher als angenommen.

    „Pff. Du stellst Fragen.“

    Terry schien zufrieden mit der Antwort. Für einen kurzen Moment wurde sein Lächeln, das er bereits den gesamten Kampf über aufgesetzt hatte, fast freundlich und er nickte anerkennend. Ryan runzelte leicht die Stirn. Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass sein verhasster Rivale wohl kaum irgendwelche Nettigkeiten in einem Kampf aufkommen ließ, musste er nach ausgiebiger Recherche in seinem Gedächtnis jedoch feststellen, dass er solch eine Geste noch nie bei Terry gesehen hatte. Ob das eine Bedeutung hatte?

    „Flügelschlag!“, kam es dann von beiden Seiten, wie aus einem Munde. In einer vollkommen synchronen Bewegung erhoben sich beide Flugpokémon wieder in die Luft und nahmen Tempo auf. Und beide taten dies mit unverkennbarer Zielstrebigkeit. Schwalboss für seinen Teil hatte nun definitiv den Schnabel voll davon, immer den Kürzeren zu ziehen. Wenn die Trickkiste hier nicht half, so spielte es eben seinen Ehrgeiz aus und preschte mutig voran. Jetzt war es an der Zeit, dass Washakwil die Quittung erhielt. Dieses hatte nun seinerseits nichts anderes im Sinne, als seinen Gegner in einem offenen Kampf gegenüberzutreten und seine eigene Stärke mit ihm zu messen. Da es seinem Kontrahenten bislang in jeder Hinsicht überlegen gewesen war, kam die Option, jenem zu unterlegen, weniger in Frage denn je, obwohl sie eigentlich nie wirklich im Raum gestanden hatte. Ab jetzt ging es in diesem Match um die Ehre.

    So gab es auch keinerlei Befehle für irgendwelche Ausweichmanöver oder Finten. Die Visiere wurden hochgeklappt und der Kampf völlig offen geführt, voller Stolz und Willenskraft. Nun, da beide Vögel unmittelbar vor dem Aufeinandertreffen standen, sah es für den Bruchteil einer Sekunde so aus, als hätte Washakwil das bessere Timing erwischt, da es mit seinem linken Flügel bereits zum Angriff ansetzte, bevor Schwalboss überhaupt reagierte. Doch bewies Andrews Partner ein gutes Reaktionsvermögen, da er den heranrauschenden Schlag mit einer flinken Bewegung seines eigenen Flügels blocken konnte und beide Pokémon einander unbeschadet passierten. Doch ein Unentschieden wollte keinem der beiden wirklich schmecken und so ging es in eine zweite Runde. Diesmal vollführten sie die Attacke gleichzeitig und prallten somit aneinander ab. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrere Male und keiner konnte in diesem Duell aus Flügelschlägen die Oberhand gewinnen. Doch während Terry dem ausgeglichenen Schauspiel nur mit starrer, unberührter Miene beiwohnte, war Andrew die Anspannung regelrecht ins Gesicht geschrieben. Er fieberte mit jeder Faser seines Körpers mit. Ryan stellte dies mit Zufriedenheit fest. Das Match wurde ausgeglichener und Schwalboss fand nun besser hinein, aber dennoch war es weit von einem Sieg entfernt.

    „Komm schon, wo ist die Lücke?“, hörte er seinen besten Freund plötzlich vor sich hinmurmeln. Wenn dieser den verwunderten Blick seines jüngeren Kindheitsfreundes bemerkte, so ignorierte er ihn gekonnt. Nicht nur dies, seine gesamte Umgebung schien er ausgeblendet zu haben. Für ihn gab es nur noch das Match gegen Terry.

    Und dann geschah etwas, das man in Pokémonkämpfen selbst auf hohem Niveau nur selten zu Gesicht bekam. Ein Moment, in dem Trainer und Pokémon ohne ein Wort der Absprache, gar ohne auch nur einen kurzen Blick auszutauschen, in jeder Hinsicht miteinander übereinstimmten. Sie erkannte absolut gleichzeitig, wann und wo sich ihre Chance eröffnete. Instinktiv wussten sie, was zu tun war.

    „Jetzt, Schnabel!“, brüllte Andrew aus heiterem Himmel. Gerade waren die kämpfenden Vögel ein weiteres Mal auf Kollisionskurs und Washakwil bereits wieder im Ansatz für einen weiteren Flügelschlag gewesen, da preschte Schwalboss urplötzlich mit einem einzigen Stoß seiner Schwingen voran und überrumpelte seinen Gegner. Zu einem lebendigen Pfeil werdend rammte es seinen Schnabel in den linken Flügel Washakwils. Es war eine süße Genugtuung, ein köstliches Rachegefühl für Schwalboss, endlich den Schmerzensschrei seines Gegners zu hören. Nur sehr ungern unterlag es in einem Kampf und schon gar nicht gerne unterlag es jemandem, der ihm den Himmel als sein Reich streitig machen wollte. Es würde sich nicht so ohne Weiteres schlagen lassen. Es wollte triumphieren!

    Washakwil war für den Bruchteil einer Sekunde völlig überrumpelt. Diese schwächliche Schwalbe, dieser unehrenhafte Vogel hatte ihn überwältigt, ihn ausgetrickst. Das war für ein stolzes Wesen wie ihn völlig inakzeptabel. Weiter kam der Adler mit seinen Gedanken allerdings nicht. Der Treffer an seinem Flügel war nicht mehr als ein Nadelstich, traf aber dafür an die empfindlichste Stelle. So knickte er ein, verlor die Balance und krachte zu Boden. Ausgerissene Federn und bröckelige Erde wirbelten durch die Luft als sich der Körper überschlug und schließlich erst mit einem schmerzvollen Aufprall an dem nächsten Baum zum Ruhen kam. Einige Laubblätter regnete langsam zu Boden und verunstalteten Washakwils Gefieder.

    Jenes blieb nur für einige Sekunden bewegungslos. Sogleich stemmte es sich auf, mit einem wütenden Funkeln in den Augen, das nach Vergeltung verlangte, wieder auf. Seine Klauen gruben bedrohlich Furchen in die Erde.

    „Weiter mit Ruckzuckhieb!“, erschallte auf einmal die Stimme Andrews. Washakwil konnte noch den Kopf wenden, um seinen verhassten Gegner wiederzufinden, während dieser mit rasantem Tempo auf es zuschoss.

    „Ruhig bleiben, nochmal Windstoß“, ordnete Terry nun an. Er musste die aufkeimende Hoffnung ersticken. Wenn er zuließ, dass Andrew das Momentum auf seine Seite holte, konnte hier wieder alles Mögliche passieren.

    Mit einer raschen Drehung seines Körpers sandte Washakwil mit einem kräftigen Schlag seines unverletzten rechten Flügels eine weitere Windböe in Richtung Schwalboss. Erneut wurde dabei jede Menge Staub aufgewirbelt, welcher den Blickkontakt der Kämpfenden unterbrach. Doch schon im nächsten Moment schoss das Schwalben-Pokémon aus der Wolke hervor, die Flügel eng an den Rumpf gepresst. Dank dieser aerodynamischen Körperhaltung stach es durch den Windstoß hindurch wie ein Pfeil und zog einen weißen Lichtblitz hinter sich her. Eine weitere Reaktion war nicht mehr möglich. Ruckzuckhieb war eine flinke Attacke, der man nur äußerst schwer zuvorkommen oder ihr entgehen vermochte. So rammte Schwalboss mit aller Kraft Washakwil direkt in die Brust, wodurch es ein weiteres Mal mit dem Baum kollidierte, während sich die Schwalbe in seinen Rumpf bohrte. Ein erstickter Schrei entwich seiner Kehle, als dem Adler sämtliche Luft aus den Lungen gepresst wurde.

    Schwalboss ließ rasch wieder von seinem Kontrahenten ab, um einer möglichen Gegenattacke zu entgehen und positionierte sich wieder über seinem Trainer. Mit den unbarmherzigen Klauen hatte es bereits einmal Bekanntschaft gemacht. Ein zweites Mal brauchte es die Erfahrung ganz sicher nicht machen. Andrew wart inzwischen ein absolut zufriedenes Grinsen ins Gesicht geschrieben und er freute sich schon auf die Worte, die er gleich aussprechen würde.

    „Hey, Terry.“

    Seine Stimme klang zum ersten Mal seit Beginn des Matches nicht nur selbstsicher, sondern absolut überlegen. Als wollte er seinen Gegenüber so gut wie möglich imitieren.

    „Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen, als Washakwil seine Visage dem Baum vorgestellt hat. Was ein Anblick.“

    Der Junge aus Einall blieb zunächst stumm, schien nichts auf die Sticheleien von Andrew erwidern zu wollen, bis plötzlich wieder das überlegene Lächeln erschien, das er zuvor schon aufgesetzt hatte.

    „Ich hatte schon befürchtet, enttäuscht zu werden“, sprach er langsam, wobei er kaum merklich mit dem Kopf nickte. Andrew wusste nicht ganz, was er davon halten sollte. Mit so mancher Reaktionen hatte er gerechnet, aber nicht mit dieser. Jedoch entschied er sich dazu, sein Pokerface aufrecht zu erhalten und sich siegessicher zu geben. Schließlich gab es keinen Grund, sich einschüchtern zu lassen. Er hatte endlich Fuß gefasst in diesem Kampf und war nun sicher nicht gewillt, das Ruder wieder aus der Hand zu geben. Wenn er es weiter verhindern konnte, von Washakwils Attacken getroffen zu werden und immer wieder kleine Nadelstiche wie eben landete, standen seine Chancen recht gut.

    Bei dem Gedanken an Terrys Pokémon wanderte Andrews Blick zu der Gestalt, die noch immer regungslos an dem Baum lehnte, welchen es gerammt hatte. Der zerzauste Kopf war auf die Brust gesunken, wodurch ein Blick in seine Augen verwehrt blieb. Nicht eine Sekunde rechnete er damit, dass Washakwil bereits kampfunfähig war. Einem Flugpokémon, das so brachial und energiegeladen angreifen konnte, traute er eine derartig schwache defensive nicht zu. Dieser Adler war sicher zäh. Und tatsächlich hob dieser sodann das Haupt.

    Der Blick in seinen Augen brachte ihn zum Schlucken. In ihnen brannte ein Feuer. Ein alles verzehrendes, todbringendes Feuer, angefüttert von Wut und Rachegelüsten. Wenn Blicke töten könnten, so hätte man für diesen gleich einen ganzen Friedhof anlegen müssen. Glatt konnte man annehmen, dass dieses Pokémon gerade wahnsinnig wurde.

    „Du hast ein Problem, mein Freund“, offenbarte Terry nun. Dass Andrew nur mit großer Mühe eine mehr oder weniger unbeeindruckte Miene beibehalten konnte, entging ihm dabei keinesfalls. Ryans einzige Reaktion war ein resignierender Seufzer, als sei er es, der gerade kämpfte. Doch schien der Blonde zu wissen, was seinem Kindheitsfreund und Reisegefährten nun bevorstand.

    „Du hast mein Washakwil wütend gemacht.“

    Betont langsam richtete sich der Adler nun wieder auf, den Blick erneut zu Boden gerichtet und die Flügel nur leicht vom Körper gespreizt. Einen Moment lang verharrte es in dieser Pose, bevor Washakwil seine Schwingen auf ihre volle Breite entfaltete. Den Kopf richtete es zunächst gen Himmel und dann direkt in Richtung von Andrew und Schwalboss, wobei man augenblicklich annehmen könnte, ein Monster vor sich zu haben. Wie eine wild gewordene Bestie mit Federn schrie der Adler sämtlichen Zorn und Unmut über die Frechheit und Dreistigkeit seiner Gegner, ihn herausgefordert zu haben, heraus. Sowohl Ryan als auch Andrew verzogen ob ihrer schmerzenden Trommelfelle das Gesicht und hielten sich die Ohren zu. Terry zeigte wie schon zuvor keine Reaktion, als sei er immun gegen derartige äußerliche Einwirkungen. Wie er dies fertig brachte, blieb ein Rätsel, denn der Lärm, der von Washakwil ausging, musste über Kilometer zu hören sein. In der nahen Umgebung konnte man die ängstlichen Schreie einiger wilder Pokémon vernehmen, welche sich fluchtartig in ihre Löcher und Höhlen verkrochen oder sich panisch aus den Wipfeln der Bäume erhoben und davonflogen. Der Schrei hielt an und hielt an, als hätte der Adler einen unbegrenzten Vorrat an Luft in seinen Lungen, welche er hinauskreischen konnte. Doch nach einer gefühlten Minute erstarben die schrillen Laute endlich, wofür nicht zuletzt die beiden Johtonesen sehr dankbar waren. Doch der Blick, mit dem Terry und sein Pokémon ihre Gegner weiter beäugten, konnte nichts Gutes verheißen.


  • Kapitel 15: A problem for another


    Noch nie in seinem ganzen Leben war Andrew Zeuge eine derart einschüchternde Drohgebärde geworden. Dass er selbst auch noch ihr Ziel gewesen war, verschlechterte die Situation um ein Vielfaches. Er war sicher nicht der Typ, der einem kreischenden Gegner gegenüber unsicher wurde oder gar Angst bekam, doch er musste zu seinem Erschrecken feststellen, dass seine Gefühlslage letzterem gerade äußerst nahe kam. Schon von der ersten Sekunde an hatte Washakwil mit seinen unglaublichen Techniken ihm all sein Können abverlangt und nur mit Mühe hatte er einigermaßen in dieses Match gefunden. Doch konnte er diesem Pokémon in dem rasenden Zustand, in welchem es sich befand, noch etwas entgegensetzen?

    'Na klar können wir', bläute er sich sofort in Gedanken ein. Er hatte schon stärkeren Gegnern die Stirn geboten als Terry und Washakwil. Blöd war nur, dass ihm spontan keiner einfiel.

    Als wolle er den Gedanken wie ein lästiges Insekt verscheuchen, schüttelte er vehement den Kopf. Er musste wieder klar denken, sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Alles Weitere wäre nur Ablenkung und würde ihn nur der Niederlage näher bringen. „Nachdenken“ war nun das Zauberwort.

    Der Adler war also stinkwütend – na und? Warum sollte das ein Nachteil für ihn sein? Schließlich ging Zorn mit Bedacht und Geschick nicht gerade Hand in Hand. Genau das war nun der Trumpf, den er ausspielen musste. Washakwil würde leicht zu Fehlern zu zwingen sein und dann musste Andrew weiter auf freche Attacken mit Überraschungsmoment setzen. In einem völlig offenen, offensiv geführten Kampf wäre Schwalboss nun absolut chancenlos. Denn Terrys Kämpfer war ihm an Kraft und Geschwindigkeit überlegen, so viel war inzwischen fast unübersehbar.


    Nach einigen ereignislosen Sekunden, in denen alle Beteiligte – ob Mensch oder Pokémon – nur stumme Blicke ausgetauscht hatten, entschied Terry, dass es Zeit war, den Kampf fortzuführen.

    „Los, hoch mit dir!“

    Urplötzlich war Terrys Stimme nicht mehr so ruhig und gelassen, wie bislang noch. Seine lässige Haltung war nun einem energischen und deutlich lauterem Ton gewichen, womit er seinem braunhaarigen Kontrahenten in nichts nachstand. Der mächtige Adler schraubte sich mit einem einzigen Schlag seiner Schwingen hoch in die Lüfte. Kaum konnte man mit den Augen folgen, so schnell befand er sich einige Meter über Schwalboss, um – so vermutete Andrew – einen weiteren Angriff aus erhöhter Position einzuleiten. Doch damit hatte er bereits gerechnet und einen Plan entwickelt, der ebenso einfach wie genial in der Ausführung war.

    „Sofort Ruckzuckhieb!“, wies er an, worauf die Schwalbe wie ein zischender Pfeil nach vorne Schoss und Washakwil in den Bauch rammte, kaum dass es gestoppt hatte. Auf die Idee hätte Andrew auch früher kommen können. In einem Kampf unter Flug-Pokémon war es stets von Vorteil, sich vor dem Angriff in eine aussichtsreiche Lage zu versetzen, um maximalen Schaden anzurichten. Eben solche Situationen waren es, in denen Andrew einfach stets den richtigen Moment abwarten und weiter so gezielt zuschlagen würde, wie gerade eben. So konnte er Washakwil langsam ermüden. Alles was es dann noch bräuchte, war eine saubere Kombination sowie ein satter Finalschlag und der Drops wäre gelutscht. Doch dann hallte von der anderen Seite des improvisierten Kampffeldes ein Wort herüber, dass den Johtonesen in höchste Alarmbereitschaft versetzte.

    „Himmelsfeger!“

    Terry setzte zu der stärksten Attacke der Flug-Typen an und bei Washakwils Stärke kombiniert mit seinem derzeitigen Zustand, brauchte man kein Pokémonprofessor zu sein, um sich das Ergebnis auszumalen. Von dem vorangegangenen Angriff völlig unbeeindruckt begann der Adler sanft zu leuchten. Das weiße Licht, welches seinen Leib einhüllte, war noch schwach und relativ unspektakulär, was allerdings damit zusammenhing, dass diese mächtige Attacke einige Zeit beanspruchte, um sich vollends zu entfalten. Wenn Andrew es dazu kommen ließ, war Runde eins für ihn gelaufen. Es war zum Haare raufen. Da hatte er endlich eine erfolgversprechende Strategie aus dem Ärmel gezaubert und da machte ein einziger Befehl alles zunichte. Sei es drum, er musste rasch etwas unternehmen.

    „Wir müssen das stoppen, Schwalboss. Aero-Ass, volles Rohr!“

    Diesmal gab es keine spezielle Taktik oder besondere Methode der Anwendung. Schwalboss führte den Angriff in seiner simpelsten Form aus und hielt direkt auf den großen Raubvogel zu. Erneut traf es direkt die gefiederte Brust und beförderte Washakwil geradewegs gen Himmel.

    „Jetzt hau ihm deine Flügelschläge um die Ohren!“

    Das Schwalben-Pokémon hatte noch gar nicht von seinem Gegner abgelassen, da begann es mit seinen Schwingen wie wild auf diesen einzudreschen. Wieder und immer wieder prügelte es geradezu auf seinen Gegner ein und verfiel in einen rauschartigen Zustand der Raserei, doch Washakwil zeigte keine Regung, ließ kein Zeichen von Schwäche oder Rückzug aufkommen und kämpfte den Schmerz nieder. Es war voll und ganz in Konzentration vertieft. Währenddessen gewann es noch immer an Höhe, wobei Schwalboss unfreiwillig mithalf, da es immer wieder aus der tieferen Position zuschlug. In kriegswilliger Ekstase hieb es auf seinen Widersacher ein. Es sehnte sich nach dem Sieg. Nur noch ein bisschen und...

    Wie in Zeitlupe begann sich der wild umherwirbelnde Körper von Washakwil plötzlich wieder auszurichten. Die Schwingen ausgebreitet und in gleichmäßigem Rhythmus auf und ab schlagend starrte es auf die erneut heran rauschende Schwalbe und offenbarte erneut einen Blick in seine Seelenspiegel. Fast war es, als leuchteten sie ebenso, wie sein Körper nun leuchtete. Das weiße Licht, das sein Gefieder umspielte, nahm an Stärke und Intensität schlagartig zu. Innerhalb eines Herzschlages war es zu einem lebendigen, leuchtenden Stern am Himmel geworden, der all jene blendete, die es wagten, ihn direkt anzusehen. Und eben dies tat Schwalboss. Reflexartig kniff es die Augen zusammen und hielt in seiner Bewegung inne. Dieser Moment war es, auf des Terry gewartet hatte.

    „Mach es fertig“, sprach er nun wieder in aller Seelenruhe, wie er es zu Beginn getan hatte. Den Befehl hätte Washakwil wohl kaum gebraucht. Es lag eine schier unendliche Freude in seinen nun hell leuchtenden Augen, welchen auch etwas Diabolisches innewohnte. Oh, wie sehr hatte es diesen Augenblick herbeigesehnt, wie sehr würde es das genießen, was sich nun ankündigte. In einer flinken Bewegung ließ sich der Adler herabsinken und erfasste den erstarrten Körper von Schwalboss. Von dieser Sekunde an, war der es absolut handlungsunfähig. Ein brodelnder Schmerz folgte auf die Berührung mit dem erhellten Leib seines Gegners. Die Luft schien zu brennen und die Atemwege zum Glühen zu bringen. Der Kontakt mit dem in hellem Licht eingekleideten Körper brachte einen heißen Ansturm der Qual mit sich und ließ das Opfer in erbarmungsloser Pein erstarren. Denken, Handeln, all das war nun nicht mehr möglich. Nur auf seine Schmerzensschreie konnte sich Schwalboss nun konzentrieren. Wie sein Körper nach unten Richtung Boden gedrückt wurde, nahm es kaum noch wahr. Auch den rasenden und überaus zufriedene Kampfschrei Washakwils ertönte nur schwach und dumpf in seinen Ohren. Und auch der Aufprall auf dem Erdreich war nur für einen ganz kurzen Augenblick zu spüren.


    Der Aufschlag war wie eine Bombe, die vor Andrew einschlug. Mehr noch, wie ein heller Meteor am Himmel kam der Adler hinuntergestürzt, seinen hilflosen Gegner erbarmungslos in den Waldboden schmetternd. Eine Druckwelle, stark wie hundert Windstöße fegte das nahe Gestrüpp und dünne Äste an den Bäumen davon. Lediglich das dickere, stärkere Gehölz konnte dem standhalten. Die Kleidung der drei jungen Trainer wirbelte aufgepeitscht im Wind und ihre Besitzer stemmten sich mühsam dagegen. Diesmal musste selbst Terry gegen die Urgewalten ankämpfen, die sein Pokémon entfesselte. Doch hinter seinen erhobenen Armen, welche sein Gesicht vor allem schützten, was ihm entgegen geweht wurde, tat sich kaum erkennbar, ein zufriedenes Grinsen hervor. Andrew stieß einen stummen Fluch aus, da er nun bemerkte, dass er von Anfang an chancenlos gewesen war. Diese Kraft, diese Energie, dieser Wille... was hätte Schwalboss gegen eine solche Tollkühnheit ausrichten können?

    Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Wind endlich nachließ und sich der Staub legte. Doch keinem entlockte es auch nur den geringsten Funken Verwunderung, als das besiegte Schwalboss am Boden auszumachen war. Verletzte Nerven ließen einen Flügel oder ein Bein zucken. Die Körperhaltung war sehr gekrümmt, fast unnatürlich. Es schien als wollte es einige wimmernde Laute ausstoßen, doch kosteten die bereiots zu viel Kraft und blieben im Rachen stecken. Washakwil stand direkt vor seinem geschlagenen Opfer. Sein Blick war noch immer derselbe. Glücklich über den Schmerz seines Gegners, unheilvoll raunend als wolle es weiter machen. Es war einfach grauenvoll furchteinflößend. Und für einen Moment wollte Andrew seinen Augen nicht trauen, da hob sich eine Klaue des Adlers und wollte sich gerade auf das Gesicht der Schwalbe legen, es in den Dreck reiben, es zerkratzen, zermalmen...

    „Stopp!“

    Terrys Ruf war absolut streng, in gewisser Weise auch vorwurfsvoll und ließ keine Diskussionen zu. Sein Pokémon brauchte nicht mehr als diesen Ton, nicht einmal einen Augenkontakt. Sofort zuckte die Klaue zurück und Washakwil entfernte sich einige Schritte.

    „Es hat genug“, fügte er hinzu. Nun begann sich der Adler sogar wieder etwas zu entspannen. Die Flügel wurden an den Körper gelegt und der Kopf war nicht länger dem Feind entgegengestreckt, sondern hob sich, um ruhig das Geschehen zu überblicken.

    Andrew war fassungslos. Ihm war bereits klar geworden, dass Washakwil ein Pokémon war, das man bremsen musste, denn sonst würde wohl noch ein großes Unglück passieren. Dass Terry es wahrlich schaffte, diese Bestie im Zaum zu halten, war bewundernswert, stand aber dennoch im Schatten seiner Stärke. Doch dies waren nur unwichtige Hintergedanken, die er ohne Mühe zu verdrängen vermochte. Sein Blick haftete zerknirscht und gelähmt auf Schwalboss. Er wollte es gar nicht wahrhaben, dass sein Freund und Partner gerade so vor ihm lag.

    Recht zügig wurde er aber wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt, als aus heiterem Himmel jemand heran geeilt kam und sich nahm dem schwer verletzten Vogel bückte. So schnell er sich hatte aufrichten können, war Ryan auf das Feld gestürmt, um nach Schwalboss zu sehen. Er hatte sofort erkannt, dass Andrew, dessen Aufgabe dies eigentlich gewesen wäre, dazu gerade irgendwie nicht imstande war und auch als er den regungslosen Körper behutsam aufnahm, konnte er sich nicht einmal vom Fleck rühren.

    Der Junge mit dem Cappy spürte jedoch ganz deutlich seinen Blick auf sich ruhen und wandte sich ihm sogleich zu. Jedoch schien der völlig ins Leere Nichts zu starren, als wüsste er gar nicht, wo er sich befand.

    „Hey, bleib bei der Sache.“

    Ryan hatte fest den Oberarm Andrew ergriffen und ihn somit ein wenig aus seinem Schockzustand geweckt. Noch nie hatte er erlebt, dass er so fassungslos vor sich hin stammelte und einen viel schlechteren Zeitpunkt gab es wohl kaum, um die Konzentration zu verlieren. Bei einem unerfahrenen Trainer wäre dieser Zustand nun weitaus weniger verwunderlich gewesen und auch wenn Andrew wohl noch nie eines seiner Pokémon in diesem Maße hatte leiden sehen, hatte Ryan durchaus von ihm erwartet, sich über solche Dinge hinwegsetzen zu können. Die Sorge um sine Schützlinge war berechtigt und verdiente Anerkennung, doch es gab eine richtige Zeit dafür und es gab eine falsche.

    „Du hast noch einen Kampf auszutragen. Ich kümmere mich schon um Schwalboss, behalte du deinen Kopf bei dem da hinten.“

    Ryans Kopf zuckte kurz über seine Schulter hinweg zu Terry herüber, der die Szene kommentarlos beobachtete. Kaum hatte Andrew die Worte seines Kindheitsfreundes vernommen, spürte er noch, wie jener ihm einen aufmunternden Klopfer auf die Brust verpasste und sich dann wieder entfernte. Für einen Moment sah Andrew ihm noch hinterher, wie er Schwalboss im weichen Gras bettete und einige Salben und Verbände aus seinem Rucksack kramte. Es würde bei ihm in guten Händen sein, da war er sich sicher, jedoch schmerzte ihn die Tatsache, dass sein Freund dies Leid nur wegen seiner Überheblichkeit erfahren musste. Doch das ließ sich nun nicht mehr rückgängig machen. Was er jetzt noch tun konnte, war sein übriges Pokémon vor ähnlichem Schicksal zu bewahren, indem er dem Kampf gewann.


    Einmal tief durchatmend warf Andrew alle überflüssigen Gedanken über Bord und fokussierte seine Konzentration nur auf seinen Gegner. Washakwil schien sich ein wenig besänftigt zu haben und war zudem angeschlagen. So sehr der stolze Adler es auch zu verbergen versuchte, man sah ihm Müdigkeit an. Das bedeutete im Klartext, dass Andrew die Möglichkeit hatte, einen schnellen Sieg zu erringen und somit das Match auszugleichen. Doch er durfte dabei nicht so forsch vorgehen, wie eben noch mit Schwalboss. Er musste sich auf die Stärken seines Pokémons besinnen. Ein leichtes Grinsen huschte über seine Lippen.

    „Jetzt liegt´s an dir, Schätzchen.“

    Er sah nur aus dem Augenwinkel zu seiner Prinzessin herab und grinste feist. Ihre Ohren zuckten und sie fing den Blick auf. Ihr eigener zeugte von Schalk Eifer.

    „Psi“, schnurrte sie knapp, fügte ein Nicken hinzu und begann sich anschließend auf das Kampffeld. Sehr gemächlich und ohne jede Eile tapste sie in die Mitte der Lichtung. Der Doppelschweif peitschte langsam und hoch aufgerichtet in der Luft hin und her. Das intelligente Wesen setzte sich dann jedoch und leckte sich die rechte Vorderpfote, bedachte Washakwil lediglich mit einem äußerst kurzen und gelangweilten Blick.

    „Lust ein paar Federn zu rupfen, Prinzessin?“

    Die Körperhaltung unverändert und somit nicht wirklich den Eindruck von Bestätigung erweckend, könnte man glatt meinen, Psiana würde Andrew gleich den Gehorsam verweigern, doch wer dies glaubte, kannte dieses Duo schlecht. Es war zwar selbst mit geübtem Auge kaum zu erkennen, hinter der verspielten Fassade der Psychokatze lauerte schlagfertige Kampfbereitschaft, ebenso wie eine heimtückische Überlegenheit, kaum dass ihr Trainer ausgesprochen hatte. Was Terry von diesem elanlosen Auftreten halten mochte, konnte man höchstens mutmaßen. Jeder noch so gute Menschenkenner der in den Leuten lesen konnte, wie ein Buch, würde sich an dem Trainer aus Einall die Zähne ausbeißen. Kalt und emotionslos ruhte sein Blick auf dem neuen Gegner, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Sein Pokerface war mindestens genauso gut wie Andrews.

    „Bereit?“, fragte dieser nun, als hätte er bislang zu jedem Zeitpunkt die Kontrolle über das Match besessen. Wirklich in den Kram passen wollte dies Terry nicht, weshalb er sich zu einer Art der Antwort entschloss, die wirklich jeder auf der Welt verstand. Zunächst sah er jedoch hoch gen Himmel. Die Sonne war auf ihrem Höchststand und befand sich genau über ihnen. Konnte er das eventuell für sich nutzen? Prüfend schwenkte sein Blick zu Washakwil. Dieses sah ihn bereits aus dem Augenwinkel an und schien hungrig zu grinsen. Ganz klar, sie beide hatten denselben Gedanken.

    „Greif an mit Zermalmklaue!“

    Seine Stimme hatte er nun wieder erhoben, als wolle er Washakwil durch lautstarke Kommandos noch einmal zu Höchstleistungen bringen. Denn auch wenn keine schwerwiegenden Verletzungen bei dem Adler erkennbar waren, hatte Schwalboss ihm dennoch einiges abverlangt. So stieg das gefiederte Pokémon erneut in den Himmel auf und katapultierte sich mit wenigen Schlägen seiner Schwingen in luftige Höhen. Andrew musste zwangsläufig die Augen zusammenkneifen, als er ihm mit seinen Blicken folgte, da Washakwil direkt in das Licht der Sonne flog. Psiana ging es hierbei nicht besser. Das Katzenwesen verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, um nicht vollends geblendet zu werden. Doch die vogelartige Gestalt, nach der sie am Himmel suchte, war bereits nicht länger auszumachen.

    Kein Problem. Darauf waren sie nicht angewiesen.

    „Zeit die Lauscher aufzusperren. Konzentriere dich auf dein Gehör, Psiana und weich aus“, wies Andrew nun an, worauf seine Kämpferin die Augen nun gänzlich schloss und die Ohren aufstellte. Terry entlockte dies nur einen spöttischen Laut. Was sollte das denn jetzt? So einen schwachsinnigen Befehl hatte er nun wirklich nicht erwartet, hatte er doch in der vorangegangenen Runde ein gewisses Können unter Beweis gestellt. Das Kommando zum Ausweichen zu geben, bevor der Angriff überhaupt stattfand, war schlicht und ergreifend amateurhaft. Das Timing musste hier schon stimmen. Vielleicht hoffte er auch darauf, dass sein Psiana schnell genug war, um in letzter Sekunde den Sprung zur Seite zu schaffen. Ein mitleidiges Kopfschütteln des Rotschopfes folgte.

    Für einen Moment herrschte auf der Lichtung Stille. Keine Anweisungen der Trainer, keine Attacken der Pokémon. Doch die Ruhe führte unweigerlich dazu, dass sich der Angriff des Adlers recht früh ankündigte. Fast konnte selbst das menschliche Ohr hören, wie es gegen den pfeifenden Wind und Luftwiederstand senkrecht gen Erde stürzte, die scharfen Augen fest auf die Psychokatze gerichtet. Jene vermochte mit ihren Sinnen, welche noch um ein Vielfaches besser ausgeprägt waren, den Gegner sowie dessen Entfernung und Geschwindigkeit sehr präzise einzuschätzen. Doch von dem ruhigen hin und her schwenken ihres Schweifs abgesehen, rührte sie sich keinen Millimeter.

    Die tödlichen Krallen bereits ausgestreckt, bereit die Beute zu ergreifen, kam Washakwil nun herabgestürzt, schnell wie eh und je und wie bereits zuvor zeichnete sich etwas in seinen Augen ab, das man fast schon als Blutgier betiteln konnte. Dieses Pokémon war eine echte Kampfbestie.

    Doch jede Bestie konnte besiegt werden. Terry war es sogar gelungen, sie zu zähmen. Nur Sekunden später stand das erneut zum lebendigen Geschoss mutierte Flugpokémon bereits kurz vor dem Zusammenprall mit seinem inaktiven Gegner. Völlig unverhofft drehte es jedoch mit einer blitzschnellen Neuausrichtung seiner Flügel ab, zog einen Halbkreis um Psiana herum und stürzte sich schließlich aus flachem Winkel herab. Einen durch Mark und Bein gehenden, schrillen Kampfschrei ausstoßend, krachte Washakwil schließlich mit dem Krallen voran auf den Waldboden. Einmal mehr wurde Staub und Dreck aufgewirbelt, der eine meterlange Spur durch die Erde zog, aber nur sehr kurz sie Sicht behinderte, da der meiste davon während dieses Matches bereits in alle vier Winde verweht worden war. Andrew biss sich auf die Unterlippe. Dieser Mistkerl hatte seine Form von Aero-Ass kopiert! Genau wie zuvor Schwalboss hatte Washakwil ein offensichtliches und durchschaubares Manöver vorgetäuscht und einen Überraschungsangriff gestartet. Ein cleverer Zug, um die Beute des Raubvogels auszutricksen.

    Doch als die Gestalt von Terrys Pokémon bereits wieder in den Schwaden auszumachen war, fehlte von Psiana jede Spur. Deutliche Verwirrung war seitens des Adlers zu beobachten, der ungläubig auf seine eigenen Krallen starrte. Erst das fast schon belustigt klingende „Psi-a“ verriet dessen Standort. Washakwil wuchtete den massigen Kopf in die entsprechende Richtung und erspähte seine Gegnerin gemütlich auf einer großen Baumwurzel liegend. Nicht nur das, das Katzenwesen tätschelte mit einer Vorderpfote verspielt an einigen langen Grashalmen herum, als seien diese im Augenblick weitaus interessanter als der zerzauste Vogel. Jener wollte diese spöttische, arrogante Geste keinesfalls einfach so hinnehmen. Er war der König der Lüfte, der Herr des Himmels und jedes Wesen hatte ihm Respekt zu zollen. Dreistigkeiten wie diese wurden von ihm früher, als er noch ein wilder Einzelgänger gewesen war, nicht selten mit dem Tod bestraft.

    Seinen Trainer schien dies allerdings wenig zu interessieren, da dieser eine unveränderte Miene aufgesetzt hatte und relativ gelassen einen Windstoß befahl. So riss Washakwil nun den Körper herum und entfesselte eine wütende Böe in Richtung der Psychokatze. Diese brauchte jedoch nicht einmal einen erneuten Befehl und verschwand ein weiteres Mal direkt vor den Augen ihres Gegners. Der Windstoß ließ Staub aufwirbeln und einige Pflanzen unter seiner Kraft nachgeben, ehe er sich dann in den Bäumen verlor. Dann, schon in der nächsten Sekunde erschien Psiana wieder direkt auf seinem Rücken.

    „Biss“, ordnete Andrew völlig routiniert an. Sogleich vergrub seine Prinzessin die spitzen Eckzähne im Nacken des ach so stolzen Adlers und ließ diesen empört aufkreischen. Wild flatterte er umher, schlug mit seinen Schwingen um sich, in der Hoffnung, das Psychopokémon irgendwie abzuwerfen. Tatsächlich konnte Psiana sich diesem wild gewordenen Federvieh nicht lange erwehren, so fest es auch zubiss. So sprang es vom Rücken Washakwils ab, benutzte vorsichtshalber noch einmal Teleport und stand schließlich wieder direkt vor Andrew, welcher ihr zufrieden zuzwinkerte.

    Terry nahm von den wütenden Schreien seines eigenen Partners kaum Kenntnis. Er begann deutliches und aufrichtiges Interesse für Andrews Pokémon zu entwickeln. Innerhalb weniger Herzschläge hatte es sich von einem verspielten, braven Miezekätzchen in eine bissige Wildkatze verwandelt und dabei noch äußerst geschickt agiert.

    „Das eben war Teleport, nicht wahr?“, bemerkte Terry zudem. Eine winzige Spur von Hochachtung konnte er nicht verbergen.

    „Gut beobachtet, damit kannst du dir deine Geschwindigkeit an den Hut stecken.“

    Andrews Antwort war gar nicht nach Terrys Geschmack. Sie war ihm viel zu wahr. So schnaubte er einmal angestachelt auf und wischte sich unter der Nase.

    „Wir werden sehen.“

    Anschließend befahl er Washakwil, mit Aero-Ass anzugreifen – ein Wunsch, dem der wütende Adler nur allzu gerne nachkam. Mit einem einzigen Flügelschlag schoss es wie ein Pfeil geradeaus und fixierte Psiana mit seiner weit aufgerissenen Iris.

    „Alles klar, jetzt Psychokinese!“, befahl Andrew selbstsicher. Schier endlose Gerissenheit und eine verspielte Freude nahmen den Platz in den Seelenspiegeln der Psychokatze ein, welche schon in der nächsten Sekunde unheilvoll in einem schillernden Blauton aufleuchteten. Eine gleichfarbige Aura schloss sich im selben Herzschlag um den Körper Washakwils und entmachtete ihn seiner Kontrolle. Es blieb nicht einfach in der Luft stehen, sondern flog bei gleichbleibendem Tempo stur geradeaus, als befände es sich auf einer Schiene. Psycho-Typen wurden für so manche Attacke gefürchtet. Aber kaum eine reicht an diese hier heran, die dem Gegner sämtlicher Macht über den eignen Körper beraubte. Die Opfer hassten Psychokinese, während die Anwender sie liebten.

    „Ab ins Erdgeschoss“, rief Andrew nun und konnte sich sein zufriedenes Grinsen kaum verkneifen. Wie ein Flugzeug, dessen Nase nach unten gedrückt wurde, ließ Psiana ihren wehrlosen Gegner gnadenlos in den Waldboden abstürzen. Den Schmerzensschrei konnte die Psychokinese nicht verhindern, doch das war sowohl Pokémon als auch Trainer recht gleichgültig. Washakwil schrammte fast die gesamte Distanz bis hin zu der lavendelfarbenen Katze den Boden entlang, bevor Andrew ihr ganz simpel befahl, ihm den Rest zu geben. Ein dankendes „Psi“ erklang daraufhin, da Psiana – und das wusste ihr Trainer nur zu gut – es liebte, wenn sie einen Kampf wenigstens zum Teil nach eigenem Ermessen gestalten durfte. Genug Vertrauen bekam sie für solche Aktionen.

    Es dauerte auch nicht lange, da die Katzendame eine Entscheidung getroffen hatte. In grellen Lichtern begann ihr Stirnamulett aufzuleuchten. Eine gelbe Lichtkugel, vollgeladen mit elektrischer Energie, erschien davor. Knisternd, leuchtend, die Macht einer gefürchteten Naturgewalt haltend, spürte Psiana, wie die Energie unter ihrer Kontrolle um Freiheit zappelte, als sei sie lebendig. Mit größter Freude im Herzen schoss sie die Blitzkanone ab und traf Washakwil direkt auf den Schädel. Für einen Sekundenbruchteil wurden alle Augen geblendet. Ein heißer und zugleich stechender Schmerz ergriff von seinem Körper Besitz. Der Schock lähmte seine Glieder, während es wie von einer unsichtbaren Kraft der freigesetzten Elektrizität zurückgeschleudert wurde. Die entladene Spannung sprengte glatt die oberste Erdschicht frei, sodass es zu beiden Seiten Steine regnete. Der kurze Flug endete direkt vor den Füßen seines Trainers, welcher starr auf den Adler hinabblickte. Einige Blitze zuckten noch weiter um den Federleib und feiner Rauch stieg von seinem Körper empor, welcher von einem leicht verbrannten Geruch begleitet wurde. Andrew war absolut zufrieden. Genauso hatte er sich das vorgestellt.

    „Noch Fragen?“

    Terry antwortete nicht, erwiderte dieser hochmütigen Geste nur einen finsteren Blick. Doch schon im nächsten Moment, wandelte sich der Gesichtsausdruck des Johtonesen. Nicht etwa wegen seines Gegenübers. Von dem hatte er keine andere Reaktion erwartet. Nein, Washakwil war es. Es bewegte sich tatsächlich noch Seine Schwingen zuckten gequält unter dem Befehl ihres Meisters, ihm noch einmal zu gehorchen und schienen dagegen aufzubegehren. Doch das stolze Flugpokémon blieb stur, zwang seinem erschöpften Körper seinen Willen auf und versuchte wahrhaftig noch einmal aufzustehen!

    Das qualvolle Ächzen und Stöhnen des Adlers war kaum laut und kraftvoll genug, um an das Ohr seines Trainers zu gelangen, was bedeutete, dass Andrew und auch Ryan – welcher die Behandlung von Schwalboss mittlerweile beendet hatte – die Laute nur an den sich immer wieder öffnenden Schnabel Washakwils erahnen konnten. Und der Junge in der Jeansjacke wollte schon seinen Augen nicht trauen, als es sich wirklich schon mit einem Bein gegen die Schwerkraft stemmte, da leuchtete es plötzlich in rotem Licht auf und verschwand innerhalb eines Augenblicks in dem Pokéball, den Terry erhoben hatte. Dieser schnaubte nur ein weiteres Mal und verfrachtete ihn wortlos in seinem Gepäck.


    Andrew konnte endlich einmal aufatmen. Washakwil war geschlagen, was dessen Trainer wohl ebenfalls erkannt hatte. Mit ihm noch länger zu kämpfen hätte wohl nur dessen Gesundheit gefährdet. Es überraschte nicht grade übermäßig, dass dieses Pokémon von der unvernünftigen Sorte war, die sich niemals geschlagen geben wollte. Siegeswille in allen Ehren, irgendwann erreichte ein jedes Pokémon sein Limit. Diesen wahnsinnigen Adler endlich los zu sein, war eine echte Befreiung und konnte sogar den aufrichtigen, wenn auch ein Stück weit wiederwilligen Respekt, welchen er für Terry zu entwickeln begann, in den Schatten stellen, da er seinen Kämpfer zu dessen eigenem Wohl zurückgerufen hatte. Ein guter Trainer wusste eben auch, wann ein Fortsetzen des Matches keinen Sinn mehr machte.

    Terry hatte den Kopf leicht gesenkt, sodass sein Gesicht größtenteils von seinem blassroten Haar verdeckt wurde. Auch als er anschließend das Haupt erhob und direkt in den Himmel starrte, fielen ihm Strähnen ins Gesicht und verliehen ihm eine merkwürdige Erscheinung von Trance. Was ging denn in dem gerade vor?

    „Es ist ein tolles Gefühl, nicht?“

    Eine Frage aus heiterem Himmel. Andrew wusste sie nicht zu beantworten. Was faselte er?

    „Mit seinem Pokémon eine Einheit zu bilden. Sich blind zu verstehen und immer fest am selben Strang zu ziehen. Das ist das höchste aller Gefühle, findest du nicht?“

    Andrew war mehr als irritiert von dieser plötzlichen, sentimentalen Ansprache. Die ganze Zeit über schien Terry mit Leib und Seele in nichts anderes als das Match vertieft zu sein. Mit kühlem Kopf und ohne nennenswerte Gefühle oder Emotionen zu offenbaren und auf einmal predigte er hier vor sich hin?

    „Ich kann sehen, wie nahe du deinen Pokémon stehst. Vorhin waren du und Schwalboss voll auf einer Wellenlänge. Hättet ihr nicht so eine Bindung, wärt ihr gegen uns baden gegangen, ohne Washakwil auch nur eine Feder zu krümmen.“

    War das gerade ein Bob gewesen? Mit einem solchen hatte Andrew aus seiner Richtung nun wirklich nicht gerechnet.

    „Und besonders Psiana“, fügte er – man wollte es nur vorsichtig auf diese Weise formulieren – begeistert hinzu.

    „Ihr versteht euch absolut blind und kennt euch in und auswendig, das seh ich sofort. Es ist toll, euch beide so zu sehen. Bei Ryan ich so etwas bislang nie erkennen.“

    Gerade rollte dieser grunzend mit den Augen. Selbst während eines Kampfes ließ der Depp es nicht bleiben. Ohne Andrew zu nahe treten zu wollen, aber es gab nichts an ihm, das er nicht auch besaß, oder nicht konnte. Oder?

    „Ich verstehe ehrlich gesagt nicht wirklich, warum du mit ihm unterwegs bist.“

    Hier hob Andrew eine Augenbraue. Eigentlich war ihm gerade gar nicht nach Quatschen. Das machte man nach dem Kämpfen. Wobei er auch dafür bislang wenig Lust verspürt hatte.

    „Du fragst dich, warum ausgerechnet er mein bester Kumpel ist und nicht etwa jemand wie du?“, versicherte Andrew sich der Frage. Schmunzelnd zuckte er mit den Achseln. Er hatte nicht wirklich vor, eine Antwort abzuwarten.

    „Ist nicht so, dass der Junge irgendwo kein Idiot wäre. Aber gleich und gleich gesellt sich ja gern“, erklärte er mit einer ordentlichen Portion an Eigenhumor.

    „Selbst wenn es nur darum geht, irgendeinen Mist zu verzapfen und danach wieder auszubaden, macht das zusammen mit Ryan schlicht den meisten Spaß.“

    Schlagartig trat ein abweisender Ausdruck auf sein Gesicht. Der Kopf senkte sich und in seine braunen Augen funkelten missmutig, geradezu angewidert, während er sich zu einem schiefen Grinsen zwang.

    „Außerdem nervst du mich einfach tausend Mal mehr, als Ryan es je könnte.“

    Es entstand eine kurze Pause zwischen den beiden Trainern. Andrew hatte diese willentlich eintreten lassen, um Terry Gelegenheit zu geben, über seine Sicht der Dinge nachzudenken. Dieser jedoch tat eben das nicht und knüpfte wieder nahtlos an seine Rede an.

    „Aber eine Verbindung zu deinem Pokémon zu haben, ist nicht einmal die halbe Miete. Das Allerwichtigste fehlt dir ganz eindeutig.“

    Eine kurze Pause folgte in der Terry eindringlich den Blick seines Gegenübers musterte und zufrieden feststellte, dass er nicht wusste, von welcher ach so wichtigen Gabe er sprach. Doch er hatte nicht vor, es ihm zu verraten. Das hatte Zeit bis später, aber eigentlich musste ein Trainer so etwas schon selbst erkennen.

    „Leider hab ich heute noch was vor, deshalb werde ich den Kampf jetzt beenden.“

    Dieser letzte Satz schaffte es, Andrew sämtliche vorangegangenen Worte vergessen zu lassen. In diesem Satz, in dem er die Herausforderung wiederfand, ebenso wie den Gegner, wie er ihn die ganze Zeit über gesehen hatte. Ryan beschlich derweil eine ungute Vorahnung, was durchaus seine Gründe hatte. Im Finale der Silberkonferernz hatte Terry etwas Ähnliches zu ihm gesagt, als er sein letztes Pokémon in den Kampf geschickt hatte. Und jene Vermutung bestätigte sich, als er mit einer flinken Handbewegung einen weiteren Pokéball von seinem Gürtel löste und ihn aufschnappen ließ, ohne das Objekt von seinem Griff zu lösen. Der weiße Lichtschein formte sich zu einer etwas über zwei Meter großen, aufrecht gehenden Gestalt. Die Silhouette ließ zwei schmale Arme sowie zwei Beine und einen Schweif ausmachen. Ein recht langer Hals endete in einer markanten Kopfform, welche die üble Vermutung bereits bestätigte. Als das Licht dann erlosch, stieß der Trainer am Rande des Kampffeldes ein entmutigtes „Oh, scheiße“ hervor.

    Andrew gab sich allergrößte Mühe, seine Kinnlade oben und seine Augen in den Höhlen zu behalten. Vor ihm stand ein gewaltiger Drache mit rabenschwarzen Schuppen, welche jedoch weitestgehend von Olivfarbenen Panzerplatten umhüllt waren. Der angemerkte Schädel war zwar klein, doch besaß er an den Seiten je eine blutrote, sichelförmige Klinge. Man nannte sie auch Beilkiefer. Die Arme waren im Vergleich zu den kräftigen Oberschenkeln eher dünn, doch die tödlichen, ebenfalls roten Klauen, mit denen sie bestückt waren, bedurften sicher nicht viel roher Gewalt. Es waren messerscharfe Präzisionswerkzeuge, die selbst Gestein wie Styropor spalten konnten. Leicht geöffnet raunte das Pokémon aus seiner Kehle, wie eine Windböe in einer Schlucht. Der heiße Atem, der daraus hervorstieß, war selbst in der Mittagshitze dieses Frühsommertages noch zu sehen. Der Schweif pendelte langsam und ruhig hin und her, während das Monster ansonsten keinen Muskel rührte. Es hatte nur sein Ziel, Psiana, im Blick.

    „Wir machen es kurz“, wies Terry seinem neu erschienenem Pokémon. Betont langsam und voller Hochgenuss sprach er den Namen aus, mit dem Ryan – dessen war er sich definitiv bewusst – keine guten Erinnerungen verband.

    „Dann mal los, Maxax.“

    Nicht drum herum kam der Rotschopf, seinem Rivalen am Rande des improvisierten Kampffeldes einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Sein Gesicht war jedoch unter dem Schirm seines Cappys verschwunden, das Ryan bewusst tiefer gezogen hatte und mit seiner rechten Hand weiter festhielt. Die linke hatte sich krampfhaft in den trockenen Waldboden gegraben und schien die Erde regelrecht erdrücken zu wollen. Dies war allemal eine Genugtuung für Terry und stimmte ihn zufrieden.

    Im Finale der Johto Liga hatte er sich Maxax bis zum Schluss aufgehoben. Ryan hatte zu diesem Zeitpunkt noch sein halbes Pokémonteam zur Verfügung gehabt und obwohl sie bereits alle schon einmal gekämpft hatten, hätte wohl niemand mehr damit gerechnet, dass der Trainer aus Einall den Kampf doch noch für sich entscheiden würde. Stahlos, Iksbat, sogar Despotar... alle drei hatte es geschlagen und auch wenn der Ausgang sehr eng gewesen war, so erschien es ihm rückblickend nahezu unmöglich, dass er dieses Pokémon ohne die Hilfe seines Impergator irgendwie hätte schlagen können. Dementsprechend schien ihm ein Sieg von Andrew inzwischen so wahrscheinlich, wie die Chance, dass sein Hydropi morgen den Hyperstrahl beherrschen könnte.

    Doch der verzog kaum eine Miene bei dem Anblick des gewaltigen Drachen.

    „Is ja niedlich“, kommentierte er dessen Erscheinen unbeeindruckt. Während Terry geradezu mitleidig über diese Ignoranz vden Kopf schüttelte, biss sich Ryan wütend auf die Unterlippe. Jeder Mensch hätte wohl gedacht, dass Andrew sich selbstsicherer gab, als er es tatsächlich war, doch er wusste nur zu gut, dass sein bester Freund mal wieder drauf und dran war, blind in ein offenes Messer zu rennen. Wahrscheinlich würde ihm das Wort Vorsicht selbst dann nicht in den Sinn kommen, wenn man es auf ein Brett schreiben und ihn damit verprügeln würde.

    „Wenn du keine Zeit mehr hast, kann ich gerne den Schlussstrich für dich ziehen“, höhnte Andrew stattdessen, woraufhin Ryan dem Impuls widerstehen musste, sich gegen die Stirn zu schlagen.

    „Idiot“, stieß er zwischen den Zähnen hervor. Terry schien wenig überzeugt von diesem Optimismus und winkte seinen Gegner provokant heran.

    „Nur zu. Lass mich sehen, wie du´s versuchst.“

    Womit es dann aber auch genug der Worte war. Die Kontrahenten begaben sich in Kampfposition, was sich seitens der Psychokatze lediglich so gestaltete, dass sie sich die Mühe machte, auf allen vier Pfoten zu stehen. Maxax auf der anderen Seite hob kampfbereit die mächtigen Klauen, stampfte einmal auf, um die Erde unter sich erzittern zu lassen und lies ein unheilvolles Grollen aus seiner Kehle vernehmen. Andrew ergriff diesmal die Initiative.

    „Fang an mit Spukball!“

    Psiana war äußerst schnell darin, die Energie für einen Spukball zu sammeln. Die dinkelviolette Sphäre vor ihrem Stirnamulett ward schon eine Sekunde später zu voller Größe angewachsen und auf den gepanzerten Drachen geschleudert. Andrew beobachtete die Szene ganz genau und hatte dabei auch ein Auge auf Terry gerichtet. Wenn er so ein immenses Vertrauen in dieses Maxax steckte, musste das was heißen. Vielleicht kämpfte er hier gerade mit seinem stärksten Pokémon.

    Und wenn schon. Andrew tat das ja ebenso. Terry gab sich jedoch ungemein ruhig, geradezu überheblich. Eine Hand war lässig in der Jackentasche vergraben. Generell war die ganze Körperhaltung lässig und arrogant, doch zeitgleich auch selbstbewusst. Zugegeben der Johtonese wusste jetzt selbst nicht genau, was er erwartet hatte, aber irgendeine Reaktion hätte doch folgen müssen. Es geschah nichts dergleichen. Er und Maxax erwarteten den Angriff wie regungslos und unbehelligt.

    Als der Spukball schließlich direkt auf der Brust detonierte, wurde die ganze Lichtung davon erschüttert. Einige Bäume verloren Teile ihres Laubes. Hinter Maxax konnte man beobachten, wie die Druckwelle wütend an Terrys Kleidung zerrte, obwohl er nur einen Bruchteil davon spürte. Der Drache wurde unterdessen in violette Rauchschwaden eingehüllt. Nicht einen Millimeter hatte er sich von der Stelle gerührt, geschweige denn einen Laut von sich gegeben.

    Psiana hatte nicht halbherzig angegriffen, allerdings auch nicht alles was sie hatte in den Spukball gesteckt. Das war schließlich bei Washakwil auch nicht nötig gewesen. Eben dessen wilder und tobender Blick war wie der eines Kükens, verglichen mit den blutrot leuchtenden Augen von Maxax, welche den Rauch durchstachen. Für einige Momente beobachteten beide Parteien einander nur, ohne eine neue Attacke einzusetzen. Diese Zeit genügte, damit die Sicht auf Maxax wieder völlig frei wurde. Es hatte sich nicht einen Zentimeter bewegt. Andrew blieben im wahrsten Sinne alle Worte im Halse stecken, als diese blutrünstigen, absolut tödlichen Augen sich auf ihn legten. Wie konnte er das Gefühl beschreiben, das sie ihm vermittelten? Die Antwort war unglaublich einfach und mehr als angemessen. Angst war es, die von Andrew Besitz ergriff. Angst vor dem, was Maxax seinem Psiana oder vielleicht sogar ihm selbst antun könnte.

    Doch anders als der Adler zuvor, schien das Drachenpokémon seinen Zorn absolut bändigen zu können. Es war bei weitem nicht so in wilder Rage gefangen, wie Washakwil und wirkte – abgesehen von seinem tödlichen Blick und dem furchterregenden Grollen – absolut ruhig und beherrscht. Sein Atem ging kontrolliert und gleichmäßig und die Arme wirkten entspannt. Lediglich in der Iris brannte die Hölle. Fast wollte Andrew es mit einem Pulverfass vergleichen, dass beinahe überquoll. Es brauchte nur jemanden, der das fatale Streichholz entzündete, was der Trainer aus Einall in diesem Moment tat.

    „Maxax“, setzte Terry gelassen an. Die gepanzerte Echse regte sich unglaublich langsam, grub sein Standbein fest in die Erde, streckte kurz die gefährlichen Klauen und fixierte präzise seinen Gegner. Zu jeder Zeit bereit, in zu attackieren.

    „Los, Drachenklaue.“

    Mit einem einzigen Satz machte es einen Sprung nach vorne, überwand innerhalb einer Sekunde die gesamte Distanz zwischen ihm und Psiana. Andrew sog scharf Luft ein. Noch bevor sein Verstand überhaupt realisiert hatte, was gerade geschah, war es bereits zu spät. Mit weit aufgerissenen Augen sah die Psychokatze ein blaues Aufleuchten der Krallen, welche um die doppelte Länge anwuchsen. Der zierliche Körper brach unter der geballten Kraft des Drachen zusammen, als sie auf Psiana nieder ging. All der Zorn und der Hass, der jenem zuvor noch in den Pupillen gestanden hatte, entlud sich in einem einzigen fatalen Schlag und es bebte tatsächlich die Erde unter ihm. Ein Schockbeben wurde durch den Waldboden gejagt und ließ einige Risse aufspringen.

    Andrews Beine zitterten wie Espenlaub. Stellte sich nur die Frage, ob dies auf die zitternde Erde oder seine Angst vor Maxax zurückzuführen war. Vielleicht konnte er sich selbst auch einfach nicht mehr kontrollieren, was angesichts von Psianas Zustand ebenfalls eine plausible Erklärung wäre. Bei dem Katzenwesen rührte sich nichts. Ihr Körper lag regungslos da, als der Drache einen Schritt zurück machte und zufrieden sein Werk betrachtete. Der junge Trainer brauchte einige Momente, um seine Stimme wiederzufinden und seine Muskeln wieder kontrollieren zu können. Da war er einfach mit einer einzigen Attacke überrumpelt worden. War von Kraft und Schnelligkeit seitens Maxax derart überwältigt, dass er nun wie ein Anfänger aussah, der nicht wusste, wie er auf einen simplen Angriff reagieren sollte und tatenlos zugesehen hatte, wie sein stärksten Pokémon in Grund und Boden gestampft worden war..

    „Bist du wahnsinnig!?“, brüllte er seinen Gegenüber nach einer sekundenlangen Stille an. Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte er, so schnell seine weichen Knie ihn trugen, zu seiner Partnerin und ließ sich vor ihr auf selbige fallen. Mit unendlicher Vorsicht hob er sie auf und strich ihr sanft durch das nun völlig verdreckte Fell. Das geschundene Pokémon blieb schlaff in seinen Armen.

    „Was zum Teufel ist los mit dir? Willst du Psiana umbringen, oder was?“

    Der Angeklagte schnaubte nur abfällig und bedachte Andrew zum ersten Mal an diesem Tag mit einem überaus geringschätzigen Blick.

    „Mach nicht so einen Aufstand. Wir wissen unsere Kraft gut zu kontrollieren.“

    In Maxax‘ Fall stimmte das definitiv. Andere seiner Pokémon, wie Washakwil, vermochten noch deutlich weiter zu gehen, wenn Terry die Zügel nicht stramm hielt.

    „Die Schwachen haben keine Recht, sich zu beschweren. Vergiss nicht, wer den Kampf gefordert hat.“

    Seinem Ton wohnte eine arrogante Überheblichkeit inne und klang dabei, als wolle er einem Amateur einen nicht allzu gut gemeinten Rat erteilen. So und nur so hatte Ryan ihn bislang gekannt und zu hassen gelernt. Erst mit dem Triumph im Rücken besaß er die Courage, offen und ehrlich über seine Gegner zu urteilen und seinem an Massen vorhandenen Spott freien Lauf zu lassen. Noch nie hatte Ryan es erlebt, dass er bereits vor einem Kampf auf seinen Gegner herabgesehen hatte, sofern dieser unbekannt war. Stets hatte er sich in geheuchelter Bescheidenheit geübt, um sich dann, sobald er in seinem Sieg badete, zu jedem noch so herablassenden Spruch ermächtigt zu fühlen. Ryan hatte es immer so aufgefasst, dass Terry in dem Glauben lebte, der Verlierer habe bei jedem noch so gehässigen Kommentar des Siegers den Mund zu halten. Für gewöhnlich gestaltete das Charisma die Kampfresultate mit. Bei Terry war es genau umgekehrt. Sein Charisma war das Resultat seiner Kämpfe.

    „Du besitzt ein gewisses Talent für Überraschungsattacken und hast hin und wieder gute Strategien in der Offensive, aber das ist nicht ansatzweise ausreichend. Du hast offenbar keine Ahnung, wie man ein Pokémon auf den Kampf einstellt und du verstehst es nicht, aus ihrem Adrenalin einen Vorteil zu ziehen. Auch sie denken und fühlen während eines Kampfes, mein Freund.“

    Andrew lies es sich möglichst nicht anmerken, doch in ihm keimte eine unglaubliche Lust auf, Terrys hässliche Visage umzugestalten. Langsam aber sicher verstand er Ryans Einstellung dem Jungen aus Einall gegenüber. Dieser hatte sich inzwischen aufgerichtet und kam gemächlichen Schrittes auf seinen Reisegefährten zu, das verletzte Schwalboss auf dem Arm tragend. Ohne ein einziges Wort verfrachtete der geschlagene Trainer seine Schützlinge in deren Bälle und seufzte laut, während er ebenfalls auf die Beine kam. So hatte er sich dieses Match sicher nicht vorgestellt.

    „Soll ich dir verraten, was ich gemeint habe, als ich sagte, dass dir etwas fehlt?“, fragte Terry nun weiter. Bitte, der konnte doch jetzt nicht wirklich auf die Idee kommen, dass Andrew an seinen Lektionen interessiert sei.

    „Es ist Können. Du bist nicht schlecht, aber ganz einfach nicht in meiner Liga. Bevor du also noch mal jemanden von meinem Kaliber herausforderst, solltest du besser noch ein wenig üben“, riet Terry nun, als er an Maxax Seite trat. Doch Andrew war nicht gewillt, sich das weiter schweigend anzuhören. Terry verstand es zu kämpfen, daran gab es nichts zu rütteln. Aber verdammt er war so ein mieses Arschloch! Wie hieß noch dieses alte Sprichwort? Nur im Kampf lernt man seinen Gegner wirklich kennen? Sicher war das vom Prinzip her anders gemeint, aber nichtsdestotrotz meinte Andrew nun zu wissen, was es wirklich damit auf sich hatte.

    Gerade richtete er sich auf, um ihm diese Worte ins Gesicht zu schleudern, ganz gleich, wie der Drache an seiner Seite reagierte. Das war ihm mittlerweile echt egal. Doch nur einen Moment, bevor er den Mund geöffnet hatte, war es plötzlich Ryan, der ihm womöglich vor einem riesigen Fehler bewahrte. Allerdings tat er dies völlig unfreiwillig und unwissentlich. Gleiches galt für die Tatsache, dass er selbst es war, der einen Fehler beging.

    In diesem wahrlich niederschmetternden Augenblick hatte er sich selbst nicht davon abhalten können, in die Tasche seines Sweatshirts zu greifen und den darin verweilenden grünen Orb fest mit seiner rechten Hand zu umklammern. Sowie dies geschah, schien plötzlich irgendetwas in Maxax vorzugehen. Aufgeschreckt zuckte es zusammen und stieß einen erstickten Laut aus. Die Augen wurden weit aufgerissen und anschließend auf den blonden Trainer gerichtet. Deutliches Unbehagen machte sich in Ryan breit, als das Drachenpokémon langsam einen Schritt auf ihn zumachte und dabei unheilvoll grollte. Terry maß dem scheinbar noch nicht sehr viel Gewichtung bei und legte seinem Partner eine Hand beruhigend auf die Flanke. Als er bereits weitersprechen wollte, kam Maxax dem eingeschüchterten Ryan jedoch noch einen Schritt entgegen.

    „Hey, was ist?“, fragte Terry nun arg verdutzt. Er begann zu begreifen, dass etwas mit ihm überhaupt nicht stimmte. Natürlich erkannte er das Gesicht des größten Rivalen seines Trainers, aber noch nie hatte es diesem gedroht.

    Dieser versuchte, seine Mimik zu wahren, keine Angst zu zeigen, doch wer hätte das in seiner Situation schon geschafft? Der Gedanke, was passieren würde, wenn es nun auf ihn losging, war absolut furchterregend. Doch warum sollte es das tun? Es hatte doch überhaupt keinen Grund dazu.

    „Maxax, beruhi…“, begann Terry besänftigend, aber noch bevor er ausgesprochen hatte, brüllte dieses einmal laut, während es den Kopf in den Nacken legte. Alle Anwesenden zuckten zusammen und stockte in diesem Augenblick der Atem. Andrew huschte verschreckt zur Seite, während Terry einen letzten Versuch unternahm, Maxax zu stoppen. Es war vergebens.

    Als es den Schädel wieder nach vorne warf, öffnete sich das Maul und entfesselte einen züngelnden, blauen Flammenstrahl. Versuchte Maxax nun Ryan umzubringen? War es denn vollkommen übergeschnappt? Warum? Warum war es plötzlich so aggressiv?

    Ihm blieb keine Zeit für derartige Überlegungen. Er reagierte instinktiv, ließ einzig und allein seine Reflexe arbeiten. Den Sprung zur Seite hätte er wohl nicht mehr geschafft. Als würde man ihm einen Teppich unter den Füßen wegziehen, ließ er sich daher einfach auf die trockene Erde fallen, in der Hoffnung, dass die Drachenwut über ihm vorbeiziehen würde. Dabei schloss Ryan die Augen und schützte sein Gesicht mit den Unterarmen. Wohlwissend, dass er das Drachenfeuer nicht abwehren könnte, wollte er den flammenden Tod nicht kommen sehen. Die Hitze war aus dieser Nähe unglaublich intensiv. Auf seiner Haut breitete sich bereits ein brennendes Gefühl aus. Doch theoretisch könnte all das auch Einbildung oder ein Resultat seines Schocks sein. Ein Stoß ging durch seinen Körper, als er durch die Macht der Schwerkraft im Staub landete und für eine Sekunde fiel es ihm schwer zu atmen. Alles was er jetzt in diesem Bruchteil einer Sekunde noch tun konnte, war zu beten.

    Es herrschte plötzlich totale Stille. Kein Wind spielte seine Musik in den Wipfeln der Bäume und kein Wild gab auch nur einen Mucks von sich. Fast war es, als hätte die Welt den Atem angehalten. Es dauerte einen Moment, bis Ryan in vergeblicher Erwartung des Todesschmerzes wieder einen Blick hinter den noch immer erhobenen Armen hervor riskierte. Maxax war weg. Er war am Leben. Und unverletzt. Er hatte Glück gehabt. Doch aufzuatmen traute er sich dennoch aus irgendeinem Grund nicht. Stattdessen sog er die Luft gierig und mit schweren, langen Zügen ein, nur um sie rasch wieder auszustoßen.

    Es blieb nur der Anblick von Andrew und dem nicht minder verstörten Terry, der gerade den Pokéball senkte. Alle drei atmeten sie unruhig und hatten die Augen weit geöffnet, warfen sich gegenseitig fragende Blicke zu. Letztlich legten sich die der beiden Johtonesen aber auf Terry, bevor schließlich Ryan als erster seine Stimme wiederfand.

    „Ihr wisst eure Kraft zu kontrollieren, ja?“

    Wütend kam er wieder auf die Beine, lehnte die helfende Hand seines Freundes dabei schweigend ab und trat fest direkt vor seinen Rivalen. Die Dämme waren am Brechen.

    „Ich weiß zwar nicht, warum dein Maxax das gerade getan hat und ich will´s auch irgendwie nicht wissen. Aber bei mir ist jetzt ´ne Grenze überschritten.“

    „Bevor du etwas sagst...“, setzte Terry an, die Hände beschwichtigend erhoben, jedoch wurde er von Ryan unterbrochen.

    „Tue ich nicht.“

    In diesem Moment landete eine behandschuhte Faust auf dem Kinn des Trainers aus Einall. Dieser stolperte einige Schritte zurück und fiel sogar beinahe in den Dreck. Sein schmerzverzerrtes Gesicht sowie den gequälten Laut, den er von sich gab, als er sich mit einer Hand an den Unterkiefer griff, waren in vielerlei Hinsicht eine Genugtuung. Sogleich eilte allerdings Andrew herbei und hielt Ryan zurück, bevor dieser ein weiteres Mal zuschlagen konnte.

    „Komm runter Alter, es reicht.“

    Selbstverständlich war auch er von den Ereignissen geschockt und aufgebracht, doch wenn hier nun wirklich eine Keilerei ausbrach, war keinem geholfen. Außerdem wollte er, so unsympathisch ihm Terry im Laufe dieses Mittags auch geworden war, nicht für den aggressiven Fehltritt seines Pokémons verantwortlich machen. Die Gemüter waren allgemein angeheizt und die Ereignisse hatte Bahnen eingeschlagen, die niemand hatte erwarten können. Es würde wohl das Beste sein, schnellstens getrennte Wege zu gehen. Umso erleichterter war er, da Ryan sich nicht gegen ihn wehrte.

    „Ich glaube, du solltest dich ganz schnell vom Acker machen, bevor hier noch jemand drauf geht“, schlug Andrew anschließend vor. Dies war nun eine der seltenen Momente, in denen er Vernunft zeigte und sich einigermaßen erwachsen verhielt. Und wie eben ein solcher Erwachsener wartete er von jedem der streitenden Parteien eine Antwort ab. Die beiden Rivalen nickten nur zögerlich, ließen den Blick aber noch für einige weitere Sekunden aufeinander haften. In ihren Augen war pure Abscheu zu erkennen, doch da Ryan weiter weiterhin in Schach gehalten wurde und Terry sich durch Maxax‘ Angriff ausnahmsweise nicht zu einem Rückschlag berechtigt fühlte, kehrten sie sich bald den Rücken. Zuvor richtete sich Terry jedoch noch einmal an Ryan.

    „Für die Aktion eben von Maxax entschuldige ich mich.“

    Mit diesen doch ehrlich gemeinten Worten wandte er sich endgültig zum Gehen. Wer ihn einigermaßen kannte, der wusste, dass er ein Mensch war, den eine Entschuldigung einiges an Überwindung abverlangte. Dementsprechend flau und leer klangen sie oft. Diese hier hatte dagegen absolut ehrlich geklungen. Wenn auch bitter und widerwillig. Zurück blieb das Duo aus Ryan und Andrew, der endlich von ersterem abließ. Mit einem heftigen Schock in den Knochen und einem Haufen von Fragen in den Köpfen.

  • Liebe liegt in der Luft <3 Oder so...
    Zumindest war die Luft genauso an knistern, nur auf eine andere Art und Weise (was irgendwie ja eher an Washi und Schwalboss liegen könnte XD). Ich hab mich grad'n Ast abgefreut, als Washakwil zum Einsatz gekommen ist. Ist wie du vielleicht weißt oder nicht, eines meiner absoluten Lieblingspokemon
    (na gut, das sind viele, aber dennoch) und auch diese leichte Arroganz von Washi gefällt mir sehr, wie es sich nicht von dem kleineren Schwalboss dominieren lassen will, was ich auch verstehen kann. ^^


    Ich muss dir ehrlich sagen, dass ich Terry mag. :D Er ist zwar ein wenig daneben, aber ich hab dennoch meine Sympathien für ihn. Lieg ich damit richtig, dass Terry echt starke Biester hat, aber sie kaum unter Kontrolle bringt (das sagt Andrew über Washakwil und Maxax greift sie ja an), weswegen er das mit Arroganz und bisschen arschigem Verhalten verschleiert?
    Was ich von der Drachenklauenaktion halten soll, weiß ich nicht. Maxax hat nichts Unrechtes getan, wenn er Psiana mit einer Drachenklaue angreift und muss sich in einem ernsthaften nur so weit zurückhalten, wie dass er seinen Gegner nicht ernsthaft oder tödlich verletzt.
    Andrew und Ryan sind ja andererseits auch ein bisschen arrogant, sonst würde er nicht behaupten, er wäre schon mit etwas ganz anderem fertiggeworden wäre als mit einem Washakwil.


    Jedenfalls scheint Maxax einen besonderen Zorn auf Ryan zu haben? Er wird doch nichts Schlechtes mit ihm verbinden? Jedenfalls schaut das nicht mehr nach "nicht unter Kontrolle" aus, sondern schon nach etwas anderem?
    Nach der Aktion verstehe ich, dass Ryan ihm eine klebt (bei Maxax wäre das eher eine schlechte Idee, außerdem ist es schon von der Bildfläche ^^, also muss man sich am Trainer vergreifen), wenn man zuvor Angst um sein Leben hatte.


    Toll geschriebene Kämpfe, viel Witz, viele Ideen und männliche Zickenkriege gibt's inklusive. Was will man denn als Leser mehr? ^^


    Zitat

    Dem Ton Terrys wohnte eine arrogante Überheblichkeit inne...


    Terrys Ton oder Terrys Tonfall...


    Zitat

    Wie in Zeitlupe begann sich der wild umherwirbelnde Körper von Washakwil plötzlich wieder auszurichten. Die Schwingen ausgebreitet und in gleichmäßigem Rhythmus auf und ab schlagend starrte es auf die erneut heran rauschende Schwalbe und offenbarte erneut einen Blick in seine Seelenspiegel.


    Ich habe Augen, du hast Augen, meine Katze hat Augen, Washakwil hat Augen... ;)


    Zitat

    „Ich komm nicht wirklich drauf, warum du mit ihm unterwegs bist.“
    „Du fragst dich, warum ausgerechnet er mein bester Kumpel ist und nicht etwa jemand wie du?“, versicherte Andrew sich der Frage. Schmunzelnd zuckte er mit den Achseln. Er hatte nicht wirklich vor, eine Antwort abzuwarten.
    „Ist nicht so, dass der Junge irgendwo kein Idiot wäre. Aber wir haben das auch irgendwie gemeinsam, wie etliche andere Dinge. Selbst wenn es nur darum geht, irgendeinen Mist zu verzapfen und wieder auszubaden, macht das mit ihm zusammen schlicht den meisten Spaß.“
    Schlagartig trat ein abweisender Ausdruck auf sein Gesicht. Der Kopf senkte sich und in seinen braunen Augen funkelte Feindseligkeit, während er schief grinste.
    „Außerdem nervst du mich einfach tausend Mal mehr, als Ryan es je könnte.“


    Haha, du musst dich die Bastet grinsend vor'm Monitor vorstellen. Das ist der beste Dialog, den ich seit langem gelesen habe haha =D
    Das fügt sich gleich dazu =D

    Zitat

    „Niedlich“, kommentierte er dessen Erscheinen. Während Terry recht mürrisch drein blickte - wohl hatte er erwartet, dass sein Gegner wenigstens ein bisschen beeindruckt wäre –, biss sich Ryan wütend auf die Unterlippe. Jeder Mensch hätte wohl gedacht, dass Andrew sich selbstsicherer gab, als er es tatsächlich war, doch er wusste nur zu gut, dass sein bester Freund mal wieder drauf und dran war, blind in ein offenes Messer zu rennen. Wahrscheinlich würde ihm das Wort Vorsicht selbst dann nicht in den Sinn kommen, wenn man es auf ein Brett schreiben und ihn damit verprügeln würde.
    „Idiot“, stieß er zwischen den Zähnen hervor.


    Sauber XD Geil formuliert. ^^

  • So, ich meld mich auch mal wieder.^^


    Also die Kämpfe waren wieder echt klasse geschrieben, auch wenn es sich schon eine ganze Weile zieht dafür dass es ja nur ein Straßenkampf ist (gut, mit dem höchsten Kaliber an Trainern und Pokemon, zugegeben^^). Faszinierend finde ich jedenfalls, wie du beim Schreiben zwischen Innen- und Außensicht bei Trainern und Pokemon wechselst und eben gerade auch die Emotionen der Pokemon deutlich zum Ausdruck bringst, was häufig ja eher vernachlässigt wird. Außerdem hält gerade der erste Kampf zwischen Washakwil und Schwalboss einige unerwartete Wendungen bereit. Wär hätte gedacht, dass Schwalboss so viel einstecken kann und Washakwil so ein Killer-Vogel ist? ^^ Wenigstens scheint Terry ihn im Griff zu haben - und ernsthaft: so sehr Arschloch ist er doch eigentlich gar nicht. Er ist jedenfalls nicht unfair oder grausam, aber durchaus ziemlich arrogant und aus dem Grund auch nervig.
    Über Psianas Auftritt habe ich mich natürlich - wen wunderts? ^^ - besonders gefreut. ^^ Gerade dieses unbeteiligt tun, das den Adler so auf die Palme gebracht hat, war einfach herzallerliebst xD Dafür ging es mir dann schon wieder zu schnell wie schnell der Kampf gegen Maxax beendet war. Ein Angriff und das war es, wirklich? Psiana hat doch in dem vorhergehenden Kampf noch gar nichts einstecken müssen. Klar, Maxax ist ein riesiges Drachenmonster mit entsprechender Power dahinter wenn der zuhaut, aber Schwalboss ist immerhin aus schwindelerregenden Höhen ungespitzt in den Boden gerammt worden und konnte danach - unglaublicherweise - noch aufstehen, da wirkt Psiana dann irgendwie doch schwach dagegen.
    Schön ist nach dem Kampf wieder der Bezug zurück zur eigentlichen Story. Der geheimnisvolle grüne Drachenherzsplitter, den Maxax wahrzunehmen scheint und Ryan daraufhin am liebsten umbringen würde. Eine brenzlige Situation, aus der Ryan nur knapp entkommt. Das war spannend geschrieben. ^^
    Was mich ein wenig gewundert hat, dass beide Pokemon von Terry so hasserfüllt wirken. Bei Washakwil dachte ich noch, okay, der Vogel ist ein Einzelfall, spät eingefangen und eine Inkarnation der Wildheit und Gnadenlosigkeit, die ihn zum Herrscher seines Reviers gemacht hat. Aber bei Maxax war es letzendlich wieder genau das gleiche. Natürlich war es kein Übungskampf und es ist klar dass die Pokemon da alles andere als verspielt rangehen, aber während man denken sollte dass sonst eher der Wettbewerbsgedanke im Vordergrund steht, verhalten sich Terrys Pokemon ein wenig so als ob sie es verdammt persönlich nehmen würden, und das in Maxax' Fall selbst dann, wenn der Gegner sie noch gar nicht besonders gereizt hat. Ob das nur für Terrys Pokemon gilt? Jedenfalls ist es mir bisher bei anderen Kämpfen nicht aufgefallen.



    Zum Abschluss noch ein paar Zitate:


    Wahrscheinlich würde ihm das Wort Vorsicht selbst dann nicht in den Sinn kommen, wenn man es auf ein Brett schreiben und ihn damit verprügeln würde.


    Lachflash. xD Sehr nice, wirklich. ^^


    Washakwils Blick war wie der eines Kükens, verglichen mit der brennenden Hölle selbst, die sich in der Iris von Maxax spiegelte.


    Nachdem wir Washakwil ja schon kennenlernen durften, ein wenig übertriebener Vergleich, oder?


    Psiana reagierte blitzschnell auf den Befehl ihres Trainers, da nicht einmal eine Sekunde später bereits der vertraute, siebenfarbene Strahl aus ihrem Stirnamulett hervorschoss und nach dem blauen Drachen zielte.


    Hä? Maxax ist doch nicht blau?! o.O


    Gerade richtete er sich auf, um ihm diese Worte ins Gesicht zu schleudern, ganz gleich, wie der blaue Drache an seiner Seite reagierte, das war ihm mittlerweile echt egal.


    Und nochmal das gleiche wie oben.



    Freu mich wenns weitergeht. ^^

  • Moin, moin und hallo,
    es ist endlich Re-Kommi Zeit! :cool:



    Nichts motiviert mehr als positives Feedback und anregende Tipps. Danke euch und bis bald.


    Shimo

  • Kapitel 16: Midnight horror


    Offiziell gehörte dieser schmale Küstenstreifen noch zu Blütenburg. Fühlte sich bloß irgendwie gar nicht so an. Jedenfalls nicht für Ryan und Andrew. Eher fühlten sie sich an Wurzelheim erinnert, obwohl selbst das noch eine Ecke größer war. Ähnlichkeiten fand man aber durchaus einige. Moderne Architektur traf naturnahe Kleinstadt am Meer. Gebäude, deren Größe über drei Stockwerke hinausging, suchte man gänzlich vergebens. Dennoch wirkten die nächtlichen Straßen, bunt und grell erleuchtet, als sei ein Straßenfest in der Stadt, durchaus belebt und keinesfalls ruhig. Vielleicht ließen es die Menschen hier tagsüber so langsam und entspannt angehen, dass sie bei Einbruch der Dunkelheit einfach mal die Sau rauslassen mussten.

    Zuvor, als Ryan und Andrew selbst noch durch die Straßen marschiert waren, waren ihnen nicht nur ein oder zwei angeheiterte Passanten entgegengekommen, sondern gleich ein gutes Dutzend. Einer hatte ihnen sogar seine Schnapsflasche angeboten – völlig im Rausch versteht sich, da die beiden so ein Zeug noch gar nicht legal konsumieren durften. Und nebenbei auch nicht wollten. Selbst Alkohol der nicht hochprozentigen Sorte, die sie oberhalb des Ladentisches erwerben könnten, genehmigten sich die beiden Trainer nur selten, zu gegebenen Anlässen.

    Die Diskotheken hätten sie daher auch dann gemieden, wenn sie nicht unter Zeitdruck gestanden hätten, da sich vor deren Türen bereits die Schnapsleichen gestapelt hatten. Doch nach vergangenen Tagen, wie Ryan und Andrew sie erlebt hatten, waren sie ganz bestimmt nicht in Feierlaune. Letzterer hatte gestern seinen Kampf gegen Terry verloren, wobei beide seiner Pokémon verletzt worden waren und sein Gefährte mit dem Cappy wäre sogar beinahe abgefackelt worden. Und so dies auch einen vergleichsweise weniger dramatischer Punkt darstellte, war zudem Hydropis jüngste Trainingseinheit – die nach einem Besuch des örtlichen Pokémoncenters noch fällig gewesen war – kaum zufriedenstellender ausgefallen, als der desolate Auftritt am Vortag. Zwar hatte es eine neue Attacke dazugelernt, doch diese richtig einzusetzen würde wohl ebenfalls noch seine Zeit dauern.

    So gesehen wäre wenigstens ein kurzer Besuch an der Bar, welche Fähre nach Faustauhafen besaß, ein verlockender Gedanke, um den gebrauchten Tag ein wenig zu ertränken. Zwei Punkte gab es allerdings, die strickt dagegen sprachen. Zum einen hielt Ryan es für absolut dämlich, seine Sorgen mit Alkohol zu lösen und zum anderen hätte er die Musik wohl nicht ertragen, da die schrille Technomusik fast schon hier an Deck seine Ohren angriff.

    Da die räumliche Auswahl sowie die Unterhaltungsmöglichkeiten bei weitem nicht so üppig war, wie auf der Fähre nach Wurzelheim, vertrieben sich die beiden jungen Trainer die Zeit damit, die langsam immer weiter in die Ferne rückenden Lichter der Küste tot zu starren. Schon komisch, nach so kurzer Zeit bereits wieder auf einem Schiff zu sein. Nicht, dass einer von ihnen ein grundlegendes Problem mit Schiffsreisen hatte. Dennoch freute man sich durchaus, dass dies mit der Ankunft in Metarost ein Ende haben würde. Es bot einfach nicht dasselbe Feeling beim Reisen. Ryan und Andrew mochten lieber von ihren eigenen Füßen getragen werden.

    Es war eine sehr windige aber doch angenehm warme Nacht auf See. Das Firmament wurde zwar von absolut lückenlosen Wolkendecken eingehüllt, doch die schwüle Luft des hier bereits angebrochenen Sommers machte jede Form der warmen Bekleidung unnötig.

    Zumeist war Ryan damit beschäftigt, sein Cappy festzuhalten, um es nicht an die peitschenden Windböen und somit an das schäumende Meer unter ihnen zu verlieren. Direkt unter ihnen rauschte das Wasser durch die große Schiffsschraube und wirkte dem dumpfen, donnernden Lärm von innerhalb entgegen. Andrews Aufmerksamkeit dagegen war meist von seiner Haarpracht eingenommen, da seine langen Strähnen ihm immer wieder ins Gesicht flogen. Eben darüber war Ryan äußerst dankbar, denn bei Einbruch der Dunkelheit hätte ein Blick in seine Augen die Ausrede mit den Kontaktlinsen wohl unbrauchbar gemacht. Dennoch ging er auf Nummer sicher und hielt den Blick meist abgewandt.

    „Wann kommen wir nochmal an?“, fragte er, als er mal wieder seine scheinbar völlig eigenständig gewordene Frisur zu bändigen versuchte.

    „So gegen sieben Uhr“, seufzte Ryan leicht genervt, da er diese Frage zum dritten Mal an diesem Abend beantwortet hatte.

    „Morgens? Die ticken doch nicht richtig.“

    Betont langsam ließ Ryan seinen Blick von der Festlandküste zu Andrew gleiten, um ihn absolut gleichgültig aus dem Augenwinkel anzublicken. Die Zielstrebigkeit und den Enthusiasmus eines Pokémontrainers ließ eigentlich nur in den seltensten Fällen Faulheit zu. Die wenigsten in ihrer Branche waren Langschläfer. Passte eigentlich nicht zum Rastlosen, diese Eigenart.

    „Ich könnte sich mit dem Kopf ins Salzwasser stippen, wenn´s beim Wachwerden hilft.“

    „Tut´s nicht auch ´n schwarzer Kaffee?“

    Für diese Frage erntete er einen verständnislosen Blick, als könne Ryan den Sinn hinter selbiger nicht ergründen. Hatte er jetzt ernsthaft um eine Kaffedusche gebeten? So wie er sich des Rätsels annehmen wollte, erhielt er eine Antwort, als hätte Andrew seine Gedanken gelesen.

    „In einem Becher, du Umnachteter.“

    Ryan war im Augenblick einfach nicht in Stimmung für solche Gespräche. Dem dämlichen Gelächter, das fast schon nach Spott klang, konnte und wollte er sich demnach auch nicht wirklich anschließen. Mehr noch, es war regelrecht zum Kotzen. Manchmal war Andrews Heiterkeit echt kräftezehrend. Kaum zu glauben, dass er nach der Klatsche gegen Terry bereits wieder so unbehelligt lachen konnte. Dies wiederrum war ein passender Charakterzug für den Rastlosen.

    „Bin müde“, waren die trägen Worte, mit denen sich der jüngere Trainer verabschiedete. Seinen Kumpel an der Reling einsam zurücklassend, begab sich Ryan unter Deck in die engen Flure, welche zu den Kajüten führten. Die Wände waren weiß gestrichen und der Boden mit schwarz lackierten Holzdielen ausgelegt – recht typisch also. Pech hatten all jene, die unter Platzangst litten, da es hier ein regelrechtes Abenteuer darstellte, sich an einem entgegenkommenden Passagier vorbei zu quetschen, um seinen Schlafplatz zu erreichen. Diese waren mit minimalem Komfort ausgestattet, da sich kaum mehr darin befand, als ein einzelnes Etagenbett und ein kleiner Nachttisch samt Lampe und selbst das passte gerade so in den fast menschenunwürdig kleinen Raum. Man kam sich ein bisschen vor, wie beim Militär, wobei die Soldaten sicher noch bequemer nächtigten.

    Entkräftet ließ sich Ryan auf das untere Bett der Kajüte, die er sich mit Andrew teilte, fallen und seufzte laut. Innerlich wusste er natürlich, dass er mit dieser Beschreibung der Räumlichkeiten stark übertrieb. Schließlich hatte er zuvor erfahren, dass die Fahrten hier ursprünglich nicht nach Einbruch der Dunkelheit stattgefunden hatten. Jedoch hatte man dies geändert, da sonst fast der komplette Tag für die Überfahrt draufgegangen wäre und so hatte man auf Wunsch vieler Fahrgäste mit den bescheidenen Möglichkeiten, die eben zur Verfügung gestanden hatten, die Fähre übernachtungstauglich gemacht. Doch bei seiner momentanen Laune fasste Ryan all dies nun einmal genau so mies auf. Es war schon immer so gewesen, seit er Terry kannte. Sobald er ihm begegnete, wurde seine Stimmung scheiße. Alles um ihn herum – scheiße, der Tag – scheiße. Wenn Andrew ihm doch wenigstens die Leviten gelesen hätte. Aber nein, der hatte in seiner Überheblichkeit und durch das Ignorieren sämtlicher Warnungen eine volle Breitseite kassiert. Es wollte nicht in seinen Schädel, wieso Andrew in solch vermeintlich unwichtigen Kämpfen, die kein zählbares Gewicht besaßen, all seine Vorsicht stets fallen ließ. Wenigstens war er immer mit all seinen mentalen Fähigkeiten zur Stelle, wenn es Gegner, wie Team Rocket zu bekämpfen galt. Doch dieses eine Mal wenigstens hätte er doch mal auf ihn hören können. Terry war schließlich selbst überheblich gewesen. Die Tür war für Andrew geöffnet gewesen und er war geradewegs daran vorbei gelatscht.

    Allerdings wurde der Kampf an sich eigentlich von den darauffolgenden Ereignissen vollständig überschattet. Ryan fragte sich noch immer, was plötzlich in Maxax gefahren war. So weit er Terry kannte, hatte er seine Pokémon immer im Griff gehabt. Doch so rasend, wie jene im Kampf allgemein wurden, wäre es sicher nicht undenkbar, wenn mal eine Sicherung durchbrannte. Und dann noch diese lächerliche Entschuldigung – wenn man sie so nennen konnte – die er abgegeben hatte, wobei ein Akt wie dieser eigentlich unverzeihlich war. Seltsam nur, dass dieser grimmige Drache genau in dem Moment ausgeflippt war, als er den grünen Orb berührt hatte.

    Beim Gedanken an jenen Gegenstand konnte Ryan nicht anders, als ihn aus der Tasche seiner Kapuzenjacke zu fischen und bei der seltenen Gelegenheit der Einsamkeit einmal wieder nicht nur mit den Händen, sondern auch mit den Augen zu bewundern. Durch seine schwarzen Lederhandschuhe ertastete er die glatte Oberfläche in ihrer unsymmetrischen und doch absolut perfekten Form. Der wunderschöne, grüne Lichtschein aus seinem Inneren und die Nebelschleier unter seiner glänzenden Oberfläche. Mehr als eine Aufmunterung war der Anblick. Unter diesen Umständen schlief Ryan gerne ein.


    Zugegeben, der Start in die neue Region war deutlich schlechter als erhofft verlaufen. Zunächst machte Team Rocket Ärger auf der Fähre, dann machte Team Rocket Ärger in Wurzelheim und dann verlor er auch noch seinen ersten Kampf gegen einen anderen Trainer, der rein zufällig noch Ryans Erzrivale war. Zudem würden dank ihm Psiana und Schwalboss die nächsten Tage wohl nicht kämpfen können, wie die diensthabende Schwester Joy am Nachmittag im Pokémon Center noch erörtert hatte und Ryan war von dessen Pokémon sogar fast umgebracht worden. Und zum letzten Mal hatten sie diesen Terry bestimmt nicht gesehen. Es geschah in aller Regelmäßigkeit, dass sich Rivalen über den Weg liefen. Fast als wäre es ein Naturgesetzt. Wobei es ja logischerweise immer nur eine Frage der Zeit sein konnte, wenn sich so viele Trainer immer wieder an gewissen Knotenpunkten wie Arenen und Pokémoncentren versammelten.

    Ja, bisher war der Inhalt mit dem Abschnitt Hoenn in seinem nicht existenten Tagebuch eher bescheiden. Dennoch konnte er die miese Laune von Ryan nicht ganz nachvollziehen. Vielleicht war es ja auch die Niederlage in der Johto Liga, die nach wie vor an ihm nagte und sich mit den bisherigen Erlebnissen in Hoenn summierte.

    Doch er kannte Ryan gut genug. Wahrscheinlich kotzte er sich gerade gedanklich über all dies ein wenig aus und würde sich anschließend in den Schlaf fluchen, bevor morgen alles sicher wieder anders aussehen würde. Schon immer hatte er Probleme nicht ignoriert, wie viele andere Menschen es taten, sondern stattdessen intensiv über sie nachgedacht, bis sie ihn langweilten. Ryan dachte sehr oft und sehr viel nach. Manchmal ein klein wenig zu viel für Andrews Geschmack. Nur wenn er provoziert wurde oder seine Pokémon zum Ziel verbaler oder körperlicher Angriffe wurden, schien er seinen Hirnapparat abzuschalten – ausgenommen waren natürlich faire Kämpfe, denen er zuvor zugestimmt hatte. Andrew wollte gar nicht erst daran denken, was passiert wäre, hätten sie bei ihrer Begegnung mit Terry Zaungäste gehabt. Abgehalten hätte es ihn sicher nicht, auf jenen einzuschlagen. Mit Sicherheit hätte inzwischen die gesamte Region davon erfahren. Kein sehr reizvoller Gedanke. Schließlich hielt so ziemlich jeder ihn für einen absolut selbstbeherrschten und tiefsinnigen Trainer. In der Regel traf dies auch zu, doch Tatsache war nun mal, dass er zumindest eine aggressive Ader besaß. Die musste Ryan in den Griff bekommen, wenn er nicht wollte, dass man sie beide für unsoziale Schläger hielt. Auf der anderen Seite war der Grund für seine Handgreiflichkeit ein ziemlich verständlicher gewesen. Dennoch war die Vorstellung alles andere als verlockend.

    Gedankenverloren ließ Andrew den Kopf auf seine Arme sinken, welche auf der Reling ruhten. Das war alles nicht neu für ihn. Zumindest nicht gänzlich. Aber irgendwie war das nicht der Ryan, den er seit seiner Kindheit kannte. Er war angespannter, negativer. Aber das verlorene Finale war vermutlich nur die Spitze des Eisberges und die wahre Ursache dafür lag tiefer begraben. Oder er hatte sich ganz einfach verändert. Zum Schlechteren.

    Andrew atmete tief durch. Er musste echt aufpassen, dass er sich nicht anstecken ließ. So einen Schwachsinn würde er doch sonst nicht erwägen. Ryans Charakter war nicht so schwach. Der hatte schon schlimmere Schicksalsschläge wegstecken müssen. Er würde schon wieder werden und bei Bedarf würde Andrew den Jungen selbst noch etwas zurechtbiegen. Das hatte er schon mit schwierigeren Typen geschafft. Blieb nur zu hoffen, dass es bis dahin keinen weiteren Stress gab.

    Inmitten seiner Überlegungen erregte ein leises, in der schäumenden See fast untergehendes Geräusch seine Aufmerksamkeit. Hätte er noch nicht zu Abend gegessen, so würde er nun glatt davon ausgehen, das ominöse Grollen, das er eben vernommen hatte, wäre von seinem Magen ausgegangen. Der Trainer horchte gespannt auf, ob dieses Geräusch erklang. Schließlich wäre es auch nicht undenkbar, dass er es sich nur eingebildet hatte oder vielleicht kam es auch aus dem inneren des Schiffes. Beim erneuten Nachdenken fiel letzterer Gedanke schon mal aus, denn sogleich dort unten gewaltige Maschinen am Werk waren, war es unmöglich, jene an Deck noch zu hören. Jedoch erwies sich auch die Idee mit der Einbildung als falsch, denn tatsächlich ertönte das Grollen erneut.

    Der Blick Andrews fiel mit einer wachsenden, bösen Vorahnung in das aufgewühlte Wasser, welches das Schiff hinter sich zurück ließ. Dabei betete er inständig, dass er mit dieser falsch liegen sollte. Jedoch konnte man in der nachtschwarzen Suppe so gut wie gar nichts erkennen. Er beobachtete aufmerksam jede Welle, jeden Quadratzentimeter dort unten.

    Für einen einzelnen Schlag setzte sein Herz beinahe aus. Er hatte etwas gesehen! Undeutlich durch die Finsternis und auch kaum länger als für eine Sekunde, doch definitiv hatte da etwas die Wasseroberfläche durchbrochen. Eine Flosse oder auch ein Teil eines Körpers, vielleicht geschuppt, aber in jedem Fall groß. Um nicht zu sagen riesig. Der Schleier der Nacht verhinderte allerdings eine genaue Beobachtung, sodass Andrew nicht in der Lage war, den tauchenden Verfolger zu identifizieren. Er nahm inzwischen gar keine Kenntnis mehr von seinen Strähnen, die wild im Wind umher flatterten. Die gesamte Aufmerksamkeit wurde nur noch Augen und Ohren gewidmet. Seine Hände schlossen sich fest um die Reling, während er weiter angespannt ins tiefschwarze Wasser starrte. Und es geschah nur wenige Augenblicke später, da sich etwas aus der Tiefe erhob. Andrews Augen weiteten sich. Seine Befürchtung bewahrheitete sich gerade. Schlimmer noch, es war nicht allein.

    „Oh, verdammt.“


    Ein gewaltiger Ruck ging durch das ganze Schiff, als sei es von einer Monsterwelle getroffen. Erschrockene und teilweise sogar panische Aufschreie ertönten in jedem Gang, an jeder Ecke und jedem Winkel der Fähre. Ryan, der bereits fast vollständig ins Reich der Träume gewandert war, fiel gar aus seiner Koje und fand sich nun nicht minder überrascht auf dem Fußboden wieder. Für einige Sekunden blinzelte er irritiert und überlegte angestrengt, wo er denn war und was der Grund für dieses unsanfte Erwachen gewesen sein mochte.

    „Was zum...?“

    Ein weiteres Mal wankte das Schiff ruckartig und wieder traf es ihn völlig unerwartet, sodass er, gerade als er sich auf die Beine kämpfte, das Gleichgewicht verlor und mit dem Rücken gegen die schwere Stahltür der Kajüte knallte. Schmerzhaft stöhnte er auf, schenkte aber dennoch dem grünen Orb mehr Beachtung als seinem eignen Körper. Er konnte doch nicht zulassen, dass er hier über den Boden rollte. Am Ende verlor er ihn noch. Was immer dort draußen wüten mochte, es konnte nicht fürchterlicher sein als dieser Gedanke. Sein Cappy, das er bei seinem Sturz aus dem Bett verloren hatte, setzte er noch rasch wieder auf. Dann sortierte er einen Moment lang seine Gedanken, wurde aber durch die panischen Schreie und angsterfülltes Kreischen, das durch die Stahlwände dumpf an sein Ohr klang, abgelenkt. Endlich galt sein größtes Interesse dem Geschehen oben an Deck. So schnell er konnte warf er sich seine Tasche über die Schulter, stieß die Tür auf und stürmte durch die Gänge zu den Treppen, die ihn aufs Deck führen würden. Sein Körper hatte nun auf Autopilot umgeschaltet. Seine Füße trugen ihn mit Höchstleistung voran, seine Gedanken waren vollständig von dem Willen angetrieben, die Ursache für die derzeitige Situation herauszufinden und gegebenenfalls zu helfen.

    Schon wieder ging ein Ruck durch das Schiff, doch diesmal konnte er sich vor einem Sturz bewahren und sich an den Wänden abstützen. Adrenalin wurde zu Massen in seinem Körper ausgeschüttet, sodass er trotz der enormen Anstrengung kaum Kenntnis von seinen bald schon heißen Lungen nahm. So bremste er auch nicht ab, als der Gang vor ihm in einem rechten Winkel nach links abknickte, sondern lief mit voller Wucht in die Wand hinein, hielt lediglich mit Händen und Schulter dagegen, um seinen Lauf gleich darauf fortzusetzen. Seine vom vergangenen Tag bereits müden Beine protestierten laut auf, als Ryan schließlich die Treppen erreichte und sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf sprintete. All dies nahm er kaum wahr. Jetzt zählte nur das Tempo, alles weitere musste hinten anstehen.


    Ein kalter Nachtwind begrüßte den jungen Trainer, kaum dass er sein Ziel erreicht hatte. Die Schreie von verängstigten Passagieren waren nun allgegenwärtig, da sich diese zuhauf hier oben tummelten und alle in dieselbe Richtung flohen. Einige hinkte, mussten gestützt werden oder bluteten am Kopf. Zahllose Stimmen sammelten sich zu einem panischen Misch aus Schreien und Wehklagen. Viele kamen Ryan entgegen und suchten unter Deck Schutz. Wer dies in dem panischen Tumult nicht schaffte, sah zu, so weit wie möglich von der Reling am Heck wegzukommen. Der Grund dafür war überaus offensichtlich und sorgte dafür, dass Ryans Augen sich weiteten. Ein erstickter Laut entkam seiner Kehle. Ganz plötzlich wünschte er sich wieder Team Rocket herbei. Die wären definitiv das kleinere Übel.

    Hoch über die Reling hinweg erhoben sich zwei riesenhafte Gestalten, welche an eine Seeschlange erinnerten. Durch die Nacht waren die weißen Bauchschuppen kaum also solche zu identifizieren. Ebenso wenig erkannte man die sonst so kräftigen, meerblauen Schuppen auf dem Rücken, denn die waren nun beinahe schwarz. Weiße Flossen in Form von stumpfen Zacken mit je drei Spitzen zierten alle paar Meter einen Teil des Rückens des länglichen Körpers, dessen Größe man nur mutmaßen konnte, da er sich noch zum Teil im Wasser befand. Auf dem Kopf bildete eine markante Knochenmusterung eine Art Krone. Hinter dem Kieferknochen eines brutalen, weit aufgerissenen Mauls stachen zwei lange, dünne Barthaare und außerdem zwei weitere Flossen hervor, die das Monstrum ein- und ausklappen konnte und meist als Drohgebärde nutzte. Der grausame Blick in den Augen war in der Pokémonwelt einzigartig und allgemein gefürchtet. Ein einzelnes Garados war bereits ein furchteinflößender Gegner, doch in diesem Fall sahen gleich zwei Exemplare in schier unbegründeter Wut auf die Menschen herab und grollten furchtbar zornig.

    Ryan konnte sich einige Sekunden lang nicht überwinden, auch nur einen Finger zu rühren. Selbst mit einem seiner vertrauten Pokémon an seiner Seite wäre dieser Anblick noch immer beängstigend gewesen. Tatsache war, dass er sich lediglich der Hilfe eines jungen, unerfahrenen Hydropis bedienen konnte, das gegen diese Gegner wohl nicht mehr als ein Häufchen Elend gewesen wäre. Und da war sie schon wieder – die frustrierende Erkenntnis, dass Ryan seine Partner brauchte. Sie waren nicht da, um ihn zu unterstützen. Er hatte sie einfach zurückgelassen. Einfach so. Und nun zum, was wusste er schon wievielten Mal, wünschte er sie sich an seine Seite. Um Andrew war es auch nicht bestens bestellt, da sowohl Psiana als auch Schwalboss durch die Folgen von ihrem Kampf mit Terrys Pokémon vorerst noch ausgeschaltet waren.

    Bei diesem Gedanken suchten Ryans Augen sofort die Umgebung nach ihm ab und wurde auch rasch fündig, da er der Einzige war, der sich den Angreifern mutig entgegenstellte. Zu seiner Rechten hatte sich Magnayen aufgebaut, das die Garados mit einem drohenden Knurren und hochgezogenen Lefzen begrüßte, wobei es seine fletschenden Zähne offenbarte. Natürlich ließen sich die beiden Wasserdrachen davon nicht im Geringsten beeindrucken, doch es lag in der Natur dieser Wölfe, sich jedem, aber auch jedem Gegner zu stellen. Ohne Kampf wichen sie niemals zurück. Hoffentlich würde Magnayen seinen Mut nicht bereuen. Schließlich war es ebenfalls noch angeschlagen von seinem Kampf mit Magcargo.

    „Andrew!“

    Auf Ryans Ruf hin wagte der Junge, dessen rostbraunes Haar und Jeansjacke wild in der Luft umherwirbelten, einen kurzen Blick über die Schulter. Ryan hatte sich bei dem Anblick gleich aus seiner Starre gelöst und eilte sich an seine Seite. Andrew knirschte allerdings mit den Zähnen, als er den Blonden sah. Auch wenn beruhigend war, ihn unverletzt zu wissen, konnte er ihn in diesem Kampf rein gar nicht unterstützen. Hydropi war meilenweit davon entfernt, sich solch einer Herausforderung zu stellen. Gerade als er dachte, diesen Kampf allein austragen zu müssen, ertönte plötzlich ein ihm nur allzu bekanntes Geräusch, dass er selbst bei dem pfeifenden Wind und dem Gebrüll der Garados einordnen konnte. Hinter ihm war definitiv ein Pokéball aufgeschnappt. Andrew wollte nicht glauben, was er sah, als sich sein Blick ein weiteres Mal über seine Schulter stahl. Vor Ryans Füßen hatte sich die kleine, blaue Gestalt von Hydropi materialisiert.

    „Hast du dir den Kopf gestoßen? Du kannst nicht ernsthaft...“

    „Halt die Klappe und pass auf!“, unterbrach Ryan mit einem Deut nach vorne. Schon im nächsten Moment sah Andrew einen Hochdruckwasserstrahl direkt auf sich zuschießen. Instinktiv sprang er zur Seite, ebenso wie Magnayen, welches allerdings schnell genug war, um auf seinen Füßen zu bleiben, während Andrew einen Sturz zu Boden in Kauf nehmen musste. Die Hydropumpe traf auf massives Holz und erzeugte ein drückendes Rauschen auf der blanken Oberfläche. Die Kraft der Wassermassen war durch den Untergrund sehr gut zu erahnen und beide Trainer ermahnten sich, auf keinen Fall Bekanntschaft mit seiner wahren Stärke zu schließen. Schon gar nicht, nachdem die Attacke geendet hatte und einige Balken zu brechen in Begriff waren. Da waren einige schon besorgniserregend angeknackst und könnten allein schon durch das Gewicht einer erwachsenen Person nachgeben. Das reichte Ryan und Andrew nicht gerade zur Hilfe.

    „Wir versuchen die beiden abzulenken, so gut es geht. Warte auf den richtigen Moment.“

    Andrew kannte seinen Kindheitsfreund gut genug, um zu wissen, dass er sich von dieser Entscheidung nicht abbringen ließ. Dennoch wägte er einen Moment lang ab, es zumindest zu versuchen, was aber von dem Anblick seines Partners in Sekundenbruchteilen zunichte gemacht wurde.

    „Das tun wir doch, Hydropi?“, fragte Ryan das Amphibium mit einer bislang nicht gekannten Zuversicht und einem beachtlichen Anteil an Vertrauen. Das kleine Wasserpokémon schien nicht einmal überlegen zu müssen. Für Hydropi gab es keinen zweiten Weg, keine andere Option, keine Alternative. Nur den einen, den sein Trainer ihm bestimmt hatte. Wenn er sagte, es solle kämpfen, dann kämpfte es, basta. Für einige Sekunden ruhten die Blicke der beiden jungen Trainer aufeinander und als würden sie sich telepathisch verständigen, einigten sie sich darauf, Ryans Plan zu befolgen, was sie mit einem knappen Nicken besiegelten.

    „Fang an mit Aquaknarre“, befahl er Hydropi, bemühte sich dabei um möglichst eiserne Zuversicht. Er musste jetzt das Gefühl vermitteln, vom Sieg seines Partners überzeugt zu sein. Mit den Zweifeln und der Skepsis der letzten Trainingseinheiten brauchte er hier gar nicht antreten. Da wäre er ja besser beraten, wenn er die Flucht ergriff. Bedingt durch den nervösen, donnernden Herzschlag in seiner Brust konnte er allerdings zumindest einen Hauf von Unbehagen nicht verbergen. Doch er musste sich konzentrieren. Jeden Zweifel, den er offen an Hydropi zeigte, würde sich negativ auf dessen Leistung auswirken. Selbstverständlich würden sie mit dieser Attacke wenig bis gar keinen Schaden anrichten. Lediglich die Aufmerksamkeit der Garados galt es hierbei zu gewinnen, um Magnayen somit das Tor zu einem vernichtenden Schlag zu öffnen. Dies war die einzig sinnvolle Taktik in diesem Kampf.

    Der Wasserstrahl Hydropis traf auf das erste Exemplar der schlangenartigen Wasserdrachen und prallte – wie zu erwarten gewesen war – ohne jede erkennbare Wirkung ab. Dennoch schien er seinen Zweck zu erfüllen. Mit ohrenbetäubendem Gebrüll versuchte das Garados den kümmerlichen Winzling einzuschüchtern, sodass es sich dem wahren Gegner, Magnayen, widmen konnte. Dass dieser aber völlig unbeeindruckt schien, wollte den Angreifern wohl überhaupt nicht gefallen. Die ohnehin grimmige Miene verfinsterte sich noch mehr, als die unverschämten Rufe Hydropis zu ihm herauf klangen.

    „Komm schon. Du lässt dir das doch von uns nicht gefallen. Greif uns an“, murmelte Ryan bangend vor sich hin. Selbst sein Pokémonpartner konnte ihn nicht verstehen, so leise sprach er.

    Sein Wunsch wurde erfüllt. Garados riss sein gewaltiges Maul bis zum Äußersten auf und preschte auf das kleine Wasseerpokémon zu. Beim Training hatte es kein gutes Reaktionsvermögen aufweisen können, doch die Tatsache, dass Hydropi in dieser Situation nicht erst den Befehl zum Ausweichen brauchte, ermöglichte noch einen rechtzeitigen Sprung zur Seite. Dass die Seeschlange nicht vor hatte, lange Spielchen zu spielen, wurde rasch deutlich, da es sich nicht etwa die Mühe machte, noch zurückzustecken. Nein, seine Kiefer durchbrachen festes Hartholz und rissen ein gewaltiges Loch in den Boden. Doch die Holzbretter brachen deutlich weitläufiger auseinander, als man es wohl vermutet hätte. Durch die rohe Gewalt sackte Ryans Herz in unnatürliche Regionen, als im wahrsten Sinne der Boden unter seinen Füßen wegbrach. Für einen Moment erfasste er alles in Zeitlupe. Das berstende Holz, das Gebrüll der Garados, der peitschende Wind der Nacht. Es war der eine Moment, den zu verpassen, einen Sturz bedeuten würde, über dessen Folgen er lieber nicht nachdenken wollte. Aus einem Reflex heraus befahl er seinem Körper, zu reagieren und machte, ebenso wie Hydropi, einen Sprung aus der Gefahrenzone heraus. Er rollte sich über den nassen Boden und mahnte sich, besser gar nicht zu spekulieren, wie knapp er Garados gerade entkommen war. Das Scheppern der Bretter im Schiffsinneren war laut und deutlich zu vernehmen, trotz des Lärms hier an Deck.

    Der Wasserdrache hob den massigen Schädel rasch wieder an, zerkaute dabei einige Bruchstücke als sei es altes Brot, bevor es sie fallen ließ und nun lauter und furchteinflößender denn je grollte. Das zweite Exemplar schien sich durch den übermütigen Herausforderer gestört zu fühlen und wandte sich ihm ebenfalls zu. Ein gelber Energieball formte sich in seinem Maul und veranlasste Ryan dazu, nervös und zugleich wütend die Zähne zusammen zu beißen. Sie ließen ihm keine Pause. Vielleicht kam es früh, aber es war Zeit, seine größte Trumpfkarte zu spielen.

    „Hydropi, Schutzschild!“

    Das Erlernen dieser neuen Attacke hatte den einzig nennenswerten Erfolg von Hydropis letztem Training dargestellt. Eindeutig war dies auf sein verhältnismäßig hohes Alter zurückzuführen, denn ein jüngeres Exemplar, wie Professor Birk sie sonst weitergab, hätte niemals das Potenzial, diese Attacke in so kurzer Zeit zu verinnerlichen.

    Das kleine, blaue Pokémon erschuf eine grün schillernde Energiewand in Form einer Halbkugel um sich herum. Selbstverständlich war die Verteidigungskraft des Schildes teilweise vom Anwender abhängig, doch nach Ryans Einschätzung hatte Hydropi eine realistische Chance, den Angriff so zu überstehen. Es musste sich nur endlich zusammenreißen.

    Das Garados schoss nun einen gelben Energiestrahl von gewaltiger Kraft ab – Hyperstrahl, wie Ryan sogleich erahnt hatte. Daher empfahl sich nun auch der Einsatz von Schutzschild, da der Anwender nach dieser Attacke für kurze Zeit außer Gefecht sein würde. Wenn sie die Attacke schadlos überstehen sollten, würde sich gleich darauf die Chance für einen Gegenschlag eröffnen. Dennoch, die geballte Macht war überwältigend. Eine der stärksten Attacken überhaupt unter den Pokémon und von solch einem Gegner angewandt, stellte sie für Hydropi wahrlich mehr als eine Feuertaufe dar.

    Dann kam schon die Kollision. Sowie die gelbliche und die grüne Energie aufeinanderprallten, zerfetzte ein ohrenbetäubender Knall die Luft. Rauchschwaden hüllten das Geschehen vollständig in sich ein, benebelten die Sicht beider Trainer und erschwerten ihnen das Atmen. Das ganze Deck zitterte unter Ryans Füßen und er befürchtete schon, dass hier in Bälde alles in Schutt und Asche liegen würde. Ryan konnte nur hoffen und beten, dass sein Partner tapfer blieb. Natürlich keimten die Erinnerungen an die enttäuschenden Trainingsergebnisse nun auf und versuchten ihm einzureden, dass jede Hoffnung vergebens sei und Hydropi geschlagen war. Diese Gedanken jedoch drängte er verbissen zurück, hinter bis in die dunkelsten Ecken seines Verstandes. Ein derartiges Denken half jetzt nicht weiter. Er musste zuversichtlich bleiben, er musste Hydropi vertrauen. Und vor allem musste er Hydropi Mut machen. Das war seine Aufgabe als Trainer!

    Doch vorrangig musste, unabhängig von den Resultaten des Hyperstrahls, nun die Chance wahrgenommen werden. Das Garados war nun für mehrere Sekunden handlungsunfähig!

    „Was is' los, Andrew? Kein Bock oder was? Komm schon!“

    Genau auf so eine Gelegenheit hatten die Johtonesen hingearbeitet. Sie durften sie nicht verpassen.

    „Kannst du haben.“, entgegnete Andrew selbstsicher. Nicht zu fassen, dass die Strategie wirklich aufging. Er hatte es kaum zu hoffen gewagt.

    „Magnayen...“

    Magnayen war die ganze Zeit über in seiner angriffslustigen Position verharrt, die Vorderbeine weit gespreizt und den Schädel gesenkt, um so finster und furchteinflößend zu wirken, wie es die wilden, gelben Augen und das tödliche Gebiss möglich machen konnten.

    „Los, Finsteraura!“

    Das Maul senkrecht gen Boden gerichtet, begann der Wolf eine dunkelviolette Masse zwischen seinen Kiefern zu sammeln. Im Schleier der Nacht sah sie jedoch gänzlich schwarz aus und wirkte somit wahrlich unheimlich, als einzelne Schleier um jeden messerscharfen Zahn waberten und ähnlich wie Rauchschwaden beinahe aus dem Schlund herausquollen. Sowie Magnayen den Kopf anhob, schoss es die Energie in Form einer dunklen Flutwelle auf den Feind. Durch die Nachwirkungen des Hyperstrahls völlig gelähmt, sah das erste Garados seinem Schicksal hilflos entgegen. Die finstere Masse traf es auf Höhe der Kehle, stob leicht zu beiden Seiten vorbei, um sich dahinter in der Nacht zu verlieren. Einige Sekunden lang leistete es den erbitterten Widerstand, bis die schiere Kraft eine schwarze Explosion auf dem Körper des Wasserdrachen erzeugte. Wie ein gigantischer Baum fiel der Angreifer auf die Wasseroberfläche, schlug rauschend darauf auf. Der tonnenschwere Körper warf so viel Wasser auf, dass man meinen könnte, es würde regnen.

    „Nummer eins wäre erledigt“, stellte Andrew zufrieden klar. Das hatte wirklich wie am Schnürchen geklappt. Allerdings währte das Erfolgsgefühl nur äußerst kurz. Das verbleibende Garados hatte nun den grauen Wolf im Visier und feuerte eine weitere Hydropumpe ab. Der junge Trainer biss sich wütend auf die Lippe. Das ging einfach viel zu schnell. Magnayen noch nicht wieder voll genesen und generell noch nicht so erfahren wie beispielsweise Psiana – geschweige denn so schnell. Mit der verwundeten Pfote war ein solch plötzlicher Wechsel von Offensive auf Defensive einfach unmöglich.

    Trotzig bellte Magnayen dem Angriff entgegen, ungeachtet der Tatsache, dass es ihm nicht mehr entrinnen konnte. Die Wassermassen drückten ihr Opfer binnen eines Sekundenbruchteils zu Boden. Das geübte Auge erkannte sofort die Pein in der Iris des Unlichtpokemon. Jedoch verbot es sich, laut aufzuheulen und krallte sich in den Holzboden Fest, um nicht davongespült zu werden. Fragte sich nur, wie lange es durchhielt. Garados zeigte kein Erbarmen. Andrew suchte fieberhaft nach einem Ausweg aus dieser Situation. Doch ohne Hilfe sah er sich völlig in die Enge gedrängt. Magnayen konnte sich nicht aus eigener Kraft befreien, das sah er auf den ersten Blick.

    Plötzlich jedoch brach der Wasserstrahl ab. Der unglaubliche Druck, welcher auf dem Körper des wehrlosen Wolfes lastete, verschwand binnen eines Herzschlages.

    „Nochmal!“

    Die motivierende Stimme von Ryan zog die Aufmerksamkeit von Andrew sowie seines Partners auf sich. Er wurde von Hydropi flankiert. Das kleine Wasserpokémon keuchte laut und stand auf wackeligen Beinen, hatte den Hyperstrahl aber überstanden und befand sich bereits in Angriffsposition. So beobachtete er, wie Hydropi eine hohe Zahl kleiner Schlammklumpen ausspuckte und dabei auf Garados´ Gesicht zielte. Nein, genauer noch, es zielte in seine Augen. Sie waren bereits verdreckt und verklebt von der braunen Masse und raubten dem Wasserdrachen vollends die Sicht. Wild schlug der massige Schädel hin und her, panisch versuchend die matschige Substanz loszuwerden. Dieses Vorhaben blieb vergebens. Garados war vorübergehend erblindet.

    „Beeil dich!“, rief Ryan seinem Kumpanen sogleich wieder zu. Sie durften keine Chance verstreichen lassen. Er war nicht sicher, ob und wie viele Hydropi ihnen noch würde verschaffen können.

    „Gib ihm den Rest!“

    Andrew war äußerst beeindruckt. Die zwei taten wirklich alles, was in ihrer momentan so bescheidenen Macht lag. Er nickte einmal dankend, anerkennend und wandte sich dann an Magnayen.

    „Alles klar bei dir, kannst du aufstehen?“

    Die Beine zitterten bereits bedenklich und der Schmerz war dem Unlichtpokémon deutlich anzusehen. Wenn diese Hydropumpe gar das Holz, auf dem er lief, zum Nachgeben zwingen konnte, vermochte es sicher auch Knochen und Organe zu verletzen. Erst recht bei weniger robusten Pokémongattungen, wie Magnayen. Doch wenn sein Trainer seiner Dienste bedurfte, würde es ihn nicht enttäuschen. Sich geschlagen geben? Vor einem lächerlichen Wassermonster, das allseits gefürchtet war und nicht mal das Sechzehnfache seines eigenen Kampfgewichtes auf die Waage brachte, zurückschrecken? Sollte dieser Tag jemals kommen, würde der Wolf sich in den eigenen Schwanz beißen. Ein wildes Kampfgeheul stieg hinauf zum Nachthimmel und breitete ein erleichtertes sowie euphorisches Lächeln auf Andrews Gesicht aus.

    „In Ordnung. Spukball!“

    Die finstere Energiekugel im Maul Magnayens ließ nicht lange auf ihren Einsatz warten. Sie passte auf voller Größe kaum zwischen die Kiefer und einige schwarze Blitze zuckten bereits um die Schnauze. Magnayen gab echt alles, stemmte sich sogar auf die Hinterbeine und warf dann den Kopf nach vorn, um mit der größtmöglichen Kraft anzugreifen. In einer schwarz-violetten Wolke detonierte der Spukball auf dem schlangenartigen Körper und ließ Garados aufschreien. Vor Schmerz, zweifellos, aber auch vor Wut. Die Blindheit versetzte es zunehmend in Rage. Gleichzeitig wuchs mit jedem Treffer der Durst nach Vergeltung. Es wand und zappelte wie verrückt im Wasser umher, schlug auch den Schweif auf und setzte die beiden Trainer samt ihrer Pokémon einem Regen aus Salzwasser aus. Und nach einigen Momenten, in denen sie alle fieberhaft endlich den Fall des Monstrums herbeisehnten, schuf es plötzlich eine goldene Lichtkugel in seinem Maul. Die zwei menschlichen Augenpaare weiteten sich. Das würde ein Angriff ohne vorhersehbares Ergebnis werden. Ein Produkt ungezügelter Raserei von wahnsinniger Zerstörungskraft. Einem solchen Verzweiflungsschlag konnte man nichts entgegensetzen.

    „Hyperstrahl, aufpassen!“, brüllte Ryan alarmiert. Er ließ sich auf die Knie fallen, nahm Hydropi schützend in den Arm und hielt den Kopf unten, jedoch ohne den Gegner aus den Augen zu lassen. Er konnte nicht so rasch erneut das Risiko eingehen, mit Schutzschild zu antworten. Bei dem einen war es schon genug des Wagnisses gewesen. Und jetzt bestünde gar die Chance, dass der Schild seine Wirkung gänzlich verfehlte. Andrew tat dasselbe bei Magnayen, drückte es unter sich, obwohl der Wolf sich wehrte, eigentlich selbst schützend vor seinem Trainer stehen wollte.

    Der goldfarbene Strahl schoss zunächst steil gen Himmel, weit vorbei an jedem möglichen Ziel. Doch da Garados den Kopf weiter hin und her schwang, sauste nur Sekunden später die mächtige Energie knapp über ihre Köpfe hinweg. Einige Meter hinter ihnen zerstörte sie Holz und Metall gleichermaßen mühelos, kaum dass sie darauf getroffen war. Lautes Krachen und Scheppern sowie das Donnern des Hyperstrahls auf festem Material schlugen brutal auf das Trommelfell ein, sodass sie sich die Ohren zuhielten und kaum noch Kenntnis von dem nahmen, was um sie herum passierte. Die Erschütterungen waren so heftig, dass ans Aufstehen gar nicht zu denken war. Hätte das Schiff eine Klippe gerammt, wären die Auswirkungen wohl kaum schlimmer. Es war eine Situation, wie in einem Alptraum. Der Lärm, das Adrenalin und die Angst, all die vermengten Emotionen, die weder klares Denken noch geistesgegenwärtiges Handeln zuließen und die beiden jungen in einen Zustand verharrenden Zustand der Paralyse versetzten. Einfach unten bleiben und hoffen, dass der Sturm rasch endete, war die Devise. Ein Augenblick, in dem man sich nur noch vor ihm verstecken wollte und sein Verschwinden herbeisehnte. So erkannten sie auch viel zu spät, wo Garados in all seiner Willkür entlang zielte. Der Energiestrahl hielt direkt seitlich auf sie zu. Nur einen Moment sah Ryan auf, doch genügte der Ansatz von Garados´ Bewegung, um die Richtung des Energiestrahls zu erahnen. Mit einem letzten Blick über seine linke Schulter sah er das Unglück kommen. Blitzartig nahm er Hydropi auf und versuchte davonzulaufen – vergebens. Sein langgezogenes „Verdammte Scheiße!“ ging in dem Krach beinahe unter. Andrew schrie einfach nur.

    Bei dieser Kraft war ein Hyperstrahl allemal in der Lage, einen jungen Menschen schwer zu verletzen. Im schlimmsten Fall gar zu töten. Dieser Gedanke griff unbarmherzig wie die kalte Hand von Darkrai nach dem Verstand der Beiden, doch schien ihnen die einen Hauch von Glück in dieser Katastrophe zu widerfahren. Garados verfehlte sie haarscharf. So knapp, dass Ryan bereits die Hitze auf seinem Rücken spürte. Die Druckwelle schleuderte die Jugendlichen samt ihrer Pokémon meterweit durch die Luft. War es sehr absurd, dass Ryan in diesem Augenblick an sein Cappy dachte, das just in diesem Moment davon flog und in tiefer Schwärze der nächtliche See verloren ging? Sicher war er nicht der Einzige, der dies bejahen würde.

    Sämtliche Gedanken wurden aber sogleich umgelenkt, als der Schmerz einsetzte. Es war ein Gefühl von Hitze, wie gleichermaßen von einem erdrückenden Schlag auf den Rücken er ihm die Luft aus den Lungen quetschte. Würde er je danach gefragt werden, wie es sich anfühlte, so dicht an einem Hyperstrahl zu geraten, würde er es mit einer kochend heißen Hydropumpe vergleichen. Und dabei hatte er nicht einmal den Energiestrahl zu spüren bekommen.

    Ryan verlor in der Luft sämtliche Orientierung. Ob kopfüber oder waagerecht – er konnte beim besten Willen nicht sagen, in welcher Lage er sich befand. Andrew dagegen behielt die Übersicht wenigstens ein bisschen. Ob er das begrüßte, war eine andere Frage. Doch im Nachhinein dachte er sich, dass er wohl auf den Anblick der sich immer weiter nähernden Wasseroberfläche hätte verzichten können.


    Kälte, Nässe, Salz, brennend in den Augen und bissig auf seinem Weg die Kehle hinab. Schmerz, eine Landung wie auf Beton. Finsternis. Grob war dies alles, was die jungen Trainer nach ihrer Landung in der rauen See wahrnahmen. Lediglich der Instinkt, die Richtung anzusteuern, in der man die Oberfläche vermutete, setzte ein. Kaum hatte Andrew diese erreicht und einen ersten Atemzug erlösender Luft eingesogen, schlug nur wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbei ein Objekt auf. Aufgeschreckt rudert er mit den Armen zurück. Das Geschoss, welches ihm beinahe den Schädel gespalten hatte, war nicht mehr und nicht weniger als ein herausgebrochenes Stück Holz vom Deck des Schiffes, auf welchem er sich vor wenigen Augenblicken noch befunden hatte. Eine sporadische Erkundung seiner Umgebung verriet ihm, dass er von hölzernen Trümmerteilen nur so umringt war. Er sah auch Metall durch die Luft segeln, welches glücklicherweise weniger gefährliche nahe eintauchte und fortan in den Tiefen versank. Holz und Taue trieben zu allen Seiten an der Oberfläche. Wie aus der Ferne vernahm er das Bellen von Magnayen. Ihm fiel ein gewaltiger Stein vom Herzen, als er es auf sich zu paddeln sah. Es schien sogar unverletzt. Doch von dem anderen Team aus Trainer und Pokémon fehlte jede Spur.

    „Ryan!“

    Sein Ruf schien sich in den Wellen zu verlieren. Doch vielleicht rauschte das Blut in seinen Ohren auch nur so stark, dass er sich dessen nicht bewusst sein konnte. Doch das Adrenalin ließ kaum rationales Denken zu.

    „Ryaaaaan!“

    Rasch tat Andrew der Kopf weh, so schnell änderte er immer wieder die Blickrichtung, während er flehte, endlich seinen besten Freund irgendwo zu erblicken. Ein helles Rauschen ertönte direkt in seinem Rücken. Ihm folgte ein tiefes Keuchen, dem Ringen nach Luft und schließlich ein gereizter Hustenanfall. Ryan spuckte eine bedenkliche Menge Salzwasser aus und seine Gesichtszüge verkrampften sich ob des großen Anteils des widerwärtigen Nass, das zu seinem Bedauern in die andere Richtung geflossen war. Hydropi erschien nur einen Moment später. Auch Ryans erster, suchender Blick galt seinem Reisegefährten. Er fand ihn schließlich auf den hölzernen Trümmern, von denen er beinahe erschlagen worden wäre. Hektisch versuchte er seine Muskeln dazu zu überwinden, sich festzuklammern und winkte den Treibenden gleichzeitig zu sich.

    Selbst durch Andrews helfende Hand stellte das Erklimmen des notdürftigen Floßes eine unglaubliche Anstrengung dar. Magnayen hatte sich ebenfalls gerade erst hinauf gekämpft, doch fand der Wolf nicht einmal mehr die Kraft, sein nasses Fell auszuschütteln. Sowie er wankenden, aber einigermaßen festen Boden unter den Pfoten hatte, ließ er sich entkräftet fallen und die Zunge hing schlaff aus dem hechelnden Maul. Ryan erging es körperlich kaum besser. Beide Arme von sich streckend rollte er sich auf den Rücken, keuchte, hustete, kniff erschöpft die Augen zusammen. Seine rechte Schulter schmerzte höllisch. War sie vielleicht ausgekugelt? Nein, sicher nicht. Wäre das der Fall, wäre er längst in den schwarzen Tiefen ersoffen. Doch der Schmerz, der war durchaus real. Bei jedem Atemzug durchzuckte er seine Muskeln. Hydropi war von dem Kampf ebenfalls deutlich gezeichnet. Zwar hatte es diesen ohne schwere Verletzungen überstanden, doch es war am absoluten Ende seiner Kräfte. Unglaublich, dass sie das überlebt hatten.

    Ein dumpfes Grollen ertönte. In der finsteren Nacht konnte man die riesige Silhouette im Wasser nicht erkennen, doch es war klar, wer oder was dort unten bereits wieder lauerte. Entsetzt rissen beide Pokémontrainer die Augen auf und starrten einander an, in der Hoffnung, den anderen nicht dasselbe tun zu sehen und sich somit der Illusion hingeben zu können, man habe sich das nur eingebildet. Doch sie reagierten wie ein Spiegelbild.

    Schon im nächsten Augenblick durchbrach erneut ein riesiger, schlangenartiger Körper die Wasseroberfläche. Das verbliebene Garados hatte wieder klare Sicht und war gewillt ein offenbar grausames Werk zu vollenden. Warum? Woher kam diese Aggression? Woher diese Gewaltbereitschaft? Dies fragte sich in erster Linie Ryan, der nun der mit Abstand Hilflosere von beiden war.

    „Warum greifst du uns an?“, verlangtet er lautstark zu wissen, als könne der Wasserdrache ihm antworten. Die Stimme so zu erheben, schmerzte derart, dass er Garados nicht einmal ansah, sondern mit zugekniffenen Augen zum Himmel hinauf schrie.

    „Was haben wir dir getan?“

    Die letzten Worte erklangen nur schwach und kraftlos. Jeder Ton verursachte einen satten Schlag in seiner Brust mit einer kratzenden, bissigen Nachwirkung. Als Antwort erhielt er bloß lautes, aggressives Gebrüll. Zittern konnten sie beide nicht mehr. Derart unnötige und kräfteraubende Reize hatte der Körper längst unterbunden. Sämtliche Kraft war jetzt aufs Überleben konzentriert. Doch Ryan war inzwischen machtlos, zu einem hilflosen Zuschauer in der ungeschützten, ersten Reihe bei einem tödlichen Spektakel degradiert. Hydropi war am Ende, ebenso wie er selbst. Das war wohl die Art von Notfall, die Andrew zu Beginn ihrer Reise angesprochen hatte und für den er all seine Pokémon brauchen würde. Dass er eben das nicht tat, könnte ihm in diesem Fall sogar das Leben kosten.


    Eine letzte Chance blieb ihnen noch. Eine letzte Rettung. Wenn die versagte, war ihnen heute ein namenloses Seemannsgrab sicher. Denn Garados würde nicht aufhören, würde nicht aufstecken und sie einfach ziehen lassen. Irgendetwas hatte das grausame Wasserpokémon zutiefst verärgert und aus einem unempfindlichen Grund schien es die zwei Trainer direkt oder indirekt verantwortlich dafür zu machen.

    Doch Andrew holte nun den Gegenstand hervor, der wie ein Hoffnungsschimmer am Horizont im Mondlicht aufblitzte. Seine ganze Kraft brauchte es, um Dragonirs Pokéball gen Himmel zu strecken, bevor dieser aufschnappte und in einem weißen Licht den edlen Drachen freigab. Dann geschah etwas sonderbares, womit wohl niemand gerechnet hatte.

    Garados erstarrte. Sein Blick war fassungslos, die Augen weit aufgerissen und scheinbar ein Trugbild vor sich vermutend. Als wollte es glauben, all seine Sinne spielten ihm gerade einen üblen Streich. Andrews Drache dagegen baute sich schützend und wild entschlossen vor seinem Trainer auf und rief in fast mütterlicher Obhut seinen Namen hinaus. An Größe doch weit unterlegen war Dragonir ein ernst zu nehmender Gegner und verkörperte eine wunderschöne, dafür aber auch gnadenlose Gefahr. Garados wollte dies gar nicht gefallen, doch nun löste sich der Wasserdrache aus seiner Starre und grollte seinem Widersacher erbost entgegen. Vorerst blieb es bei dieser Drohgebärde. Scheinbar wartete es sogar auf eine Antwort.

    Ryan und Andrew waren wie versteinert. Etwas schien zwischen den beiden Pokémon vorzugehen. Nicht einmal ein Angriffsbefehl kam über Andrews Lippen. Dies sollte kein Kampf werden... Dragonir und Garados diskutierten miteinander. Unverkennbar war der furchteinflößende Angreifer aus der Tiefe geradezu rasend, schien aber keine Anstalten zu machen, zur Attacke über zu gehen. Die blau-weiße Drachenschlange dagegen verweilte trotzig an Ort und Stelle und zeigte ein rebellisches, ungehorsames Verhalten. Forderte Garados etwa, dass es aus dem Weg ging?

    „Andrew, was läuft da?“

    Keiner konnte seinen Blick von diesem Schauspiel nehmen. Wie oft bekam man so etwas zu Gesicht? Zwei Pokémon, die den Kampf ablehnten und ein gegenseitiges Einlenken nur mit Worten zu erreichen versuchten. Das war ja beinahe menschlich – je nachdem, mit was für Menschen man es zu tun hatte.

    „Hab ich ´ne Ahnung?“

    Langsam wurde die Konversation hektischer, schien sich immer mehr in die Richtung zu bewegen, die Garados doch zum Angriff verleiten könnte. Es schien sich mehr gezwungenermaßen anstatt willentlich zurückzuhalten und tat sich damit offenkundig schwer. Dragonirs Standpunkt war auch ohne Kenntnis der Pokémonsprache klar und deutlich: Bis hierher und nicht weiter!

    Und schließlich zollte Garados diesem Standpunkt seinen Respekt. Ein letztes, verärgertes Mal brüllte es, wand sich dann mit warnendem Blick ab. Einer, der mitteilte, dass das eigene Leben gerade verschont worden war. Jener Blick zielte sonderbar präzise auf Ryan. Dann tauchte Garados brüllend ab und verschwand rauschend in der schwarzen Tiefe.

    Würde die Erschöpfung die beiden Trainer aus Silber City nicht gnadenlos an die Grenze der Bewusstlosigkeit zerren, so hätten sie wohl auch noch eine geschlagene Minute später die Luft angehalten. Doch ihr schockiertes Keuchen und Jauchzen blieb von ihnen selbst ohnehin ungehört. Verwirrung herrschte in ihren Köpfen. Warum hatte Garados aufgegeben? Was hatten die zwei Drachen einander zu sagen gehabt? Andrew war es, der sich als erstes weiträumig umsah, während Ryan wie hypnotisiert die Wasseroberfläche anstarrte, als könnte der abgezogene Drache doch gleich wieder auftauchen. Nur langsam wich die Todesangst aus seinem Körper und nur langsam entspannten sich seine erstarrten Muskeln. Sein Verstand war dafür noch genauso unklar, wie das finstere Meer in dieser Nacht. Hatte Garados gerade wirklich ihn allein angesehen? Hatte diese stille Warnung, die er darin zu lesen geglaubt hatte, konkret ihm gegolten?

    „Ey, Ryan.“

    Andrews Stimme klang wie aus der Ferne. Ein Piepen lag im Ohr des Blonden, sodass sie kaum zu ihm durchdrang.

    „Huh?“, reagierte er abwesend, ohne aufzusehen. Mehr brachte er nicht mehr heraus. Die vergangenen Minuten waren einfach zu viel gewesen. Er wünschte sich ganz schnell das Ende von Andrews Anliegen herbei, als würde danach alles wieder gut sein. Jetzt nur nicht reden, nicht denken, einfach irgendwie erholen.

    „Wo ist das Schiff?“

    Nicht einmal ein Schock durchfuhr seinen Körper. Der war bereits zu ermattet. Stattdessen setzte sein Verstand kurz aus. Hatte er sich da verhört? Träumte er bereits? Hatte Andrew das eben wirklich gefragt? Bitte lass die Antwort nein lauten.

    Gerade so brachte Ryan es fertig, sich auf die Ellenbogen zu stützen und aufzusehen. In allen Richtungen erblickte er nur finstere Nacht. Kein Licht, kein Schiff. Es war weg.

    „Das is jetzt nicht wahr!“

  • Huhu @Shimoto <3


    Haha, Tag scheiße, alle scheiße! Find ich echt sympathisch. =D Wer kennt diese alles scheiße-Stimmung nicht? Erfrischend. ^^
    Ich mag die Gedankengänge am Anfang. :)


    Den Teil, bei dem das Schiff eben angegriffen wird, finde ich etwas zu kompliziert geschrieben. Also im Sinne davon, dass das Satzgefüge oft zu kompliziert ist und du Wörter verwendest, die zu sehr nach Sachtext klingen und daher die Spannung etwas mindern. Vor allem lange Worte sowie Fremdworte. Und lange Worte, die auf -keit, -ung und so enden, meinte ein Autor zu mir, dass das Beamtendeutsch sei.
    Beim Kampf an sich erhöht sich das Tempo etwas. ^^ Auch find ich die Garados sehr toll beschrieben.
    Inhaltlich sehr spannend, vor allem wtf, da verschwindet ehrlich das Schiff? :D

  • Kapitel 17: Räuber in der Nacht


    „Scheiße... scheiße verflucht.“

    Andrew hielt krampfhaft beide Arme über den Kopf geschlagen und blickte willkürlich starr in eine Richtung, dem nicht sichtbaren Horizont entgegen. Vermutete er dort etwa ihr verschwundenes Schiff? Es konnte eigentlich noch gar nicht außer Sicht sein, doch war es nur schwach beleuchtet gewesen. In dieser diesigen Nacht verlor man selbst so ein großes Transportmittel schnell aus den Augen. Eigentlich spielte es auch gar keine Rolle, wo es sich befand oder wie weit es entfernt war. Wenn niemand an Bord baobachtet hatte, wie sie in die Wellen geschleudert worden waren, hatten sie keinen Grund umzukehren. Aber war das denn möglich? Hatte ausnahmslos jeder Mensch auf der Fähre beim Anblick der Garados das Weite gesucht?

    „Ey, das gibt´s doch nicht. Die müssen uns doch bemerkt haben!“

    Ryan pflichtete dem voll und ganz bei. Doch die Tatsachen sprachen dagegen. Sie waren auf dem offenen Meer verschollen und es war keine Hilfe in Sicht.

    „Verfluchter Mist!“

    Selbst überrascht, woher er noch die Kraft dazu nahm, schlug Ryan auf das Holz ein, das ihnen als notdürftiges Floß diente. Schmerz durchzuckte seine Hand trotz des geringfügigen Schutzes durch seine Handschuhe. Er kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe, bevor er zu dem Schluss kam, dass dies ein unglaublich beschissener Traum sein musste. Er wollte aufwachen. Er wollte sich in einem gemütlichen Bett vorfinden und einen ganz normalen Tag beginnen. Wollte, dass das alles nicht wirklich passierte. Doch auch nach mehreren Momenten spürte er noch immer die Nässe, den Wind, hörte das Rauschen der See.

    „Okay, okay... ähm,... wir... wir müssen nur ´ne Weile durchhalten. Die kommen bestimmt wieder“, prognostizierte Andrew wenig überzeugend. Dennoch nickte der jüngere Trainer, da es nun nichts half, pessimistisch zu sein. Wohl war er selbst nicht überzeugt von dieser Hoffnung, aber etwas Wahres war dran. Wenn sie es schafften, am Leben zu bleiben, würden sie früher oder später gefunden werden. Der Schiffsverkehr zwischen Faustauhafen und der Anlegestelle hinter ihnen soll angeblich zu den größten an der gesamten Westküste Hoenns gehören. So unglaublich das klang, wenn man den winzigen Ort am Rande von Blütenburg einmal gesehen hatte. Also konnte es doch nicht so lange dauern, bis sie auf ein Schiff stießen. Oder? Natürlich, das musste so sein. Es musste einfach. Abwarten und Tee trinken war angesagt und wenn möglich nicht absaufen. Und natürlich hoffen, dass die Rettung kommen würde, bevor sie von der Strömung aus der Passage zwischen dem Festland und ihrer Zielinsel aufs offene Meer hinausgetragen werden würden.

    Ryan sah sich um. Dachte angestrengt nach, was sie nun tun konnten, um ihre Überlebenschancen zu steigern. Jedes kleine Bisschen war nun Gold wert. Und selbst wenn ihm nichts einfiel, musste er sich einfach von negativen Gedanken und Befürchtungen ablenken. Es trieb noch einiges an Holz an der Oberfläche, ebenso wie meterlange Schiffstaue. Damit ließ sich doch bestimmt was machen. Nachdenklich sah Ryan auf das Holz unter sich.

    „Ich fühle mich auf dem Ding hier nicht so sicher.“

    Erst mit einem sanften Rütteln an Andrews Schulter gewann er dessen Aufmerksamkeit und deutete dann ins Wasser.

    „Lass uns ein paar Bretter zusammenbinden.“


    Keiner der beiden Jungen hatte je zuvor ein Floß gebaut. Hinzu kam, dass man so etwas normalerweise an Land tat. Daher war das Ergebnis trotz der Hilfe durch Hydropi und Dragonir eher schlecht als recht und hatte seine Zeit in Anspruch genommen. Doch selbst mit einem solch unbeholfenem Haufen schwimmfähigen Holz unter sich, zusammengehalten von festem Seil, trieb es sich immerhin ein wenig beruhigender auf nächtlicher See.

    Magnayen war inzwischen zurück in seinen Pokéball eingekehrt, trotz seiner Proteste. Es wäre gern weiterhin bei seinem Trainer geblieben, aber in seinem Zustand war es leider keine Hilfe. Bei gar nichts. Außerdem sollten sie die Belastbarkeit ihres Floßes auf keine allzu große Probe stellen. Gerade richtete sich auch Dragonirs Pokéball auf seinen zugehörigen Insassen, doch die anmutige Drachenschlange schüttelte sogleich vehement den Kopf.

    „Was ist, Dragonir?“

    Natürlich wussten beide Trainer das Verhalten des Drachen mühelos zu deuten, doch Andrew war schleierhaft, was dieser damit bezwecken wollte. Selbst Magnayen, das einen weitaus größere Dickschädel besaß, war bereits wieder in seinem Pokéball. Das Drachenpokémon dachte für gewöhnlich bodenständig und zielorientiert. Aber was sollte es denn hier und jetzt ausrichten können? Spontan war Andrew vorhin auf die Idee gekommen, auf Dragonirs Rücken übers Meer zu fliegen. Da täte sich allerdings das Problem auf, dass sie nicht wussten, in welcher Richtung denn Faustauhafen lag. Sie kannten nicht einmal die genaue Richtung, in die ihre Fähre verschwunden war und selbst die machte auf ihrer Route einen Schlenker, um einem Riff vor der Küste auszuweichen. Genauso gut könnten sie aufs offene Meer hinausfliegen. Ganz abgesehen davon – wie lange würde Dragonir wohl zwei Jugendliche tragen können? Eine Stunde? Vielleicht zwei? Und was, wenn sie kein Land fanden? Das Risiko war definitiv zu hoch für eine Entscheidung mit so geringen Erfolgschancen. Weshalb also beharrte Dragonir darauf, nicht in seine Kapsel zurückzukehren?

    „Ist das nicht offensichtlich?“

    Andrew blickte Ryan an, der sich trotz der Situation ein leichtes Lächeln erlaubte.

    „Es will auf dich aufpassen, du Genie. Es will bei dir sein.“

    Selbstverständlich kapierte er das. Mit dem Unterschied, dass er einen konkreten und im Optimalfall guten Grund dahinter vermutet hatte. Doch auf der anderen Seite existierte auch ein triftiger Grund, warum Dragonir in seinem Pokéball ausharren sollte. Im Gegensatz zu dem grauen Wolf, der zuvor einiges abbekommen hatte, sah die Drachenschlange keinen Vorteil innerhalb ihrer Behausung.

    Haargenau so pragmatisch empfand Dragonir dabei gar nicht einmal. Es wollte so oder so an Andrews Seite bleiben. Wollte ihn behüten, Trost spenden oder Wärme oder was auch immer. Es wollte einfach bloß nicht irgendwohin verschwinden, wo es rein gar nichts bewirken konnte. Dies war ihr Band. Das Für- und Miteinander auf dem alles basierte, was sie teilten und was sie zusammenhielt. Und der blau-weiße Drache, er fühlte es bereits so stark und unzertrennlich, dass er auf jegliche Annehmlichkeiten verzichtete, um bei seinem Trainer sein zu können, obwohl er noch nicht lange dabei war. Dragonir hatte Andrew als seinen Trainer akzeptiert, von dem Moment an, als er nicht mehr aus dem Pokéball hatte entkommen können. Hatte seinen Meister gefunden und würde alles tun, um ihn zu unterstützen. Bedingungslos und in jeder Situation. Und Andrew – er hatte tatsächlich für eine Sekunde vergessen, wie ähnlich Menschen und Pokémon doch fühlten. Was für Emotionen sie zu teilen vermochten.

    Nun lächelte auch der junge Trainer und strich Dragonir sanft über die Schnauze. Ein Geräusch, das man als gefühlvolle Melodie betiteln konnte, ertönte daraufhin. Ein Klang des Wohlwollens, wie das Schnurren von Psiana oder das vergnügte Fiepen von Magnayen. Nur viel himmlischer.

    „Ich glaube du kennst Dragonir noch lange nicht so gut, wie es dich bereits kennt.“

    Die Drachenschlange ließ sich auf das Floß sinken und formte mit seinem Körper ein Oval, woraufhin es Andrew einladend ansah. Der verstand die Geste diesmal und nahm sie dankend an. So gemütlich, wie es im Angesicht der Notlage ging, legte er sich zu dem eingerollten Körper und stützte den Nacken darauf. Dabei strich er weiter über die blauen und weißen Schuppen. Dragonir hatte Recht. Die Nähe seines Partners zu spüren, war hier und jetzt unbezahlbar.

    „Und ich glaube, ich kenne Dragonir immer noch besser als du, Pfeife.“

    Es lag weder Unmut noch Argwohn in Andrews Stimme. Lediglich eine Zurückweisung des Vorwurfes. Es sprach sein Sturkopf, der seine üblichen Sticheleien ausspuckte, und normalerweise nur in jenen Momenten sprach, wenn sie beide gerade mehr Rivalen als Freunde waren. Dass Andrew selbst hier und jetzt imstande war, alles so runterzuspielen, entlockte dem Blonden dann doch ein schwaches Lächeln sowie ein fassungsloses Kopfschütteln. Vielleicht zwang er sich auch dazu, um die Stimmung ein wenig zu lockern. Wenn man sich der Aussichtslosigkeit und Machtlosigkeit ergab, folterte man sich selbst schließlich nur noch mehr. Er trat an das beieinanderliegende Duo heran, richtete einen vorsichtigen, fragenden Blick an den Drachen. Wollte nicht dreist wirken und sich unerlaubt dazugesellen. Dragonir streckte seine untere Körperhälfte ein wenig, sodass es schien, als öffne sich ein blau-weißes Tor zu einem gleichfarbigen Innenhof. Dankend nickte Ryan und lehnte sich ebenfalls an den länglichen Körper. Dieser war überraschend weich und die Schuppen glatt, aber selbst durch die Nässe ließen sie einen nicht abgleiten. Dragonir war einfach ein wunderbares Geschöpf und dieses hier besaß zudem eine wundervolle Seele.

    Plötzlich kam Hydropi in Ryans Arme gesprungen. Es wirkte noch immer aufgewühlt und in seinen Knopfaugen zeichnete sich enorme Sorge.

    „Hey, hey,“, beschwichtige sein Trainer und strich behutsam seinen Rücken.

    „Alles wird gut. Wir schaffen´s schon irgendwie.“

    Das kleine Wasserpokémon schien bei weitem nicht so optimistisch, wie der Rest der Gruppe. Das war wohl die Jugend, die Unerfahrenheit. Es hatte doch noch nichts von der Welt gesehen und nach nur wenigen Tagen der Reise geriet es in so eine missliche Lage. Das war sicher beängstigend, doch seine eigentliche Sorge galt wahrscheinlich Ryan. Schließlich war Hydropi hier draußen nicht verloren, sondern genau in seinem Element. Doch es wollte seinen Trainer in Sicherheit wissen und gab dafür sogar einen Teil der eigenen auf. Es zeigte bereits ähnliche Züge wie Dragonir, mit dem Unterschied, dass es weitaus hilfloser war. Genau das sah man ihm auch an. Eigentlich müsste er die Tatsache verfluchen, dass bloß Hydropi hier war. Schon wieder, musste man sagen. Doch Ryans rechter Mundwinkel zuckte dann urplötzlich weit nach oben.

    „Hab ich eigentlich schon gesagt, wie toll du vorhin gekämpft hast?“

    Hatte das Amphibium sich da gerade verhört? War das gerade ein Kompliment gewesen? Ausgerechnet hier? Ausgerechnet jetzt?

    „Hy-?“

    Eindringlich sah Ryan seinen jüngsten Schützling in die Augen. Hielt ihn fest und schenkte ihm ein Lächeln voller Stolz und Zuversicht.

    „Du hast dich mit gleich zwei Garados angelegt. Die meisten würden dich deswegen für verrückt halten. Du hast dich fantastisch geschlagen, wirklich“, lachte er Hydropi aufmunternd an und umfasste fest seine Wangen, sodass es ihn ansehen musste. Es sollte ihm in die Augen sehen, sollte die Ehrlichkeit daraus lesen. Es sollte dieses Lob annehmen und das wachsende Vertrauen seines Trainers spüren.

    „Ich danke dir. Und ich bin stolz auf dich.“

    Nach diesen eindringlichen Worten lächelte nun auch das letzte Wesen im Club der Schiffbrüchigen. Im Grunde absurd, freilich. Aber in einer Situation, in der es um Leben und Tod geht, musste man die Hoffnung beibehalten und das gelang, indem man sich gegenseitig Mut machte. Außerdem verdiente Hydropi das Lob und Ryan hatte weder gelogen noch übertrieben.

    „Wir sollten versuchen ´ne Runde zu schlafen“, bemerkte Andrew dann. Auch das sollte wohl eine Maßnahme sein, um ihrer Situation zumindest für eine kurze Zeit gewissermaßen entfliehen zu können.

    „Und wenn ein Schiff kommt?“

    „Bemerkt Dragonir das, bevor wir es überhaupt sehen können.“

    Bestätigend öffnete der Drache eines seiner bereits geschlossenen Augen einen Spalt weit und blickte Ryan felsenfest an. Kein Zweifel, es pflichtete seinem Trainer bei. Natürlich tat es das. Die überlegenen Sinne eines derart edlen Wesens würden die zweier junger Männer in einen gewaltigen Schatten stellen. So richteten sich alle ein letztes Mal, um eine möglichst komfortable Ruheposition zu erreichen und schlossen die Augen. Wie skurril all dies doch war. Sie befanden sich in einer so hoffnungslosen und gefährlichen Situation und dennoch empfanden jeder in diesem Moment Ruhe und Sicherheit. Sie waren füreinander da. Seinen Pokémon sowohl körperlich als auch geistig so nahe zu sein, wie Ryan und Andrew es gerade waren… solche Momente behielt man für immer im Gedächtnis. Der junge Trainer, der seinem Dragonir noch ein letztes Mal sanft über die Schnauze strich, zog für einen kurzen Moment eine Braue hoch, schüttelte seine plötzliche Skepsis aber schnell wieder ab. Sicher war das schwache, silberne Licht in Ryans Augen nur Einbildung gewesen.


    Ryan schreckte nach oben. Konfusion beherrschte ihn. Leichtes Schwindelgefühl und die Frage nach dem Wo und Wann, verfolgten ihn. Durchatmen, Gedanken ordnen. Es war Nacht, ohne Sterne, ohne Wind. Salziger Geruch erfüllte seine Nase und ein kaltes Gefühl der Nässe kroch in Hände wie Beine. Rasch kam die so unwirklich scheinende Erinnerung hoch. Richtig, er war in einem Alptraum. Nur schlief er nicht länger. Es war ein realer Alptraum, den das Leben ihm schickte. Der Grund seines plötzlichen und vor allem so schreckhaften Erwachens entzog sich jedoch seinem Wissen. In dem Moment, in dem er vom Traumreich wieder in die Realität über gewandert war, hatte er noch gedacht, einen Schlag oder eine Erschütterung zu spüren. Doch mit Sicherheit hatte er sich das nur eingebildet und er wurde einfach nur seekrank. Das würde jedenfalls den Schwindel erklären.

    Seufzend warf er einen Blick auf die Schlafenden. Dragonir hatte sich kein Stück bewegt, hatte noch immer die beiden Trainer und auch Hydropi mit seinem schlangenartigen Körper umringt, um so viel Schutz und Geborgenheit zu liefern, wie es nur möglich war. Andrew war ein wenig von seinem geschuppten Kopfkissen hinab gesunken, sodass der Kopf von jener nun fast aufrecht gestützt wurde und das Kinn auf der Brust lag. Hydropi hatte sich in den vergangenen Stunden – Ryan wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, doch er schätzte es in dieser Richtung ein – aus den Armen seines Trainers herausgewunden und kauerte nun direkt an Dragonirs schützendem Körper.

    Nun, da er die Situation gänzlich erfasst hatte, schob Ryan einen Ärmel zurück und machte sich die Mühe, die Uhrzeit zu überprüfen. Die Armbanduhr war zum Glück wasserdicht. Kurz nach halb vier am Morgen. Der junge Trainer schnaubte fassungslos mit einer winzigen Spur von einem Lächeln. Er hatte es tatsächlich geschafft unter gegebenen Umständen mehrere Stunden zu schlafen. Dies war wohl der Erschöpfung und der verletzten Schulter geschuldet. Wirklich besser fühlte sich diese nicht an. Vielleicht war etwas geprellt oder verrenkt. Das müsste er bei Gelegenheit von einem Arzt prüfen lassen.

    Inmitten seiner Überlegungen stach ihm etwas ins Auge. Zwar war die Nacht gar so finster und von Wolken verhangen, dass keine Sterne sichtbar waren, doch der Mond fand noch mit einigen spärlichen Bruchstücken seines weißen Lichts einen Weg zu ihrem einsamen Floß herab. So erkannte Ryan das schlaff im Wasser schwimmende Tau, das eigentlich einen Teil eben jenes Floßes zusammenhalten sollte.

    „Shit“

    Ungeachtet der schlafenden Gemeinschaft sprang Ryan auf, überrascht, wie er dies überhaupt so ohne weiteres schaffen konnte. So schlagartig war er selten munter geworden.

    „Hey, Andrew.“

    Weder machte er sich diesmal die Mühe, den Schlafenden wachzurütteln, noch wandte er sich ihm gänzlich zu. Dennoch genügte diese knappe Ansprache, um ihn bereits in einen..., na ja zumindest halbwachen Zustand zu rufen.

    „Aufwachen!“

    Andrew schien die Situation nach dem Erwachen noch konfuser zu erscheinen, als es bei Ryan der Fall gewesen war. Die Brauen zusammengezogen und die Augen nur einen schmalen Spalt weit geöffnet, als würde er geblendet werden, könnte man meinen, er schlafwandelte gerade. Nach einigen Sekunden jedoch schaffte auch er es, seinen müden Körper in eine aufrechte Position zu bringen.

    „Was? Was´n los?“

    „Uns fällt gleich das Floß auseinander.“

    Ryan schien noch Herr seiner Fassung zu sein und die Nerven zu behalten. Er sprach ernst, aber in ruhiger Tonlage. Dabei war ihm durchaus klar, dass sie am Arsch waren, sobald das Teil sie nicht mehr trug.

    „Was? War doch alles gut verknotet.“

    „Keine Ahnung, lass das einfach schnell hinbiegen, bevor wir schwimmen müssen.“

    Ohne zu zögern, öffnete Ryan den Reißverschluss seines Sweatshirts, um sich dessen zu entledigen. Auch Schuhe und Socken legte er rasch ab und sprang schließlich in die Fluten. Er zog es vor, etwas Wasser zu treten und dafür besseren Zugriff auf die Knoten zu haben. Hydropi erwachte nun ebenfalls – als letzter im Bunde, da die scharfen Sinne Dragonirs schon längst Alarm geschlagen hatten. Eine geschlagene Minute verging und Ryan schien den Schaden problemlos beheben zu können. Man durfte sich das Ergebnis ihrer Arbeit nicht allzu sauber vorstellen. Die Konstruktion bestand zum größten Teil aus einem verschnürten Rahmen einzelner Holzbalken, auf denen nochmals zwei größere Platten aufgeschichtet worden waren, um möglichst viel Auftrieb zu erzeugen. Diese waren ein weiteres Mal verschnürt worden. Nun hatte eines jener Seile, welche die Grundkonstruktion zusammenhielten, sich scheinbar gelöst. Dies erneut zu befestigen, würde wohl jedoch kein großes Problem darstellen. Andrew kniete derweil am anderen Ende des Floßes und unterzog das Tau einer genaueren Betrachtung.

    „Das ist doch....“

    Das war vorhin definitiv länger gewesen. Er war sicher, beim Zusammenbinden das Tauende in der Hand gehalten zu haben. Dieses Ende war nun fort. Das Tau irgendwo auf seinem Weg durchtrennt, sodass jede Sehne einzeln ausstand und in alle Richtungen abknickte.

    „Das hat sich nicht gelöst. Es wurde zerfetzt.“

    Er verstummte. Der Andere im Wasser erstarrte. Ein sanfter Schlag hatte auf das Holz getroffen. Nicht von oben, sondern unter der Wasseroberfläche. Sofort setzten wieder die natürlichen Instinkte ein. Sie sahen einander an, die Augen geweitet und den Mund vor böser Vorahnung offenstehend.

    „Bitte sag mir, dass Hydropi auch ins Wasser gesprungen ist.“

    Andrew antwortete nicht. Er sah nur hinunter zu der noch immer eingerollten Drachenschlange. Zwischen dem schuppigen Körper lugte nun das Amphibium hervor. Ryan wurde kreidebleich. Was immer sich nun mit ihm im Wasser befand, es war gerade eben höchstens eine Armlänge von ihm entfernt gewesen.

    Korrekt wäre gewesen, dass es in diesem Augenblick nur eine Armlänge entfernt war. Was auch immer unter ihnen schwamm, versetzte dem Floß gerade einen zweiten Schlag. Diesmal so stark, dass es glatt ein Stück aus dem Wasser gehoben wurde. Ryan und Andrew erstarrten vor Schreck. Der Blonde krallte sich instinktiv an den Rand des Floßes und wurde dadurch mit in die Höhe gehievt, während sein Leidensgenosse sich auf alle Viere begab, um nicht herunterzufallen. Rasch sackten sie wieder ab. Ryan vermochte sich allerdings nicht am nassen Holz zu halten und sank durch den Aufschlag einen Meter unter Wasser.

    Jeder Instinkt beschwor die Menschen, ihre Augen zu schließen, wenn sie tauchten. Ihre Augen waren nicht dafür geschaffen, unter Wasser zu sehen. Oder bei Dunkelheit. Entgegen dieser Instinkte hielt Ryan die seinen alarmiert offen, um gegenüber des Angreifers nicht komplett blind zu bleiben. Natürlich erkannte er nicht, was sie da von unten gerammt hatte. Etwas erkannte er jedoch, das sein Herz nicht nur für einen Schlag aussetzen ließ. Eher fühlte es sich an, als sei es gänzlich und für immer in furchtbar unnatürliche Regionen gerutscht. Es war so nahe. Es sah ihn an, gierte nach ihm, so durchdringend. Ein leuchtend roter Punkt in der Dunkelheit. Darinnen eine winzige schwarze Pupille, dir präzise in seine blickte. Sofort schoss sein Kopf wieder aus dem Wasser.

    „Scheiße, verflucht!“

    Ryan begann panisch mit den Armen zu rudern und nach dem rettenden Floß zu greifen. Salzwasser spritzte auf und wurde aufgeschäumt. Von einem Moment auf den anderen herrschten allein durch das Handeln einer einzelnen Person unnatürliche Hektik. Andrew ahnte nicht was sein Kumpel gesehen hatte. Doch seine Reaktion machte mehr als deutlich, dass er sofort aus dem Wasser wollte. Das zerrissene Tau, welches das Floß befestigen sollte, war zudem kein gutes Zeichen. Geistesgegenwärtig sprang er über Dragonirs Körper hinweg und zog Ryan an seinem T-Shirt rauf. Der hustete und drückte seine Stirn auf das Holz, als sei es ein rettendes Ufer und er ihm unendlich dankbar. Dabei hatten sich gerade die Befürchtungen erhärtet, dass sie hierauf alles andere als sicher waren.

    „So ´ne scheiße“, fluchte Ryan weiter und biss sich auf die Unterlippe, sodass sie fast blutete. Wenn er bedachte, wie nahe er dem Angreifer eben gewesen war und dass er problemlos auch ihn anstelle des Floßes hätte attackieren können, wurde ihm übel. Andrew sah zwischen ihm und der Wasseroberfläche hin und her. Er konnte nicht das geringste Entdecken.

    „Was? Was hast du gesehen?“

    Der Durchnässte atmete zunächst einige Male geräuschvoll ein und aus, bevor er antwortete. Wieder ein wenig gefasster, aber definitiv verängstigt.

    „Ein Auge!“

    Andrews Stirn legte sich in Falten.

    „Ein Auge?“

    „Ja verdammt, ein rotes Auge!“, bestätigte er und wollte eigentlich fest in seine braunen Augen sehen, doch der Blick des Braunhaarigen suchte bereits wieder die finstere See ab. Keiner von ihnen wagte sich jedoch näher an den Rand ihrer plötzlich so klein wirkenden, schwimmenden Insel. Keiner der Trainer zumindest. Dragonir erhob sich langsam und lautlos in die Lüfte. Die Kristallkugel an seinem Hals begann ein sanftes, blaues Licht auszustrahlen, womit es das pechschwarze Meer erleuchtete. Der Lichtschein wurde nach einigen Metern bereits von Dunkelheit verschluckt, doch sollte der Angreifer damit zu entlarven sein, wenn er sich noch nahe der Oberfläche aufhielt.

    Eine gute halbe Minute lang drehte der Drache seine Bahnen um das Floß herum, scheinbar ohne fündig zu werden. Insbesondere Ryan verfolgte diese Suchaktion gebannt. Auch wenn Andrew nun wusste, was er dort unten gesehen hatte, würde er wohl kaum die Verletzbarkeit, die er bei dem Anblick gefühlt hatte, nachvollziehen können. Folglich war der Blonde deutlich aufgekratzter. Hin und wieder huschte ein Blick über die Schulter, da man den Schwall einer kleinen Welle für das Wesen aus der Tiefe hielt, das ihm den Schrecken seines Lebens verpasst hatte. Dieses rot leuchtende Auge. Wie eine blutgetränkte Kristallkugel mit einem leuchtenden Kern und einer sehr kleinen schwarzen Punkt in der Mitte. Weiter war nichts zu erkennen gewesen. Nicht einmal die Größe konnte er bestimmen, geschweige denn die Spezies. Doch er war sich sicher, dass es kein Goldini oder etwas ähnlich harmloses gewesen war.

    „Hol es zurück.“

    Ein fragender Blick legte sich auf Ryan. Mit gerunzelter Stirn und hochgezogener Braue stellte er den Ernst dieser Aufforderung infrage.

    „Hol es zurück“, wiederholte er, diesmal nachdrücklicher. Es war nicht mehr als ein Bauchgefühl, dass ihn dies sagen ließ. Allerdings war es so stark, dass er fast glaubte, sich erbrechen zu müssen. Er hatte gelernt, seiner Intuition zu vertrauen und wenn sie ihn so vehement warnte, konnte er das nicht ignorieren.

    „Keine Ahnung, was da unten ist, aber es kann Dragonir sehen. Und ich glaub kaum, dass...“

    Plötzlich wurde auf einen Schlag alles ganz surreal. Wasser rauschte, spritzte, hoch, weit. Ein dunkler Körper durchbrach die Oberfläche. Unmöglich genau zu erkennen, da im entscheidenden Moment keiner von ihnen hingesehen hatte. Doch zweifellos hatte der die Drachenschlange ins Visier genommen. Und erwischt. Am hinteren Teil des langen Körpers hatte es sein ahnungsloses Opfer erfasst und zog es nun in die Tiefe. Ein panischer Schrei ertönte noch, doch nur einen Herzschlag später war das schöne Wesen in schäumender See verschwunden.

    „Dragonir!“

    Andrew stürzte an den Rand des Floßes. Ryan hielt ihn bereits am Ärmel, da er befürchtete, sein Freund würde gleich hinterher springen. Dies tat er zwar nicht, aber seine Panik war deutlich sichtbar. Er lehnte sich so weit über den Rand des Floßes, wie es ihm die Schwerkraft erlaubte und krallte sich mit beiden Händen krampfhaft an das Holz. Seine Augen waren derart weit aufgerissen, dass sie jeden Augenblick aus ihren Höhlen fallen konnten und trotz finsterer Nacht verkleinerte der Schock seine Pupillen auf die Größe eines Streichholzkopfes.

    „Dragonir!“

    Der zweite Ruf erschallte noch um ein Vielfaches lauter. Gar mochte man glauben, er wäre unter Wasser wirklich zu hören gewesen. Doch eine Antwort, die folgte natürlich nicht. Es blieb totenstill. Das sanfte Rauschen und Plätschern des Seegangs allein spielte die Melodie dieser plötzlich so schrecklichen Nacht. Sie mussten etwas tun!

    Andrews Verstand spielte verrückt. Er stieß in Sekundenschnelle mehrere laute Atemstöße aus, zappelte und zitterte wie ein hilfloses, panisches Mauzi in einem Käfig. Seine Hände, seine Blicke suchten blind nach einer unsichtbaren Lösung, was darin resultierte, dass er wild mit den Armen um sich schlug, ohne wirklich etwas mit ihnen treffen oder erreichen zu wollen. Tatsächlich wusste er in diesem Moment nichts mit ihnen anzufangen. Er drehte durch. Dort unten, unter dem schwarzen Nachtmantel der See kämpfte sein Freund gerade um sein Überleben und er konnte nichts, aber auch gar nichts tun, um zu helfen.

    „Komm rauf. Komm wieder rauf!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mehrmals wiederholte er sich. Ryan hatte selbst kaum Augen für ihn, da er das Wasser unaufhörlich absuchte.

    Er wünschte sich im Augenblick nur das gleiche, wie Andrew auch. Der Drache sollte einfach wieder auftauchen. Sollte seinen Gegner überwältigen und enttarnen, ihn zurückschlagen und unversehrt wieder zu ihnen zurückkehren. Die Gutherzige Geste, die er ihnen hatte zukommen lassen, durfte einfach nicht zur letzten Erinnerung an Dragonir werden.

    Andrew war inzwischen verstummt. Er zitterte noch immer und klammerte sich an den Rand der hölzernen Insel. Sein Atem war sehr schwach, da sich die Lungen, sowie alle anderen Organe unnatürlich zusammenzogen und Andrew zu ersticken drohten. In seinen Augen sammelten sich Tränen.

    Das war doch verrückt. Das konnte nicht wirklich passieren. In nicht einmal zwei Minuten sollte man ihm einen wertvollen Freund stehlen, den er noch lange nicht so gut hatte kennenlernen können, wie er es gerne gekonnt und gewollt hätte? Was für ein schlechter Scherz war das?

    Sie mussten was tun. Ryan musste was tun! Er hatte noch ein Pokémon bei such und das konnte sogar schwimmen.

    „Schick Hydropi runter, Ryan!“

    Der schrecklichen Situation zum Trotz musste sich Ryan doch die Frage stellen, ob Andrew jetzt nicht durchdrehte. Was verlangte er da?

    „Na los, mach schon!“

    Das kleine Wasserpokémon sah unschlüssig zu seinem Trainer auf. Natürlich wollte es helfen, aber lag das überhaupt in seiner Macht? Dies musste ihm Ryan beantworten.

    „Bist du noch ganz dicht? Das hat jetzt keinen Sinn.“

    Völlig verständnislos blickte Andrew seinen Kameraden in die Augen. Als könnte er nicht glauben, was er gerade gehört hatte, trat er an ihn heran und zerrte an seinem Shirt.

    „Dragonir ist da unten, verdammt. Mach schon was, Hydropi muss ihm helfen!“

    „Hydropi kann nicht...“

    „Ryan, verdammte Scheiße!“

    Einen kurzen Moment herrschte wieder Stille. Die erdrückende Trauer und Hilflosigkeit ließ sie verstummen. Nur das sanfte Plätschern des Salzwassers unterbrach sie. Einige Tropfen mehr drohten ins Meer zu gelangen. Sie sammelten sich bereits in Andrews Augen.

    „Bitte Ryan. Wenn dir unsere Freundschaft jemals was bedeutet hat...“

    Nein. In diese Richtung durfte es nicht gehen. Sprach er diese letzten Worte nun aus, um ihm sein Vertrauen zu vermitteln oder, um ihre Freundschaft – abhängig von seiner Entscheidung – auf die Goldwaage zu legen? Das meinte er doch nicht wirklich.

    „Hör zu, du Idiot.“

    Ryan griff fest nach Andrews Schultern und sah ihm tief und mit vollem Ernst in die Augen. Die Dreistigkeit für seine Forderung wollte er übersehen und seiner verzweifelten Sorge um Dragonir zuschreiben. Doch den Unmut hörte man deutlich aus ihm heraus.

    „Hydropi ist völlig fertig, genau wie wir alle. Außerdem ist es viel kleiner und nicht einmal halb so schwer wie Dragonir. Was da unten auch ist, allein hat es in diesem Augenblick keine Chance dagegen. Das kannst du ihm nicht zumuten.“

    Wie gerne hätte Ryan etwas anderes gesagt. Er wollte wirklich helfen. Und wie er es wollte. Sein ganzer Körper sehnte sich nach der Kraft, dieses Pokémon zu retten. Doch dies war schlicht und ergreifend wahnsinnig. Was auch immer den Drachen angegriffen hatte, ein müdes Hydropi wäre für ihn keine Herausforderung. Keiner hatte etwas davon, wenn ein zweiter Freund zum Opfer dieses Räubers wurde.

    „Wir müssen aber was tun“, beharrte Andrew und schrie schon beinahe.

    „Irgendwas. Irgend...“

    Es war, als würde eine Unterwassermine unweit ihrer Position detonieren. Ein dumpfer Knall erschütterte die Wasseroberfläche, schlug Gicht in die Höhe und heftige Wellen in alle Richtungen. Ein goldener Lichtstrahl schoss gen Himmel und erhellte die Nacht. Instinktiv suchten die beiden Trainer und auch Hydropi Halt auf ihrem plötzlich so zerbrechlich wirkenden Floß, unter welchem die Wassermassen aufgeschreckt tobten. Es wankte bedenklich und fühlte sich furchtbar instabil an. Nachdem sich Ryan zuvor freiwillig in die Fluten gestürzt hatte, wurde nun auch Andrew erneut völlig durchnässt, da ein wahrer Schauer aus Salzwasser sich über sie ergoss.

    Kein Zweifel, das war Dragonirs Hyperstrahl gewesen. Doch was nun? Hatte es sich aus dem tödlichen Griff seines Angreifers befreien können? Nur wenige Sekunden später war sie schon wieder da, diese unheimliche Stille. Sie zwang die beiden Trainer, ihre eigenen, schweren Atemzüge zu hören, erdrückte sie mit ihrer Präsenz. Diese verfluchte Stille. Sie bedeutete Ungewissheit, Gefahr und Angst. Nur sehr schwach wurde sie unterbrochen, als der längliche Körper eines blau-weißen Wesens an die Oberfläche trieb.

    „Dragonir!“

    Diesmal tat Andrew es wirklich. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprang er samt Schuhen ins Wasser – gerade so hatte er noch seine Jacke und seine Umhängetasche abgelegt – und eilte die wenigen Meter zu seinem regungslosen Pokémon. Vermutlich wäre es sowohl einfacher als auch sicherer gewesen, es einfach in den Pokéball zurück zu verfrachten. Doch zum logischen Denken war Andrew gerade bei weitem nicht fähig. Aber ihm stand danach ohnehin nicht der Sinn. Er wollte zu ihm, wollte zu seinem Freund und Partner. Er wollte bei ihm sein und sich seiner Gesundheit vergewissern. Letzteres musste er sogar, denn sollte Dragonir doch schwer verletzt sein, würde es unbehandelt in seiner Behausung nicht lange überleben.

    Und schon wieder ging alles so plötzlich und so schnell. Hydropi machte einen alarmierten Ausruf und deutete mitten in die tiefschwarze See. Ryan erkannte es sofort. Etwas war dort, nur knapp unter der Wasseroberfläche und es hielt auf Andrew und Dragonir zu. Das Pokémon selbst sah er nicht, doch trieb es eine schwache Welle vor sich her, die kaum zu übersehen war.

    „Verflucht. Hydropi, Aquaknarre!“

    Jetzt musste das kleine Wasserpokemon eingreifen, sonst gab es hier Todesopfer. Noch immer im Unklaren, wer denn überhaupt der Gegner war, musste er nun aufgehalten werden, oder er würde seine Opfer in Fetzen reißen. Denn so viel war inzwischen klar. Hier handelte es sich um einen Räuber, einen aggressiven Fleischfresser. Wenn Ryan nur an diese Augen dachte. Eiskalt lief es ihm dabei den Rücken runter.

    Hydropi hatte all seine Kraft in den Wasserstrahl gesteckt, den es auf den unsichtbaren Feind abfeuerte. Doch dieser zeigte sich kaum beeindruckt. Er wechselte zwar die Richtung, doch unbedingt besser war sie nicht. Die Welle trieb nun auf Ryan und Hydropi zu. Andrew hatte Dragonir mittlerweile erreicht und zog es in Richtung Floß. Auch wenn das Wasser sein Gewicht minderte, war dies jedoch eine unglaublich mühsame Arbeit. Immerhin war dieses Pokémon über fünf Meter lang und wog über hundert Kilo. Jenes Pokémon rührte sich kaum. Sein Zustand war definitiv nicht gut. Es wimmerte leise, verzog Schmerzen leidend das Gesicht und erschlaffte immer wieder gänzlich, sodass es seinen Trainer fast mit in die Tiefe zog, während dieser nur verzweifelt strampeln und rudern konnte. Nur ein Moment der Schwäche würde vielleicht bedeuten, Dragonir für immer zu verlieren. Er biss die Zähne zusammen, kämpfte sich Stück für Stück vorwärts, so schnell er konnte. Bald würden seine Muskeln ermüden und verkrampfen.

    Ryan hielt angespannt den Atem an. Er wollte ihnen eigentlich entgegenkommen und seine Hand reichen, doch zunächst musste der Angreifer Priorität genießen. Sonst gab es womöglich gleich kein Floß mehr, auf das sie zurückkehren konnten. Und natürlich musste er auch auf Hydropi aufpassen. Die kleine Welle, verursacht von einem unbekannten Pokémon, dass sie aus unbekannten Gründen angriff, hielt auf das Floß zu.Ragte a etwas aus dem Wasser? Eine Flosse? Verdammt, es war einfach zu dunkel.

    „Mach dich bereit“, mahnte er das kleine Amphibium an seiner Seite. Wild entschlossen, die vorangegangenen Worte des Lobes von seinem Trainer zu bestätigen, begab es sich in Kampfposition.

    „Sobald es auftaucht, greifen wir an.“

    Es war wie ein Duell im Angsthasenspiel. Nur, dass einer der beiden Spieler bewegungsunfähig war. Fliehen war ausgeschlossen und Optionen, um den Angreifer auszutricksen, stark begrenzt. Dies war schließlich sein Element, sein Revier und offensichtlich auch seine Jagdzeit. Sie konnten nur versuchen ihn zu vertreiben, ihm alles entgegenwerfen, was sie hatten, sich mit allen Mitteln verteidigen. Angespannt lag der Blick des jungen Trainers auf der sich nähernden Welle. Unaufhaltsam verringerte sie den Abstand zu ihm. Es waren nur noch wenige Meter. Doch dann, völlig unerwartet, nahm sie an Größe ab. Ryan glaubte erst, seine Sinne spielten ihm einen Streich. Vielleicht Einbildung oder Wunschdenken, doch tatsächlich flautet sie innerhalb weniger Herzschläge gänzlich ab, verschluckt von der Tiefe. Was immer dort unten war, es war abgetaucht. Ein wenig verwundert blieben Trainer und Pokémon zurück, doch so konfus all dies auch wirkte, ergab sich somit ihre Chance. Sofort gingen seine Gedanken wieder zu seinem besten Freund und dessen Pokémongefährten.

    „Beeil dich Andrew!“

    Er hatte das Floß beinahe erreicht. Nur noch wenige Züge mit dem freien Arm und es war geschafft. Ryan beugte sich so weit über die Kante, wie es ihm die Schwerkraft erlaubte und streckte die Hand aus. Doch Andrew griff nicht nach ihr. Begleitet von einem schwachen, jedoch energischen Schrei setzte sein Körper ungeahnte Energiereserven frei, die es ihm erlaubten, den schweren Schlangenleib in seinen Armen ein gutes Stück nach vorne zu hieven, sodass Ryan nach dem Hals langen konnte. Nicht sich selbst hatte Andrew zuerst retten wollen, sondern Dragonir. Für einen winzigen Augenblick erlaubte sich Ryan, zumindest innerlich ein Lächeln. Solche Gesten waren dieser Tage einfach zu selten geworden. Doch war ebenfalls etwas, was ihre Freundschaft mitunter ausmachte – das Teilen der absoluten Überzeugung, dass das Leben eines Pokémon ebenso wertvoll war, wie ein Menschenleben. Völlig uneigennützig schob er Stück für Stück von Dragonirs Körper auf den schwimmenden Untergrund und stieg erst dann selbst aus dem Wasser, als es den Fluten entkommen war.

    Benetzt wurde Dragonirs Körper nicht nur von Wasserperlen, sondern von Blut. Jede Menge Blut, das sich über das Floß und ins tiefschwarze Meer ergoss. Sofort machten sich beide Trainer daran, jeden Zentimeter geschuppter Haut zu inspizieren und auf Verletzungen zu untersuchen. Noch immer war nichts als ein wehmütiges Stöhnen und Klagen von dem angegriffenen Wesen zu vernehmen. Diese herrliche, sanfte Stimme des Drachen so wehleidig jammern zu hören, würde wohl jedes Herz weich werden lassen. Und die Ursache dieser Klagelaute, das Resultat dieses Angriffs sprang sofort ins Auge.

    „Oh, heilige...“, hauchte Andrew schockiert. Nahe des Schweifes verlief quer über dem Körper eine blutige Wunde, wie ein Schnitt mit einer Säge. Die Abdrücke spitzer, scharfer Zähne ragten tief ins Fleisch und machten den Weg frei für den roten Lebenssaft, der in besorgniserregenden Mengen den Körper verließ. Eine zweite Bisslinie verlief parallel zur ersten in schätzungsweise vierzig Zentimeter Abstand zu dieser. Was immer Dragonir auch gepackt hatte, besaß also ein Maul von fast einem halben Meter Breite.

    „Ach du Scheiße.“

    Ryan untersuchte die Wunden präziser, als er es gerne getan hätte. Dieser Anblick war absolut traumatisierend und würde ihn wohl länger verfolgen. Doch sie beide mussten sich nun zusammenraufen und solch unnötige Gedanken beiseite schieben. Jetzt zähle nur noch Dragonir.

    Er erkannte etwas. Etwas, das dort definitiv nicht hingehörte. Ein kleiner Gegenstand, selbst durch das diffuse Mondlicht als mattes Weiß zu identifizieren. Ryan griff danach, verzog dabei angewidert das Gesicht, als er in Fleisch und Blut des Drachen griff. Beherzt zog er das Objekt mit einem Ruck heraus. Sogar gelang es ihm, den darauffolgenden Schmerzensschrei zu überhören, da ihn nun endlich Gewissheit erlangte. Ein Zahn, dreieckige Form, spitz, zwei Seiten mit Einkerbungen versehen, wie ein Sägeblatt und messerscharf. Obwohl Ryan längst nicht alle Pokémon dieser Region kannte, war ihm sofort klar, wer hier die Rolle des Angreifers gespielt hatte. Solche Zähne gab es nur ein Mal im Ozean.

    „Tohaido“, verkündete er die grausame Botschaft und hielt Andrew seinen Fund hin. Er griff nicht danach, starrte nur für einige Sekunden wie paralysiert darauf und beobachtete, wie das Blut seines Partners daran herunter tropfte. Doch rasch kam Leben in ihn zurück. Er griff nach seiner Tasche und kramte einen Moment darin herum. Zutage förderte er zwei aufgerollte Verbände. Ausrüstung für den Notfall. Ernüchtert musste er jedoch feststellen, dass die Plastiktüten, in welchen sie untergebracht waren, die Turbulenzen des letzten Tages nicht überstanden hatten und aufgerissen waren. Folglich waren sie nun durchnässt und nahezu unbrauchbar. So würden die Bandagen nicht halten. Ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren, riss sich Andrew seine geliebte Jeansjacke von den Schultern. Die feuchten Verbände holte er aus ihren Verpackungen. Man sah in jeder Bewegung, wie aufgebracht Andrew war und wie verzweifelt er um das Leben seines Pokémon kämpfte. Dennoch saß jeder Handgriff unglaublich präzise und ging schnell vonstatten. Das Adrenalin schien seine Konzentration gar nicht zu beeinflussen, vielleicht sogar zu steigern.

    „Halt es still, Ryan!“, wies er hektisch an. Augenblicklich tat der, worum er gebeten wurde, und legte sein ganzes Gewicht auf die vordere Körperhälfte des Drachen.

    „Hydropi!“

    Das Wasserpokémon verstand sofort und schmiss sich auf Dragonirs Schweifende, um es wenigstens ein bisschen still zu halten. Der Anblick der Wunden hatte es zunächst noch in eine tiefe Schockstarre versetzt, doch die rasche Erkenntnis, dass vom Nichts-tun bald jemand sterben könnte, den es hoffentlich eines Tages einen Freund nennen konnte, hatte seinen Verstand geschärft und es wollte alles tun, um zu helfen.

    „Tut mir leid,“ presste Andrew gequetscht hervor. In der nächsten Sekunde drückte er die zusammengerollten Verbände tief in die Bisswunde, die sich näher der Körpermitte befand. Wohl wissend, dass dies mit ungeheuren Schmerzen verbunden war, versuchten alle drei den Drachen möglichst ruhig zu halten und sein Zappeln und Winden einzudämmen. Seine Schreie waren unerträglich kläglich.

    So schnell er konnte, band Andrew die Jacke über die betroffene Stelle und knotete sie mit den Ärmeln möglichst fest zusammen. So entstand ein provisorischer Druckverband trotz mangelnder Mittel. Ryan hatte ebenfalls nicht gezögert und sein Kapuzensweatshirt für die zweite Wunde verwendet. Weiteres Verbandszeug hatten sie nicht im Gepäck. Das war für ihre Pokémon draufgegangen, nachdem sie gegen den Klotz von Team Rocket und sein Magcargo gekämpft hatten. Und die heilenden Sprühflaschen halfen nicht bei offenen Wunden. Lediglich Haut und Schuppen ließen sich damit oberflächlich behandeln. Leidtragender war Dragonir. Verbunden mit nassen Bandagen und ebenso nasser Kleidung. Das war die absolute Notdurft. Nicht einmal ein Schmerzmittel trugen sie im Gepäck.

    Andrew drückte für eine Sekunde benommen eine Hand über seinen Mund. Er war für einen winzigen Moment kreidebleich geworden. Das Gefühl seinem eigenen Pokémon solche Schmerzen zufügen zu müssen, war trotz der Umstände und trotz der Tatsache, dass es helfen sollte, die mit Abstand grauenhafteste Erfahrung, die er je hatte machen müssen. Nun wollte er umso mehr für Dragonir da sein. Er huschte zu dessen Kopf hinüber und nahm ihn schützend in die Arme.

    „Es ist gut, es ist gut“, hauchte er ihm sehr schwach und undeutlich ein und verhinderte, dass es sich großartig umsah. Es sollte die Wunden nicht sehen. Einzig in seine Augen sollte es blicken.

    „Das wird wieder. Du schaffst das, ist alles halb so wild.“

    Er klang so gar nicht überzeugend. Seine Stimme war so schwach und zitterte und er kämpfte mit den Tränen. Er tat Ryan so unendlich leid, ebenso das verwundete Pokémon. Wie er den blauen Kopf sanft hin und her wog und die bitteren Tränen zurückkämpfte. Das konnte man kaum mit ansehen. Doch viel mehr konnten sie beide nicht tun. Sie hatten bereits alles für Dragonir getan, was in ihrer bescheidenen Macht stand. Nun konnten sie es der Drachenschlange nur noch so annehmlich wie möglich machen. Der Rest lag bei ihm, sowie in den Händen von Arceus.

    Die nächste halbe Stunde versorgten sie die Drachenschlange mit Essen und Trinkwasser. Sie mussten seinen Hals reiben und gleichzeitig mit dem Wasser spülen, damit das Pokémonfutter seinen Weg die Speiseröhre hinab fand. Dragonir schaffte es aus eigener Kraft gerade so, die Kiefer zu öffnen, mehr aber auch nicht. Es war der Ohnmacht sehr nahe. Nach wenigen Bissen schlief es schließlich ein, den Kopf auf Andrews Schoß gebettet.


    Andrew wollte nicht weinen. Unter keinen Umständen wollte er Tränen vergießen. Dies wäre nämlich als Zeichen aufzufassen, dass er die Hoffnung aufgegeben hatte. Doch er wollte daran glauben, dass alles wieder gut werden würde. Er wollte zu der Überzeugung gelangen, Dragonir stünde das durch. Doch wie konnte man sich da schon sicher sein? Die Bisswunden waren völlig unzureichend behandelt, das salzige Wasser brannte zudem erbarmungslos darin und wer wusste schon, ob sich unter diesen Umständen keine tödliche Infektion ausbreiten würde? Doch es lag nicht in seiner Hand. Er war machtlos.

    Ein leises, kaum hörbares Plätschern brach die Stille unter den beiden Trainern. Ryan hatte lange geschwiegen. Was hätte er auch sagen sollen? Er konnte sich aufgrund vergangener Ereignisse auf den Orange Inseln zwar gut in die Lage seines Freundes hineinversetzen, doch hilfreiche Worte gab es in so einer Situation nicht. Sprach er ihm Mut zu, könnte er den Eindruck vermitteln, Andrew bereits in Hoffnungslosigkeit zu glauben. Im schlimmsten Fall versetzte er ihn somit erst in diesen Zustand. Es war einfach besser, zu schweigen. Doch die noch immer in Alarmbereitschaft stehenden Sinne sorgten ob der unheimlichen, nächtlichen Stille dafür, dass alle offenen Augenpaare zur Quelle des Geräusches wanderten. Der Mond schien inzwischen heller, als je zuvor in dieser Nacht, doch es war trotzdem kaum möglich, etwas zu erkennen. Ryan ging mit dem Kopf nahe an ihren Unterboden, um mögliche Silhouetten oder Abhebungen vom Mondlicht, dass ich auf der Oberfläche spiegelte, ausmachen zu können. Und tatsächlich erkannte er sofort eine Flosse mit zwei Einrissen an der Rückseite – die Rückenflosse eines Tohaido. Es umkreiste ihr Floß in großen Bahnen, hielt glücklicherweise noch einiges an Abstand. Ryan richtete sich auf, hoffte den Körper unter Wasser vielleicht genauer erkennen und die Größe des Pokémon einschätzen zu können. Doch es war unmöglich. Stattdessen ging plötzlich ein leichter Ruck durch das Floß, was ihn ins Wanken brachte. Für einen schmerzhaften Moment versagte jedes Organ in seiner Brust den Dienst. Nicht viel hatte gefehlt, damit er im Wasser gelandet wäre. Gerade so hatte er das Standbein noch wechseln und sich ausbalancieren können. Doch der Anblick, der sich nach einer simplen Drehung des Kopfes bot, war nicht weniger beängstigend. Ein zweites Tohaido war aufgetaucht und hatte das Floß mit der Schnauze gerammt. Zwar nur leicht, bei weitem nicht mit voller Kraft, doch allein die Tatsache, dass sie es hier mit mehreren Exemplaren zu tun hatten, die sie nun neugierig beschauten, war mehr als beunruhigend. Sofort keuchten die beiden Jugendlichen erschrocken auf. Ryan ging wieder in eine sichere Hocke und wechselte mit seinem Blick schnell immer wieder zwischen beiden Tohaido hin und her.

    Es passierte nur äußerst selten, dass einer der beiden Trainer ein Pokémon wirklich verfluchte oder ihm etwas Böses wünschte. Doch in dieser Nacht belegten Ryan und Andrew die Tohaido mit übelsten Flüchen und Beschimpfungen. Für das, was sie Dragonir angetan hatten, war ihnen zwar im Grunde kein Vorwurf zu machen, da es sich hier um ihr Revier handelte und wie etliche andere Pokémon nur jagten, um zu überleben. Allerdings interessierte dies vor allem Andrew im Moment kein bisschen. Für die Qualen seines Drachen machte er die Hai-Pokémon verantwortlich und er würde ihnen nie verzeihen. Naturgesetze hin oder her, sie hatten seinen Freund schwer verletzt und bedrohten in selbst nun ebenfalls. Am liebsten würde er sie filetieren.

    Während Andrew in seiner Wut schwelgte, ging Ryan all ihre strategischen Möglichkeiten durch. Sie befanden sich auf einem Floß irgendwo zwischen Festland und Faustauhafen. Sie waren erschöpft, müde und wurden von zwei Tohaido beobachtet – von denen sie wussten. Selbst wenn sich kein weiteres Exemplar in der schwarzen Tiefe unter ihnen verbarg, sahen ihre Chancen im Falle eines aggressiven Manövers seitens der Haie äußerst schlecht aus. Da Ryan sich daran zu erinnern glaubte, dass es sich bei ihnen nicht nur um Wasser- sondern auch um Unlichtpokémon handelte, wären selbst Psianas stärksten Angriffe unwirksam. Und es war nicht einmal sicher, dass sich die Psychokatze überhaupt auf den Beinen halten konnte, nachdem Maxax sie so zugerichtet hatte. Schwalboss war ebenfalls noch durch das Match gegen Terrys angeschlagen und Magnayen würde sich von dem Kampf gegen die Garados sicher auch nicht so schnell erholen. Von Dragonir braucht man verständlicherweise gar nicht erst anfangen. Was blieb, war Hydropi, doch ohne jegliche Unterstützung gegen mindestens zwei gefährlichen Raubpokémon musste man unter gegebenen Bedingungen bereits jetzt von einem verlorenen Kampf sprechen. Es war einfach zu unerfahren und aufgrund seiner Anstrengungen bei ihrem Schiffbruch sicher ebenfalls erschöpft.

    Für Ryan stand somit fest, dass sie einen Kampf nicht provozieren würden. Sollten die Tohaido allerdings zu aufdringlich werden, würden sie versuchen müssen, sie zu verjagen. Mit Glück verloren sie von alleine das Interesse oder wären sich um die Mühe zu schade. Es war unwahrscheinlich, aber nichtsdestotrotz setzte Ryan all seine Hoffnungen in diese Möglichkeit.

    Eines der Tohaido schwamm in seitlicher Lage direkt vor ihm vorbei und lugte fast mit dem gesamten Kopf aus dem Wasser. Es sah ihn aus einem unheimlichen, roten Auge an, das Maul leicht geöffnet und seine mörderischen Zähne entblößend, deren tödlicher Anblick einen Schauer über Ryan Rückens jagte. Dieser gab sein Bestes, um dem Blick standzuhalten, nicht eingeschüchtert oder verängstigt zu wirken, hoffte aber gleichzeitig, dass das Pokémon dies nicht als Herausforderung missverstand. Es sollte keine hilflose Beute vorfinden, aber auch keinen potenziellen Gegner.

    Der Kopf tauchte wieder unter. Ihm folgten die Kiemen, dann die Brustflossen und schließlich war es wieder verschwunden.

  • @Shimoto ^^
    So sorry, das kommt etwas spät. ^^


    Zitat von Shimoto

    „Scheiße... scheiße verflucht.“
    Andrew hielt krampfhaft beide Arme über den Kopf geschlagen und blickte willkürlich starr in eine Richtung, dem nicht sichtbaren Horizont entgegen. Vermutete er dort etwa ihr verschwundenes Schiff? Eigentlich unmöglich und auch irrelevant, denn wenn niemand an Bord bemerkt hatte, wie sie in die Wellen geschleudert worden waren, hatten sie keinen Grund umzukehren. Aber war das denn möglich? Hatte ausnahmslos jeder Mensch auf der Fähre beim Anblick der Garados das Weite gesucht?
    „Ey, das gibt´s doch nicht. Die müssen uns doch bemerkt haben!“
    ...
    „Das siehst du´s, Ryan. Mich haben alle lieb.“

    Haha, Andrew mag ich immer mehr. x)


    Oh wow, ich finde das Kapitel wirklich großartig. Das meine ich ernst. :)
    Von Anfang bis zum Ende hast du wirklich alles richtig gemacht, ich habe bei jeder Zeile mit Ryan und Andrew mitgezittert. Unter anderem natürlich auch, weil ich die beiden schon gut kenne und natürlich damit an ihren sympathischen Persönlichkeiten hänge, andererseits weil die Szene absolut mitreißend war und du vor allem Andrews Sorge sehr glaubwürdig rübergebracht hast. Wie gesagt, richtig zum Mitfiebern. :) Das wird noch einmal dadurch verschärft, dass Pokemon an ihrer Verletzung sterben können, vor allem, wenn man ihre Wunden nicht richtig versorgt. Das lässt die Situation sehr greifbar wirken.
    Also, großes Lob, spannend, emotional, will mehr. <3

  • Kapitel 18: Lost


    Trotz der dröhnenden Sirenen der Polizei- und Krankenwägen waren die aufgebrachten und entsetzten Stimmen von Beamten, schaulustigen Zivilisten, Verletzten sowie deren Angehörigen und nicht zuletzt einer Vielzahl an Reportern die stärkste Lärmquelle an den Docks von Faustauhafen. Alarmierendes Blaulicht legte sich über die Massen und säte mit seiner bloßen Existenz die Saat der Unruhe. Uniformierte Männer konnten nur mit Mühe die vielen Menschen zurückhalten, die sich von dem schwarz-gelben Absperrband nicht hatten aufhalten lassen. Einige drängten sich mit Kameras und Mikrofonen in den Vordergrund. Andere versuchten durch verzweifelte Rufe nach ihren Verwandten oder Freunden, die mit der Fähre gefahren waren, in die vorderen Reihen zu gelangen. Es war das totale Chaos.

    Nur wenige Stunden war es her, dass die Nachricht eines Pokémonangriffs die Küstenwache erreicht hatte. Innerhalb kürzester Zeit waren alle möglichen Rettungs- und Hilfsmannschaften mobilisiert worden, um weitere Verletzungs- und eventuell Todesfälle zu vermeiden. Da die Fähre noch seetauglich gewesen war, hatte man darauf verzichtet, die Passagiere auf ein anderes Schiff zu verfrachten. Stattdessen waren Einsatzbote der Küstenwache sowie ein Rettungshubschrauber entgegengekommen, um die schwer verletzten Personen auf schnellstem Weg aufzulesen und ins Krankenhaus von Faustauhafen zu bringen. Jenes war inzwischen ebenfalls von Menschenmassen belagert, obwohl es gut zwei Kilometer vom Hafen entfernt lag.

    An selbigem war die Situation jedoch noch wesentlich chaotischer und die Rettungskräfte hatten alle Mühe, ihrer Arbeit nachzugehen.

    „Bleiben Sie zurück, lassen sie den Sanitätern Platz“, rief ein verzweifelter Polizist, der mit zwei Kollegen versuchte, eine Schneise in dem Meer aus Menschen zu bilden, damit die Trage, auf der ein Mann mit bereits bandagiertem Oberarm lag, in den Krankenwagen verfrachtet werden konnte. Dies gelang zwar, kostete aber enorm viel Zeit, die für das Opfer schwere Folgen haben könnte. Zunehmend frustriert und ungehalten wurden die Uniformierten gröber.

    „Verschwindet endlich! Hier sind Menschen, die Hilfe brauchen.“

    Zu allem Überfluss und die bissige Forderung völlig ignorierend drängte sich eine junge Frau mit kurzem, blonden Haar vor den Polizisten, der den Sanitätern die Krankenwagentüre offen hielt. Sie trug einen beigefarbenen Anzug und hielt ihm ein Mikrophon unter die Nase.

    „Melissa Winston von Hoenn aktuell“, stellte sie sich knapp vor. Über ihrer Schulter richtete sich das Objektiv einer Kamera.

    „Können Sie uns etwas zu den Angreifern sagen? Gibt es Todesfälle zu beklagen? Was wird wegen den vermissten Passagieren unternommen?“

    Grunzend biss sich der Mann auf die Lippe und drückte mit einer Hand das störende Reporterduo von sich.

    „Verschwinden Sie, Ma´am. Sie behindern uns bei der Arbeit!“

    Glücklicherweise genügte der Journalistin diese eine Ansage, um das Handtuch zu werfen. Resignierend blickte sie wieder in die Kamera und nahm eine souveräne Haltung ein, während hinter ihr die Türen des Rettungsfahrzeugs zugeschlagen wurden und selbiges nur Sekunden später im Eiltempo davon brauste.

    „Wie Sie sehen können, ist uns ein tieferer Einblick in diese heikle Lage leider nicht möglich. Bislang ist von einem Todesfall nichts zu uns vorgedrungen. Allerdings ist bekannt, dass sich die Zahl der Verletzten bislang auf zirka dreißig Personen beläuft, von denen einige noch in Lebensgefahr schweben sollen. Da die Lage noch so unübersichtlich ist, wird erwartet, dass die Zahlen noch steigen werden. Der Grund für den Pokémonangriff, deren Anzahl oder um welche Gattung es sich dabei gehandelt hat, bleibt ebenfalls unbekannt. Ein aggressiver Akt der Verbrecherbande Team Rocket, die kürzlich in der Region Fuß gefasst hat, kann wohl jedoch ausgeschlossen werden. Wir bleiben selbstverständlich für Sie vor Ort.“


    Das Bild auf dem alten Röhrenfernseher wechselte ins Nachrichtenstudio, wo ein ordentlich gekleideter Mann mittleren Alters hinter einem Pult saß und einen raschen Blick auf einige Notizzettel warf, die ihm gerade überreicht wurden.

    „Danke an unsere Außenkorrespondentin Melissa Winston. Soeben haben uns brandaktuelle Neuigkeiten aus dem chaotischen Geschehen in Faustauhafen erreicht. Die Hafenaufsicht teilte bereits mit, dass noch mehrere Passagiere als vermisst gelten. Es wird vermutet, dass diese beim Angriff, der laut neuen Informationen von mehreren Garados ausgegangen sein soll, über Bord gegangen sind. Zu diesen gehören allem Anschein nach auch die beiden bekannten Pokémontrainer Ryan Carparso und Andrew Warrener aus Johto.“

    Zur Rechten des Nachrichtensprechers wurden zwei willkürliche Bilder aus älteren Berichten von den Jugendlichen eingeblendet.

    „Augenzeugen wollen gesehen haben, wie sich die beiden Trainer den Angreifern entgegengestellt haben. Was genau geschehen ist, bleibt ungeklärt. Mehrere Rettungsmannschaften haben sich unverzüglich auf den Weg gemacht, um die Meerespassage zwischen Faustauhafen und dem Festland abzusuchen. Dabei ist der Zeitdruck allerdings enorm, da die Strömungen sie früher oder später alle auf das offene Meer hinaustreiben werden. Zudem gilt es eine Fläche von-“

    Ein kurzer Blitz zuckte über das Fernsehbild, bevor es gänzlich schwarz wurde. Noch einige Momente lang hielt Melody die Fernbedienung auf das Gerät gerichtet, als überlege sie, ob sie nicht doch wieder einschalten sollte. Doch sie konnte sich das nicht weiter ansehen. Das Wesentliche hatte sie gehört. Fortan würden sich alle Aussagen der Medien nur noch auf Spekulationen und werbewirksamen Käse beschränken, der für die eigentliche Situation völlig irrelevant war.

    Ihre Hand begann zu zittern. Ihr trauriger Abschied war erst einige Wochen her. Beinahe täglich dachte sie an diesen jungen Trainer. Er hatte sich binnen der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft in ihr Herz gebrannt und ihr Kuss war lediglich eine kurzweilige Entlastung für ihr Verlangen nach seiner Person gewesen. Sie hatte geglaubt, mit dem Wissen, dass er sich hunderte von Kilometern von ihr entfernt befand, umgehen zu können. Doch jede Sekunde, in der sie ihn nicht bei sich wusste, fühlte sie sich einsam.

    Das sonst so taffe Mädchen ließ sich in die Lehne der Wohnzimmercouch fallen und schlug frustriert mit der flachen Hand auf die Sitzfläche. Sie schluckte einen Fluch herunter, schlug dann jedoch in einem rasanten Wechsel hin zur Verbitterung die Hände vor den Mund.

    „Ryan“, hauchte sie kraftlos. Wie sehr hatte dieser Junge sie geprägt. Er allein war in ihren Gedanken. In letzter Zeit hatte sie versucht, neue Kontakte in der Stadt zu knüpfen, um sich seines immer wieder vor ihrem inneren Auge auftauchenden Bildes zu entziehen. Doch bedingt durch die schwache Besiedlung dieser idyllischen Insel war die Auswahl sehr mager. Mit zwei Jungen war sie auf ein Date gegangen und beide hatte sie nach kurzer Zeit abblitzen lassen. Ungefähr fünf weiteren hatte sie direkt einen Korb gegeben. Sie waren alle so normal. Sie waren so oberflächlich und nur auf sich selbst fixiert, versuchten sich interessant zu machen, anstatt ehrliches Interesse an ihr zu zeigen. Sie waren so ganz anders als Ryan. Deshalb wollte sie ihn zurück. Doch nun wurde er vermisst, war verschollen auf See. Vielleicht war er bereits sogar...

    Bei dem schrecklichen Gedanken, Ryan könnte bereits tot sein, musste sie vehement den Kopf schütteln und, um den bösen Gedanken zu vertreiben. Gar hätte sie fast geschrien. Sie fasste sich an die Schläfen, schlug den Kopf nieder, sodass ihr braunrotes Haar vor ihr Gesicht fiel und wollte einfach nur noch vor der Vorstellung flüchten. Sie war zu absurd. So grausam konnte diese Welt nicht sein. Wenn ihre schlimmste Befürchtung sich tatsächlich bewahrheiten sollte, würde sie sich nie verzeihen, dass sie ihn einfach so hatte gehen lassen. Das würde sie bis an ihr Lebensende wie ein dunkler Schatten über ihrem Herzen verfolgen.

    Plötzlich jedoch, mit einem einzelnen Lidschlag, war der Kummer fort. Als sei es so einfach, derartige Gedanken beiseite zu wischen, war sie von der Last befreit, die ihr eben noch beinahe den Verstand geraubt hatte. Eine seltsam wohltuende Präsenz füllte den Raum. Ach was, das gesamte Haus!

    Augenblicklich erstarben die verzweifelten Laute des Mädchens und ihre Muskeln lösten sich aus der Verkrampfung. Sie blickte sich gar nicht erst um. Sie wusste um die Quelle dieser Präsenz und auch, was sie nun zu tun hatte. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, sprang sie von der Couch auf, sprintete hinaus auf den Flur und schließlich durch die Haustür. In ihrer Eile schloss sie diese nicht einmal und machte sich auch nicht die Mühe, eine Jacke überzuziehen, obwohl sich am Himmel ein dunkler Regenschauer ankündigte. Doch der Sommer machte es möglich, dass sie selbst in Dreivierteljeans, Sandalen und einem knappen Shirt nicht fror. Zielsicher trugen ihre Beine sie hinunter zum Strand. Die See war leicht aufgewühlt vom zunehmenden Wind, doch in ihren Augen war sie gerade das Sinnbild der Herrlichkeit. Grund dafür war das Wesen, das sich in diesem Augenblick in unmittelbarer Ufernähe aufhielt, sich aber dennoch nicht aus dem Mantel des Meeres hervortraute. Niemand sollte es sehen. Nur hören sollte man es – sollte sie es.

    Keuchend stand sie im feuchten Sand. Die Brandung schwappte über ihre Füße und ließ sie ob ihrer Kälte nun doch leicht frösteln. Unentwegt blickte sie in das tiefe Blau, wartend auf die geheimnisvolle Botschaft. Dann sprach sie zu ihr, die mächtige Stimme der Ozeane.

    Sei unbesorgt. Er ist am Leben.“

    Einmal atmete das Mädchen ganz tief durch und spürte regelrecht, wie ihr dieser tonnenschwere Stein vom Herzen fiel. Wenn dieses Geschöpf seine Gesundheit bestätigte, gab es keinen Grund für Zweifel. Es stimmte also. Ryan war wohlauf.

    Jedoch er wird dich bald brauchen. Er hat unwissend einen Pfad beschritten, den er nicht mehr so einfach verlassen kann.“

    Erneut keimte Besorgnis in ihr auf. Ihre Stirn legte sich in Falten und eine Hand wanderte völlig unbewusst zu ihrem Herzen. Bitte, bei allem war ihr heilig war, bitte. Es sollte ihm nur gut gehen. Sie würde es ihm niemals verzeihen, wenn ihm etwas zustoßen sollte.

    „Was ist passiert?“, wisperte sie gegen den auffrischenden Wind. Ihr Haar begann in ihm zu tanzen und wild umher zu schlagen.

    Dies werde ich dir erzählen, sofern du dafür bereit bist. Wisse jedoch, dass dies mit Leid und Schmerz, unter Umständen sogar mit Tod verbunden sein wird.“

    Sie musste dem Reflex wiederstehen, einen Schritt zurückzuweichen. Ängstlich legte das Mädchen nun beide Fäuste an ihre Brust und zog die Schultern schützend nach oben. Diese Worte wirkten wahrlich abschreckend. Und wenn der Herr der Ozeane, der nie eine Silbe unbedacht sprach, sie wählte, würde es mit Sicherheit gefährlich werden. Und doch fühlte sie sich nicht im Geringsten verunsichert. Verängstigt, ja. Aber nicht weniger entschlossen als zuvor.

    „Wenn Ryan mich braucht, dann gibt es nichts, worüber wir diskutieren müssten.“

    Ihr Blick, den sie eben noch trübselig zu Boden geworfen hatte, hob sich nun wieder. In ihren Seelenspiegeln war ein fester Entschluss eingemeißelt, den nichts und niemand zu erschüttern vermochte.

    „Erzähl mir alles.“


    Ryan hatte die ganze verdammte Nacht über kein Auge zugetan. Wie könnte er auch? Einsam auf einem Floß im Meer treibend und von Tohaido umzingelt würde wohl selbst der härteste Hund von einem Pokemontrainer keinen Schlaf finden. Von Andrew brauchte man selbstverständlich gar nicht erst anfangen. Er hatte stundenlang Dragonirs verwundeten Körper in den Armen gehalten, sein Bestes getan, um dem Drachen die schmerzvolle Situation möglichst erträglich zu gestalten. Von den Tohaido war glücklicherweise seit Stunden nichts mehr zu sehen gewesen und nun, da die Sonne bereits weit über dem Horizont stand, sollte auch ihre Jagdzeit beendet sein.

    Zwar könnten beide Trainer einen erholsamen Schlaf gut gebrauchen, doch für den Fall, dass ein Schiff oder sogar Land in Sicht kam, musste ohnehin mindestens einer von ihnen wach bleiben. Nach den mentalen Strapazen, die Andrew vergangene Nacht hatte durchmachen müssen, hatte er es jedoch definitiv dringender nötig. Der hatte zunächst abgelehnt und niederschmetternd oft sein scheinbar defektes Handy zum Funktionieren zu kriegen versucht. Es war ein wasserdichtes Model, hatte aber scheinbar die Turbulenzen vom Sturz ins Meer nicht überstanden. Damit erreichte Andrew in diesem Leben niemanden mehr. Seinen lang anhaltenden Widersprüchen zum Trotz hatte es, nachdem er den Kopf doch endlich auf sein provisorisches Kopfkissen in Form seiner Umhängetasche gebettet hatte, nicht einmal eine Minute gedauert, bis er leise schnarchend ins Land der Träume übergegangen war. Eine Hand war noch immer um Dragonirs Hals geschlungen und wollte einfach nicht loslassen. Die Drachenschlange schlief ebenfalls noch, inzwischen allerdings sichtbar ruhiger und friedlicher. Die Blutung der Wunde hatte ebenfalls gestoppt, sodass große Hoffnung auf eine gänzliche Genesung bestand.

    Ryan starrte derweil ins offene Wasser. So recht wollte er dem Frieden noch immer nicht trauen.

    „Hydropi, bitte sieh dich mal ein bisschen um.“

    Das kleine, blaue Pokémon hatte seit dem Tohaido Angriff immerhin ein bisschen Schlaf gefunden. Die Rückkehr in seinen Pokéball hatte Ryan ihm gar nicht erst angeboten. Er war recht froh über die Gesellschaft seines derzeit einzigen Partners.

    „Wenn du irgendetwas Gefährliches siehst, kommst du sofort zurück, klar?“

    Er wollte Gewissheit, aber noch mehr wollte er, dass es keine weiteren Verletzten gab. Zustimmend nickte Hydropi, tapste sodann an den Rand des Floßes und sprang in die herrlich blaue See. Sie war trüb, die Sicht hier nicht gerade gut, weshalb der junge Trainer das Wasserpokémon fast sofort aus den Augen verlor. Durch seine Farbe war es bereits unmittelbar nach dem Abtauchen unsichtbar geworden.

    Die Sekunden vergingen. Ein sanfter Wind zog über die See und kitzelte Ryans Haut Einige dünne Wolkenfetzen bedeckten den Himmel und blockierten von Zeit zu Zeit die Strahlen der wandernden Sonne. Jene arbeitete heute scheinbar auf Hochtouren. Die sengende Hitze des anbrechenden Mittags ließ Ryan in seinem eigenen Saft vor sich hin kochen und zerrte an seinen Energiereserven. Wie es Andrew und Dragonir dabei wohl ging?

    Ein Seitenblick um den Schlafenden verriet kaum etwas, das nicht zu erwarten gewesen wäre. Andrew hatte selbst nach Stunden, die er nun schlief, seinen treuen Begleiter nicht losgelassen. Dieser wies eine leichte Körperspannung auf und stöhnte von Zeit zu Zeit sehr leise im Schlaf. Doch sie schienen beide recht ruhig. Mitleidig wanderte Ryans Blick hinab zu den Bisswunden an Dragonirs Körper. Getrocknetes Blut klebte noch auf den Schuppen und durchtränkte die Kleidungsstücke, mit denen das arme Geschöpf notgedrungen verbunden worden war. Sein Sweatshirt konnte er bei nächster Gelegenheit entsorgen. Nicht, dass das jetzt irgendeine Rolle spielte. Abgesehen von den Blutflecken bemerkte er lediglich, dass der Hyperstrahl von Garados ihn doch nicht gänzlich verfehlt zu haben schien, wie zunächst empfunden. Die rechte Hälfte war arg zerfetzt worden und teilweise sogar verschmort. Das Teil konnte er vergessen. Kaum zu glauben, wie viel Glück sie gehabt hatten. Die meisten Menschen wären nach so einem Angriff sofort tot gewesen. Dass sie ohne schwerwiegende Verletzungen davongekommen waren, grenzte an ein Wunder. Bei diesem Gedankengang ließ er seinen rechten Arm kreisen und bewegte vorsichtig die Schulter. Er stoppte abrupt, als ein stechender Schmerz ihn wie ein Stromschlag durchzuckte. Missmutig stöhnte er auf und zwang sich sofort wieder zur Entspannung seiner Muskeln. Er konnte nicht genau einschätzen, was er sich zugezogen hatte. Eventuell war das Schlüsselbein angeknackst. Vielleicht auch irgendetwas Anderes. Mit dem menschlichen Körper kannte er sich viel zu schlecht aus, um sich wirklich sicher sein zu können.

    Dennoch versuchte Ryan fieberhaft, darüber nachzudenken. Er wollte nicht länger gedankenlos auf die Wellen starren. Das hatte er nun Stunden getan und er konnte es einfach nicht mehr ertragen, ihre missliche Lage weiter stumm zu hinzunehmen, sich gezwungenermaßen jede Sekunde aufs Neue ihrer bewusst werden. Irgendwie wollte er sich ablenken, einfach nicht über all das hier nachdenken.

    „Verflucht“, nörgelte Ryan, während seine Lederhandschuhe über die vom Schweiß glänzende Stirn wischte. Es war so unglaublich heiß. Nicht auszuhalten. Aus einem spontanen Impuls heraus tauchte er seine Hände rasch in das wunderschöne, blaue Meerwasser, sodass sie anschließend vollkommen durchnässt durch seine Haare wanderten. Gott, tat das gut, den Kopf etwas zu kühlen. Die lästigen Wassertropfen, die ihren Weg entlang seiner Schläfe, seines Gesichts, seines Nackens und unter sein T-Shirt fanden, konnte er ob der willkommenen Erfrischung problemlos ignorieren. Er hoffte nur, dass die anderen beiden nicht zu sehr darunter litten. Er schätzte zwar, dass man eher aufwachte, als im Schlaf zu verrecken, nahm sich aber dennoch vor, sie spätestens in einer Stunde zu wecken.

    Überraschend spritzten ihm einige glänzende Tropfen ins Gesicht. Die muntere Gestalt von Hydropi lugte aus dem Wasser hervor.

    „Und?“

    Das kleine Geschöpf schüttelte entschieden den Kopf. Erleichtert seufzte Ryan laut auf und ließ sich auf den Rücken fallen. Endlich Entwarnung. Die Tohaido waren weitergezogen, hatten das Interesse verloren. Schon wieder konnte er ihr Glück kaum fassen. Beinahe hatten sie ihre Beute schon gehabt und nun hatten sie diese aufgegeben? Ryan war nicht bekannt, wie es im Allgemeinen um die Geduld dieser Haie bestellt war, doch er würde den Teufel tun, ihr Verschwinden zu hinterfragen.

    Das bedeutete immerhin eine Sorge weniger, doch ihr Hauptproblem blieb nach wie vor bestehend. Allein auf dem Meer treibend, ohne Orientierung, ohne Kommunikationsmittel, waren sie zum Warten verdammt. Bis entweder Land oder ein Schiff in Sicht kam. Wie schön es jetzt doch wäre, einfach mit der Telefonfunktion seines Pokégear einen Notruf auszusenden und das Signal des Geräts anpeilen zu lassen. Auf diese Weise war er einmal den Gebirgsketten nördlich von Mahagonia City entkommen. Hatte vom See des Zorns aus die angrenzenden Berge erklommen, um dort in der Höhe zu trainieren und war von einem Schneesturm dort festgehalten worden. Diese Geräte vermochten wirklich überall noch ein Funksignal zu senden, solange man sich nicht untertage befand. Leider waren sie dafür, im Gegensatz zum Pokédex, nicht wasserfest. Die meisten Handys waren es heutzutage, aber da der Pokégear als solches fungiert hatte, besaß Ryan ein solches nicht. Und das von Andrew war ebenfalls Schrott. Ryan schwor sich, bei der Anschaffung eines neuen Geräts der Widerstandsfähigkeit diesmal eine höhere Gewichtung beizumessen. Einen von Frust gefütterten Schlag auf das nasse Holz konnte Ryan nicht unterdrücken. So langsam sollte er eigentlich mal wissen, für welche Fälle er gewappnet sein musste. Schließlich hatte er ein unglaubliches Talent dafür, in Schwierigkeiten zu geraten und da er immer allein unterwegs gewesen war, hatte er nicht nur dieses eine Mal Hilfe anfordern müssen. Sowohl für sich selbst als auch für andere. Dennoch – der Vorfall der vergangenen Nacht war obskur, rätselhaft und irgendwie wurde Ryan das Gefühl nicht los, dass dieser Angriff etwas zu bedeuten hatte. Konnte es denn wirklich Zufall sein, dass erst Terrys Maxax und unmittelbar danach die Garados auf ihn, beziehungsweise Andrew losgegangen waren? War Andrew überhaupt ihr Ziel gewesen? Oder nicht doch das Schiff als Ganzes? Irgendwie hatte es aber danach ausgesehen.

    Im Augenblick war dies für ihre Situation völlig irrelevant. Erst einmal galt es, zu überleben. Gedanken über den Hintergrund des Angriffs konnten sie sich danach machen. Falls sie gefunden würden.

    Zusammenreißen. Gar nicht an so einen Scheiß denken. Er bläute es sich immer wieder ein, wobei er kurz den Kopf schüttelte, um seine Gedanken zu klären und sich danach die Augenlider zu reiben. Unbestreitbar war die Situation beschissen. Doch er hatte schon so oft aus aussichtslosen Lagen unbeschadet heraus geschafft. Zugegeben, manchmal nicht aus eigener Kraft, doch dies überzeugte ihn wiederum, einen sehr kompetenten Schutzengel über sich zu haben. Irgendwie hatte er es einfach immer geschafft und selbst wenn er mal hatte gerettet werden müssen, war es doch er selbst gewesen, der mehrere Tage in lebensfeindlichen Umgebungen überlebt und sich durchgebissen hatte. Er besaß einfach einen starken Durchsetzungs- sowie Überlebenswillen und wusste zu improvisieren, wenn es darauf ankam. Verzwickte Lagen förderten die Kreativität. Und die musste er jetzt einmal mehr unter Beweis stellen.

    Während Ryan so vor sich hin überlegte und sich an frühere Notsituationen zurückerinnerte, wurde er von einem schier unbegründeten Enthusiasmus erfüllt, der ihm befahl, auf der Stelle etwas zu unternehmen. Von alleine passierten keine guten Dinge. Glück kam nicht einfach so herbeigeflogen. Man musste es erzwingen.

    Ryan öffnete seinen Rucksack und inspizierte seine bescheidenen Möglichkeiten.

    „Was haben wir denn noch?“, fragte er mehr sich selbst als jemand anderen. Er hatte genug von der Stille. Er musste mit jemandem reden und wenn es nur er selbst war. Er redete sich ein, dass er lediglich Hydropi an seinen Gedankengängen teilhaben lassen wollte. Das kleine Amphibium war inzwischen wieder an seine Seite getapst und verfolgte nun aufmerksam jede Bewegung seines Trainers.

    Einige Sekunden wühlte er sich durch den Inhalt, stellte dabei fest, dass Nahrung ebenfalls kaum vorhanden war. Da sie die Fähre hatten erwischen müssen, waren sie vor der Überfahrt nicht dazu gekommen, ihre Vorräte aufzustocken. Zwei Wasserflaschen mit je einem Liter Flüssigkeit konnte er aufbieten, ebenso wie eine Dose Chips. Wenigstens ein bisschen hatten sie also zu trinken, doch das würde nicht lange reichen. An Essbarem mangelte es ihm vehement. Von Andrew wusste er, dass er gern mit Konservennahrung reiste, da sich das Zeug lange hielt. Für Ryan war das meiste davon jedoch nur schwer genießbar, was nicht hieß, dass er jetzt nicht heilfroh über jeden Bissen wäre. Allerdings war davon wahrscheinlich ebenfalls kaum etwas übrig. Der niedrigen Erwartung zum Trotz zog sich der blonde Trainer die graue Umhängetasche heran und fand darin schließlich zwei Plastikbecher mit Nudeln sowie eine Konserve mit fertigen...

    „Barschwafilets“, las er auf dem Etikett. Er kannte diese Art zwar nicht, aber darüber war er auch nicht unbedingt unglücklich. Auch wenn er nicht die Augen davor verschloss, dass er hin und wieder das Fleisch jener Lebewesen aß, die er liebte, musste er es nicht gleich persönlich kennenlernen. Der Verzehr von Pokémonfleisch war in manchen Teilen der Welt umstritten, ohne diese Vorratsreste würde Ryan es hier und jetzt mit einem Taurosbullen aufnehmen, um an etwas Essbares zu gelangen. Die fast leere Flasche Limonade, die er noch fand, war kaum der Erwähnung wert aber immerhin etwas. Alles war in solch einer Situation besser als nichts. Jeder Krümel und jeder Tropfen waren nun wertvoll. Für die Nudeln war allerdings Wasser von Nöten, um sie auf Andrews Campingkocher zubereiten zu können. Dafür würde er aber nur sehr ungern eine der beiden Flaschen öffnen. Letztlich würden sie das Wasser eher brauchen als Essen. Vor allem, wenn sie in der glühend heißen Sonne saßen und der Körper in kürzester Zeit so viel Flüssigkeit verlor. Glücklicherweise konnte Hydropi Wasser speien. Flüssigkeit aus dem Körper eines Pokémon nahm man zwar bekanntermaßen besser nicht selbst zu sich, da man davon schnell krank würde, aber zum Aufkochen könnten sie es problemlos nutzen.

    Ein kraftloses Keuchen zerrte Ryan aus seinen von Nahrung dominierten Gedankengängen. Fast automatisch wanderte sein Blick zu Andrew, den er noch in den tiefsten Träumen geglaubt hatte. Die Haut auf seinem Gesicht glänzte vom Schweiß und aus dem leicht geöffneten Mund stießen in unregelmäßigen Abständen schwere Atemzüge hervor.

    „Andrew?“

    Ryans Alarmglocken läuteten, als sein bester Freund nicht zu einer Antwort fähig schien. Zu schlafen schien er allerdings auch nicht mehr. Etwas stimmte nicht.

    „Hey!“

    Sofort wurde die Inventur abgebrochen. Andrew war ganz sicher wach, jedoch zu schwach, um es Ryan in irgendeiner Form mitzuteilen. So hatte es zumindest den Anschein, da er keinen vernünftigen Ton zustande brachte. Ryan rüttelte an ihm, doch blieb der absolut schlaff und entkräftet liegen und rührte sich nicht.

    „Hey, was ist los mit dir? Hörst du mich? Andrew!“

    Er konnte fragen, so viel er wollte und erhielt keine Antwort. Nur das schwere Stöhnen und Keuchen. Ryan legte eine Hand an seine Stirn. Er glühte. Fieber? Ein Sonnenstich?

    „Mach keinen Mist, Mann!“

    Eilig wurden die zuvor durchstöberten Rucksäcke wieder herangezogen. Was genau Andrew hatte, konnte ein in Medizin so wenig bewanderter, junger Mann, wie er es einer war, nicht bestimmen. Doch seine Körpertemperatur war definitiv viel zu hoch. Schritt eins lautete also, ihn zu kühlen. Dazu fischte er ein T-Shirt aus dem Gepäck seines Kumpanen, tauchte es einmal ordentlich ins Meerwasser, wrang es sporadisch aus und legte es Andrew um den gesamten Kopf, fast wie einen Turban. Als nächstes kam die Decke zum Einsatz, auf der er sonst die Nächte in der Wildnis verbrachte. Ein paar Mal wurde sie rasch gefaltet, um dann als provisorisches Kopfkissen herzuhalten. Das war natürlich kein Mittel gegen die Symptome an sich, doch was immer nun helfen konnte, wollte Ryan nichts unversucht lassen. Selbst wenn es nur bewirkte, dass Andrew bequemer lag. Nebenbei hatte er sich Dragonirs Pokéball herausgesucht und die Drachenschlange in selbigen zurück verfrachtet. Ryan wusste nicht genau, ob ihm die Hitze in seinem derzeitigen Zustand wirklich schaden konnte, doch er wollte lieber auf Nummer sicher gehen. Hier draußen konnte er weder etwas für jemanden tun, noch konnte hier etwas für ihn getan werden und Ryan musste jetzt seine ganze Aufmerksamkeit auf Andrew konzentrieren. Dann stützte er diesen ein wenig, um ihn einen Schluck Wasser trinken zu lassen. Es war mehr so, dass er es in seinen Mund goss, denn er schien kaum zu realisieren, was um ihn herum geschah. Vermutlich war er zum Schlucken gar nicht in der Lage, weshalb Ryan vorsichtig vorging und immer nur kleine Mengen verabreichte.

    Er selbst atmete inzwischen ebenfalls sehr schnell und sein Herzschlag hatte an Tempo zugenommen. Die behandschuhten Hände fuhren sich nervös durch den Schopf, als könnten somit Denkblockaden eingerissen werden. Krallten sich verbissen in das blonde Haar am Hinterkopf, als könnte der grobe Griff das Gehirn in Schwung bringen. Was hatte Andrew? Was konnte er für ihn tun? Sein Blick wanderte hinauf zum Himmel, wodurch die grellen Strahlen der Sonne in ihm den Reflex heraufbeschworen, diese mit einer Hand vor dem Gesicht zu verdecken. Die Sonne. Schatten. Andrew musste aus der Hitze raus! Besonders der Kopf! Doch wie sollte er das machen?

    „Scheiß Sonne“, fluchte Ryan und wünschte sich dabei nichts sehnlicher als ein paar Wolken. Doch davon waren weit und breit keine in Sicht. Was konnte er tun? Sich selbst über ihn beugen und die Decke halten? Nein, das wäre lächerlich. Wie lange würde er das wohl können? Und es half auch nicht, wenn er sich an Andrews Stelle gezielt der Sonne aussetzte. Dann fiel er als nächster um.

    Plötzlich meldete sich eine kleine, helle Pokémonstimme aufgeregt und eindringlich in Ryans Ohr. Hydropi stupste ihn stürmisch gegen sein linkes Bein und buhlte um die Aufmerksamkeit seines Trainers. Diese bekam es auch rasch.

    „Was ist denn?“

    Er hatte ein wenig genervter geklungen, als beabsichtigt, doch Hydropi schien das gänzlich zu übersehen. Sowie er gefragt hatte, lies es von ihm ab, trat an den Rand des Floßes und deutete mit dem rechten Vorderlauf scheinbar in Richtung Horizont. War es etwa möglich...?

    Sofort sprang Ryan auf. Sein Herzschlag war von einer Sekunde auf die nächste auf ein rasantes Tempo gestiegen, die Augen wach und weit aufgerissen. Selbst der Mund stand ihm in seinem gemischten Gefühl aus Unglauben und Hoffnung leicht offen. Der Seegang war inzwischen nicht mehr so ruhig, wie noch in den Stunden zuvor. Ein typischer Meereswind peitschte die Oberfläche leicht auf, doch konnte er noch problemlos den Horizont erkennen. Dies bedeutete, dass ihm das kleine, rote Schiff sofort ins Auge sprang. Zunächst konnte er es gar nicht glauben. Da war tatsächlich jemand. Das leuchtende Rot stand zudem meist für Küstenwache oder sonstige Rettungskräfte. Das bedeutete, sie würden Andrew vernünftig behandeln können. Doch dafür mussten sie die Schiffbrüchigen erst einmal sehen.

    „Wir,... wir müssen uns bemerkbar machen!“, stellte Ryan überflüssiger Weise klar. Er brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sortieren. Sein Körper geriet automatisch in unglaubliche Hektik, sodass sein Verstand sich überschlug. Natürlich war ihm bewusst, dass auf diese enorme Entfernung niemand sein peinliches Winken mit den Armen erkennen konnte. Schließlich war das Objekt kaum mehr als ein Farbpunkt am Horizont. Doch irgendetwas musste Ryan unternehmen. Mit seinem momentanen Kurs würde das Schiff geradewegs an ihnen vorbeifahren und die Chance wäre dahin. Das durfte auf keinen Fall passieren. Vielleicht würde es keine zweite geben und Andrew konnte ohnehin nicht lange auf Hilfe verzichten. Ryan zog ein weiteres Mal ihre beiden Rucksäcke zu sich und durchwühlte sie auf der Suche nach etwas Nützlichem.

    „Wenn wir das hier überstanden haben, leg ich mir ´ne verdammte Signalpistole zu“, schwor er sich verbissen. Was nur konnte er verwenden, um für die Crew sichtbar zu werden? Mit seiner ausgebreiteten Decke in der Luft herumfuchteln? Die würde sich mit ihrer Farbe zwar sicher gut vom Blau des Meeres und des Himmels abheben, aber die Distanz war einfach zu groß. Ryan konnte sich nicht darauf verlassen, dass jemand zufällig mit einem Fernglas genau in seine Richtung spähte. Er brauchte etwas, das ins bloße Auge sprang. Er hatte keine Möglichkeit, auf dem Floß ein Signalfeuer anzuzünden. Aber mit irgendeiner Form von Licht würde es vielleicht gelingen. Nur wie?

    Ryan lies von den Rucksäcken ab und begann, die Taschen seiner Jacke und seiner Jeans abzuklopfen. Und bei seiner linken Hosentasche stoppte er. Allerdings nur für eine Sekunde. Dann schon glitt die Hand hinein und förderte sein Taschenmesser zutage. Ein paar Mal sah er zwischen selbigem und dem Schiff hin und her. Eine Idee formte sich in seine grauen Zellen, deren Erfolgschancen auszurechnen er sich sparte. Sie lagen über Null. Darauf kam es an.

    „Das muss einfach funktionieren!“

    Es war bei weitem die beste Option, die ihm zur Verfügung stand und den Versuch allemal wert. Es war ja nicht so, dass er eine Wahl hätte. Ryan stellte sich aufrecht hin und formte mit zwei Fingern ein V, das er genau auf das Ziel richtete. Dann hob er das Messer und prüfte die Position Sonne. Wie ironisch. Sie war einerseits Quelle von Andrews Leiden und andererseits nun vielleicht ihrer beider Rettung. Er legte die Klinge horizontal zwischen das V, passte den Winkel zum Himmel an und begann, diesen ständig in kleinem Maße zu verändern. Der Gedanke hinter dem Vorhaben war, durch die Spiegelung der Sonne auf dem Metall einen blitzenden Lichtpunkt zu erzeugen. Aus seinem Gedächtnis konnte Ryan einen ähnlichen Fall hervorkramen, bei dem ein Schiffbrüchiger sich auf diese Weise über eine Distanz von fast zwei Kilometern Rettung verschafft hatte. Stehend sah man bis zum Horizont allerdings mehr als doppelt so weit. Dennoch konnte es mit nur ein bisschen Glück funktionieren. Es musste einfach. Ihr Leben hing vielleicht davon ab.


    „Verstehe. Ja. Habe verstanden, Ende.“

    Der erste Offizier Preston Wyatt stellte das Funkgerät ab und wandte sich dem Kapitän zu, der an der nun schon seit Stunden auf der Brücke ausharrte, ohne auch nur eine Sekunde die Augen vom Horizont zu nehmen. An diesem wanderten sie rauf und runter, in stetiger Hoffnung, einen Anhaltspunkt der vermissten Personen zu entdecken. Flankiert wurde er von zwei Besatzungsmitgliedern, die ebenso unermüdlich den Ozean mir Ferngläsern absuchten. Der Blick des Steuermanns hinter ihm lag dagegen bereits seit geraumer Zeit voller Sorge auf dem Kapitän. Er war geradezu besessen von diesem Rettungseinsatz, obwohl die Chancen, noch jemanden zu finden, verschwindend gering waren und mit jeder Minute weiter sanken. Die Hoffnung aufzugeben, war nie Teil ihrer Ausbildung gewesen, doch musste man irgendwann einsehen, wann es keinen Sinn mehr machte. Das sah Wyatt insgeheim ähnlich, doch er würde jeden Befehl seines Kapitäns bedingungslos ausführen. Er vertraute voll und ganz auf seine Erfahrung und seinen sechsten Sinn. Viele Jahre stand er nun schon unter seinem Kommando und war längst von seinen überragenden Fähigkeiten, Instinkten und Führungsqualitäten überzeugt. Den Händen und Entscheidungen dieses Mannes würde er sein eigenes Leben anvertrauen.

    „Sir.“

    Er wartete nicht darauf, dass Kapitän Hammerfogg reagierte. Er hörte Wyatt zu, das wusste dieser und mehr verlangte er dem Mann gar nicht ab. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, wie verbissen er in diesen, sowie generell jeden Einsatz war.

    „Der Rettungshubschrauber hat einen Überlebenden aus dem Wasser gezogen. Es ist allerdings unsicher, ob er es bis ins Krankenhaus schaffen wird. Es hat ihn übel erwischt“, berichtete er schwermütig. Er erhielt nur ein knappes Nicken, ohne dabei angesehen zu werden. Gleich darauf entfernte er sich wieder. Die anderen Rettungsteams hatten den ein oder anderen aus dem Wasser ziehen können, aber wohl nicht alle. Und auch nicht jeden lebend. Gerade wollte Wyatt die Brücke verlassen und an Deck weiter Ausschau halten, da wurde die Tür, die er hatte durchschreiten wollen, schon von außen aufgerissen. Vor ihm stand Deckmaat Craig Simmond – aufgebracht und schwer schnaufend.

    „Wir glauben, wir haben da was gesehen!“

    Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit drehte sich Kapitän Hammerfogg um und verlangte sofort, Klarheit zu bekommen.

    „Ein Lichtpunkt auf Steuerboard, Sir.“

    Sofort nahmen allesamt ihre Ferngläser zur Hand und suchten die Wasseroberfläche ab. Für eine halbe Minute herrschte erdrückendes Schweigen. Spannung und Nervosität lagen in der Luft. Keiner traute sich auch nur zu atmen und selbst der Steuermann achtete nun kaum mehr auf seinen Kurs. Wyatt war schließlich der Erste, der die Stimme wieder erhob. Laut und alarmiert.

    „Ich sehe Lichtreflexe. Und zwei Personen auf dem Wasser!“

    „Sofort beidrehen nach Steuerboard, volle Fahrt voraus!“, befahl Hammerfogg augenblicklich und zog sich anschließend Simmond heran.

    „Bergung vorbereiten. Die Sanitäter sollen sich für die Aufnahme von zwei Überlebenden bereitmachen.“

    „Aye, Sir.“

    Augenblicklich herrschte reges Treiben auf dem Rettungsschiff, das eilig den Kurs änderte. Hammerfogg ballte entschlossen, fast triumphierend die Fäuste, achtete aber darauf, dass es niemand bemerkte. Wehe, die beiden waren in ähnlichem Zustand, wie die arme Seele im Rettungshubschrauber. Er würde es ihnen niemals verzeihen, wenn sie auf seinem Schiff sterben sollten.


    „Und wenn sie nun schon tot sind?“

    Wilde Windböen versuchten stetig, das nachtblaue Haar fortzutragen, was zu unterbinden die Besitzerin gar nicht erst versuchte. Das Wetter war in der letzten Stunde völlig umgeschlagen und einfach widerlich, lud eher dazu ein, sich an einer wohligen Wärmequelle einzufinden und unter eine Decke zu schlüpfen. Doch derartige Bequemlichkeiten hatte sie sich selbst nie gegönnt. Daher war das Einzige, wonach sie sich gerade sehnte, das baldige Ende der Warterei. Ungeduld war zwar ebenfalls etwas, wovon sie sich nicht beherrschen ließ, doch sie tat nun einmal so manches lieber, als untätig aufs Meer zu starren. Die Zeit konnte sinnvoller genutzt werden. Zum Beispiel könnte man ein paar Feinde töten.

    „Sprich es nicht aus, als würdest du darauf hoffen. Wenn sie jetzt dort draußen ihr Leben lassen, haben wir versagt. Du weißt, was das bedeuten würde.“

    Neben dem Schleier aus blauem Haar tobte ein hellerer, längerer, welcher zu einer Frau in schwarzem Mantel gehörte. Ein mahnender Blick ruhte auf dem Mädchen zu ihrer Linken. Auch sie schien das heraufziehende Unwetter nicht zu kümmern. Die grauen Wolken, die sich in der letzten Stunde über ihre Köpfe geschoben hatten und nur in der Ferne noch ein Stück blauen Himmel sichtbar ließen, grollten bereits wütend und begossen die Menschen mit einem feinen Sprühregen. Lästig schlugen ihr die Tröpfchen durch die Winde, die an ihrer Kleidung zerrten, entgegen.

    „Es ist untypisch für uns, so passiv vorzugehen.“

    Die Frau schüttelte in der traurigen Erkenntnis, dass ihre Partnerin auch nach dieser langen Zeit noch immer so engstirnig dachte, den Kopf, konnte dabei aber noch schwach lächeln.

    „Entschlossenheit definiert sich nicht durch übereifriges Töten oder voreiliges Handeln. In dieser Sache ist es einfach klüger, nichts zu überstürzen. Noch haben wir den Luxus, unsere Schritte sorgfältig planen zu können.“

    Nun schnellte der Blick des Mädchens herüber. Man hätte vermuten können, sie reagiere auf eine dreiste Beleidigung, doch wollte sie bloß Standpunkte klären. Diese waren ihr allerdings schon immer so wichtig gewesen, wie ihr eigenes Leben. Daher die Reaktion.

    „Du bist es, die plant. Ich die, die tötet. Das hat über so lange Zeit wunderbar funktioniert.“

    Schon entspannte sie sich wieder etwas, verschränkte aber rebellisch die Arme vor der Brust und blickte wieder geradeaus. Ihr war danach, geringschätzig den Kopf zu schütteln doch diese aufsässige Geste unterdrückte sie.

    „Dass du gerade nun so zaghaft wirst. Ich fasse es nicht, dass ich schon wochenlang kein Blut sehen konnte.“

    „Du solltest es nicht zu sehr herbeisehnen. Du wirst in nächster Zeit vermutlich mehr Tote, um dich herum haben, als dir lieb ist“, mahnte die Frau nun etwas strenger. Unter normalen Umständen wäre niemand von ihnen auch nur auf die Idee gekommen, dass dies möglich wäre. Schließlich war das Töten ihr wichtigster Lebensinhalt und größtes Talent. Doch sie beide wussten genau, welches Ereignis bevorstand und was es für die Menschen und die Pokémon bedeutete.

    „Ich tue das, wofür ich lebe. Ich verschwende kein Mitleid an Dinge, die ich nicht ändern kann“, betonte sie und zupfte ihren Schal zurecht. Dieser war alles, was von ihrem Äußeren geblieben war. Mit Unmut stellte sie dies fest, als sie an sich herunter sah.

    „Ich werde mich nie daran gewöhnen.“

    Nun musste die Frau wirklich lachen. Es war leise und zurückhaltend, doch genügte es, um erneut einen scharfen Blick zweier Rubine auf sich zu ziehen. Die weiße Bluse war wohl ungünstig im Regen, das sah sie ein und der Rock war im Grunde viel zu kurz – der Preis für bessere Beweglichkeit. Froh war sie über die Ablenkung von diesem leidigen Thema, die sich gerade über den Horizont schob.

    „Ein Schiff kommt.“

    Wahrlich, der rote Punkt kämpfte sich tapfer durch die immer rauer werdende See. Nur Minuten später schallte das Echo einer Sirene durch die Straßen des Hafens. Es dauerte auch nicht lange, da rückte bereits ein Krankenwagen an und kam unweit von dem weiblichen Duo zum Stillstand.

    Wortlos beobachteten sie. Rührten sich nicht und sprachen auch nicht mehr. Jetzt galt es nur, aufmerksam zu bleiben und zu erfahren, wer gleich in das Fahrzeug verfrachtet werden würde. Und vor allem in welchem Zustand. Bis das Schiff tatsächlich angelegt und der Crew das Verlassen von selbigem ermöglicht hatte, ging noch einige Zeit ins Land. Doch kaum hatte es angedockt, kamen auch schon vier Männer in roter Signaluniform mit einer Trage daher, auf der ein junger Mann mit rostbraunem Haar lag. Er hatte den Kopf entgegen der beiden Frauen gelegt, sodass sie nicht sehen konnten, ob er bei Bewusstsein war. Hinter diesem Gespann folgen zwei weitere Besatzungsmitglieder und außerdem ein weiterer junger Mann. Er schien relativ unverletzt und folgte dem anderen auf der Trage eilig. Die Sanitäter hatten ihren Wagen längst für die Aufnahme der geborgenen Personen vorbereitet und luden beide rasch ein.

    „Der Junge hier hatte einen Hitzschlag. Dem anderen geht es soweit gut, aber sehen Sie sich mal seine Schulter genauer an“, lauteten die Anweisungen eines Mannes in Rot. Zweifellos hatten die Jugendlichen bereits erste Hilfe erfahren. Sie lebten also beide noch. Das Augenmerk der beiden Beobachterinnen lag jedoch auf dem Blondschopf, der eigens und ohne Hilfe im Krankenwagen Platz nahm und die sporadischen Untersuchungen des Sanitäters anstandslos über sich ergehen ließ, ohne dabei den Blick von seinem Kumpanen abzuwenden. Er nahm von ihnen keine Kenntnis.

    So rollte der Wagen mit Blaulicht und Sirene schon bald los, um die Patienten ins Krankenhaus zu bringen. Minutenlang herrschte Stille. Der Wind, heraufziehend von der immer blasser und trüber werdenden See, trug noch sanft und vorsichtig Haar und Kleidung der beiden mit sich, bis dann zwei rubinrote Augen einen raschen Seitenblick wagten.

    „Wie gehen wie nun weiter vor?“

    „Ganz einfach. Wir werden ihnen offen gegenübertreten und erzählen, was sie wissen müssen. Falls sich die Möglichkeit ergeben sollte, suchen wir das Gespräch mit diesem Ryan in Abwesenheit seines Kameraden.“

    Der Blick der jüngeren Frau wurde etwas schärfer, was auf Zweifel schließen ließ. War dies wirklich so schlau? Einfach so auf sie zugehen?

    „Du willst sie einweihen?“

    „Ich sagte dir bereits, dass ich sie leben lassen will. Und für diesen Fall müssen wir ihnen reinen Wein einschenken. Andernfalls haben wir keine Chance auf Erfolg.“

    Es war wohl nicht zu ändern. Sie würde ihren Blutdurst auch an diesen Jungs nicht stillen können. Welch eine Qual. Doch unabhängig, ob sie die beiden verschonen würden, gab es da noch ein weiteres Problem. Leicht neigte das Mädchen den Kopf zur Seite, als wollte sie unauffällig etwas aus dem Augenwinkel beobachten.

    „Dann müssen wir zunächst unser Anhängsel loswerden.“

    Die etwas größere, blonde Frau tat ihre Geste nach und nickte schließlich.


    Auf dem Dach eines mehrstöckigen Hauses präsentierte sich eine Gestalt in Schwarz ungehemmt den Blicken der Menschen. Ziel jener Gestalt waren lediglich zwei Personen, die unten am Hafen verweilten und ihr den Rücken kehrten. Längst mussten sie ihre Anwesenheit bemerkt haben. Alles andere wäre eine Enttäuschung. Sie erwartete doch viel von den Beiden und sie sollten schließlich wissen, dass sie beobachtet wurden. Das wussten ihre Zielpersonen immer, sofern die Art des Auftrages dies zuließ. Sie liebte es, ihnen dabei zuzusehen, wie sie planlos und ängstlich vor der Gefahr in Gestalt einer jungen Frau verzweifelten, nicht mehr zur Ruhe kamen. Doch diese zwei waren mit Abstand die größte Herausforderung in ihrem bisherigen Leben – schienen sie, ihren Schatten, gar zu ignorieren und gaben sich keine Blöße. Doch zweifellos war die Agentin bemerkt worden. Und die Beiden würden über kurz oder lang ihre Vorgehensweise ändern müssen. Seit sie vor ein paar Monaten die Hauptbasis in Johto im Alleingang ausgeräuchert hatten, war klar geworden, welche Bedrohung sie für Team Rocket darstellten und waren der höchsten Gefahrenstufe zugeordnet worden. Einer der beiden Jungen, die sie im Auge behielten, hatte dabei eine ebenfalls nicht unwichtige Rolle gespielt und war sich dessen wohl nicht einmal bewusst, da beide Parteien sich nie begegnet waren. Doch seit dem Massaker von jenem Tag hatte es keine Berichte über Angriffe von Seiten der Frau und des Mädchens gegeben und auch nachdem sie selbst auf dieses bizarre Duo angesetzt worden war, hatten sie stets nur beobachtet und belauscht, wobei sie sicher an die ein oder andere Information gekommen waren. Bald würden sie jedoch mehr tun müssen. Und sie würden unter Druck geraten, wenn sie einfach nur an ihnen dran blieb und die beiden wissen ließ, dass Team Rocket sie im Auge hatte. Sie war sehr gespannt, wie sie darauf reagieren würden, freute sich aber bereits auf den Tag, an dem diese lästigen Spielchen aufhören und der Krieg beginnen würde. Dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihnen gegenüberstehen würde. Ein verspieltes und verschlagenes Schmunzeln stahl sich auf ihre schmalen Lippen. Ihre Fingerspitzen kribbelten bereits in freudiger Erregung, ließen beinahe die Flasche Sake entgleiten. Sie schaffte es noch, sie an ihre Lippen zu führen und in einem Zug zu leeren, obwohl sie noch zu einem Drittel voll gewesen war. Doch es war ja erst die zweite am heutigen Nachmittag. Schließlich musste sie wachsam sein.

    „Ich warte auf euch.“

    Langsam ging sie in die Hocke und fixierte das Duo mit ihren wie Bernstein funkelnden Augen. Das warme Gefühl des Alkohols trieb den Drang, endlich zu handeln, nur in die Höhe. Bald würde es soweit sein.

    „Kommt zu Bella.“