Der Zorn des Himmels

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  • Endlich Re-Kommi Zeit. Zuletzt viel zu wenig Zeit für´s Schreiben. Hoffe, dass ich demnächst mal wieder richtig loslegen kann. Mir fehlt´s echt.


    Shimo



  • Kapitel 19: Konfrontation


    Der Mensch konnte wahrlich träge sein. In diesem Fall war er es allerdings ob der enormen Erschöpfung des Körpers kaum möglich, dem einen Vorwurf zu machen. Bestimmt schon eine halbe Stunde drang sanftes Zwitschern fröhlicher Vogelpokémon an sein Ohr. Er ignorierte es stur und drehte sich in den weißen Laken seiner Schlafstätte, um die erheiternden Sonnenstrahlen an seinem Rücken abprallen zu lassen. Sie wärmten ihn selbst durch seine Decke und luden zum müden Verweilen an Ort und Stelle ein. Eigentlich war er schon längst aus seinen Träumen erwacht, doch seine Augenlider wollten sich einfach nicht bewegen und so richtig war Andrew auch nicht danach, sie zu öffnen. Einfach noch etwas weiterschlafen. Das wär´s jetzt. Doch es war bereits zu spät. Wenn er einmal wach war, schlief er nicht so schnell nochmal ein. Angesäuert von dieser Tatsache schoss er plötzlich in seinem Bett nach oben und raufte sich die zerzausten Haare.

    „Verdammt, knips mal jemand die Sonne aus!“

    Das jemand sogleich auf diesen Ausruf antworten würde, hatte Andrew nicht erwartet, obwohl er im Grunde Dauerbesuch hatte.

    „Wenn ich das könnte, hätte ich´s schon auf dem Floß gemacht.“

    Ryan erwachte selbst gerade und murmelte seine Worte ebenfalls noch schlaftrunken von einem temporär in der Ecke des Raumes platzierten Drehstuhls aus in Richtung Krankenbett. Er verbrachte seit ihrer Ankunft im Krankenhaus von Faustauhafen – was nun zwei Tage zurück lag – einen Großteil seiner Zeit in diesem Zimmer. Natürlich schlief Ryan hier nicht. Doch er kam schon in aller Früh hierher, um nach seinem besten Kumpel zu sehen. Da dieser noch fest im Land der Träume gewandelt war, hatte er die Gelegenheit einfach genutzt, selbst noch etwas zu dösen. Andrew hatte seinen Hitzschlag gut überstanden, obwohl er bei Ankunft einige Stunden ohnmächtig gewesen war. Sein Körper war noch geschwächt, weswegen er auf Anweisung des behandelnden Arztes erst morgen entlassen werden konnte. Typische Vorsichtmaßnahme der Mediziner.

    „Wie geht’s dir so?“

    „Müde.“

    Ryan schmunzelte, schüttelte gleichzeitig jedoch fassungslos den Kopf.

    „Und abgesehen davon?“

    „Jetzt frag doch nicht dauernd, Ryan. Ich hatte weder einen Herzinfarkt noch einen Schlaganfall. Mach nicht so´n Wind.“

    „Dafür hatte ich fast beides“, beteuerte Ryan und hob die Stimme dabei ein wenig. Wollte er etwa darauf hinaus, dass seine Sorge unberechtigt war? Ob Hitzschlag oder Herzinfarkt – unbehandelt war man hinterher genauso tot.

    „Du weißt doch, dass ich Mitleid hasse.“

    „Deswegen kriegst du auch keins von mir. Aber du brauchst nicht den Starken zu markieren, wenn du beinahe draufgegangen wärst.“

    Andrew ließ sich in die Federn zurückfallen und drückte sich das Kopfkissen über die Augen. In erster Linie tat er dies, um sich vor der Diskussion mit Ryan zu flüchten. Dass die Rolle des Erwachsenen, der einem kleinen Jungen etwas Offensichtliches eintrichterte, zwischen ihnen ständig wechselte, war nichts Ungewöhnliches und sobald er wieder auf den Beinen war, würde so etwas auch keine Rolle mehr spielen. Das war allerdings kein Grund für Andrew, solche Belehrungen nicht scheiße zu finden. Auf der anderen Seite hatte es wohl keinem von beiden jemals geschadet.

    „Wie spät haben wir´s?“

    „Gleich halb elf“, antwortete Ryan nach einem kurzen Blick auf das Ersatzgerät für seinen defekten Pokégear. Ein vergleichbares Gerät konnte man eh nicht auf die Schnelle auftreiben. Die musste man meist bestellen und liefern lassen. Nach Hause verstand sich, sowie mit enormer Wartezeit, weshalb er nun ein Outdoor-Handy mit sich führte. Es war deutlich robuster gegen Stoßeinwirkung, absolut wasserdicht und neben Videoanruf- und Kartenoptionen auch mit GPS, Taschenlampe und weiteren Optionen für Notfälle ausgestattet. Ein erstklassiges Gerät für Reisende in der Wildnis.

    Mit einem undefinierbaren Murren nahm Andrew die Information zur Kenntnis. Dann herrschte einige Momente lang Stille, was die Überleitung zu einer ernsteren Atmosphäre bildete. Das betroffene Schweigen war in den letzten 48 Stunden immer ein Zeichen dafür gewesen, dass die Gedanken bei einem Freund waren, dem es sogar noch schlechter ergangen war als den beiden Trainern.

    „Gehst du dann nach Dragonir sehen?“

    „Mhm.“

    Dragonir war gleich nach Ankunft der beiden zusammen mit all ihren anderen Pokémon ins Pokémoncenter geschickt worden. Dort hatte es mehrere Stunden auf der Intensivstation verbracht und die folgende Nacht unter ständiger Beobachtung gestanden. Am nächsten Morgen hatte Schwester Joy Entwarnung gegeben. Die Blutung sei gestoppt und es bestünde keine Lebensgefahr, solange es so bleibt, hatte sie berichtet. Selbstverständlich musste es zur Erholung noch einige Zeit die Krankenstation hüten, doch die Erleichterung bei Ryan und Andrew, der zu diesem Zeitpunkt ebenfalls das Schlimmste hinter sich gehabt hatte, war gigantisch gewesen.

    Die jungen Trainer sprachen nicht weiter. Der guten Nachricht zum Trotz war die Stimmung noch immer gedrückt, wenn Dragonirs Zustand zur Sprache kam. Die Erinnerungen sowie die Vorstellung, was hätte passieren können – was beinahe passiert wäre! – machten es vor allem für Andrew schwer, darüber zu reden. Nachdenklich sah er nun aus dem geöffneten Fenster. Das Wetter war prachtvoll. Die Sonne strahlte, vereinzelte, kleine Wolken zogen am Himmel und die Pokémon, die ihn zuvor mit ihren morgendlichen Gesängen aus dem Schlaf gerissen hatten, zwitscherten munter weiter. In der ersten Nacht hier hatte es Sturm gegeben und somit wenig Schlaf für Andrew, da ihn prasselnder Regen auf den Fensterscheiben sowie grelle Blitze und krachender Donner nicht zur Ruhe hatten kommen lassen.

    Ryan registrierte Andrews abwesenden Blick und Gemütszustand, weshalb er beschloss, ihn nicht weiter zu stören. Er nahm sich seine neue Jacke vom Stuhl und warf sie über. Er hatte an seiner dominanten Kleidungsfarbe festgehalten und sich für ein moosgrünes Sweatshirt mit Reißverschluss und Stehkragen entschieden. Es hatte ihm auf Anhieb zugesagt, da sie auf Höhe von Brust und Taille mehrere Taschen mit Reißverschluss besaß, in denen er viele Habseligkeiten, die immer griffbereit sein mussten, verstauen konnte. Portemonnaie, Pokédex, Handy, Taschenmesser, solche Sachen eben. Und zu jenen Habseligkeiten gehörte auch der grüne Orb.

    Aufgrund des freundlichen Wetters trug Ryan das neue Kleidungsstück offen und offenbarte darunter sein dunkelgraues Shirt, das leicht surreale Schatten der berühmtesten Bauwerke seiner Heimatstadt zeigte. Da er sein Cappy verloren hatte, präsentierte Ryan seinen blonden Schopf nun unbedeckt. Seine Haare wurden für seine Verhältnisse allmählich etwas lang, reichten bald gänzlich über die Ohren, doch er entschied sich dazu, sie zur Abwechslung mal wachsen zu lassen. Unter der Kopfbedeckung hatte er einen eher kurzen Schnitt bevorzugt, doch nun war ihm einfach nach etwas Neuem. Wohl auch deshalb, da er bereits in mehreren Geschäften nach einer neuen Mütze gesucht hatte und ihm keine hatte gefallen wollen.

    Auf dem Weg ins Erdgeschoss des vierstöckigen Gebäudes drifteten seine Gedanken zu Dragonir, aber auch Hydropi und ihrer beider restlichen Pokémon. Er dachte an die ganze Bande, die bei ihm zu Hause eine glückliche und sorgenfreie Zeit genossen und in kameradschaftlichen Wettkämpfen ihre Kräfte maßen. Er dachte an seine Mutter, die liebevoll für sie alle sorgte und das neben ihrem Beruf als Hotelmanagerin. Bald würde die Touristensaison am Silberberg beginnen und ihr folglich viel Arbeit und Stress ins Haus schleppen. Hoffentlich überarbeitete sie sich nicht wieder.

    Der Gedanke daran, sie alle nie wieder sehen zu können, gehörte zu den größten Ängsten, die Ryan in seinem Herzen trug. Vor seinem inneren Auge erschien sie. Eine aufgeschlossene und taffe Frau in dunkelblauer Hoteluniform und das lockige, schwarze Haar zu einem Zopf gebunden, der ihren Nacken kitzelte. Und dann einmal in einfacher Jogginghose und lässigem Trägertop. So, wie sie sich nur ihren eigenen vier Wänden zeigte. Wie sie die bereits geduldig wartenden Pokémon im großen Areal hinterm Haus fütterte, mit einigen von ihnen – darunter ihr persönlicher Liebling, Vulnona – spielte und belustigt ihre Duelle beobachtete. Ryan wünschte sich, er wäre jetzt bei ihnen. Das geschah nur sehr selten, doch nun, wo er sich bewusst wurde, dass er all das beinahe verloren hätte, fühlte er sich allein. Schlimmer noch, er fühlte sich schwach, angreifbar. Was war er denn ohne sie alle? Was konnte er ohne ihre Hilfe tun? Er konnte weder andere beschützen noch sich seinen Feinden stellen. Und er hatte sie zurückgelassen. Wieso?

    Ryan wandelte wie in Trance durch die breite Glastür hinaus ins Freie, ließ die grellen Sonnenstrahlen an sich abprallen, ohne sich zu erlauben, ihre Wärme zu genießen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben starrte er mit jedem Schritt bloß die Pflastersteine des Gehweges an. Die Leute, die ihm entgegenkamen, mussten ihm ausweichen, da er ihre Anwesenheit nicht einmal bemerkte. Immer wieder stellte er sich bloß die Frage nach dem Grund. Dem Grund für sein Handeln. Dem Grund für seine Dummheit. Warum er plötzlich etwas anderes empfand, wenn er an seine Partner und Gefährten dachte, als bittere Enttäuschung. Zuletzt hatte er ausschließlich das gefühlt. Alles wegen einem einzigen verlorenen Kampf. Einer, der ihm alles bedeutet hatte. Doch wie schwer wog dessen Ausgang im Vergleich zu jenen Gefährten, die ihn mit ihm zusammen bestritten hatten? Jene, die Ryan in jeder Situation die Treue gehalten und ihre eigene Gesundheit auf´s Spiel gesetzt hatten, selbst wenn die Dinge schlecht standen. Um sie ging es hier. Nicht um ihn. Und er wollte sie wieder um sich haben. Wenigstens ein paar von ihnen.

    Ryan bog um eine Ecke. Es existierte eine einzige große Hauptstraße in Faustauhafen, der sowohl die Einkaufsmeile als auch einige Firmengebäude und nicht zuletzt das Pokémoncenter angehörten. Es fand sich inmitten einer Häuserreihe mit verschiedensten Läden und Geschäften, über denen weitestgehend eher billige Wohnungen lagen. Ein ganzes Stück die Straße runter veränderte sich das Bild der Stadt ein wenig. Das Zentrum Faustauhafens war von Gebäuden dominiert, die schon aus der Ferne nach Schreibtischakrobaten, Schlipsträgern und Bürostuhlrennfahrern roch. Aus den höheren Stockwerken vermochte man vermutlich das Meer betrachten zu können. Es war gerade so die größte, aber mit Abstand die prunkvollste Stadt, die Ryan und Andrew auf ihrer bisherigen Reise durch Hoenn durchwandert hatten. Zugegeben, die Messlatte lag mit Wurzelheim und Blütenburg als Vorreiter dieser Liste noch sehr niedrig, doch wenn man seit der Anreise nur Kleinstädte gesehen hatte, erschien Faustauhafen gleich viel größer und mächtiger.

    Das Pokémoncenter rückte immer näher. Mit jedem Schritt gewann ein unglaublicher Enthusiasmus die Oberhand über Ryan. Zwischen all seinen Gedankengängen, Selbstzweifeln und vor Emotionen schwangeren Fragen klärte sich die geblendete Sichtweise in Bezug auf seine Pokémon. Eine Binde schien von seinen Augen zu fallen, die ihm nur ein düsteres Urteilsvermögen erlaubt hatte. Er beschleunigte seine Schritte. Die behandschuhten Hände wanderten aus den Taschen und ballten sich entschlossen zu Fäusten. Ryan musste einfach laufen. Er beschleunigte, legte ein eiliges Tempo an den Tag, bis er schließlich rannte. Einige verwunderte Blicke ließ er über sich ergehen, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen. Dann lächelte er. Es war voller Vorfreude. Voller Energie. Ja. Ja, er hatte es begriffen. Er hatte entschieden. Er hatte verstanden. Er hatte sie gefunden. Die Antwort.


    Obwohl er es doch so eilig hatte, hielt Ryan einen Moment vor den breiten Schiebetüren des Pokémoncenters inne. In erster Linie tat er dies, um sich ein wenig von seiner Euphorie zu lösen. Außerdem hatte er nach seinem Sprint etwas Luft zu schnappen. Er besuchte schließlich eine öffentliche Einrichtung, in der er sich wie ein Irrer auf irgendeinem Trip erscheinen wollte.

    Sowohl Andrews als auch seinem eigenen Pokémon, war in den letzten Tagen wahrlich viel zugemutet worden. Hydropi war gerade erst in diese Welt außerhalb des Labors von Professor Birk eingetaucht und dabei auf geradezu übermächtige Gegner getroffen. Magnayen, Schwalboss und Psiana hatten ebenfalls harte Kämpfe hinter sich und eine Erholungsphase mehr als nötig. Und dann war da natürlich noch Dragonir.

    Aus irgendeinem Grund fühlte Ryan plötzlich Unbehagen. Das dunkle Krächzen eines Pokémon drang an sein Ohr. Vom Dach des Centers blickte ein schwarzer Rabe mit stolzen, weißen Brustfedern und einem blassgelben, spitzen Schnabel auf ihn herab. Die Augen des Kramshef wurden dabei fast vollständig von seinen markanten Kopffedern verdeckt, die an einen Hut erinnerten. Es starrte ihn präzise an. Der junge Trainer versuchte sich desinteressiert und unbeeindruckt zu geben und den Vogel so zum Verschwinden zu bewegen. Doch die funkelnden Augen durchschauten die Fassade sofort und der Blick verschärfte sich. Einige Sekunden lang schien die Zeit zwischen den beiden still zu stehen. In derselben Zeitspanne fragte Ryan sich, wie es denn auf einmal zu dieser skurrilen Situation hatte kommen können. Die dicke Luft zwischen ihnen schmeckte ihm gar nicht. Er konnte diesem Kramshef doch eigentlich ziemlich egal sein und umgekehrt würde dasselbe gelten, würde es ihn nicht so unentwegt anstarren. Gerade rechnete Ryan schon mit so manchem – einer Drohgebärde oder gar einem Angriff –, da breitete das Kramshef plötzlich erhaben seine Schwingen aus und flog überlegen krächzend davon. Leicht verwundert sah er ihm mit gehobener Braue hinterher, wandte sich aber rasch wieder ab, damit mit er heute noch ins Center kam. Ein Kramshef mitten in der Stadt und das auch noch am helllichten Tag war mehr als ungewöhnlich. Diese scheuen Flugpokémon waren eigentlich nachtaktiv und fern der Zivilisation in den Wäldern beheimatet. Es gehörte also mit großer Wahrscheinlichkeit einem Trainer.

    Bei diesem Gedanken hielt Ryan erneut inne und warf einen misstrauischen blick über die Schulter. Wenn dieses Pokémon wirklich jemandem gehörte, bedeutete das dann, dass er beobachtet wurde? Er stellte den Kragen seiner Jacke auf, sodass Kinn und Wange fast vollständig darunter verschwanden und sah sich unauffällig um. Kramshef war bereits außer Sicht und ansonsten erkannte er nirgends verdächtige oder auffällige Personen. Dennoch ließ er geduldig seinen Blick genaustens durch die Straßen wandern. Ryan war sicher nicht paranoid, doch seit Team Rocket nun offiziell in Hoenn aktiv war, erachtete er etwas Vorsicht als nicht verkehrt. Und wenn ihn wirklich jemand im Auge behielt, dann sollte dieser jemand ruhig wissen, dass er nicht unbemerkt geblieben war.

    Schließlich schüttelte Ryan sein ungutes Gefühl doch ab und betrat die Einrichtung. So wie sich die automatischen Türen surrend hinter ihm schlossen, fühlte er sich sofort wieder in einer trauten Umgebung. Auch wenn kein Pokémoncenter wirklich einem anderen detailgenau glich, fühlte man sich doch mit jedem irgendwie vertraut. Himmelblau gefliester Boden, eine Sitzecke mit weiß gepolsterter Couch vor einer Fensterwand auf der einen, eine Reihe Bildtelefone auf der anderen Seite und zu guter Letzt der große Empfangstresen direkt voraus. Die örtliche Schwester Joy erblickte den Neuankömmling gleich und winkte diesen freundlich lächelnd herüber. Durch seine Besuche in den beiden vergangen Tagen hatte sie sein Kommen bereits erwartet und schien aufgrund ihrer Körpersprache sogar gutaufgelegt. Eventuell hatte sie sogar erfreuliche Neuigkeiten. Da Ryan abgesehen von einem jungen Pärchen, das auf der Couch Platz genommen hatte, der einzige Besucher war, musste er auch nicht weiter warten und marschierte schnurstracks auf die Krankenschwester zu.

    „Morgen, Ryan. Wie geht’s heute so?“

    Auch wenn man nicht behaupten konnte, dass er heute schlecht drauf war, zog der junge Trainer, bedingt durch seine Überlegungen und Gedanken auf dem Weg hierher, es vor, den Small Talk zu überspringen und zur Sache zu kommen.

    „Das hängt in erster Linie davon ab, was sie für mich haben.“

    Etwas verdutzt durch die Direktheit, musste sich Joy ein wenig um ihre freundliche Erscheinung bemühen.

    „Sicher doch. Ich werde nachsehen, ob sie wach sind. Warte bitte kurz.“

    Rasch verschwand sie durch eine Tür hinter ihrem Tresen. Kurz überlegte Ryan, ob er vielleicht unhöflich geklungen hatte, befand aber, dass sein Auftreten okay gewesen war. Vielleicht war Joy auch nur von seiner direkten Art auf dem falschen Fuß erwischt worden. Viele sahen in ihr und ihren zahlreichen Schwestern die personifizierte gute Seele der Stadt, der sie sich und ihre Pokémon jederzeit und ruhigen Gewissens anvertrauen konnten. Folglich wurde sie in der Regel mit Höflichkeiten und großem Respekt für ihre Arbeit und Hilfe überschüttet. Ryan sah das ein wenig anders. Natürlich mochte auch er die Joys und war ihnen dankbar dafür, dass sie unter anderem seine Partner gesund pflegten und obendrein auch halbwegs für seine eigenen Bedürfnisse sorgten. Doch letztendlich machte eine jede von ihnen auch nur ihren Job. Sie eigneten sich im Studium der Pokémonmedizin Wissen an, um mit jenem dann ihre Dienste der Bevölkerung anzubieten. Somit taten sie dasselbe, wie etliche andere Menschen in etlichen anderen Branchen auch. So funktionierte diese Welt. Und sie verdienten letztlich auch nicht schlecht daran. Es kam vor, dass Trainer mit dem Irrglauben aufwuchsen, ein Pokémoncenter wäre in jeder Hinsicht eine für sie kostenlose Einrichtung. Das lag dann meist daran, dass ihre Eltern den finanziellen Part ohne deren Kenntnis erledigten. Um als Pokémontrainer zugelassen zu werden bedurfte es nämlich nicht nur einer Schulung, welche je nach Anspruch und Region in der Länge variierte, oder gar einer speziellen Schulbildung, sondern auch einem happigen, monatlichen Beitrag an die Pokémon Trainer-Gesellschaft – kurz PTG –, der teils in deren eigene Kasse und teils in die der Ärzte floss. Diese Summe gewährleistete die Nutzung für jedes Pokémoncenter in der Region, wahlweise auch weltweit, was dann etwas kostspieliger wurde. Es war nicht so, dass man sich so häufig und lang in einem Center einquartieren durfte, wie man wollte, doch dank der nie endenden Inflation an Trainern war die Obergrenze glücklicherweise recht großzügig gesteckt, weshalb es allgemein selten vorkam, dass die PTG Nachzahlungen verlangte. Mit solchen musste man nämlich rechnen, wenn man es übertrieb.

    Ryan hatte über diesen Umstand stets Bescheid gewusst und immer sein Möglichstes getan, um seine Mom bei der Finanzierung zu unterstützen. Bevor er auf die Reise gegangen war, hatte er gut ein halbes Jahr in ihrem Hotel Drecksarbeiten erledigt, für einen rückblickend mickrigen Lohn. Doch das ewige Abwaschen in der Küche und Fegen der Böden sowie die elende Arbeit als Laufbursche und Depp vom Dienst hatten sich dennoch gelohnt. Schließlich verdiente in seiner Heimatstadt so gut wie niemand im minderjährigen Alter schon sein eigenes Geld – auch wenn die Ersparnisse kürzer überlebt hatten als erwartet. Doch nachdem er einige Zeit später regelrecht zum erfolgreichsten Rookie einer ganzen Region geworden war und angefangen hatte, Preisgelder zu gewinnen, später bezahlte Jobs in der Trainerszene und zwischenzeitlich sogar einen eigenen Sponsor gehabt hatte, hatte Mom immer weniger und schließlich gar kein Geld mehr schicken müssen. Im Augenblick hatte er keine größeren Einkommen in Aussicht und seine Sponsorenfirma war vor wenigen Monaten nach Kalos umgesiedelt, weswegen sie sich von ihm getrennt hatten. Doch sein finanzielles Polster war noch weit vom kritischen Stand entfernt. Dennoch würde er, sobald in Hoenn bekannt würde, dass er die lokalen Orden jagte, immer Augen und Ohren für potenzielle Erträge öffnen. Von allein finanzierte sich das Leben eines Trainers eben nicht und allein auf Preisgelder wollte er auch nicht setzen. Zu ungewiss. Zu unverlässlich.


    Aus dem Flur, der rechts am Tresen vorbeiführte, erklangen dezente Schritte. Ryan lugte um die Ecke und sah die Krankenschwester nun wieder freundlich lächelnd auf ihn zukommen.

    „Dragonir schläft noch tief und fest im Behandlungsraum. Wie zu erwarten ist es wegen der Medikamente und Schmerzmittel noch etwas träge. Aber wenn du möchtest, kannst du die anderen jetzt sehen.“

    Er nickte lediglich und folgte Joy, als diese auf dem Absatz kehrt machte und den Flur wieder hinunterlief. Die Wände waren hier in typisch sterilem Weiß tapeziert. Alle paar Meter verschloss auf jeder Seite eine wieder weiße Tür die Sicht auf den Raum dahinter. Unterbrochen wurde deren Reihenfolge von bunten Landschaftsbildern an der Wand.

    „Wie geht’s deinem Freund im Krankenhaus so, Ryan?“

    Ein wenig abwesend lief er neben Joy und beantwortete die Frage, ohne sie anzusehen.

    „Er reißt wieder Witze, also ganz gut. Morgen soll er entlassen werden.“

    „Freut mich zu hören.“

    Fast schon am Ende des Ganges schwenkten sie nach links und eine solche Tür wurde geöffnet. Der Anblick dahinter erinnerte zwar eher an ein Heim für entlaufene oder ausgesetzte Pokémon, doch der Anblick war für Ryan nicht neu. Es wurde immer von der Trainer Gesellschaft gewährleistet, dass sich gut um die Patienten gekümmert wurde, doch ein Hotel für selbige war ein Pokémoncenter definitiv nicht. So war es außerhalb des Machbaren, ihnen mehr, als eine Art Zelle zur Verfügung zu stellen, um sich auszukurieren. Immerhin war Wasser und Futter gegeben, ebenso wie eine weiche Schlafstätte.

    „Genau genommen, habe ich sogar eine Überraschung für dich, Ryan“, eröffnete Joy dann und ließ den Besucher eintreten. Die Käfige waren zweistöckig. In einem der oberen geriet sofort ein azurblaues Geschöpf in Aufregung. Es sprang auf seine Hinterläufe und krallte seine Hände in das Gitter. Orangefarbene Wangen und Bauchmusterung leuchteten regelrecht im farblichen Kontrast zum restlichen Körper und die dunkelblaue Flosse auf dem Kopf sowie zwei weitere, die wie ein Doppelschweif fungierten, zuckten wild, scheinbar erfreut.

    Ryan war noch nicht ganz an der Schwester vorbei, da drehte er sich nochmals zu ihr um und wartete auf einen bestätigenden Blick.

    „Es ist deins.“

    Sofort nahm ein breites Lächeln bei ihm Einzug und er begrüßte das Moorabbel.

    „Hey, Partner.“

    Er streckte eine Hand durch das Gitter und kraulte damit fürsorglich das Kinn seines weiterentwickelten Pokémon. Es genoss die Geste sichtlich.

    „Es war gestern noch immer völlig aufgedreht und energiegeladen, sodass ich es kaum untersuchen konnte. Es war, als wollte es gegen alles und jeden kämpfen, was sich bewegt“, erzählte Joy. Ryan hatte schon am Tag nach ihrer Ankunft in Faustauhafen Hydropi wieder mitnehmen dürfen und die Zeit für sehr intensive Trainingseinheiten genutzt, in denen das Wasserpokémon endlich aufgeblüht war. Die Unsicherheiten und Enttäuschungen der letzten Übungen waren schnell vergessen gewesen, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Abends hatte er das kleine Kraftbündel, wie er es inzwischen bezeichnete, stets ins Pokémoncenter gebracht, um sicher zu gehen, dass er es mit dem Training nicht zu weit trieb und keine gesundheitlichen Gefahren entstanden. Doch anscheinend hatte er es sogar noch unterfordert.

    „Es ist wie wild vom Behandlungstisch gesprungen und in den Flur gerannt. Ich musste Chaneira sanfte Gewalt anwenden lassen, um es zu beruhigen. Dabei hat es sich weiterentwickelt.“

    Ryan biss sich leicht auf die Unterlippe. Mann, war das peinlich. So etwas war ihm seit seinen Anfängen nicht mehr passiert. Vielleicht musste er Hydropi… oder besser Moorabbel etwas mehr Disziplin nahelegen.

    „Das tut mir leid. Hat es große Schwierigkeiten gemacht?“

    Sie verschränkte die Arme und zuckte lässig mit den Schultern.

    „Nichts, womit ich nicht früher schon zu tun hatte. Aber ein ruhiger Abend war es nicht.“

    Mit einem vorsichtigen Schmunzeln wollte Ryan sowohl Belustigung als auch eine leicht verlegene Entschuldigung ausdrücken und hoffte, dass bei dem Tumult nichts zu Bruch gegangen oder beschädigt worden war. Moorabbels Ermahnung auf später zu verschieben, schloss er jedoch aus.

    „Hab ich dir nicht gesagt, dass du dich benehmen sollst?“

    Er sprach es aus, als wüsste er genau, dass er es gesagt hatte. Und schließlich war auch genau das der Fall. Allerdings schien die Botschaft bedingt durch das Lächeln, dass er einfach nicht abstellen konnte, nicht ganz angekommen zu sein, da Moorabbel noch immer freudig auf und ab sprang.

    „Darüber reden wir später noch.“

    Mit einem sanften Klaps auf den Kopf ließ er von dem Pokémon ab und ließ sich von Joy seinen Pokéball aushändigen. Da er und Andrew wohl frühestens morgen wieder unterwegs sein konnten, würde Moorabbel wohl noch mindestens ein Mal hier vorbeischauen. Als es schließlich verschwunden war, wandte er sich wieder der Krankenschwester zu und wartete darauf, dass sie ihn zu Andrews Pokémon führte. Diese waren weiter hinten in den unteren Käfigen untergebracht. Als erstes entdeckte er das schwarze Fell Magnayens, das sich gerade einmal die Mühe machte, sein Dösen für einen kurzen Moment, in dem es aufsah, ohne den ruhenden Kopf von den Pfoten zu heben, zu unterbrechen. Doch da keiner der beiden Menschen vor diesen elenden Gittern sein Trainer war, bekamen sie nur Desinteresse zu spüren. Psiana dagegen saß in ihrer so unrühmlichen Behausung noch so stolz hinter dessen verschlossener Tür, als wäre es ein Thron. Den Kopf hoch erhoben und jede Bewegung von außerhalb genau beobachtend. Im hintersten saß Schwalboss. Der Raubvogel pickte sich gerade ein paar Körner aus seiner Futterschale und krächzte Ryan schließlich an. Er war mit diesem Pokémon nicht ganz vertraut, doch er schätzte es als eine Art Begrüßung ein.

    „Alle drei sind körperlich in gesunder Verfassung“, begann die Schwester ihm zu eröffnen.

    „Psiana und Schwalboss können wieder bedenkenlos trainieren. Ich muss hoffentlich nicht extra erwähnen, dass es ihnen dennoch nicht gut täte, wenn sie es gleich zu übertreiben.“

    „Sicher“, nickte Ryan ab. Das musste man sich in beinahe jedem Pokémoncenter anhören. Ein oder zwei Tage der Erholung draufzulegen, wäre ja ach so weise, aber dennoch gestatteten sie ihnen das Kämpfen. Doch er hatte längst aufgehört, sich über diesen Widerspruch zu wundern. So oder so galt es in seinen Augen gleich wieder Gas zu geben, sobald Joy eben die Erlaubnis aussprach. Er trainierte keinen Pokémon-Kindergarten. Wer nicht spurte, durfte auch nicht kämpfen. Und wer noch nicht fit war, ebenso wenig. Da kannte Ryan nichts. Einsätze im Kampf gewährte er nur für Leistung und Engagement.

    „Magnayen ist noch nicht ganz bei Kräften. Es zeigt Trägheit und frisst nicht besonders viel. Ich kann hier nichts mehr für es tun, also darf es morgen die Klinik verlassen. Von Kämpfen rate ich dir aber noch für mindestens drei Tage ab. Wenn du es langsam angehen lässt, kann ich erlauben, dass es wieder vorsichtig trainiert.“

    Warum sprach sie eigentlich mit Ryan, als wären es seine Pokémon? Sie wusste, dass sie zu Andrew gehörten. Zumindest hatte er ihr das gesagt. Egal, die Botschaft war jedenfalls angekommen und sie erfreute ihn durchaus. Doch es fehlte noch jemand.

    „Fein. Und wie sieht´s mit Dragonir aus?“

    Schwester Joy schien einen willkürlichen Punkt im Raum anzustarren, während sie überlegte. Dabei schürzte die nachdenklich die Lippen.

    „Sein Kreislauf ist noch geschwächt. Das kommt einerseits durch den Blutverlust und andererseits durch die Nachwirkung der Narkose. Über Nacht möchte ich es auf jeden Fall noch hier behalten. Wenn es gut läuft, darf es morgen wieder zu seinem Trainer.“

    Na also, jetzt stimmte die Ansprache.

    „Dragonir haben phänomenale Fähigkeiten bei der Selbstheilung und Regeneration. Eine offene Wunde schließt sich nach nur einigen Tagen vollständig und ohne erkennbare Rückstände. Bislang ist alles gut verheilt. Wenn das bis morgen anhält, kann ich es guten Gewissens entlassen. Jegliche Anstrengung ist aber noch mindestens für eine Woche untersagt und wenn es soweit ist, darf es sich auf keinen Fall zu früh überanstrengen. Ich vertraue darauf, dass du und dein Freund verantwortungsbewusst und vernünftig seid, sonst landet es sofort wieder in der Notaufnahme.“

    Ryan hatte nicht wirklich um eine genauere Erörterung gebeten, doch wohl wollte die Schwester ihm einfach keine Informationen vorenthalten. Schlussendlich war er froh, dass es jedem von ihnen den Umständen entsprechend gut ging und erklärte sich mit einem knappen Nicken der Bedingung einverstanden. Dann kniete er sich vor die drei Pokémon seines bestens Freundes und lächelte sie munter an.

    „Andrew geht es schon wieder besser. Morgen kann er zu euch kommen und wir können weiter. Ruht euch noch ein bisschen aus und haltet die Ohren steif, ja?“

    Bei der Erwähnung ihres Trainers hatte Ryan sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Pokémon. Sogar Magnayen war aufgesprungen und bellte nun erheitert. Schwalboss flatterte mit seinen Schwingen und schien das Wiedersehen ebenfalls nicht erwarten zu können. Nur die „Prinzessin“, wie Andrew sie gern nannte, behielt ihre würdevolle Erscheinung bei. Man mochte Psiana gar nicht als so selbstkritisch einschätzen, wie sie es tatsächlich war, wenn man ihre fast schon arrogante und hochnäsige Haltung sah. Ein wirklich amüsantes Geschöpf.

    Mit einem kurzen Wink verabschiedete sich der junge Trainer und marschierte Joy voran aus dem Raum. Diese folgte, schloss die Tür hinter sich und stellte leicht verwundert fest, dass Ryan es plötzlich eilig hatte, den Flur hinab zu gelangen.

    „Ryan?“, rief sie ihm hinterher. Er drehte sich nicht um.

    „Ich muss mal telefonieren.“


    „Ich sage es dir nochmal, ich kann das nicht gutheißen.“

    Doktor Richards war mit diesem Jungen einfach überfordert. Er schien geradezu taub, wenn er ihm das Aufstehen zu verbieten versuchte. Denn bei allem, was über den Versuch hinaus ging, scheiterte er kläglich. Er rückte seine Brille zurecht und fuhr sich durch das dünne, schwarze Haar. Der verdammte, jugendliche Eifer war etwas, mit dem er einfach nicht zurecht kam. Dabei sollten seine Patienten doch auf ihn hören. Das war bislang immer so gewesen, doch dieser hier hatte bereits seine Jeansjacke übergeworfen und war seine Turnschuhe geschlüpft.

    „Und ich sage Ihnen nochmal, dass ich es verstanden habe, Ihren Rat respektiere und deshalb mache, was ich will“, lachte Andrew munter, worauf er anschließend dem Doc keck einen Klaps auf den Oberarm gab, als seien sie gute Kumpel, um sich dann an ihm vorbei in den Flur zu schieben.

    „Versprich wenigstens, dass du wirklich nur spazieren gehst und in einer Stunde wieder da bist“, hörte er noch hinter sich. Ohne stehen zu bleiben, drehte er sich um, breitete frei die Arme aus und hob unschuldig die Schultern.

    „Okay, aber ich bin nicht dafür bekannt, dass ich meine Versprechen halte.“

    Schon richtete er den blick wieder nach vorne und gab seinem Arzt noch einen lässigen Wink mit der rechten Hand.

    „Sie werden mich vermissen“, rief er laut durch den Gang. Andrew war die Behandlung und das untätige herumsitzen leid. Die ständigen Vorsichtsmaßnahmen im Sinne der Beobachtung waren seiner Ansicht nach eine übervorsichtige Maßnahme der Medizin, die nichts Geringeres bezweckte, als einer möglichen Klage durch gesundheitliche Rückfälle der Patienten vorzubeugen. Doch so ein Typ war er nicht. Er vertrat schlicht und einfach die Meinung, dass er selbst noch immer am besten wusste, wie es ihm ging. Und wenn es etwas gab, dass er gegenwärtig mit absoluter Sicherheit wusste, dann war es, dass er jemanden umbringen würde, wenn er sich nicht wenigstens mal die Beine vertreten und Frische Luft schnappen konnte. Ihm ging es soweit wieder gut. Das musste er sich von niemandem bestätigen lassen. Und er fühlte sich wieder im Vollbesitz seiner Kräfte – bis auf die Müdigkeit vom Morgen, die nun am Vormittag allerdings verflogen war. Er hatte es richtig genossen, Doktor Richards halbherzige Versuche, ihn aufzuhalten, zu zerschlagen und ihm mit seinem Enthusiasmus den letzten Nerv zu rauben. Es war beinahe zu leicht gewesen. Zweifellos hatte er keine Erfahrung mit Menschen seines Schlages. Doch er war nicht so gemein, nun tatsächlich einfach zu verschwinden. Zum Mittagessen würde er zurückkommen – wofür in erster Linie die niedliche Krankenschwester der Grund war, die er vergeblich angeflirtet hatte. Achtzehn Jahre jung und schon verlobt. Wo gab´s denn so etwas schon?

    Andrew verließ das Krankenhaus in Richtung Hafenpromenade. Obwohl er es nicht mehr wirklich nötig hatte, war ihm der Sinn nach einem Energiedrink und vielleicht einem kleinen, zweiten Frühstück. Das erste im Krankenhaus war recht mager gewesen. Es waren nur sechs Häuserblocks bis zum Hafen. Ein Katzensprung, wenn man so mochte, doch schon am dritten wurde der nichts ahnende Andrew von seinem simplen Vorhaben kurzweilig aufgehalten. Gerade noch sah er jemanden aus dem Augenwinkel jemanden heran rauschen, als er eine Hausecke passierte. Die Person hatte es furchtbar eilig und mit seinem plötzlichen Auftauchen nicht gerechnet. Hoffnungslos versuchte sie noch, dem Jungen auszuweichen, da war sie schon so grazil wie ein Öltanker und Andrews Empfinden nach auch mit der Kraft eines solchen in ihn gekracht. Er spürte einen Stoß im Oberkörper, der ihm die Luft aus der Lunge presste, als er auf den gepflasterten Gehweg landete. Er hatte keine Chance mehr gehabt, zu reagieren, weswegen seine Hände noch in den Taschen seiner Jeansjacke gesteckt hatten. Nun aber lag er da, als wolle er einen Engel in den nicht vorhandenen Schnee zaubern. Arme und Beine ausgestreckt und das Gesicht gerade hinaus zum Himmel. Auf seiner Brust ruhte der Kopf seines „Angreifers“, der sich langsam und leicht benommen regte. Ganz plötzlich fuhr dieser nach einem Moment in die Höhe und eine Hand wurde vor den Mund geschlagen, wobei die beiden losen Lederarmbändchen um ihr Handgelenk tanzten. Doch die Person sah ein breites Lächeln auf den Lippen des am Boden liegenden.

    „Hi, wie geht’s denn so?“

    Zumeist spottete Andrew über die Missgeschicke anderer Leute zu seinen Ungunsten mit einem Hauch Sarkasmus und halbherzigen Vorwürfen. Doch der unangenehme Vorfall sowie der Schmerz wurden gleich gelindert, als er in dieses wunderschöne Gesicht sah. Ihre himmelblauen Augen schimmerten vor Reue und die Peinlichkeit an sich trieb ihr einen zarten Rotschimmer auf die Wangen ihrer leicht blassen Haut. Einige Strähnen ihres braunroten Haares umrahmten ihr rundes Gesicht. Nur eine mit einer kleinen, schwarz-weißen Haarspange am Ansatz, legte sich verspielt über ihre Stirn. Der Rest ihrer Haare war zu einem Pferdezopf gebunden. Sie war zum Anbeten süß.

    „Das sollte ich eigentlich dich fragen“, antwortete sie nach einigen Sekunden, in denen sie die Stirn gerunzelt hatte und unsicher zu sein schien, wie sie auf diese unerwartete Geste reagieren sollte. Andrew seinerseits dachte gar nicht daran, sie zu bitten, von ihm runter zu gehen. Sporadisch blickte er sich um und schließlich wieder ins Gesicht der Fremden. Die wenigen Passanten, die ihren Unfall bemerkt hatten, schienen ihn gekonnt zu ignorieren. Ihm war es nur recht.

    „Könnte kaum besser sein.“

    Wenn er bedachte, dass die Alternative wäre, weiterhin eingepfercht ans Krankenbett gefesselt zu sein, war das hier gar nicht mal schlecht.

    „Und nochmal. Wie geht’s denn so?“

    „Hab mir nichts getan, wenn du das meinst.“

    Das hatte Andrew nicht gemeint, aber gut. Nicht so gut fand er dann eher die Tatsache, dass die Kleine rasch aufsprang und ihm ihre Hand reichte.

    „Passt schon“, meinte er stur und rappelte sich ebenfalls auf, ohne die Hilfe anzunehmen. Ein Mann ließ sich schließlich nicht von einer Frau aufhelfen. Das ging andersrum.

    „Ich bin Andrew.“

    Freundlich und offen reichte er ihr die Hand. Es war nun wirklich nicht so, dass sich er in vergleichbarer Situation jedem Mädchen vorgestellt hätte, aber sie war zu attraktiv, um es nicht zu tun. Sie trug ein weites, lässiges Shirt in Nachtblau mit weitem Kragen, der sogar Teile ihrer Schlüsselbeine freilegte. Darüber spannte sich ein enges, weißes Top mit schmalen Trägern, das ihre sportliche Figur betonte. Es war auf der Frontseite mehrmals horizontal eingeschnitten. Der himbeerrote Faltenrock hätte für seinen Geschmack ruhig noch etwas kürzer sein dürfen, was aber nicht viel mehr Sicht auf ihre Beine ermöglicht hätte, da schwarze Strümpfe sie bis zu den Oberschenkeln bedeckten und auf ihrem anschaulichen Weg nach unten in ebenso schwarze Stiefel übergingen. Keine Absätze, gut so. Sie ging also wie ein normaler Mensch durch die Straßen, ohne das Wagnis einzugehen, sich durch Stöckelschuhe die Füße zu brechen. Eine recht kleine Umhängetasche vom gleichen Rot wie der Rock zierte ihre Hüfte. Ihre gesamte Erscheinung war keck, aber mit einem Hauch von lässigem Modebewusstsein. Volltreffer! Andrew ballte in Gedanken eine Hand triumphierend zur Faust.

    „Tut mir echt leid, der Zusammenstoß“, meinte sie bloß und ergriff höflich die Hand, wobei sie ihren Kopf zwischen ihren Schultern verstecken zu wollen schien und verlegen lächelte. Wenn sie nicht schnell damit aufhörte, würde Andrew sich nicht davon abhalten können, laut durch die Stadt zu schreien, wie niedlich sie dabei aussah.

    „Nein, nein, ist doch nichts passiert“, beruhigte er sie gleich und zog den Händedruck so weit wie möglich

    in die Länge.

    „Normalerweise bin ich nicht so tollpatschig. Ich bin das Stadtleben einfach nicht gewohnt, schätze ich. Zu viele Leute.“

    Bedachte man, dass Faustauhafen zwar für eine Inselstadt nicht unbedingt klein, aber dennoch kein Maßstab für Größe oder Bevölkerungsdichte war und hier auch nicht gerade die Massen durch die Straßen flanierten, musste sich Andrew schon fragen, aus welchem Dorf sie denn kam. Doch zunächst galt es seinen charmanten Humor zu versprühen.

    „Gut zu wissen.“

    Die Fremde konnte sich auf diese Antwort keinen echten Reim machen und zog die schmalen Brauen zusammen.

    „Was zu wissen?“

    „Dass der Himmel noch ein ländliches Kaff ist.“

    Keine Viertelsekunde dauerte es, da versuchte das Mädchen noch ihr Kichern zu unterdrücken, was durch mangelnden Erfolg ein seltsames Grunzen zur Folge hatte, das wiederum in ein sympathisches, aber irgendwie auch verdächtigendes Lachen über ging. Kaum war es verklungen, strahlte sie plötzlich Souveränität und Überlegenheit aus.

    „Wie heißen die Dinger, in denen solche Sachen stehen? Die hundert besten Anmachsprüche, oder so? Wenn du das eben daraus hast...“

    Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und funkelte Andrew aus schmalen Augen an. Doch sie klang nicht abgeneigt, auf seine offene Art zu reagieren.

    „Machst du Witze? Ich hab´s geschrieben.“

    Wieder lachte sie, diesmal aber etwas dezenter.

    „Schon klar. Glaub nicht, dass ich dir alles abnehme, nur weil ich dich über den Haufen gerannt hab.“

    Andrew ließ sich nicht im Geringsten verunsichern. Er liebte diese Duelle beim Flirten. Lässig winkte er ab und versuchte sich an einem strammen und kräftigen Erscheinungsbild.

    „Was meinst du damit? Ich wollte mich nur kurz ausruhen.“

    Nun zog sie skeptisch eine Braue in die Höhe und lachte erneut kurz auf.

    „Auf dem Bürgersteig?“

    „Du solltest es mal probieren. Wie auf den Flügeln eines Altaria. Oder dem Bauch eines Relaxo.“

    Nun hatte sich die Kleine wohl ausgelacht, doch das breite Grinsen blieb. Dann räusperte sie sich und strich eine Strähne hinter ihr Ohr. Der junge Trainer war kurz davor, zu zerfließen.

    „Mal was anderes, Andrew. Du weißt nicht zufällig, wo ich Krankenhaus finde?“

    In einer Inselstadt wie dieser war es nicht ungewöhnlich, dass es nur eine größere Klinik gab.

    „Das Krankenhaus?“

    Andrew klang misstrauisch und hoffte sich verhört zu haben. Wenn ein Mädchen, das so munter durch die Straßen rennen konnte und folglich absolut fit war, ein Krankenhaus aufsuchte, dann nur, um dort nach jemandem zu sehen. Vielleicht nach einem Verwandten, einer Freundin, oder – was er nicht hoffte – ihrem festen Freund?

    „Ja, ich kenn´ mich hier leider nicht aus. Bin heute erst angekommen.“

    Nervös befeuchtete er die Lippen. Wenn er ihr jetzt einfach die Richtung wies, war sie wahrscheinlich weg und die Chance, ihre Gesellschaft weiter zu genießen, ebenso. Andererseits war es definitiv zu aufdringlich, sie begleiten zu wollen und er konnte ohnehin nicht wieder so rasch dort auftauchen, nachdem er sich vorhin so großkotzig von Doktor Richards verabschiedet hatte. Und sie anzulügen, indem er behauptete, er wüsste es auch nicht, kam genauso wenig in Frage.

    „Es ist gleich da vorn. Rechte Seite“, meinte er schulterzuckend und deutete in die Richtung, aus der er gekommen war. Während sie an Andrew vorbei blickte, konnte dieser deutlich sehen, wie ihre Augen größer wurden.

    „Besuchst... du da jemanden?“, fragte er zögerlich und plötzlich nicht mehr so zuversichtlich in diese Konversation. Auch das letzte Bisschen davon verflog, als sie plötzlich sehr abwesend wirkte und erst nach einigen Sekunden der Stille bejahte. Langsam nickte sie kaum merklich mit dem Kopf und schien einen Punkt in der Ferne anzustarren.

    „Jemand sehr wichtigen für mich“, meinte sie verdächtig leise. Alles klar. Hier kam Andrew zu spät. So eine Reaktion konnte nur bedeuten, dass jemand bereits das Herz der Kleinen besaß. Er beneidete diesen unbekannten Glückspilz zutiefst und wünschte ihm die Krätze. Und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass dort nicht etwa ihr Freund sondern ein Familienmitglied auf sie wartete, wäre es absolut unangebracht, sie unter diesen Umständen weiter anzubaggern.

    „Okay, dann halt ich dich mal nicht weiter auf“, bemerkte Andrew leicht peinlich berührt und kratzte sich, am Hinterkopf. Das Mädchen schien darauf aus ihrem benebelten Zustand zu erwachen und lächelte ihn dankbar an.

    „Danke dir. Und tschuldige nochmal, dass ich in dich rein gedonnert bin.“

    „Na, schon vergessen.“

    Verspielt tänzelte sie auf einmal ein paar Schritte vor den jungen Trainer her, bis sie dann die Arme auf dem Rücken verschränkte und ihm tief in die Augen sah.

    „Ich heiße übrigens Melody. Wäre schön, wenn wir uns nochmal wiedersehen.“

    Damit wandte sie sich, ohne auf eine Antwort zu warten, um und verschwand wenig später zwischen der überschaubaren Menschenmasse, die sich zu dieser Zeit auf den Straßen tummelte. Andrew hatte ihr bis zum letzten Augenblick hinterher gesehen. Erst eine knappe Minute später setzte er seinen eigenen Weg wieder fort und fügte sich seinem tragischen Schicksal.

    „Verdammt.“


    Ryan keuchte schwer. Seine Beine wurden müde. Schweiß tropfte von seiner Stirn und seine Lungen wurden heiß. Doch er wurde nicht langsamer. Im Gegenteil, er spornte seinen Körper zu noch mehr Leistung an. Es war nicht so, dass er vor etwas davon lief. Nein, nicht mehr. Es war die Vorfreude, die ihn so schnell wie möglich in die Wildnis trieb. Konkret war die Küste sein Ziel. Natürlich nicht die überfüllten Badestrände, an denen sich inzwischen hunderte Sonnenanbeter einen fantastischen Urlaubstag machten. Er wollte der Zivilisation entrinnen und in die Gebiete vorstoßen, in denen man ihm angeblich so gute Fanggründe für Pokémon versprochen hatte. Dafür musste er sich durch einige Waldpfade kämpfen, die nur von Wanderern oder eben Trainer genutzt wurden. Ansonsten gab es hier weder Straßen noch Gebäude oder Tourismus. Die Natur war hier die einzige Attraktion und die Pokémon die Einheimischen.

    Voller Enthusiasmus und neu gewonnener Energie rannte Ryan immer weiter. Er hatte noch am Vortag in dieser Gegend trainiert und war auf einige interessante Waldbewohner gestoßen, die zu fangen an sich eine Überlegung wert gewesen wären. Jedoch hatte Moorabbel, das zu diesem Zeitpunkt noch Hydropi gewesen war, schlicht und einfach nicht mehr die Energie gehabt, sich in einen Kampf zu stürzen. So war zumindest seine Einschätzung gewesen, doch die Geschichte von der Entwicklung im Pokémoncenter schien das Gegenteil beweisen zu wollen. Heute jedoch würde die Sache anders aussehen, wenn ein guter Fang in Aussicht käme.

    Er sog genüsslich den harzigen Geruch der Laubbäume ein. Ihre Wurzeln gruben sich teilweise in den groben, unebenen Pfad und brachen die Erde auf, sodass Ryan ständig aufpassen musste, nicht über eine zu stolpern. Die Bäume breiteten ihre Äste bis über seinen Kopf aus und spendeten ihm auf seinem Weg ein wenig Schutz vor der Sonne. So hätte er es beinahe gar nicht bemerkt, wie ein Schatten sowie eine dunkle Silhouette an ihm vorbei zog. Doch es war ihm nicht entgangen, weshalb er abrupt stehen blieb und hektisch herumfuhr. Sein Blick wanderte nach oben, versuchte das Objekt am Himmel zu erkennen, das ihm offen gesagt einen kleinen Schreck eingejagt hatte. Doch warum eigentlich? Es ist ja nicht so, dass hier draußen mit dem plötzlichen Auftauchen eines Pokémon nicht zu rechnen gewesen wäre. Vermutlich war er schon an etlichen vorbeigerannt, ohne es bemerkt zu haben. Schließlich lebte hier – das hatte er von Schwester Joy erfahren – der Großteil der auf der Insel beheimateten, wilden Pokémon und das auch noch mit einer verblüffenden Artenvielfalt. Was immer also gerade über seinen Kopf hinweg geschossen war, Ryan würde sich wohl kaum Sorgen darüber machen müssen. Verwundert über sein eigenes Verhalten, das er mit Humor zu nehmen versuchte, schüttelte er seine so plötzlich aufgekeimte Unruhe ab und folgte dem Weg weiter. Er legte nun ein normales Tempo an den Tag, kam aber nicht weiter als vier Schritte. Länger hatte es nämlich nicht gedauert, bis er seinen Beobachter entdeckte. Der hockte auf einem Ast genau über ihm und sah ihn aus funkelnden Augen an. Augen, die ihm Unwohlsein bescherten. Hinzu kam die beunruhigende Tatsache, dass es sich um ein Kramshef handelte.

    „Kenne ich dich nicht?“

    Die Frage war rein rhetorisch. Ryan war sich sogar ziemlich sicher, dass es dasselbe war, wie vorhin in der Stadt und schärfte daher seine Sinne. Seine Hand wanderte langsam in seine Gürteltasche, in der er seine Pokébälle aufbewahrte, holte aber noch keinen hervor. Er gab sein Bestes, um Kramshefs Blick standzuhalten und zu signalisieren, dass er hier der Stärkere war. Dass es jemandes Begleiter war, daran bestand kaum noch ein Zweifel. Irgendjemand hatte dieses Pokémon auf ihn angesetzt. Doch warum zeigte es sich nun so offen, wenn es Ryans Misstrauen doch schon bei ihrem ersten Treffen bemerkt haben musste?

    „Willst du unbedingt, dass ich dir deine Federn rupfe?“

    Er meinte die Drohung nicht so ernst, wie er sie aussprach. Kramshef waren stolz und besitzergreifend. Auf Herausforderungen reagierten sie meist aggressiv, doch Ryan war der Ansicht, dass der Zug längst abgefahren war. So wie dieses Pokémon ihn anstarrte, war es höchstens durch Drohung oder eine handfeste Auseinandersetzung zu verscheuchen. Aber die wichtigste Frage lautete letztlich, wer denn die Fäden zog? Wer wollte ihn beobachten? Wem gehorchte Kramshef? Team Rocket? Wahrscheinlich, aber sicher sein konnte er sich auch nicht. War er vielleicht doch zu paranoid und er hatte es hier mit nicht mehr als einem großen Zufall sowie einem leicht sonderbaren Exemplar dieser seltenen Gattung zu tun?

    Ryan sah dem Raben tief in die Augen, der sich seinerseits noch kein Stück gerührt hatte. Er überlegte angestrengt, schätzte die Lage ein und wog die Wahrscheinlichkeit ab. Dann schüttelte er langsam den Kopf.

    „Nein, du bist kein wildes Pokémon.“

    Hierbei war er sogar ziemlich sicher. Kramshef gab es nicht gerade zuhauf in den Wäldern – schon gar nicht bei Tageslicht. Voraussetzung für ihre Weiterentwicklung von Kramurx war außerdem der Kontakt mit einem Finsterstein, der recht selten und folglich nicht einfach so auf jedem Acker zu finden war. Ohne das Zutun eines Menschen war es fast unmöglich für diese Art, die zweite Entwicklungsstufe zu erreichen.

    Nun zeigte es wenigstens eine kleine Reaktion. Es senkte das stolze Haupt ein wenig zu Ryan herab und krächzte finster, während es seine Flügel weit ausbreitete, um größer zu erscheinen. Wie er die Geste zu interpretieren hatte, wusste der junge Trainer nicht genau. Er kannte sich mit der grundlegenden Charakteristik dieser Gattung zu wenig aus, doch mit Sicherheit war ein Kampf, sowie überhaupt diese ganze Konfrontation bereits unumgänglich gewesen, als sie beide den ersten Augenkontakt vollzogen hatten. Mit der freien Hand zupfte Ryan ein paar Strähnen vor seiner Stirn zurecht. Mit der anderen schloss er den Griff um seinen Pokéball enger.

    „Ich an deiner Stelle würde das lassen.“

    Glaubte Ryan zuvor, als er den Schatten bemerkt hatte, schon einen Schreck erfahren zu haben, traf ihn diese plötzliche Warnung doch so unerwartet, dass die rot-weiße Kapsel beinahe seiner Hand entglitten wäre, als er herumfuhr und dem trockenen Klang der düsteren Stimme folgte. Mitten auf dem Weg stand ein Mädchen. Die Arme lässig verschränkt und die Körperhaltung gleichermaßen überlegen wie selbstsicher. Rubinrote Augen zielten auf ihn, wie die eines nächtlichen Räubers. Er erkannte sie wieder. Schon ihre Worte hatten ihm den noch allzu bekannten Schauer wieder auf seinen Rücken getrieben. Ryan verlor sämtliches Vertrauen in seine eigenen Worte und begann nun noch stärker als zuvor zu schwitzen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, sodass er beinahe meinen konnte, dessen Geschmack auf der Zunge zu spüren. Gleichzeitig redete er sich einen schlechten Witz oder einen miesen Traum ein, in dem er sich gerade befinden musste. Anders konnte er es sich zunächst nicht erklären, dass ausgerechnet sie vor ihm stand. Das seltsame Mädchen, das ihn auf der Fähre nach Wurzelheim zunächst vor einem Hinterhalt gerettet und schließlich so furchterregend angesehen hatte. Doch sie war völlig anders gekleidet. Ihre befremdliche Erscheinung war weitestgehend der einer völlig normalen, jungen Frau gewichen. Lediglich ihr dunkelblauer Schal war geblieben. Mehr nicht. Denn nun trug sie eine perlweiße Bluse, die sich ein wenig eng an ihren Oberkörper spannte und die beiden obersten Knöpfe offen ließ. Um ihre breiten Hüften, von welchen eine Schneise nackter Haut frei lag, da auch der unterste Knopf unverschlossen blieb, lagen recht lose zwei schmale Gürtel, die vermutlich die beiden Dolche, die er bei ihrem letzten Treffen erspäht hatte, hielten. Ein kurzer Rock in Ozeanblau erschien darunter und gab viel ihrer Oberschenkel Preis. Dunkelgraue Strümpfe streckten sich bis zu den Knien und verschwanden in beigefarbenen Stiefeln, die ganz ohne Absätze waren. Eigentlich kaum zu glauben, dass er sie sofort erkannt hatte, denn sie wirkte eigentlich wie ein völlig anderer Mensch. Doch die seltene, nachtblaue Haarfarbe kombiniert mit diesem einnehmenden Blick waren unverwechselbar.

    „Du?“

    Selbst nach sekundenlangem Starren, in dem er sich überzeugen konnte, sich dieses Mädchen nicht einzubilden, fiel es ihm noch immer schwer, seinen Augen zu trauen. Das war doch absurd! Was hatte sie hier verloren? War sie ihm und Andrew etwa den ganzen Weg hierher gefolgt? Gehörte sie vielleicht auch zum Team Rocket oder verfolgte sie ganz andere Pläne?

    „Du darfst dich glücklich schätzen“, meinte sie, klang dabei aber unglaublich herablassend.

    „Die meisten Menschen wären an deiner Stelle längst tot.“

    Ryan wollte eigentlich auf keinen Fall zurückweichen und seine Angst offenbaren. Doch er hatte nie eine Chance besessen, diesen Kampf mit sich selbst zu gewinnen. Kramshefs Blick war nichts im Vergleich zu ihrem. Er fühlte sich, als schaue sie gerade durch seine fleischliche Hülle hindurch in die tiefsten Geheimnisse seines Bewusstseins.

    „Gehört dieses Kramshef dir?“, verlangte er mit überraschend fester Stimme zu wissen. Das besagte Pokémon erhob sich urplötzlich von seiner Position und flatterte, scheinbar an der Situation nicht länger interessiert, davon. Nur für eine Sekunde erlaubte Ryan sich, dem Vogel hinterherzuschauen, wie er über den Baumkronen verschwand. Damit hatte der jetzt nun wirklich nicht gerechnet und obwohl er das Verschwinden Kramshefs weder positiv noch negativ zu beurteilen wusste, steigerte sich die Geschwindigkeit seines Herzschlages. Wenigstens ein kleiner Funke an Selbstvertrauen war ihm dennoch geblieben. Der allerdings war schon im nächsten Moment verflogen, wie eine Feder im Taifun.

    „Es gehört niemandem.“

    Nicht das Mädchen war es gewesen, die seine Frage beantwortet hatte. Erneut war Ryan gezwungen, sich umzudrehen, um zu erfahren, wer da mit ihm sprach. Durch die wiederholte Erfahrung des Schrecks konnte er es diesmal nicht vermeiden, einen hektischen Schritt weit von der Quelle zu entfernen, wobei er peinlich über seine eigenen Füße stolperte und ins Straucheln geriet. Wenigstens konnte er sich auf den Beinen halten, doch war unbestreitbar seine trotzige und unerschrockene Fassade längst eingestürzt. Zertrümmert von zwei Frauen, wie er feststellen musste. Denn auch die zweite Stimme war weiblich. Ihre Besitzerin trat gerate aus dem Unterholz des Waldes.

    „Doch wenn Ihr fragt, wen es begleitet...“

    Noch lag der Schatten der Baumkronen über ihr, weshalb nicht viel von ihr zu erkennen war. Doch ihr blondes Haar schien dem ohne Mühe zu trotzen. Sofort hob sich der helle Fluss auf ihrem Haupt vom Dickicht ab und verlieh ihrer Gestalt, die noch kaum mehr als eine Silhouette war, eine anmutende Schönheit.

    Ryan war es ein wenig, als würde er geblendet, als sie schließlich ins Tageslicht trat. Ihr Haar schien zu glänzen, wie reines Gold. Eine Böe zog wie heraufbeschworen durch die schmale Passage, die der Weg in den Wald schnitt und ließ es mit seinem dezenten Geheul im Wind peitschen. Es war glatt wie Seide, doch kräuselten sich die Spitzen leicht, gaben nur kurzweilig dem Winde nach, bevor sie wieder Ruhe fanden und sich fast bis zu den Kniekehlen rankten. Ähnlich erging es dem schwarzen Mantel, den sie trug. An einem hohen Kragen prangten zwei blaue, glänzende Ovale, wie Saphire. Vom Hals ab bis zur Taille war der Mantel zugeknöpft, flatterte ihr jedoch ab dort weit um die Hüfte und ihre athletischen Beine, die weinrote Innenseite offenbarend. Ihr Gang in der engen Lederhose unter mehreren, schmalen Gürteln war erhaben, edel, wie von einem Menschen höheren Lebensstandards. Sie folgte mit den Schritten ihrer ebenfalls absatzlosen, schwarzen Stiefel scheinbar einer imaginären, geraden Linie. Ihre rechte Hand steckte in einem braunen Handschuh, der bis zum Ellenbogen reichte. Einige Laubblätter wirbelten um ihre Ehrfurcht gebietende Gestalt und umspielten ihre Anmut. Ihnen gleich tat es ein kleines, schwarzes Pokémon, das Ryan unbekannt war. Spontan würde er es als Geist klassifizieren, da es im Prinzip nicht mehr war als ein schwarzer Gaskörper – ähnlich wie Nebulak – mit einer weißen Totenkopfmaske. Weder von dem wilden Flug ihres Schopfes noch ihrer Kleidung schien die Frau auch nur die geringste Notiz zu nehmen. Unberührt von sämtlichem Einfluss schritt sie zielgenau auf Ryan zu und blickte ihm mit einem hohen Lächeln, von dem dieser nicht wusste, wie er es einzuordnen hatte, direkt in die Augen.

    Leicht breitbeinig nahm sie eine steife, doch irgendwie einschüchternde Position vor ihm ein. Die Arme ausgestreckt und die Hände zu Fäusten geformt, sah sie auf ihn herunter – sie überragte Ryan um ein paar Zentimeter. Das schwebende Pokémon zeigte weder Scheu noch Hemmungen. Es flog sehr nahe vor Ryans Gesicht und blickte ihm mit einem leuchtend, roten Auge direkt in die seinen. Er zuckte zurück. Für ein ihm unbekanntes Pokémon, dessen Trainer ebenfalls unbekannte Intentionen hegte, war ihm es einfach zu nah. Doch es bedrängte ihn nur für einen Augenblick, begab sich rasch wieder in die Gesellschaft der blonden Frau, die fürsorglich mit dem Handrücken seinen Geisterzipfel streifte. Einige Sekunden lang unterzog sie ihn einer stummen Betrachtung. Sie ließ sich Zeit, wobei ihre Augen meiste auf den seinen ruhten. Nur ganz zum Schluss wanderte ihr Blick kurz an ihm herab und wieder rauf. Ihren angefangenen Satz ließ sie unvollendet, schien wohl eher eine Reaktion des Jungen zu erwarten.

    Doch Ryan war wie versteinert. In was für eine Situation war er hier nur geraten? Beschattet von einem Kramshef, dessen bedrohliche Aura von zwei jungen Frauen, die ihn ganz plötzlich mitten im Wald überraschten, noch stark in den Schatten gestellt wurde. Er befand sich in einer leicht gebeugten, ängstlichen Haltung, als würde er jeden Moment einen Angriff befürchten. So ganz schloss er dies auch nicht aus, woran die Aussage des Mädchens mit den blauen Haaren einen wesentlichen Anteil hatte. Deshalb hielt er sich jede Sekunde für eine Flucht bereit. Doch ganz so einfach konnte er sich bestimmt nicht aus dem Staub machen. Die zwei hatten sich, ohne dass er auch nur irgendetwas bemerkt hatte und scheinbar auch noch ohne Mühe, an seine Fersen geheftet und ihn mit ihrem Auftreten obendrein in eine absolut unerwartete und angreifbare Lage versetzt. Das konnte nicht jeder dahergelaufene Passant, wobei er bereits aus erster Hand erfahren hatte, dass mindestens eine von ihnen nicht normal war. Diese Frau, die er gerade zum ersten mal sah, schätzte er allerdings ähnlich ein.

    Die Nerven spielten verrückt und das in seinem ganzen Körper. Sie spannten sich bis zur Grenze ihrer Belastbarkeit, was Ryan nun dazu brachte, doch einen Pokéball hervor zu holen, während er versuchte, eine warnende Mimik aufzusetzen. Seine schnelle Atmung und der gejagte Blick verhinderten allerdings jeglichen Erfolg. Später würde ihm vermutlich klar werden, dass er nie eine Chance auf selbigen gehabt hatte.

    „Legt euch nicht mit mir an.“

    Die Frau legte den Kopf leicht schief und prüfte den Wahrheitsgehalt seiner Drohung scheinbar mit ihren Augen. Nach wenigen Sekunden schien sie jedoch durchschaut zu haben, dass Ryan sich seiner unterlegenen Lage bewusst war und trat, das Lächeln nun ein bisschen weiter, langsam auf ihn zu.

    „Ich hatte gehofft, dass sich unser Treffen nicht ganz so angespannt gestalten würde.“

    Ryan gefiel ihre Annäherung überhaupt nicht. Er machte seinerseits einen Schritt nach hinten, versuchte das Spielchen aus Vor- und zurückweichen jedoch vorläufig zu unterbinden.

    „Dann hättet ihr einiges anders anstellen müssen. Also wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?“

    Es wäre bloß natürlich für Menschen mit unguten Absichten, diesen Fragen auszuweichen, da sie für gewöhnlich nicht konkret beantwortet werden konnten, ohne ihre zu wahrende Identität preiszugeben. Und genauso antwortete auch sie. Die Arme dabei leicht ausgebreitet und beruhigend die leeren Handflächen offenbart.

    „Ihr könnt euch beruhigen. Bitte. Wir haben nicht vor, Gewalt anzuwenden.“

    Ryan kam sich vor, wie in einem schlechten Film. Diese Worte rochen doch gegen den Wind nach Lüge und wären für einen Krimistreifen geradezu typisch. Doch er ertappte sich selbst dabei, wie er ihnen aus irgendeinem Grund Glauben schenkte. War es die Art und Weise, wie sie es sagte? Sie klang so ehrlich und offen. Doch die Kunst des Lügens war einfach zu erlernen. Ryan beschloss, auf der Hut zu bleiben. Nebenbei bemerkte er, dass sie ihn seltsamerweise mit „Ihr“ anredete. So hatten die Menschen einst zu mittelalterlicher Zeit gesprochen, was heute jedoch mehr als unüblich war.

    „Was soll das hier? Gehört ihr zu Team Rocket?“

    Ein sanftes Lachen war zunächst alles, was von der ominösen Fremden ausging. Leicht wandte sie dabei den Blick ab, was dann in ein Kopfschütteln mündete. Sie bemerkte, wie die Augen des jungen Trainers nervös zu ihrer Gefährtin huschten und folgte diesen knapp.

    „Für die unpassende Äußerung meiner Partnerin muss ich mich entschuldigen. Zivilisiertes Verhalten ist nicht ihre Stärke. Doch sie wird Euch nichts tun und ich genauso wenig.“

    Nun wieder die Blondine ins Auge fassend, machte er jedoch keine Anstalten, sich zu beruhigen oder seine Vorsicht beiseite zu schieben.

    „Deine Stärke scheint es auch nicht gerade zu sein. Zivilisiert wäre es, sich einfach vorzustellen, anstatt jemanden so zu überfallen.“

    „Auch dafür bitte ich um Verzeihung. Aber es ging leider nicht anders. Wir hatten Mühe, die Agentin von Team Rocket abzuschütteln, um uns unbemerkt mit Euch zu treffen. Doch uns bleibt vermutlich nicht viel Zeit, bis sie uns findet. Daher hört mir einfach zu.“

    Ryan versuchte fieberhaft, die Lage einzuschätzen und dachte über ihre Bitte nach, während er seinen Blick nicht eine Sekunde von ihren Augen nahm. Sie waren blau, wie der Himmel und frei von jeglichem, verräterischen Funkeln oder Blitzen. Jedes einzelne Wort war bedacht, aber ruhig und überzeugend über ihren Lippen gekommen. Doch irgendwie war ihm die Situation zu obskur, die beiden zu verdächtig und ihre Vorgehensweise einfach zu beunruhigend. Alles in ihm riet, den beiden zu misstrauen. Doch warum lockerte sich dann der Griff um seinen Pokéball? Er behielt ihn zwar noch in der Hand und verkleinerte ihn auch nicht, doch deutlich reduzierte sich seine Körperspannung. Aber wieso? Was veranlasste ihn dazu, ihren Worten – wenn auch nur in geringen Maße – Vertrauen zu schenken? Während er noch über sein eigenes Verhalten nachdachte, nickte er ihr, sich einverstanden erklärend, zu. Ein schätzendes und offenkundiges Lächeln, dankte es ihm.

    „Ihr könnt mich Mila nennen. Ihr selbst braucht Euch nicht vorzustellen, Ryan Carparso.“

    „Woher kennt ihr mich?“

    Die Tatsache, dass sie seinen Namen kannte, schürte weiter das Misstrauen, das nach wie vor ihn Ryan vorhanden war und ihn zur Vorsicht mahnte. Doch er änderte seine Körperhaltung nicht und hob auch nicht die Stimme. Er nahm sich vor, nun ganz nüchtern zu bleiben und diese Mila ausreden zu lassen, jedoch alles, was nur ansatzweise verdächtig wirkte, zu hinterfragen.

    „Ich muss gestehen, dass wir Euch und Euren Begleiter eine Zeit lang beobachtet haben.“

    Sie klang wahrhaft schuldbewusst und zwischen den Zeilen war er sich sicher, eine Entschuldigung herauszuhören.

    „Ihr seid meiner Partnerin auf unserem Weg auf diesen Kontinent in beunruhigender Form aufgefallen. Zwar bin ich mir inzwischen sicher, dass unser anfängliches Misstrauen Euch gegenüber ungerechtfertigt gewesen war, doch...“

    „Wieso?“

    Mila schien es tatsächlich für einige Sekunden die Sprache zu verschlagen. Vielleicht genoss sie aber auch nur ihr überlegenes Lächeln und ließ den Wind eine angespannte Symphonie zu dem Stück, welches sie hier aufführte, spielen. Die Stille war erdrückend für Ryan, doch selbst als er seine Frage erneut stellte, behielt er Ruhe und Stimmlage bei.

    „Wieso habt ihr mich verdächtigt? Ich habe dieses Schiff gerettet“, rechtfertigte er sich. Milas Lächeln wurde für einen kurzen Moment wieder ein wenig weiter.

    „In der Tat.“

    Der junge Trainer wusste nicht, warum er so sehr an jedem einzelnen ihrer Worte hing. Er wollte ihr unbedingt zuhören. Doch konnte dieser Drang wirklich allein auf dem Verlangen nach Antworten gründen? Nein, dahinter steckte mehr. Ihm war, als könne er ihr wirklich vertrauen. Doch warum glaubte er das? Sie hatte ihm nicht einen Grund dazu gegeben.

    „Doch es war nicht Euer Kampf, der uns misstrauisch machte.“

    Wieder kam sie näher. Ryan verbot es sich jedoch, erneut zurückzuweichen. Sie war nur noch zwei Schritte von ihm entfernt.

    „Es waren Eure Augen.“

    Nun schrillten sämtliche Alarmglocken in ihm auf höchster Lautstärke. Alles in ihm beschrie diese beiden als Feinde. Der Griff um die Kapsel in seiner Hand verstärkte sich wieder und seine ach so verdächtigen Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Es gab abgesehen von ihm selbst nur einen Menschen, der um die Wahrheit hinter ihnen wusste.

    „Ihr habt sie durch den Bund mit einem Legendären, nicht wahr?“

    Ryan biss sich auf die Unterlippe. Es gab keine Erklärung dafür, dass sie diese Information hatte, ohne den beiden Frauen Kenntnisse zuzumuten, die den meisten Menschen gar nicht zugänglich waren. Legendäre Pokémon stellten die mit Abstand größten Rätsel für die Menschheit dar und sie las die Bindung, die er zu einem dieser Wesen hatte, wie in einem offenen Buch? Es gab viele Möglichkeiten, was dubiose Menschen wie sie mit solchem Wissen anfangen mochten. Und keine dieser Absichten war gut.

    „Woher wisst ihr davon?“, knurrte er verärgert. Er war überzeugt, dass es sinnlos war, ihr eine Lüge auftischen zu wollen und diesen Vorwurf abzustreiten. Es war nichts als die Wahrheit und Ryan könnte sich niemals für das, was er mit diesem Geschöpf teilte, schuldig fühlen oder gar schämen.

    „Kein Grund zur Beunruhigung. Wir werden Euch weder ausfragen, noch verurteilen oder darüber interpretieren. Diese Sache geht uns nicht das Geringste an. Der Grund, warum es für uns so simpel zu erkennen ist, liegt in unserer eigenen Bindung zu einem Legendären und dem Wissen über die alten Götter. Doch bitte lasst mich weiter erklären, warum ich Euch heute treffen wollte.“

    Ryan fühlte genau dasselbe, wie schon zuvor. Alles sagte ihm, dass diese Frau nichts Gutes bedeuten oder im Schilde führen konnte. Die Behauptung, sie habe ebenfalls tiefere Erfahrungen mit einem legendären Pokémon, stellte keine Ausnahme dar. Er wollte einmal mehr glauben, dass sie ihm ins Gesicht log. Doch er konnte sich selbst einfach nicht davon überzeugen. Etwas ließ ihn zuhören. Die Anspannung nahm erneut ein klein wenig ab und er nickte ihr wieder zu. Sein Blick war jedoch aufmerksamer und schärfer denn je. Und obwohl er von dieser Mila keinerlei Gefahr spürte, fühlte er sich unglaublich verletzbar, als er nervös zu ihrer Partnerin lugte.

    „Wir hielten es für das Beste, Euch eine Weile im Auge zu behalten. Doch wie Ihr Euch erinnern könnt, dauerte es nicht lange, bis wir uns von Eurer Gutherzigkeit sowie Eurem Mut überzeugen konnten. Wir sahen euren Kampf im Wald. Und wissen auch, was Ihr im Versteck von Team Rocket getan habt.“

    Plötzlich fühlte sich Ryan, als drückte ihm irgendetwas die Brust zusammen. Ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Ihm war sofort klar, dass es Schuldgefühle waren, die sich seiner bemächtigten. Doch sie konnten unmöglich...

    „Sie hatte Euch und Euren Gefährten die ganze Zeit über im Auge“, meinte sie mit einem Kopfnicken über die Schulter, ohne dabei den Blick von Ryan zu lassen. Das Mädchen, dem die Geste galt, sprach und rührte sich weiterhin nicht. Die Arme noch immer verschränkt, stand sie leicht abgewandt, als sei sie desinteressiert an ihrer Konversation, hinter Mila. Die Rubine in ihren Augenhöhlen lagen jedoch eisern auf ihm.

    „Wir wissen, was Ihr an Euch genommen habt.“

    Nun schreckte Ryan doch wieder einen Schritt zurück. Völlig unbewusst wanderte eine Hand an die Tasche, in welcher der grüne Orb verstaut war. Schon im nächsten Moment hätte er sich dafür ohrfeigen können. Damit hatte er die Anschuldigung, diesen Gegenstand gestohlen zu haben, eingestanden. War er sich gerade eben auch noch so sicher gewesen, dass es sinnlos wäre, Mila anzulügen, hätte er dies doch vehement abgestritten. Niemals hätte er zugegeben, ihn mitgenommen zu haben. Niemals hätte er sich zu dieser Tat bekannt. Doch mit dieser unüberlegten Reaktion hatte sich dies erübrigt.

    „Dieser Gegenstand“, begann Mila nun großspurig und lag tiefen Ernst in ihre beseelte Stimme.

    „Er ist für uns von unersetzlichem Wert. Er ist einzigartig auf der Welt und wird über Erfolg und Misserfolg unserer Mission entscheiden. Doch wir werden ihn Euch nicht abnehmen. Da wir Team Rockets Pläne nicht kennen, ist es besser, wenn Ihr ihn vorerst behaltet. Wir müssen zunächst Vorkehrungen treffen und mit einigen Leuten sprechen.“

    Sie schien eine Antwort abzuwarten, doch Ryan wusste nichts zu erwidern. Er dachte darüber nach, was es für ihn bedeuten mochte, dass die beiden sich ebenfalls gegen Team Rocket stellten. Einerseits musste dies doch bedeuten, dass sie Verbündete waren und irgendwo in seinem Inneren stimmte ihn das erleichtert. Gleichermaßen jagte ihm die Tatsache, dass Milas Partnerin ihn selbst im Versteck Team Rockets noch hatte beobachten können, sowie das nicht unbedingt vertrauenerweckende Handeln der beiden einen erneuten Schauer über den Rücken. Dann hob Mila plötzlich den Zeigefinger.

    „Eines sollt Ihr unbedingt verstehen. Wir sind nicht Eure Feinde. Doch für Euren Fehler werdet Ihr einen dornigen Weg auf Euch nehmen müssen.“

    „Was für einen Weg, zum Teufel? Woher weiß ich überhaupt, ob ich euch vertrauen kann?“

    „Ihr könnt es nicht wissen und ehrlich gesagt interessiert es mich nicht, ob Ihr uns vertraut.“

    Nun beugte sich sich langsam die wenigen Zentimeter zu Ryan herab. Dieser musste all seinen Mut zusammennehmen, um nicht erneut zurückzuweichen und ließ es schließlich zu, dass Mila ihm zärtlich eine Hand auf die Wange legte. Ihm war danach, den Blick abzuwenden, ihr nicht in ihre himmelblauen Augen schauen zu müssen. Doch er konnte nicht. Er würde hinterher nicht mehr wissen wieso, doch er konnte es einfach nicht.

    „Aber ich weiß, dass Ihr Euch über diesen Fehler, den ihr so unbewusst und doch willentlich begangen habt, im Klaren seid. Und ich schätze Euch als aufrichtig und gutmütig genug ein, um den Tod unzähliger Menschen vermeiden zu wollen.“

    Dieser Satz ließ Ryan nun endgültig versteinern. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Der Tod unzähliger Menschen? Wegen ihm? Was hatte das zu bedeuten?

    Der Gedanke, er könnte für etwas so Schreckliches verantwortlich sein, löste ein Gefühl in ihm aus, das er nicht benennen konnte. Wenn er es versuchen müsste, würde er es als eine Mischung aus Schuld, Selbsthass, Reue und dem Wunsch, seine Tat rückgängig machen zu können, beschreiben. Doch plagten ihn seine Gedanken nicht schon die ganze zeit über genau damit? Dabei war ihm nicht einmal bewusst gewesen, welches Unheil er mit seiner Tat heraufbeschworen haben sollte. Allein die Vorstellung, dass diese so absurde und wahnsinnige Vorhersage Milas wahr werden könnte, entfachte ihn ihm den Drang, seine Taten eigenhändig zu vergelten. Doch das war unmöglich. Es war in jeder Hinsicht ausgeschlossen, dass dieser wundervolle Orb so etwas anrichten konnte, allein dadurch, dass er ihn bei sich trug. Es war Schwachsinn. Es war absoluter Schwachsinn.

    Dies redete sich Ryan immer und immer wieder ein. Er wusste nicht, wie lange er mit diesen Gedanken kämpfte. Es fühlte sich an, wie endlos lange Minuten, vielleicht waren es aber auch nur Sekunden. Doch egal wie sehr er dagegen ankämpfte, welchen Pfad er auf dem Weg seiner Gedanken folgte oder wie oft er einen neuen wählte, so geriet er doch immer wieder an den selben Punkt. Und das war jener, an dem sein Instinkt ihm sagte, dass er Milas Worten Glauben schenkten musste, um seinen geistigen Frieden wiederzufinden. Doch wieso? Wieso nur? Wenn ein beliebiger Mensch ihm Vergleichbares hätte erzählen wollen – er hätte niemals auch nur ein Wort geglaubt. Selbst seinem besten Freund Andrew hätte er so etwas wohl nie im Leben abgenommen. Doch sogar eine so lächerliche Geschichte klang in Ryans Ohren noch immer viel wahrscheinlicher, als der Gedanke, dass Mila lügen würde. Die Aufrichtigkeit in ihren Worten war unbeschreiblich. Er versuchte wirklich mit all seiner Kraft, in ihnen eine Lüge zu erkennen und scheiterte doch an der Offenheit und Ehrlichkeit, die diese Frau ausstrahlte. Was allerdings nicht bedeutete, dass sie und besonders ihrer Partnerin keine Bedrohung sein konnten.

    Mila entfernte ihre Hand von seiner Wange, legte sie stattdessen auf ihre Hüfte und richtete sich wieder zu voller Größe auf.

    „Wenn ich Euch also richtig einschätze, dann werden wir uns in der Stadt Graphitport wiedersehen. Macht keine Umwege. Begebt Euch auf dem schnellsten Weg dorthin.“

    Ryan hielt den Blick leicht gesenkt. Einerseits kämpfte er noch mit den Informationen, die gerade seinen Verstand malträtierten. Andererseits wollte er vermeiden, noch einmal in ihre schimmernde Iris auf sich ruhen zu sehen.

    „Was ist in Graphitport?“

    Schon wieder dieser knappe Ansatz von einem Lächeln. Als fände sie Gefallen an jeder von Ryans Fragen. Zunächst wandte sie sich jedoch um und brachte gemächlich die kurze Distanz zu dem Mädchen mit den blauen Haaren hinter sich. Das Pokémon, welches nie von ihrer Seite wich, behielt sein leuchtendes Auge jedoch auf dem jungen Trainer.

    „Wir werden dort auf Euch warten. Macht Euch keine Gedanken, wann und wo genau Ihr uns trefft. Wir werden Euch zu gegebener Zeit kontaktieren. Die Hilfe einiger Leute wird vonnöten sein, um Euch zu schützen.“

    Schützen? Ihn? Ryan verstand zwar nur die wenigsten von Milas Worten, doch wozu brauchte er denn nun Schutz? Obendrein war die Aussage, sie würden ihn immer und überall in der riesigen Hauptstadt finden, alles andere als beruhigend. Er würde sich wohl fortan ohnehin schon ständig beobachtet fühlen. Unter diesen Umständen würde er wohl noch wirklich zum Paranoiden.

    „Mit Team Rocket werde ich fertig“, beteuerte er und schaffte es, nun da sie sich ein wenig entfernt hatte, einen entschlossenen Schritt nach vorne zu gehen. Zum ersten Mal hob Mila nun jedoch die Stimme ein wenig und versuchte ihre folgende Warnung so scharf wie möglich in den Verstand des Jungen einzuprägen.

    „Ich rede nicht von diesen idealistischen, machthungrigen Narren. Meine Sorgen beziehen sich auf den, hinter dem sie her sind.“

    Nun legte sie den Kopf leicht in den Nacken und blickte Ryan aus dem Augenwinkel an. Ihr Mund hatte sich zu einem amüsierten und doch irgendwie herabwürdigenden Lächeln verzogen. Etwas, das er zuvor nicht bei ihr hatte erkennen können. Als würde sie mit einem Kind reden, das übermütig beschlossen hatte, in einem Krieg zu ziehen.

    „Ihr hattet nicht vor, Selbstmord zu begehen?“

    Ryan schluckte nur. Er wusste nicht, mit welchen Mächten diese zwei wohl täglich zu tun hatten und in welche er mit dem Stehlen des Orbs hineingeraten war. Doch ihm wurde langsam bewusst, dass er sich in gewaltiger Gefahr befand.

    „Wenn ihr verstanden habt, was ich Euch gesagt habe, habe ich keinen Grund, Euch weiter aufzuhalten. Ihr könnt gehen. Doch behaltet meine Worte in Erinnerung. Dinge sind ins Rollen geraten, die nicht nur Euch oder uns beide, sondern alle Menschen sowie einen bedeutenden Teil aller Pokémon betreffen. Denkt immer daran, wenn Ihr in eine Situation geraten solltet, in der Ihr zögert.“

    Mila hatte den Kopf wieder gänzlich abgewandt und starrte den Weg, den Ryan von der Stadt aus hierher gekommen war, hinab. Gleichzeitig verloren sich ihre Augen irgendwo in der Ferne.

    „Eine Frage habe ich noch.“

    Ryan öffnete langsam den Reißverschluss einer Jackentasche. Mila reagierte nicht, horchte aber aufmerksam. Schließlich erfüllte ein grüner Lichtschein den Pfad, ausgehend von dem herrlichen Kristall in seiner Hand.

    „Was ist das? Und was bedeutet es?“

    Tatsächlich wusste Ryan so gut wie nichts über den Gegenstand, dem er selbst so viel Wert beimaß. Noch immer fragte er sich von Zeit zu Zeit, was für ein seltsames Gefühl ihn beschlichen hatte, als er im Versteck Team Rockets darauf gestoßen war. Doch seine Frage blieb unbeantwortet. Mila hielt ihm den Rücken gekehrt und ihrer wortkargen Partnerin traute er keine brauchbare Antwort zu. Geschweige denn, dass er den Mut aufgebracht hätte, die Frage an sie zu richten. Ungebrochen war der eiskalte Blick, der auf ihm lag.

    „Eure Nacht auf See war sicher hart. Seht sie als kleinen Vorgeschmack auf das, was Euch bevorsteht.“

    „Was hat dieser Vorfall damit zu tun?“

    Es nagte stark an der jugendlichen Selbstbeherrschung, dass diese Frau immerzu in Rätseln sprach und einer klaren Antwort stets auswich. Wenn tatsächlich so viel auf dem Spiel stehen sollte, wie sie behauptete, gab es doch keinen Grund für diese verschleierte Ausdrucksweise. Sie würde dem eigentlichen Sinn ihres Vorhabens nur im Weg stehen. Ganz abgesehen davon, dass er diese Erfahrung so schnell wie möglich vergessen wollte. Genau das schien Mila allerdings zu bemerken.

    „Ihr nahmt sicher an, die Gefahr sei überstanden. Ihr dachtet, es sei vorbei. Glaubt mir, nichts ist vorbei. Alles steht gerade erst am Anfang.“

    Ihre Stimme schien sich ihrem Blick anzuschließen und sich irgendwo in den Wäldern, die sie umgaben sowie den dunklen Ebenen ihres eigenen Verstandes zu verlieren. Fast wirkte sie abwesend, doch Ryan traute ihr nicht zu, sich von einem flüchtigen Gedanken entführen zu lassen.

    „Wir warten in Graphitport auf Euch“, antwortete Mila schließlich. Monoton und von sämtlichen Einflüssen unberührt fielen die Worte und erstickten jeglichen, erneuten Versuch mehr von ihr zu erfahren im Keim.

    „Geht nun.“


    Ryan hatte sich noch nicht ganz aus dem Sichtfeld der Frauen entfernt – keine von beiden hatte sich auch nur einen Zentimeter bewegt. Doch ganz plötzlich, ohne jeglichen Anlass, griff die Hand des schweigsamen Mädchens, das ihm noch immer hinterher blickte, in ihr Kreuz, den Griff einer der zwei Dolche, die dort befestigt waren. Neugierig huschte das kleine, schwarze Geistpokémon um sie herum.

    „Nein“, verbot Mila nur, ohne ihren Blick von dem fernen Punkt entlang des Weges, den sie seit Ende des Gesprächs mit Ryan angestarrt hatte, zu nehmen.

    „Warum nicht? Wir könnten uns viel Ärger ersparen, wenn wir ihn auf der Stelle töten.“

    Milas Stimmlage hatte sich auf einmal komplett verändert. Ihr Befehl klang äußerst streng und es war eine ernste Warnung darin zu erkennen. Ohne Zweifel duldete – ja, duldete – sie dieses Vorhaben nicht.

    „Du wirst weder ihn, noch den anderen anrühren. In dem Moment, in dem deine Klinge einen dieser jungen Männer berührt, sehe ich dich als Verräterin.“

    Die rubinfarbenen Augen wurden zu Schlitzen. Sie hatte schon halb zum Sprint angesetzt, um Ryan in den Rücken zu stechen, doch um diesen Preis würde sie sich Milas Befehl nicht widersetzen. Sie hatte sich immer an ihre Anweisungen gehalten, obwohl sie selbst prophezeite, dass der Moment kommen würde, in dem entweder ihr Gehorsam erlosch oder der Tod sie zu sich holte. Würde sie dieser Frau doch bis in jenen die Treue halten, so war sie von Zeit zu Zeit mit ihrer Art, Dinge zu regeln, nicht einverstanden. Doch sollte nicht der Einbruch der Hölle auf Erden selbst über sie alle kommen, würde Milas Wort Gesetzt für sie sein. Ruhig und beherrscht steckte sie die Waffe wieder weg und wandte sich stattdessen zum Gehen. Mila blickte dem Jungen noch einmal kurz nach und folgte schließlich, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

  • Ach vergiss Schlaf, ich hab nach der Uni geschlafen und muss erst um 11 aufstehen. @Shimoto wartet auf meinen Kommi. Und andere xD



    Das Kapitel war großartig, ich weiß jetzt, wieso du es kaum erwarten konntest da hinzukommen. ^^

  • Moin, moin und hallo,


    diesmal lasse ich mir nicht so viel Zeit mit dem Re-Kommi für dich :)
    Danke, dass du so fix warst.


    Und danke auch für das Lob. Ich denke es stimmt schon, dass man erkennt, sobald der Autor Spaß am Schreiben hat und hier hatte ich es definitiv in überdurchschnittlichem Maße. Ich hoffe, ich kann das halten.


    Wiederschauen, reingehauen!

  • Hallo Shimoto,


    ich hab aus Interesse mal in die Geschichte reingelesen und dachte mir, einen Kommentar hier zu lassen. Vielleicht motiviert es dich ja wieder dazu, ein Kapitel online zu stellen.


    Zuerst mal mag ich es, dass man wirklich gar kein Vorwissen benötigt. Am Anfang wirkt es zwar schon so, als hätte man die vorhergehende Reise versäumt, aber das legt sich ziemlich schnell wieder, weil du die Charaktere ausreichend vorstellst und ihnen Zeit gibst, beim Leser anzukommen, was bei einer Fortsetzung überaus wichtig ist. Darüber hinaus erklärst du entsprechende Dinge, die sich auf den Vorgänger beziehen, ausführlich und so ist es auch im Verlauf der Geschichte nicht schwer, Fuß fassen zu können.


    Insgesamt wirkt Der Zorn des Himmels bisher aber auch sehr kampflastig, während sich der Plot erst ab dem letzten Kapitel so wirklich herauskristallisiert hat. Man merkt, dass der Fokus am Anfang doch noch woanders lag und dass die Vorbereitung zu diesem Schluss entsprechend gedauert hat. Ryan und Andrew sind ziemlich oft mit Problemen konfrontiert werden und es ist wohl anzunehmen, dass sich das auch auf Dauer nicht ändern wird.
    Mein persönliches Highlight bisher war übrigens die Legende mit Rayquaza, die in der Vergangenheit gespielt hat. Die Idee, dass es den Menschen gegenüber ursprünglich feindlich, gar abfällig gesinnt war, hast du gut erklärt, wie auch die schlussendliche Wandlung. Es erklärt auch, wie der grüne Kristall auftauchte und Ryan nun in diesen Plot hineingestoßen wurde. Es verspricht auf jeden Fall spannend zu werden.
    Da ich schon bei den Kämpfen war, die sind wirklich allererste Sahne. Du bringst sie sehr cineastisch rüber, also man kann sie sich gut vor dem inneren Auge vorstellen und man wird auch gut unterhalten. Immerhin dauert so ein Kampf nicht nur wenige Zeilen, sondern teilweise auch mal zwei Kapitel. Da wäre es zu überlegen, ob du das so beibehalten möchtest oder nur mehr in Ausnahmesituationen so gestalten möchtest. Aber das liegt dann bei dir.


    Wir lesen uns!

  • Moin, moin Rusalka,


    teilweise überrascht aber keineswegs unglücklich, mal wieder von jemand (neuem) ein Kommi zu kriegen, will ich direkt mal drafu eingehen.



  • Ist hier überhaupt noch wer interessiert? Falls ja, einfach kurz melden :D



    Kapitel 20: Umschwung


    Irgendwie war sein Körper doch noch nicht so fit, wie er es gerne hätte. Bei der gerade geöffneten Dose mit der zuckersüßen Chemieflüssigkeit, die der Autonormalmensch als Energiedrink bezeichnete, handelte es sich bereits um die dritte, die Andrew heute in seinen Kreislauf stürzte. Er hielt nicht viel von dessen Geschmack, aber dafür von der Wirkung. Doch so gut er heute Morgen auch noch gelaunt gewesen war, er konnte die Trägheit einfach noch nicht überwinden. Wissend, dass dieser daran keine Schuld trug, erlaubte er sich dennoch einige stille, nicht allzu derbe Flüche an die Adresse von Doktor Richards. Nicht etwa, weil der etwas falsch gemacht hätte. Im Gegenteil. Dass er letztlich doch Recht behalten hatte, passte Andrew überhaupt nicht in den Kram und war alleiniger Grund für seine Laune. Leicht angesäuert kippte er einen ordentlichen Schluck des Getränks hinunter und wünschte sich sein Krankenbett herbei. Doch sein Starrkopf verbot ihm, jetzt schon in die Klinik zurückzukehren und Doktor Richards somit den Triumph zu gönnen. Bis zum Mittag war es noch ein bisschen hin und die Zeit wollte er überbrücken, indem er Ryan aufsuchte, um dessen Training zu begutachten. Er hatte berichtet, dass Hydropi endlich bessere Leistungen abrufen würde und außerdem genau den Weg zu dem Ort, den er die letzten Tage für´s Training genutzt hatte, beschrieben. Da er zum jetzigen Zeitpunkt wohl kaum noch im Pokémoncenter anzutreffen sein würde, blieb keine weitere Option übrig, weshalb sich Andrew nun auf diesem schmalen, schnörkeligen Waldpfad befand, der nach einem kurzen Fußmarsch in die Wildgebiete der Insel führen und an einer abgeschiedenen Lagune enden sollte. Ryan hatte sich dazu ein wenig umgehört. Einst hatte sie angeblich viele Badefans und Sonnenanbeter angelockt, doch war es aufgrund der zahlreichen, mit einem starken Revierverhalten ausgestatteten Wasserpokémon in dem Gebiet zu einigen unschönen Zwischenfällen gekommen. Nun hatte Schwester Joy die Stelle als die einsamste und wildeste der gesamten Insel beschrieben. Da es hier in erster Linie reisende Trainer, die sich den Orden der lokalen Arena erkämpfen wollten, herlockte und es kaum ortsansässige Pokémontrainer, Züchter oder Koordinatoren gab, die sich an den Fanggründen interessieren könnten, waren die Pokémon dort größtenteils ungestört und demnach noch ein gutes Beispiel für die ursprüngliche Definition des Wortes „wild“ – also ganz nach Andrews Geschmack.

    Wenn er an Psiana und die anderen im Pokémoncenter dachte, fühlte er sich in der Annahme bestärkt, dass ein weites Mitglied für sein aktuelles Team nicht schaden könnte. Er hatte zwar den heutigen Bericht von Ryan noch nicht einholen können, doch wenn er Pech hatte, würde er neben Dragonir auch noch Magnayen pausieren lassen müssen. Was Psiana und Schwalboss anging, war er sich ziemlich sicher, dass sie bei ihrem Wiedersehen fit sein würden. Die beiden waren unglaublich zäh und erholten sich meist überraschend schnell. Nicht, dass Magnayen die Ausnahme darstellte. Es kämpfte stets bis zum sprichwörtlichen Umfallen und dafür brauchte es einiges. Doch wenn es sich einmal wirklich ernsthaft überanstrengte, war davon auszugehen, dass es mit ein bisschen Schlaf und Ruhe nicht getan sein würde. Tatsache war, dass es sich um einen sehr unvernünftigen Wolf handelte, der zudem noch stolzer war, als ihm guttat. Doch Andrew ermahnte sich, nicht alle Schuld auf Magnayen abzuschieben. Zumindest nicht diesmal.

    Gleich mehrere, große Schlucke spritzig süßer Flüssigkeit stürzte der Wandernde gerade hinunter, spürte er gerade noch eine Präsenz. Mensch? Pokémon? Das konnte er aufgrund des raschelnden Busches zu seiner Rechten nun wirklich nicht bestimmen. Das erübrigte sich allerdings, als ein kleines, blau-weißes Geschöpf daraus hervorsprang, eine Zwischenlandung direkt auf seinem Kopf hinlegte und sofort im Unterholz auf der anderen Wegessseite verschwand. Andrew hätte beinahe das Gleichgewicht verloren und wäre auf dem Hosenboden gelandet. Doch es blieb bei dem Fall der Getränkedose. Als hätte er einen Schlag abbekommen, drückte sich eine Hand auf die Stelle seines Kopfes, an der er die Berührung gespürt hatte und blickte in die Richtung, in die das Pokémon geflohen war. Jedoch war da kaum etwas Vernehmbares gewesen. Andrew hatte kaum Gewicht wahrgenommen. Also ein leichtes Geschöpf und dem flüchtigen Blick, den er aus dem Augenwinkel noch darauf hatte werfen können nach zu urteilen, etwa bis zu seinen Oberschenkeln reichend.

    Urplötzlich begann dasselbe Laub erneut wild zu zappeln. Aufgeschreckt fuhr der überraschte Trainer herum und erblickte diesmal eine schwarze, größere Gestalt, die direkt über ihn hinwegsprang. Sie lief auf vier Beinen und zog eine Art Teufelsschweif hinter sich her. Ein präziserer Blick war Andrew jedoch nicht vergönnt, da jenes Geschöpf dem ersten auf genau demselben Pfade folgte und schon außer Sicht war. Ziemlich baff von der plötzlichen Hektik in diesem bislang doch so ruhigen Wald war er einige Sekunden lang zu nicht mehr fähig, als ein weiteres Mal in den Fluchtweg beider offensichtlichen Pokémon entlang zu starren. Als dann nun wieder hinter ihm Laub raschelte und Zweige brachen, war Andrew sich sicher, dass ihn hier jemand auf´s Korn nehmen wollte. Als er – noch bevor er sich hatte umdrehen können – einen heftigen Stoß im Körper vernahm, verursacht durch einen anderen solchen, der mir ihm kollidierte. Zum zweiten Mal an diesem Tag fand er sich begingt durch die Unachtsamkeit eines anderen auf dem Boden wieder. Vielleicht hatte er ja Glück und es handelte sich um diese Melody, die erneut in seine Arme stolperte. Doch er wurde bitter enttäuscht, als eine junge Männerstimme an sein Ohr drang.

    „Was zum Geier machst du hier?“

    Ryan runzelte ungläubig die Stirn. War sein bester Freund nun tatsächlich so dämlich geworden, dass er aus der Klinik türmte, obwohl er noch nicht genesen war?

    „Ich liege auf dem Boden und bin sauer. Wegen dir!“, beantwortete Andrew die Frage bissig. Es gab nicht viele Momente, in denen er seinem Gefährten gerne mal eine gepflegte Kopfnuss verpassen würde. Diesen hier zählte er jedoch zweifellos dazu, denn genau wie Melody eilte er sich nicht unbedingt ab, von ihm runter zu gehen – geschweige denn ihm aufzuhelfen. So stemmte er wütend die Hände in die trockene Erde und warf Ryan von seinem Rücken, um sich anschließend den Staub von seiner Jeansjacke abzuklopfen.

    „Und was hast du schon wieder angestellt? Machst du´n Wettrennen, oder was?“

    Ryan, der seine offensichtliche Verfolgungsjagd scheinbar ganz vergessen hatte, versuchte sofort die Spur besagter Pokémon wiederzufinden, musste aber feststellen, dass keine Schneise oder ähnliches im Unterholz zu erkennen war. Wenn er nicht spurte, würden sie weg sein.

    „Mist“, stieß er erschrocken hervor und schaltete schnurstracks wieder auf Verfolgung um. Andrew und dessen Aufforderung zu warten, ignorierte er vollkommen, sodass dieser sich gezwungen sah, ihm nachzulaufen. Doch das kümmerte den im Augenblick wenig. Er wollte nur wieder den Anschluss finden. Auf keinen Fall durfte er sich diese Gelegenheit entgehen lassen.


    Äste schlugen ihm entgegen, Wurzeln ließen ihn stolpern und straucheln. Büsche und Sträucher mit ihren Zweigen und Dornen kratzten an seiner Haut, zerrten an seiner Kleidung. Wäre er nicht stets auf solch festen Stoff bedacht, wäre das neue Sweatshirt wohl bereits ruiniert. Fehler dieser Art beging man nur ein Mal.

    Ryan hatte das Adrenalin der Pokémonjagd vermisst. Er empfing den Stress und den Schweiß mit offenen Armen. Durch ihn fühlte er sich wieder an sich selbst erinnert, nur zu einer früheren Zeit seines Lebens. Eine Zeit, in der er sich um Titel, Turniere und Rivalen keinen Kopf gemacht und sein Leben als Pokémontrainer einfach genossen hatte. Und nun wollte er diesem Leben einen erfrischenden Faktor hinzufügen. Einen Faktor in Form eines neuen Partners.

    Der Wald endete endlich. Die von mächtigen, dichten Baumkronen blockierte Sonne fiel mit all ihrer Wärme über ihn herein und eine salzige Brise schlug ihm entgegen. Er war an Meer angelangt. Sanfte und ruhige Wellen trafen auf felsiges Ufer und nur einige wenige Grasansätze kämpften sich aus dem ansonsten kahlen Boden. Das Ziel der Jagd befand sich direkt vor ihm, in die Enge getrieben von dem schwarzen Hund. Das kleine Geschöpf wirkte überraschenderweise nicht im Geringsten verängstigt. Es hatte sich so erhaben und stolz aufgebaut, wie es einem solch zierlichen Pokémon nur möglich war. Die zwei schmalen, blauen Beinchen waren überkreuzt, wie bei einer Diva. Die Haltung des weiß gekleideten Körpers, der ums Becken herum weit wurde, wie das Kostüm einer Ballerina, war gerade und stolz. Die Schultern waren nach hinten gerichtet und die dünnen Ärmchen zum sofortigen Kampf bereit sachte vom Körper gestreckt. Himmelblaues Haar fiel von ihrem Haupt herab bis zum Hals und verschleierte eine Gesichtshälfte. Die orangefarbenen Hörner hatten etwas von dezentem Kopfschmuck.

    „Ryan!“

    Andrews leidiger Ruf sowie sein Getrampel und Keuchen drangen bereits an sein Ohr, noch bevor er aus dem Wald stolperte. Dies tat er wenige Sekunden später fluchend und schnaubend, bis er schließlich zu seinem Kumpanen aufschloss. Mit einer Hand stütze er sich auf dem Knie ab. Mit der anderen knuffte er Schlapp in Ryans Seite.

    „Ich bin zwar raus aus der Klinik, aber so was kannst du noch nicht mit mir anstellen.“

    „Dann wärst du halt drinnen geblieben. Mach die Augen auf und schau“, entgegnete der Jäger mit einem Klaps auf Andrews Hinterkopf. Dieser verkniff sich einen bissigen Kommentar oder gar einen Vergeltungsschlag und besah sich nun erstmals der beiden Pokémon. Das erste mit dem Rücken zu ihm und offensichtlich der zuvor als solcher erkannte Vierbeiner. Nachtschwarzes Fell paarte sich mit einer feuerroten Schnauze und einem rippenartigen Knochenmuster auf dem Rücken. Weitere lagen um die Fußgelenke und um den Hals – letzterer samt eines kleinen Totenschädels auf der Brust. Auf dem Kopf prangten zwei gebogene Hörner, zeugten durch zahlreiche Kratzer und Schrammen von den unzähligen Kämpfen, die das Pokémon in seinem Leben bestritten haben musste.

    „Dein Hundemon?“

    „Wessen sonst?“

    Andrew konnte nicht anders. Er musste sich einfach die Fragen zu stellen, seit wann und warum Ryan sein Hundemon bei sich hatte. Er hatte doch an Hydropi festhalten und ein neues Team zusammenstellen wollen. Hatte er das etwa aufgegeben?

    Da er vermutlich keine sofortige Antwort erhalten würde, verkniff Andrew es sich jedoch, diese Fragen auszusprechen. Stattdessen nahm er das zweite Pokémon unter die Lupe. Es war ihm unbekannt. Wirkte elegant und grazil, aber auch körperlich eher schwach und zerbrechlich. Sofort zückte er seinen Pokédex und aktivierte den Scan der regionalen Datei. Kirlia, so nannte man diese Gattung. Gehörte dem Typ Psycho an und war in diesem Fall offenbar weiblich. Doch etwas an diesem Eintrag stimmte nicht mit dem Bild überein, dass sich seinen Augen bot.

    „Laut Dex, sind die normal anders gefärbt.“

    Tatsächlich. In dem elektrischen Gerät war ein Bild verzeichnet, auf dem Kopf und Unterleib eine minzgrüne Färbung besaßen. Bei diesem Exemplar allerdings erstrahlten jene Stellen ozeanblau. Ein seltenes Pokémon mit außergewöhnlicher Farbe also. Ein sogenanntes Shiny.

    „Ach was“, bemerkte Ryan sarkastisch. Was meinte dieser Schnellschalter denn, warum er diesem Pokémon so verbissen nachgejagt war? Er war nicht so naiv zu denken, es würde sich keine zweite Gelegenheit bieten, ein mindestens genauso gutes zu fangen, hätte er ein gewöhnliches Exemplar davonkommen lassen und sich stattdessen um seinen angeschlagenen Freund gekümmert. Doch die Chance seinem Team ein Shiny hinzuzufügen, bot sich in der Regel nur ein, vielleicht zwei Mal im Leben. Die Sache war klar. Er wollte dieses Pokémon unbedingt.

    „Bereit, Hundemon?“

    Der Schattenhund senkte den Kopf – überragte Kirlia durch seine überdurchschnittliche Körpergröße dennoch deutlich mit den Schultern – und spreizte die Vorderläufe ein wenig, um begleitet von einem kehligen Knurren, die Zähne zu fletschen. Dies war seine übliche Drohgebärde.

    „Geh es langsam an. Es soll dein Teamkamerad werden. Nicht dein Mittagessen.“

    Hundemon gehörte zweifellos zu den wildesten seiner Pokémon. Ryan hatte es zu einer früheren Zeit im Kampf stets genau im Auge behalten müssen, um blutige Unfälle zu vermeiden. Es war nicht so, dass es grundsätzlich bösartig oder brutal wäre. Doch nicht selten verlor es im Kampfrausch einfach die Beherrschung. Einmal hatte es einem wilden Parasek, an dessen Baum Ryan unerlaubt und unerwünscht Rast eingelegt hatte, beide Scheren abgerissen und es geradezu zerquetscht, als es auf seinen Trainer losgegangen war. Solche Vorfälle hatten sich zwar selten und generell nur in der frühen Phase ihrer Partnerschaft ereignet und Ryan schätzte die Loyalität sowie den Beschützerinstinkt von Hundemon sehr, doch andere Pokémon umzubringen, war etwas, das er nur in äußersten Notfällen akzeptierte. Was selbst in solchen lange nicht hieß, dass er derartiges gerne sah. Es widerstrebte ihm immens, völlig ungeachtet der Umstände.

    Der junge Trainer hatte wenig Zweifel, dass dies wilde Geschöpf gleiches mit Kirlia zu tun vermochte. Zumal es laut Pokédex vom Typ Psycho und damit fast wehrlos gegen Unlichtwesen wie Hundemon war. Doch er wollte es körperlich nicht stärker strapazieren als nötig. Es war ein junges, friedliches Wesen, Himmel noch eins. Ein so kampferprobter und kräftiger Hund sollte mit diesem Gegner ohne größeren Aufwand fertig werden. Dennoch war nun seine Konzentration gefragt, damit es ja keine Gelegenheit zur Flucht haben sollte. Schließlich kämpfte nicht nur Hundemon, sondern auch er selbst.

    „Lass es uns noch ein wenig provozieren. Ich will wissen, wie es reagiert, wenn es in die Enge gedrängt wird.“

    Ryan sprach den Befehl so leise aus, dass nur die feinen Ohren Hundemons sie zu hören vermochten. Andrew vernahm sie nur, weil er zufällig genau neben ihm stand. Der Schattenhund schien augenblicklich wild zu werden. Lautes und aggressives Gebell hallte über die Ebene. Seinen eigenen Körper schien er kaum bändigen zu können. In jeder Sekunde konnte man einen Sprung erwarten, der auf die Kehle Kirlias zielte und sie brutal zerreißen würde. Ryan machte sich wenig Gedanken um den Stress, welchem er das kleine Geschöpf aussetzte. In der Wildnis musste es dauernd solche Konfrontationen überstehen und sich gegen Jäger behaupten. Er wollte schlicht und einfach herausfinden, was für einen Charakter Kirlia besaß.

    Das Resultat war eher unerwartet. Denn obwohl es doch so einen schmächtigen Eindruck machte, schien es weder verängstigt, noch machte es Anstalten zu fliehen. Kirlia schien absolut kampfbereit. Doch Sicherheit oder Zuversicht suchte Ryan vergeblich in dessen Blick. Eher war es der Mut der Verzweiflung. Die Einsicht, dass kein Weg an diesem Kampf vorbeiführte sowie der absolute Wille, ihn zu gewinnen, trotz der Angst, die sich des kleinen Körpers bemächtigte. Also ein wackerer Charakter. Sehr gut.

    „Okay, fang an mit Flammenwurf. Halbe Kraft“, befahl Ryan schließlich ruhig. Seine Augen ließen nicht einen Moment von Kirlia ab. Jetzt hieß es beobachten und die Fähigkeiten des Pokémons richtig einschätzen.

    Hundemon benötigte nur den Bruchteil einer Sekunde, um einen feinen Flammenstrahl der gewünschten Stärke zu erzeugen. Die Hitze war dennoch selbst in einigen Metern Entfernung spürbar. Doch so gut der Schattenhund auch zielte, blieb ihm der Erfolg verwehrt. Eine golden schimmernde, leicht transparente Wand baute sich vor Kirlia auf und ließen die Attacke nahezu wirkungslos abprallen.

    „Lichtschild. Gut zu wissen“, murmelte Ryan und wägte ab, ob er den Druck etwas erhöhen sollte. Seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben.

    „Leg einen Zahn zu. Ich will sehen, wo die Grenze liegt.“

    Der Flammenstrahl verstärkte sich. Die Hitze sowie der Druck, den er auf die Schutzwand ausübte wurden intensiver. Das Feuer prallte nicht mehr ab, sondern stob an den Rändern der Barriere vorbei sodass die heiße Luft das Psychopokémon streifte. Es hatte sichtlich Probleme, dem Angriff standzuhalten.

    „Ein bisschen noch.“

    Andrew blickte seinen Freund unsicher von der Seite an. Er schien es wirklich ausreizen zu wollen, bis Kirlia nachgab. Hoffentlich übertrieb er es nicht. Hundemon spielte einfach in einer anderen Liga. Nur eine Unachtsamkeit und die Sache könnte böse ausgehen.

    Das kleine Kirlia kniff vor Anstrengung die Augen zusammen. Die Ärmchen waren nach vorne gestreckt, als wollten sie die Wand verstärken. Jedoch zitterten sie fürchterlich und schienen jeden Augenblick zu ermüden. Hundemon näherte sich mittlerweile bald seiner maximalen Feuerkraft, aber noch immer stemmte sich Kirlia dagegen. Diese Zähigkeit war bemerkenswert.

    Kurz bevor der Druck sie in die Knie zu zwingen drohte, befahl Ryan nüchtern eine Finte. Die Flammen verebbten. Stattdessen setzte der schwarze Hund zu einem schnellen Sprint an. Die Distanz war mit wenigen Sätzen überwunden und der Lichtschild nun endgültig aufgelöst. Nichts schützte nun vor dem wilden Angreifer. Da riss Kirlia bereits unter größten Anstrengungen und einem entschlossenen sowie melodischen Ausruf ihres Namens erneut die Arme in die Höhe und eine grün schillernde Kuppel schloss sie schützend in sich ein. Den Schutzschild beherrschte es also auch. An dieser defensiven Attacke würde Hundemon abprallen, wie an einer Betonwand. Doch innerhalb eines Augenzwinkerns war seine Gestalt plötzlich aus dem Blickfeld Kirlias verschwunden. Verdutzt ließ sie ihre Konzentration fallen und begann sich rasch umzusehen. Dies hatte zur Folge, dass der Schutzschild zusammenbrach. Schon im nächsten Moment erhielt es dafür die Quittung und zwar aus der einzigen Richtung, die es innerhalb dieser wenigen Sekunden nicht überprüfen konnte. Der Schlag zweier gebogener Hörner in ihrem Rücken traf sie so unerwartet, dass der Schmerzensschrei im Hals stecken blieb und stattdessen nur ein dumpfes Stöhnen entwich. Die Luft wurde ihr erbarmungslos aus den Lungen gequetscht und sie landete hustend im Dreck. Schnelligkeit und Körperbeherrschung waren die beiden Schlüssel zur Beherrschung dieser Attacke. In Sekundenbruchteilen an einem Ort verschwinden und einige Meter weiter erneut auftauchen. Taktisch war die Technik mehr als hilfreich.

    Ryan nickte zufrieden. Hundemons Ausführung war perfekt gewesen. Von Kirlia war das nicht zu behaupten. Es hatte sich für seinen Geschmack ein wenig zu leicht verunsichern lassen. Daran würden sie arbeiten müssen. Der Kampf schien bereits so gut wie beendet. Das völlig überforderte Pokémon keuchte und hustete, schien sich kaum noch erheben zu können. Hundemon ließen die krampfhaften Versuche, den zierlichen Körper aufzurichten, völlig kalt. Mit festen Schritten näherte er sich Kirlia und drehte es mit seiner Schnauze auf den Rücken, um sodann eine Vorderpfote auf die schmale Brust zu drücken. Die andere grub ihre Krallen nur Zentimeter neben dem Kopf in die Erde. Ryan ließ es zu, achtete aber von diesem Augenblick an noch genauer auf die Intentionen des Schattenhundes. Er beabsichtigte seiner Gegnerin die Niederlage klarzumachen – für den Moment zumindest. Das ging für ihn in Ordnung, doch das wehrlose Kirlia zu demütigen oder gar weiter zu verletzen, würde er unterbinden.

    Ein tödliches Gebiss präsentierte sich drohend hinter den hochgezogenen Lefzen. Hundemon spürte, wie das kleine Geschöpf erstarrte, die Augen vor Schreck geweitet. Sehr schön. Es gestand seine Niederlage ein. Das war allzu leicht gewesen. Zufrieden sah der Hund zu seinem Trainer auf und erwartete Anweisungen, was nun geschehen sollte. Er hatte zwar gesagt, es sollte sein neuer Teampartner werden, doch nach dieser einseitigen Vorstellung konnte er sich nur schwer vorstellen, dieses Kirlia als Kameradin zu akzeptieren. Doch die Entscheidung fällte nicht er. So wartete Hundemon einfach geduldig ab.

    Ryan schürzte nachdenklich die Lippen. Eigentlich hatte er mehr zu sehen erhofft. Nicht unbedingt an Gegenwehr. Die Verhältnisse waren reichlich unausgeglichen gewesen. Doch die ein oder andere Attacke hätte er gerne noch beobachtet. Aber ein so seltenes Exemplar von einem Kirlia würde er sich so oder so nicht durch die Lappen gehen lassen. Er hatte nie mit dem Glück, einmal ein Shiny zu treffen, gerechnet und einen guten, eventuell sogar hervorragenden Kämpfer aus ihr zu machen, traute er sich allemal zu. Die Entscheidung war somit längst gefällt.

    In der Luft knisterte es. Nur sehr leise, wie ein Lagerfeuer, das kurz vor dem Erlöschen stand. Hundemons Blick wanderte sofort nach unten. Ein schalkhafter Ausdruck lag in Kirlias Augen. Zu spät bemerkte es den hinterhältigen Angiff des kleinen Psychopokémons, da es selbigen schon im nächsten Augenblick ausführte. Ein leuchtend gelber Funke war es, von dem das verräterische Geräusch ausging und er befand sich zwischen den Händen Kirlias. Die elektrische Ladung fuhr durch Hundemons Körper, lähmte die Muskeln und stach wie unzählige Nadeln in sein Fleisch. Sofort nahm es die Chance wahr und entschlüpfte den beängstigenden Krallen und Zähnen. Es kämpfte sich tatsächlich noch einmal auf die zittrigen Beine und sah nun die einmalige Gelegenheit zur Flucht.

    „Schnell Hundemon!“

    Ryan erkannte das Vorhaben sofort, doch dieses Pokémon ließ er heute nicht mehr davonkommen. Nun schon gar nicht, da es einen solch starken Willen sowie das Beherrschen einer Elektro-Attacke bewiesen hatte. War es Donnerblitz gewesen? Nein, nicht stark genug. Welche Attacken konnte diese Gattung überhaupt erlernen? Donnerschock? Eher nicht, dafür schien die Energie auf einen zu schmalen Zielbereich konzentriert. Es musste Ladestrahl gewesen sein! Nicht übel.

    Hundemon ging dieses uneinsichtige Aufbäumen Kirlias enorm gegen den Strich. Legte das kleine Ding es etwa darauf an, getötet zu werden? Ohne Frage würde sein Trainer das nicht gutheißen, doch wenn Kirlia ihn und auch sich selbst so weiter trieb, wäre das nicht auszuschließen. Es entkommen lassen und die damit verbundene Schande ertragen, das stand jedoch nicht zur Debatte. Rasch sammelte Hundemon eine kleine Menge an Schattenenergie und befreite sie von seinem Körper in Form einer dunkelvioletten Aurawand. Eine Druckwelle ging ihr voraus und blies Steinchen, Dreck und alles, was sie auf ihrem Weg fand, hinfort. Kirlia erstarrte für einen Moment, schaffte es aber noch rechtzeitig, erneut eine goldene Schutzwand aufzubauen. Diesmal jedoch konnte diese dem Angriff nicht standhalten. Lichtschild schwächte die Wirkung einer Attacke lediglich stark ab, negierte sie allerdings nicht vollkommen. Und selbst wenn, so war die Anstrengung zum Aufrechterhalten der Barriere nun zu groß. Der Lichtschild zersplitterte in dutzende Scherben, die wiederum zu glitzernden Staub zerfielen. Kirlia wurde durch die Luft gewirbelt, doch bekam sie nicht mehr die volle Stärke der Finsteraura zu spüren. So schaffte sie es noch in der Höhe den Schattenhund als Ziel auszumachen und mit einer tänzerisch anmutenden Drehung eine schwarze Energiekugel mit violettem Kern auf ihn zu schleudern. Doch der öffnete einfach sein Maul und zerbiss sie wie einen Luftballon, sodass sie wie ein solcher Platzte und ihn für einen kurzen Moment und dunklen Nebel einhüllte. Ryan musste die Sache langsam beenden. Kirlia gefährdete sich selbst, wenn es nicht aufgab.

    „Mach Schluss. Zeig deinen eigenen Spukball, aber ziel nicht direkt auf Kirlia.“

    Hundemon hätte diesem frechen Ding gerne eine Kostprobe seiner uneingeschränkten Kraft gegeben. Doch die Anordnung seines Trainers ließ das nicht zu. Und sie zu missachten, kam nicht infrage. Die Schattenkugel, die es nun seinerseits in seinem Maul formte, verfehlte Kirlia, welche soeben unsanft wieder auf der Erde landete, intentionell knapp und schlug hinter ihr ein. Die Wucht der Detonation warf sie nach vorne, geradewegs Hundemon und den beiden Menschen entgegen. Vor den plötzlich so unschuldigen und müden Augen verschwamm alles. Der Kopf sank gen Boden. Das Bewusstsein verließ Kirlia nicht gänzlich, doch es fehlte nun gänzlich die Kraft. Erschöpft und geschlagen blieb es liegen und erwartete, was auch immer die Menschen mit ihr vorhatten.

    Hundemon würdigte den Gegner keines Blickes mehr. Desinteressiert machte er kehrte und setzte sich an Ryans Seite. Der hielt beiläufig, ohne seinen Partner wirklich anzusehen die ausgestreckte Hand hin, um ihm Gelegenheit zu geben, sich an seiner Lieblingsstelle – den Nacken – kraulen zu lassen. Dies wurde natürlich jederzeit gerne angenommen. Es folgten Sekunden der Stille. Ryan sah auf das besiegte Pokémon herab, als würde er ein weiteres Aufbäumen erwarten. Doch selbst als eine knappe Minute lang nichts geschah, rührte er sich nicht.

    „Na hat doch ganz gut geklappt, oder?“

    Andrew konnte den Blick seines besten Freundes nur schwer deuten. Dass er nicht glücklich oder wenigstens zufrieden wirkte, kapierte er kein Stück. Zwar hatte er Kirlia ein wenig mehr bearbeiten müssen, als es wohl ursprünglich gedacht war, aber Hundmon hat sich, entgegen seiner anfänglichen Befürchtungen, sehr gut beherrscht und Kirlia nicht ernsthaft verletzt. Und gefangen war es praktisch schon. Jegliche Gegenwehr war nur verebbt.

    Ryan nahm sich einen Moment, um diese Jagd noch einmal in Gedanken durchzuspielen. Von der Sekunde an, als er dieses Pokémon das erste Mal gesehen hatte, hatte er mit den Minuten immer mehr Gefallen an ihr gefunden. Sie schien ihre Freiheit geschätzt zu haben, dem Gedanken einen Trainer wie ihn zu begleiten, aber auch nicht gänzlich abgeneigt zu sein. Sonst hätte sie sich dem Kampf gar nicht erst gestellt. Sie beherrschte solide Techniken für Angriff und Verteidigung und war zudem sowohl zäh als auch mutig und würde mit ihrem eleganten Kampfstiel sein Team sicher gut ergänzen. Lediglich der Einsatz von Spukball war nicht wirklich clever gewesen. Gegen einen übermächtigen Gegner wie Hundemon hätte es ebenso gut mit Streichhölzern werfen können. Diese Schattenenergie in so geringer Konzentration auf ein Unlicht Geschöpf anzuwenden – genauso könnte man mit einer Wasserpistole auf sein Impergator schießen. Doch die Entscheidung, welche Attacke in welcher Situation Anwendung fand, würde künftig ihm zufallen. Somit sah er da kein Problem. Wenn er Kirlia ein wenig mehr Taktgefühl für den Kampf näherbrachte, hatte er mit diesem Pokémon sicher einen Volltreffer gelandet.

    Seine Hand wanderte in die Gürteltasche und ergriff eine kleine Kapsel in ihrem Inneren. Das Betätigen des Knopfes vergrößerte sie und machte sie einsatzbereit. Ein lascher Wurf aus dem Handgelenk, nüchtern und unmotiviert. Die traf Kirlias Schädeldecke und sog das Pokémon mittels eines roten Lichtstrahls ein. Ryan machte sich auf, den Pokéball wieder einzusammeln, noch bevor das verräterische Zittern erstarb. Doch die Sache war erledigt. Die Entscheidung gefallen. Es fehlte nur noch das Schlusssignal. Da klickte der Ball und kam wie auf Kommando zur Ruhe.


    „Jetzt halt endlich still. Wie soll ich dich denn saubermachen, wenn du so zappelst?“

    Das kleine Psychopokémon murrte und zog eingeschnappt die Schultern an. Es war nicht so, dass sie schmollte oder diesem Menschen gar zürnte. Er und sein Hundemon hatten sie fair und dazu noch mit Leichtigkeit besiegt. Sie gab es nur äußerst ungern zu, aber diese Feuerkraft war überwältigend gewesen.

    Doch so sehr sie sowohl Mensch als auch Pokémon nach ihrem Kampf respektierte, fühlte sie sich schlicht unwohl dabei, sich einfach so seinen Händen zu überlassen. Da spielte es auch keine Rolle, dass seine vorangegangene Behandlung eine Wohltat für ihren Körper gewesen war. Und wozu in aller Welt brauchte sie ihn als Pflegedienst? Es war ja nicht so, dass sie nicht fähig wäre, sich selbst den Schmutz vom Körper zu waschen. Das konnte sie sehr gut allein und es strapazierte ihre Nerven, dass er eine solche Nähe schon wenige Minuten, nachdem ihre Partnerschaft besiegelt worden war, offenbar für selbstverständlich hielt. Ihr wäre ein distanzierteres Verhältnis zu ihrem Trainer deutlich lieber. Zumindest auf physischer Ebene, sodass sie ihren Luftraum für sich behielt. Doch da hatte sie sich wohl vom Falschen fangen lassen.

    Ryan saß mit Kirlia auf seinem Schoß im Schatten eines großen Laubbaumes, der relativ einsam unweit ihres vorigen Kampfplatzes residierte. Er lehnte mit ihr am Stamm, hielt in der einen Hand eine Wasserflasche und in der anderen ein feuchtes Tuch, mit dem er gerade über das Köpfchen fuhr. Leichte Blessuren hatte er bereits mit Salbe sowie den üblichen, heilende Sprühflaschen behandelt und ihr außerdem etwas gegen die Erschöpfung verabreicht. Nicht ganz die Behandlung, die sie im Pokémoncenter erfahren würde, aber dafür kam die Seine auf der Stelle. Jetzt befreite er Kirlia nur noch von Staub und Dreck. Zumindest versuchte er dies, doch schien er an eine schüchterne Göre geraten zu sein. Zufrieden ließ er sie jedoch noch lange nicht. Sie würde lernen müssen, die Umgangsformen ihres Trainers zu ertragen. Es war für ihn nun einmal furchtbar wichtig, sich in dieser Form um seine Schützlinge zu kümmern. Besonders bei denen, die er gerade erst gefangen hatte. Nebst dem Wohlbefinden seines Pokémons ging es ihm darum, die Basis einer kameradschaftlichen und freundlichen Beziehung zu ihnen bilden. Nur so konnte er Vertrauen und Loyalität von ihnen erwarten und natürlich tat er diese Dinge immer gerne, weil er diese Wesen liebte. Doch ein wenig mehr Dankbarkeit oder zumindest weniger Widerstand gegen eine gut gemeinte Geste wäre ihm sehr willkommen.

    „So, fast fertig“, ließ er dann verkünden und schnappte sich das blaue Handtuch, das über einem der niedrigen Äste hing. Auf einem solchen hatte es sich auch Hundemon bequem gemacht und döste vor sich hin. Andrew tat genau dasselbe. Seine Tasche an den Baumstamm gelehnt und seinen Kopf darauf bettend wartete er die Pokémonpflege ab und gönnte sich noch etwas Erholung. Hätte er ahnen können, dass ihn außerhalb der Klinik gleich so viel Stress erwarten würde, hätte er sie gar nicht erst verlassen. Ryan trocknete Kirlias Kopf und Schultern nun gründlich ab, was das Pokémon mit weiteren Protestlauten kommentierte.

    „Siehst du, hat doch gar nicht weh getan“, bemerkte er, als rede er mit einem kleinen Kind. Wie ein solches wandte Kirlia nun den Blick ab und blies leicht die Bäckchen auf, als wolle sie nicht eingestehen, dass er recht behielt. Das Handtuch war angenehm warm und flauschig. Dennoch, gefallen hatte es ihr nicht.

    „Hundemon.“

    Der Schattenhund sah sogleich hellwach auf. Wenn sein Trainer nach ihm verlangte, war er stets sofort zur Stelle. Manche hatten ihn wegen dieser Eigenschaft als gut abgerichtet und gezähmt bezeichnet. In Wahrheit traf keine dieser Beschreibungen zu, wie Ryan selbst behauptete. Er hatte einfach nur das Glück, in Hundemon einen Partner mit unerschütterlicher Treue und überaus starkem Beschützerinstinkt gefunden zu haben. Keines von beidem machte ihm zu einem Schoßhund.

    „Ich möchte, dass du ein wenig auf sie Acht gibst, falls sie Probleme hat und ich nicht da sein sollte. Tu mir den Gefallen.“

    Für gewöhnlich war es nicht Ryans Art seinen Pokémon die Option, sein Anliegen abzulehnen, offen zu lassen. Doch er konnte nicht alle zwingen, sprich ihnen befehlen, sich miteinander zu vertragen. Wie auch unter Menschen existierte unter Pokémon Sympathie wie Antipathie und sollte letztere vorherrschend sein, galt es diese zu überwinden, indem man die Parteien zusammenschweißte. Sie im Falle eines Falles Hundemons Obhut zu überlassen, würde Kirlia vermutlich weniger gefallen, doch für die angestrebte Freundschaft unter den Pokémon würde es ein guter Anfang sein.

    So sprang der schwarze Hund herab und näherte sich Kirlia, als sehe er sie zum ersten Mal. Er blickte ihr tief in die Augen und beschnupperte sie dezent. Dem Psychogeschöpf war das überhaupt nicht geheuer, spürte einen starken Schauer ihren schmalen Rücken herunterlaufen. Wie ein verschrecktes Mädchen wich sie einen Schritt zurück, doch Hundemon schloss den Abstand zwischen ihnen gleich wieder. Der scharfe Blick weckte glatt die Angst in Kirlia, auch wenn sie es sich niemals eingestehen würde. Es war ihr, die sich doch selbst für äußerst scharfsinnig hielt und eine gute Kenntnis von anderen Pokémon zu besitzen glaubte, unmöglich, die Intentionen des Hundemons zu erkennen. Eine Sekunde lang, rührte sich keines der Pokémon, bevor der Schattenhund dann sachte seinen Kopf auf Kirlias bettete. Eine fast mütterliche Geste, obwohl es sich um ein Männchen handelte. Er akzeptierte sie also.

    Dieses Zeichen der Zuneigung hatte bloß für ein paar Sekunden Bestand. Gleich darauf entfernte er sich wieder und ließ Kirlia verdutzt stehen. Ryan war sich nicht sicher, ob es überhaupt möglich war, doch er glaubte fast einen leichten Rotschimmer auf ihrem Gesicht zu erkennen, was ihn schmunzeln ließ.

    „Ich denke, du willst jetzt fürs Erste deine Ruhe haben.“

    Sie versuchte rasch wieder Herrin ihrer selbst zu werden. In was für einen aufdringlichen Haufen war sie denn hier nur geraten? Dieser Vierbeiner kam ganz nach seinem – und somit auch ihrem – Trainer mit seiner plötzlichen Fürsorge und dem Versprechen, sie zu beschützen. Was bildeten sich die zwei ein? Sie konnte auf sich selbst aufpassen.

    Doch… irgendwie war sie ihnen gar nicht böse. Für keine ihrer Taten. Denn sie fühlte sich plötzlich so... geborgen. Und dennoch keineswegs ihrer Stärke beraubt. Zumindest glaubte sie das. Schließlich hatte sie das Gefühl von Geborgenheit nie kennengelernt, da sie von klein auf allein hatte zurechtkommen müssen. Sie ging jedoch stark davon aus, dass man das warme Gefühl, welches sie im Inneren verspürte, als Geborgenheit betitelte.

    Gerade, als Ryan Kirlia in ihren Ball zurückholen wollte, hielt er inne. Dieser Gesichtsausdruck, dieser abwesende Blick. Sie schien gerade wohltuende Emotionen zu verarbeiten und schon wieder meinte er einen Anflug von Rot auf ihren Wangen zu sehen. Er konnte nicht anders. Er musste leise lachen. Ein wirklich zu drolliger Anblick. Dies ließ das feminine Wesen aufschrecken und sofort peinlich berührt erstarren. Hatte sie sich gerade wirklich dabei ertappen lassen, wie sie ihre Gefühle offenbarte? Und jetzt lachte ihr Trainer auch noch. Zwar lachte er sie nicht aus, doch allein die Tatsache weckte den Wunsch, vor Scham im Boden zu versinken. Das war ihr zwar nicht möglich, doch immerhin in diese rot-weiße Kapsel konnte sie flüchten. Eilig betätigte sie selbst den Knopf, welcher – so viel hatte sie bereits herausgefunden – einen roten Energiestrahl erzeugte und sie einsog. Zunächst ein wenig verdutzt schaffte es Ryan doch, sich ein Lächeln abzuringen. Ein wirklich interessantes Pokémon. Sowohl was Art als auch Charakter anging. Sie würde sicher eine gute Freundin werden.


    Gerade als der junge Trainer seine herumliegenden Utensilien auflesen wollte, spürte er plötzlich zwei gebogene Hörner, die ihn von der Seite anstießen. Der „Angriff“, war stark genug, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ryan sah in das fordernde und erwartungsvolle Gesicht seines Hundemon, von dem der Stoß ausgegangen war.

    „Was soll das?“

    Er betonte die Frage eher wie ein gütiger Vater, der seinen Sohn bei seiner ersten Sauerei beim Essen oder Beschmieren von Wänden erwischt hatte. Überrascht, aber nicht wirklich zornig. Der Schattenhund stellte nun die Vorderläufe weit auseinander und senkte den Kopf fast bis an den Boden, während er leise knurrte. Im Gegensatz zum Kampf vorhin, blieben seine Schulter aber nicht aufrecht, sondern sanken mit nach unten, sodass er fast auf dem Bauch lag. Es war außerdem nicht das bedrohliche Knurren, begleitet von einem wilden Blick, so wie er es immer einsetzte, um Gegner einzuschüchtern. Eher wirkte es erheitert und lebhaft. Noch bevor Ryan sich ganz aufgerichtet hatte, kam sein Partner heran gesprungen und riss das Tuch, mit dem er Kirlia zuvor gesäubert hatte und das er noch immer in der Hand hielt, aus seinem Griff.

    „Hey.“

    Flüchtend nahm er einige Meter Reißaus und schüttelte den Lappen wie ein gefangenes Rattfratz.

    „Hundemon.“

    Ryan wurde nun ein wenig lauter und autoritärer. Was war denn in diesen Hund gefahren? Stieß ihn um, stibitzte seine Sachen und...

    In dem Augenblick, als er den Gegenstand aus seiner Schnauze fallen ließ und wieder die auffordernde Haltung mit gespreizten Beinen und gesenktem Kopf einnahm, wurde Ryan klar, was Hundmon bezweckte. Er hatte seit seiner Niederlage in der Johto Liga wohl wirklich zu viel Zeit mit sich selbst verbracht. Früher hätte er sofort gewusst, was das Unlichtpokémon von ihm verlangte. Dies war eine Aufforderung, mit ihm zu spielen!

    Langsam verwandelte sich die Mimik des Trainers. Als würde er einen Gegner ins Visier nehmen, verengten sich seine Augen und ein gleichermaßen entschlossenes wie verspieltes Grinsen zog sich über sein Gesicht.

    „Na schön. Komm her“, forderte er seinen Gefährten heraus, während er nach dem Handtuch griff und in seinen Händen ausbreitete. Hundemon ließ sich nicht zwei Mal bitten. Das Maul einen Spalt geöffnet, sodass die Zunge zur Seite herauslugte, pirschte er auf Ryan zu. Ein paar Sekunden lang lag eine vergnügte Anspannung in der Luft. Während andere, idiotische Trainer ihre Pokémon ein Stöckchen holen ließen, das sie immer wieder fortwarfen, tobten sich diese beiden auf eine etwas andere Art und Weise aus. In dem Moment, in dem der Schattenhund schließlich zum Sprung ansetzte, hielt Ryan das Handtuch vor und stülpte es ihm über den Kopf. Das Bellen und verspielte Knurren klangen durch den Stoff hindurch sehr dumpf und fast belustigend. Die beiden rangelten vergnügt auf dem Boden und während Hundemon sich zu befreien versuchte, hatte Ryan größte Mühe, das schwarz gefellte Kraftpaket im Zaum zu halten. Doch er lachte dabei ausgelassen, fühlte sich für wenige Augenblicke absolut sorglos. Dies war etwas, das früher häufig, doch mittlerweile nur noch selten eintrat. Viel zu oft und zu sehr hatte er sich in den letzten Wochen, ach was Monaten, Gedanken über Kämpfe und deren mögliche Folgen gemacht. Kaum hatte er die Zeit gefunden, einfach mal abzuschalten.

    „Wehe, du zerreißt mir das Handtuch“, wies er zwischen seinem ausgiebigen Gelächter warnend an. Hoffentlich würden diese Worte auch ernst genommen und nicht als Witz missverstanden werden. Doch trotz seiner Warnung, spornte er Hundemon weiter an.

    „Komm schon. So wird das nichts, Kleiner.“

    Den Burschen als klein zu bezeichnen war selbst im ironischen Sinne lachhaft und dreist. Von Fuß bis Kopf reichte das Unlichtpokémon schließlich gut eineinhalb Meter über den Boden. Der muskulöse Körper war sogar in der Lage, Ryan zu tragen und dennoch einem beachtlichen Sprint hinzulegen. Seiner Stärke war sich Hundemon natürlich auch selbst bewusst, weshalb er sich gleich herausgefordert fühlte und nun noch vehementer den Kopf hin und her riss und sich trotz der Warnung in das Handtuch verbiss. Dabei riss er Ryan geradezu hin und her. Als Hundemon dann auch noch festen Stand fand und seinen Trainer regelrecht ansprang, wurde der gleich wieder auf den Rücken geworfen und entschied schließlich, dass es genug war. Wenn er den Schattenhund noch weiter provozierte, würde er wirklich alles zerkratzen und zerbeißen, was ihm im Wege stand. Er hatte keine Lust, schon wieder neue Sachen kaufen zu gehen.

    Hundemon hatte nun endlich den Kopf frei bekommen, ließ aber nicht von dem Handtuch ab, sondern schüttelte es erneut in seinem Maul. Ryan erfuhr einen weiteren Anflug von einem Grinsen und packte, auf den Knien voran robbend, das andere Ende des Tuchs.

    „Na los, hol´s dir, wenn du´s haben willst.“

    Schnell entstand ein freundschaftliches Tauziehen, in dem der junge Trainer das Knurren seines Pokémon imitierte und dabei sogar Zähne zeigte. Wirklich an dessen heranreichen konnte er nicht, doch dies war immerhin ein Spiel. Verflucht, wann hatten sie zuletzt miteinander gespielt?

    Als Ryan schließlich befürchtete, das improvisierte Tau einer Zerreißprobe zu unterziehen, ließ er plötzlich los, wodurch Hundemon in ein peinliches Straucheln geriet. Mit einem schnellen Satz wollte er die Hörner des Hundes packen – was dieser eigentlich nicht ausstehen konnte. Doch in diesem, freundschaftlichen Rahmen würde er das nicht mit einem Biss in den Arm oder ähnlichem vergelten. Allerdings erkannte der schnell das Vorhaben seines Trainers und spielte seine Schnelligkeit aus. Mit einem Sprung entkam Hundemon seiner Reichweite und ließ ihn erfolglos im Staub landen, um sich davonzustehlen. Lachend setzte sich Ryan auf und hob kapitulierend die Hände, worauf das Unlichtpokémon triumphierend die Vorderpfoten auf seine Beute stemmte und zum nicht sichtbaren Mond aufheulte.

    Noch immer heiter lachend klopfte sich Ryan den Staub von der Kleidung. Er hatte weder erwartet, seinen Partner überlisten zu können, noch hatte er es ernsthaft beabsichtigt. Regel Nummer eins beim Spielen mit Hundemon: Hundemon immer gewinnen lassen.

    „Was soll´n der Krach?“

    Maulend und noch leicht schlaftrunken erhob sich der müde Körper von Andrew, den Ryan mittlerweile fast vergessen hatte. Noch immer hatte er keine Antwort auf die Frage bekommen, warum er nicht in der Klinik war und sich erholte. Doch Mitleid hatte der dafür keines von ihm zu erwarten.

    „Nicht jeder will den Tag verpennen, wie du“, stichelte er, als Hundemon samt Handtuch im Maul seine Seite stupste und ihn somit zu kraulen aufforderte.

    Andrew drehte sich auf den Rücken und rieb sich träge die Augen.

    „Du würdest mich wahrscheinlich nicht mal in Ruhe sterben lassen.“

    „Nicht wenn du mit Todessehnsucht das Krankenhaus verlässt.“

    Noch immer nicht ganz erwacht, wurde er von der hochstehenden Sonne des angebrochenen Mittags stark geblendet und musste die Hand erheben, um seine Augen vor ihren Strahlen zu schützen, während er mit Ryan diskutierte. Er war müde, erschöpft, schon zwei Mal zu Boden gestoßen worden und zu allem Übel würde er nun doch das Mittagessen und die süße Schwester vom Vortag verpassen. Vergeben oder nicht, anschauen konnte er sie sehr wohl. Oder hätte können. Wegen Ryans Pokémonjagd würde er es nicht mehr rechtzeitig zurück schaffen.

    „Apropos“, setzte der an, während er abwesend seine Finger durch Hundemons Nackenfell fahren ließ. Der Hund hatte neben seinem Trainer Platz genommen und ließ – am Gespräch der Menschen nur minder interessiert - den Blick über die Grasebene sowie den Waldrand schweifen, während er entspannt die Zunge heraushängen ließ und ab und an mal gähnte.

    „Was treibst du eigentlich hier?“

    Andrew lehnte ich erneute gegen den Baum, diesmal allerdings in aufrechter Position und faltete die Hände hinterm Kopf zusammen.

    „Mir war einfach nach Bewegung. Musste raus aus dem sterilen Gefängnis und hätte man mich nicht gleich mehrmals über´n Haufen gerannt, würde es mir auch sehr gut damit gehen.“

    Schuldgefühle weckte die Erklärung in Ryan nicht gerade, als dieser in seinem Gedächtnis zu ihrer rüden Zusammenkunft zurückspulte. Schließlich hatte Andrew sich das ein Stück weit selbst zuzuschreiben. Doch warum mehrmals? Egal, zunächst galt es andere Dinge zu klären.

    „Und warum warst du hier am Arsch der Insel unterwegs?“

    „Blöde Frage. Um dich zu suchen natürlich. Du hast mir doch erzählt, wo du trainierst. Hättest ja ruhig mal erzählen können, dass dein Hundemon wieder bei dir ist“, maulte er.

    „Dazu hätte ich dich schon anrufen müssen. Er ist erst seit heute Morgen da.“

    „Ach? Gab´s einen Anlass?“

    Ryan schürzte abwägend die Lippen. Die richtige Antwort wäre wohl gewesen, dass es nie einen echten gegeben hatte, Hundemon – sowie jedes einzelne seiner anderen Pokémon - überhaupt zu Hause zu lassen. Doch diese Erkenntnis war ihm erst heute im Pokémoncenter gekommen. Die Erkenntnis, dass er nur sehr kurz davorgestanden hatte, sich von ihnen abzuwenden, neu anzufangen, in der Hoffnung aufgestauten Schmerz und Frust hinter sich lassen und der Niedergeschlagenheit entkommen zu können. Doch nachdem er nur eine kurze Zeit lediglich mit Panzaeron und nun einem jungen Hydropi unterwegs gewesen war, spürte er wieder das Band, welches er vor langer Zeit zu ihnen geknüpft hatte. Ein ganz banales Gefühl, das jedes Lebewesen von Zeit zu Zeit verspürt, sobald ihm etwas Wertvolles genommen wurde, hatte ihn das erkennen lassen. Er hatte sie vermisst.

    Allerdings war dies kein Grund für Ryan gewesen, seine Pläne gänzlich zu überdenken. Noch immer stand ihm der Sinn nach einem neuen Kapitel in seiner Laufbahn und das würde bedeuten, dass er neue Partner brauchte. Doch würde er es nun im Leben nicht so beschreiben, dass er von vorne anfangen wollte. Er wollte einfach weitermachen. So hatte er sich nicht davon abhalten lassen, zwei gute Freunde wieder an seine Seite zu holen.

    „Ja, den gab´s irgendwie. Und ich bin so froh, dass ich ihn erkannt habe.“

    Andrew zog die Brauen zusammen. Er hatte eine simple Unterhaltung beabsichtigt und nicht in solch Tiefgründigkeit abzudriften, wie Ryan gerade im Begriff war zu tun. Er versuchte die Stimmung wieder in eine andere Richtung zu lenken.

    „Gar nicht mal unpraktisch ein Feuerpokémon zu haben, wenn Hydropi gegen Pflanzen Typen im Nachteil ist“, bemerkte er leicht unsicher und lächelte dabei aufgesetzt. Gott war ihm das hier unangenehm.

    „Hydropi ist jetzt ein Moorabbel.“

    Andrew blickte ihn zunächst einige Sekunden an, als befürchtete er verarscht zu werden. Darauf ließ das häufige Blinzeln zumindest schließen.

    „Und Despotar ist auch bei mir.“

    Als würde man ihm eine immer schlimmer werdende Nachricht schrittweise offenbaren, warf Andrew resignierend die Arme in die Luft.

    „Da liegt man mal eine Zeit lang flach und bei dir dreht sich eine ganze Welt, oder was?“

    „Nur von deinem bescheidenen Blickwinkel aus.“

    Nun musste er wirklich aufrichtig lächeln. Er kam nicht drum herum, eine Veränderung an seinem besten Freund festzustellen. Er war total locker und unbeschwert, gerade eben zwar noch leicht abwesend, aber nicht bedrückt. Eher nostalgisch und voll ausgeglichen. Ryan gab eigentlich immer vor so zu sein, doch schien es bislang, als hätte er nur eine lächelnde Maske getragen, durch die er als sein bester Freund jedoch mühelos hatte hindurchsehen können. Sie beide kannten sich einfach zu lange, um es zu übersehen, wenn der andere aufgewühlt oder nachdenklich war. Ganz zu schweigen von den gelegentlich dezent auftretenden Depressionen, die er in letzter Zeit hatte vermuten müssen. Vor allem aber fiel ihm auf, dass er Hundemon seines Geschlechts entsprechend und nicht mit dem neutralen „es“ angesprochen hatte. Früher war das für sie beide selbstverständlich gewesen, doch irgendwann hatte er diese Angewohnheit verloren und – von Psiana abgesehen – hatte auch er selbst sich immer wieder dabei erwischt, wie er seine Pokémon so unpersönlich angesprochen hatte. Oft schob er seinem besten Freund die Schuld dafür zu und selbst wenn er sich die größte Mühe gab, ehrlich zu sich selbst zu sein, war er sich noch sicher, dass der ausschlaggebende Impuls von Ryan ausgegangen war. Und jetzt, ganz plötzlich, war er wie ausgewechselt. Irgendetwas war mit ihm passiert. Als wäre in seinem Kopf ein Schalter umgelegt worden, der zu seiner früheren Persönlichkeit, seinem jüngeren Ich gehörte. Zum ersten Mal seit ihrem gemeinsamen Aufbruch hatte er das Gefühl Ryan – den echten, unverfälschten Ryan vor sich zu haben.


    Der Tag schritt weiter voran. Die jungen Trainer tauschten sich weiter über ihre Gefährten aus und Andrew erfuhr weitere Details über den Zustand seiner eigenen. Besonders die gute Nachricht bezüglich Dragonir stimmte ihn heilfroh. Nicht nur, dass sich der Drache gut erholte, er würde sie auch sehr bald wieder an seiner Seite wissen können. So wie er diesen Satz in Gedanken durchging, stellte er fest, dass er sich wohl angewöhnen sollte, Schwalboss und Magnayen als männliche Geschöpfe anzusprechen. Dragonir war dagegen, ebenso wie Psiana, weiblich. Ob dieser Impuls von Ryan ausging, weil der plötzlich dasselbe tat? Vielleicht. Zumindest teilweise.

    Es war unnötig zu erwähnen, dass er Ryans Sinneswandel befürwortete und ihm dieser sehr gefiel. Nicht nur von einem freundschaftlichen Standpunkt aus, sondern auch aus neutraler Perspektive. Und er befand, dass er jenen unterstützen sollte. Oder besser, sich dem anzuschließen.

    Bald wurde es Nachmittag. Der Gesprächsfaden der jungen Trainer riss zu keinem Zeitpunkt ab. Doch nach einiger Zeit konnte Ryan einfach nicht anders, als den bereits sehr ereignisreichen Tag in Gedanken noch einmal durchzuspielen. Am Morgen war er noch in Andrews Krankenzimmer gewesen, worauf eine sehr wichtige Selbstfindung auf den Straßen der Stadt und schließlich der Besuch im Pokémoncenter gefolgt waren. Weiterhin hatte er eine vielversprechende, neue Gefährtin gefunden und seit langem wieder mit Hundemon gespielt. Letzterem maß er deutlich mehr Bedeutung bei, als man angesichts der Banalität des Unterfangens vermuten mochte.

    Doch dazwischen hatte es noch etwas gegeben. Das wohl wichtigste und folgenschwerste Erlebnis des heutigen Tages. Die Begegnung mit einer Frau namens Mila und ihrer Partnerin. Zwei Menschen, von denen er nicht das Geringste wusste und denen er doch etwas seines Glaubens schenkte, hinsichtlich dessen, was sie ihm zu sagen gehabt hatten. Das Wort Vertrauen würde er in Verbindung mit ihnen jedoch keineswegs in Erwägung ziehen. Zu zwielichtig war ihr auftreten, zu bedrohlich das stille Mädchen gewesen. Und verdammt noch mal, wenn tatsächlich ein Funken Wahrheit in Milas Worten bezüglich der Wichtigkeit und der Gefahr des grünen Orbs steckte, warum hatte sie sich dann nicht wenigstens ein bisschen konkreter ausdrücken können? Was für ein Spielchen hatte sie im Sinn? Kein normaler Mensch würde sich zudem auch nur ansatzweise so verdächtig verhalten und gleichzeitig so vage erklären. Von der Art und Weise, wie sie plötzlich aufgetaucht waren – das unheimliche Kramshef mal außen vorlassend – über die befremdliche Erscheinung und Ausdrucksart bis hin zu der unheilvollen Prophezeiung war nichts an dieser Begegnung gewöhnlich, geschweige denn Vertrauen erweckend gewesen. Und dennoch konnte er den Gedanken an sie nicht beiseiteschieben. Er war zu stur, zu energisch. Hatte sich völlig in Ryan festgebissen. Auch würde er sich wohl nicht trauen, ihre Warnung einfach zu ignorieren, was bedeutete, dass er und Andrew möglichst bald nach Graphitport City aufbrechen müssten. Die größte Metropole Hoenns war von Faustauhafen aus glücklicherweise gut zu erreichen. Der Schiffsverkehr der Hauptstadt war sowohl in Bezug auf Industrie und Handel als auch auf Personentransport und Tourismus enorm. Sicher würden sie morgen, nachdem Andrew seine Pokémon abgeholt hatte, problemlos eine Überfahrt erwischen können. Doch zunächst einmal galt es, Andrew irgendwie die Dringlichkeit klarzumachen. Doch wie sollte er das anstellen? Er hatte ja nicht einmal den Diebstahl des grünes Orbs gebeichtet und er hatte es auch weiterhin nicht vor. Zu groß war Ryans Angst, ihn bald nicht mehr in seinem Besitz zu wissen. Er musste eine andere Karte ziehen.

    „Hey, Andrew. Ich hab nachgedacht.“

    Als würde ihn die Aussage völlig schockieren, riss Andrew die Augen auf und fiel Beinahe zu Boden. Entgeistert und mit zitternden Händen starrte er in das überraschte Gesicht seines besten Freundes und schien kaum ein Wort hervor zu bringen. Erst nachdem er den vorgespielten Schock verarbeitet hatte, fand er seine Stimme wieder.

    „Nachgedacht? So richtig mit deinem Hirn und so?“

    Ryan konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, obwohl er im Augenblick nicht in Stimmung für Andrews Humor war. Daher knuffte er ihm auch sofort vergeltend in sie Seite, was ausreichte, um ihn von der sitzenden in die liegende Position zu befördern. Ausgiebig lachte er ihn von dort unten an.

    „Lass den Blödsinn, ich will was Ernstes bereden.“

    „Okay, okay. Ich hör zu“, versicherte Andrew rasch und hob kapitulierend die Arme. Er hatte gehofft, Ryan mal wieder so richtig anstacheln zu können, aber den Zug erwischte er heute wohl nicht mehr. Seine Aufmerksamkeit sammelnd richtete er sich wieder auf und begab sich in den Schneidersitz.

    „Ich sag´s einfach mal gerade raus“, begann Ryan etwas zögerlich. Die Aussage würde jetzt wahrscheinlich auf Verwunderung und Unverständnis stoßen, doch er war sich sicher, auf diese Weise das Thema am schnellsten und vor allem am wenigsten unangenehm anschneiden zu können.

    „Ich hab ein bisschen umgeplant und würde vorschlagen, dass wir morgen die Fähre nach Graphitport nehmen.“

    Erwartungsvoll sah er Andrew in die Augen. Er hatte sich in den wenigen Sekunden, in welchen er sich seine Worte zurechtgelegt hatte, mehrere Möglichkeiten ausgemalt, welche Reaktionen ihn erwarten könnten. Eine davon schloss unbehagliche Momente der Stille sowie schnelles Augenblinzeln seitens Andrew ein und genau das war nun eingetreten. Doch was danach geschah, hätte er niemals erwartet. Andrew nickte langsam.

    „Ja, kann ich verstehen.“

    Ryans Stirn legte sich in hundert Falten. Hä? Was passierte hier denn gerade?

    „Echt?“

    Wie selbstverständlich erhielt er ein erneutes Nicken.

    „Ja logisch. Du hast wahrscheinlich längst davon gehört, was? Hättest mir ruhig sagen können, dass wir hier nur unsere Zeit verschwenden.“

    „Moment, Moment“, unterbrach Ryan. Irgendwas hatte er wohl nicht mitbekommen. Er musste schnell Klarheit erlangen, bevor er sich hier verplapperte und Andrew stutzig wurde.

    „Damit wir uns richtig verstehen...“

    Er ließ den Satz offen. Er wusste nicht genau, wie er formulieren sollte, doch nachdem er auch ein paar Sekunden später nicht weitergesprochen hatte, befand er es für das Beste, den Rand zu halten und die erdachte Aussage als offensichtlich auszulegen, damit Andrew von allein weitersprach. Und Andrew begriff endlich!

    „Die Arena. Du meinst doch, dass wir uns eine andere suchen sollten, oder?“

    „Öhm. Nein.“

    Noch im selben Moment schlug Ryan sich in Gedanken gegen die Stirn. Wieso hatte er das denn jetzt gesagt? Jetzt musste er sich irgendwie retten.

    „Was ist mit der?“

    „Na die ist geschlossen, du Tiefflieger. Ehrlich, du hast die letzten Tage wohl nie unter Menschen verbracht, was?“

    Geschlossen? Okay, immerhin etwas Kontext. Aber geschlossen?

    „Kann sein“, murmelte er und versuchte, die Unsicherheit mit gespieltem Eigenhumor zu übertönen.

    „Gibt´s einen Grund?“

    „Keinen guten, wenn du mich fragst. Der Leiter ist noch für mindestens zwei Wochen weg. Ich hab in der Stadt ein paar Leute getroffen, die mich erkannt haben. Hab die Gelegenheit genutzt, mich ein bisschen bei denen schlau zu machen. Der Arenaleiter soll wohl so ein lässiger Surferboy sein, der nicht allzu viel auf sein Amt gibt und lieber am Stand abhängt. Er hat deswegen ständig Stress mit der Kommission und der Trainer-Gesellschaft, macht´s aber trotzdem.“

    Mit einem Seufzer lehnte sich Andrew an den Baum und breitete ratlos die Arme aus.

    „Lange Rede, kurzer Sinn – der Kerl ist im Urlaub.“

    Jetzt kam Ryan sich verarscht vor. Nicht dass es jetzt eine tragende Rolle spielte, aber wenn er darüber nachdachte, was sie beide hatten durchmachen müssen, um auf diese elende Insel zu kommen, nur um dann vor verschlossener Tür zu stehen. Mila und Orb hin oder her, den Kampf hätte er vor der Abreise gerne bestritten. Mit seinen neuen alten Partnern wäre das kein Thema gewesen.

    „Das ist nicht dein Ernst. Darf der Spinner das denn?“

    „Wenn er ständig irgendein Gremium an der Backe hat, sicher nicht. Aber die sind wohl ziemlich inkonsequent.“

    Die Beschreibung traf es nicht mal annähernd. Wie konnte so ein Typ überhaupt Leiter einer Arena werden? Für diesen Posten war nicht nur enormes Können, sondern auch ein gewisses Maß an Disziplin und Autorität eine unerlässliche Voraussetzung. Was bildete sich dieser Penner eigentlich ein? Solch eine Halbherzigkeit gehörte zu den Dingen, die Ryan richtig auf die Palme brachten. Erst recht sobald er darunter zu leiden hatte.

    „Also haben wir die Arschkarte“, stellte er fest und ließ sich nach hinten ins Gras fallen.

    „Mal wieder. Als wolle uns jeder Typ, jedes Pokémon und jeder Stein und Hoenn sagen, dass wir uns verpissen sollen.“

    Andrews Schlussfolgerung war gar nicht mal so daneben. Höchstens ein bisschen. Aber Tatsache war, dass sie seit ihrer Ankunft – streng genommen sogar noch davor – nur Ärger und Enttäuschungen am Hals hatten. Und hiermit hörte es nicht auf.

    „Wenn du das mit der Arena nicht wusstest, warum willst du dann eigentlich nach Graphitport, Ryan?“

    Die Frage versetzte ihm einen unangenehmen Stoß in der Magengegend. Den hatte er sich allerdings selbst zuzuschreiben. Schließlich hatte er so blöde auf Andrews Neuigkeiten reagiert, womit das hier unausweichlich geworden war. Er brauchte einen Grund. Einen Grund, der sie beide in die Hauptstadt ziehen sollte und nicht mit der Geschichte von zwei ominösen Frauen sowie einer beunruhigenden Warnung in Verbindung stand. Kurz leuchteten Ryans Augen auf. Leicht stützte er sich auf die Ellenbögen. Das war die Idee!

    „Summer Clash.“

  • Hallo Shimoto,


    endlich geht es weiter und es freut mich echt zu hören, dass du die geschriebenen Kapitel nochmal retten konntest. Dann kann es jetzt ja nur noch besser werden und ich hoffe, dass dich die Schreibmotivation dementsprechend gepackt hat.
    Auf jeden Fall, bevor es los geht, ein paar Zitate:

    „Und was hast du schon wieder angestellt? Machst du´n Wettrennen, oder was?“

    Den Akut (also ein Akzent) als Apostroph zu verwenden ist eigentlich falsch. In der Regel gibt man den über Shift+Kreuz ein, liegt aber bei dir, ob du dich umgewöhnen möchtest.

    Lachend setzte sich Ryan auf und hob kapitulierend die Hände, worauf das Unlichtpokémon triumphierend die Vorderpfoten auf seine Beute stemmte und zum nicht sichtbaren Mond aufheulte.

    Ganz der Wolf, dieser Hund. Finde die Szene aber echt gut gemacht, weil Hundemon auf die Weise nicht nur als ernstes, sondern auch verspieltes Pokémon dargestellt wird.

    Früher war das für sie beide selbstverständlich gewesen, doch irgendwann hatte er diese Angewohnheit verloren und – von Psiana abgesehen – hatte auch er selbst sich immer wieder dabei erwischt, wie er seine Pokémon so unpersönlich angesprochen hatte.

    Das ist mitunter eins der besten Dinge dieses Kapitels. Ich find's nämlich nicht selbstverständlich, dass dieses Problem direkt angesprochen wird, das ja schon seit Jahren bei Pokémon der Fall ist. Umso besser, dass du jemanden damit anfangen lässt und der andere darüber nachdenkt, wie sich wohl seine Pokémon fühlen würden.


    Letztendlich dominiert das Kapitel aber Ryans Neuzugang Kirlia, die sich überraschend mutig und zeitweise auch sehr schüchtern oder zurückhaltend gibt. Dadurch bleibt sie sehr gut in Erinnerung, weil du auf diese Weise starke Charakterzüge hervortreten lässt, die sich nicht nur beim verbissenen Kampf gezeigt haben, sondern auch danach, als sich Ryan um Kirlia kümmern möchte. Interessant war dabei auch die Reaktion auf Hundemon, dem sie kurz davor noch beweisen musste, wer von beiden stärker ist. Das ist auch nicht so selbstverständlich, dass sich zwei bekämpfende Pokémon kurz danach schon verstehen können oder sich zumindest so weit akzeptieren, dass sie sich nicht anfallen. Find's auf jeden Fall gut, dass du diese Szene eingebracht hast.
    Alles Wichtige war dabei: Die Pokémon-Jagd, der ausführlich beschriebene und spannende Kampf und ein ruhiger Ausklang, der bereits zum nächsten Abenteuer leitet. Mal sehen, was sich in Graphitport tut.


    Wir lesen uns!

  • Moin, moin und hallo Rusalka,


    schön, dich hier wieder zu sehen. Oder überhaupt jemanden ^.^



  • Kapitel 21: Im Angesicht des Feindes


    „Also ich kann´s noch immer nicht fassen, dass Bax gegen die beiden verloren haben soll.“
    Die leicht beschwibste Stimme des Mannes in schwarzer Uniform zerriss die fast unheimliche Totenstille des Leerstehenden Büros auf fast grobe Art und Weise. Wie ironisch, wenn man bedachte, dass vor wenigen Monaten in eben diesem Raum, diesem Gebäude, viele hundert Angestellte einer großen Agentur gearbeitet hatten. Doch nun war der Kasten vom Keller bis zum Dach ungenutzt. Naja, offiziell zumindest. Inoffiziell hatte hier eine wichtige Zweigabteilung von Team Rocket einen Unterschlupf gefunden. Nicht mal wirklich schwierig war es gewesen, ein großes Gebäude mitten in der Stadt zu bekommen sowie sicher zu stellen, dass kein Außenstehender es je betreten würde. Ein paar Schmiergelder hier, zwei, drei verdeckte Agenten da, etwas Equipment und schon war eine kleine, unscheinbare Basis direkt zwischen Boutiquen, Kiosks, Drogerien, Discountern und dergleichen entstanden. Diese dämlichen Beamten waren wahrlich nicht viel gerissener als dumme Zivilisten. Immerzu prahlten sie mit Fortschritten im Fall Team Rocket, ohne zu wissen, dass sie hier in Hoenn gerade mal an der Spitze des Eisberges kratzten.
    „Sag bloß, dir tut das Arschloch leid? Wenn´s nach mir ginge, hätten sie ihn mit 'nem saftigen Tritt in eine Zelle ohne Licht schmeißen können. Scheiße, was ich dafür gegeben hätte, ihm selbst diesen Tritt zu verpassen.“
    Der Zweite gluckste ebenfalls angetrunken. Wenn ein ranghohes Mitglied ihrer Bande oder sogar der Schwarze Lotus zugegen wäre, würde niemandem von ihnen im Traum einfallen, hier im Dunkeln zu saufen. Doch was blieb denn hier schon zu tun? Es war spät abends. Oder gar schon mitten in der Nacht? Zu Hölle, keiner von ihnen hatte die Uhrzeit im Bilde, doch es war jedenfalls stockdunkel und gähnend leer draußen auf den Straßen. Die Vorhänge zuzuziehen wäre wohl gar nicht nötig gewesen. Zu dieser Zeit Wache zu schieben war echt eine Strafe.
    „Aber echt. Bax war ein jähzorniger Mistkerl, nicht mal besonders wichtig. Ohne ihn sind wir alle besser dran“, stimmte ein dritter Rocket zu und warf die Klinge seines Springmessers, mit dem er die ganze Zeit schon herumhantierte, auf eine provisorisch angefertigte Zielscheibe aus Holz, die am Türrahmen hing. Ein weiteres steckte noch darin. Zuvor hatten sie ihre Wurftechniken verglichen und waren zu dem Ergebnis gelangt, dass sie sich nicht einig wurden, wer der beste von ihnen war. Doch das war vorhin gewesen, bevor sie die erste Flasche voll klarer und intensiv riechender Flüssigkeit, geöffnet hatten. Das spärliche Licht der einsamen Deckenlampe über dem Tisch, auf dem Alkohol, Gläser und ein randvoller Aschenbecher Platz fanden, ließ auf selbige kaum etwas erkennen, da die Glühbirne dem Ende ihres Seins entgegensah. Kaum konnte man die zerdrückten Fluppen im Aschenbecher zählen, selbst in nüchternem Zustand. Ein Zustand, den sie alle bereits abgelegt hatten.
    „Vor allem gibt´s dadurch Aufstiegschancen“, ergänzte er schließlich, wobei er plötzlich sehr wichtig und euphorisch klang.
    „Also für mich wäre das nichts.“
    Die Begeisterung hielt sich bei dem, der sich selbst gerade noch dabei vorgestellt hatte, den von ihm so verhassten Bax höchstselbst zu attackieren, in Grenzen. Voll Gleichgültigkeit zündete er sich eine weitere Zigarette an.
    „Schon klar, bist nicht der Typ für Führungspositionen. Magst keine Verantwortung, hast keinen Bock auf großkotzige Bosse und noch weniger auf strohdumme Untergebene. Aber wir alle wissen, dass du´s einfach nur nicht drauf hast. Alter, wir haben das alle tausendmal gehört, komm endlich klar.“
    „Leck mich,“ kommentierte der Verspottete nur gelangweilt und füllte sich ebenfalls das inzwischen mal wieder leere Glas. Wenn das so weiterging, würde nochmal einer zur Tanke taumeln müssen, um Nachschub zu holen. Hoffentlich kam es nicht so weit. Er wäre diesmal nämlich dran. Vielleicht war es keine schlechte Idee, ein wenig kürzer zu treten. Selbst wenn die Flasche zu bald leer würde, bestünde dann eine Chance, dass die beiden zu voll wären, um sich an die Reihenfolge zu erinnern. Ja, dies waren so die Probleme bei später Wache.
    „Aber ist schon irgendwie krass, dass nur zwei Trainer das ganze Versteck ausgehoben haben, oder nicht?“
    „Denk dir nicht zu viel dabei, das tut dir nicht gut“, winkte der Raucher ab.
    „Hab gehört, dass der Schwarze Lotus damit schon gerechnet hat und dass dahinter irgendein Plan stehen soll. Frag aber bloß nicht was für einer, ich hab keinen Dunst.“
    „Vielleicht wollten die Bax genauso loswerden, wie wir.“
    Die Runde lachte teils belustigt und teils boshaft über die Vorstellung. Im Team Rocket gab es selten nennenswerten Klatsch oder heiße Gerüchte – Dinge eben, über die man sich während einer zur Trink- und Rauchrunde umgestalteten Nachtwache unterhalten konnte. Der Vorfall in den Wäldern von Wurzelheim bildete da schon den Höhepunkt der letzten Monate, also lange vor ihrer Ankunft in Hoenn. Diese war innerhalb der letzten Wochen sorgfältig vorbereitet worden.
    „Mensch, die Lampe auf dem Flur macht mich bald noch irre.“
    Die anderen beiden wussten gleich, was er meinte. Seit sie in diesem Nebenzimmer nahe des Haupteingangs hier im dritten Stock Platz genommen hatten, flackerte das kalte Licht ununterbrochen. Wäre noch eine Tür im Rahmen, wäre das ja kein Problem, doch eben die fehlte seit der Räumung des Gebäudes.
    „Lass mal schauen, ob wir morgen eine Tür da einbauen können.“
    Einer in der Gruppe lachte trocken auf.
    „Auf so eine Schnapsidee kannst echt nur du kommen. Wie willst du in einem geschlossenen Raum Wache schieben?“
    Darauf lachten wiederum die beiden anderen, jedoch deutlich lauter und abfälliger. Einer hämmerte sogar mit der flachen Hand auf die Tischplatte.
    „Was soll der Scheiß? Schau mal, wie unsere Wachschicht aussieht! Wem willst du da was vormachen?“
    „Sag bloß du hast Schiss, dass hier plötzlich der Schwarze Lotus auftaucht und uns am Arsch kriegt?“
    Das Gelächter setzte sich fort. Ob es die Peinlichkeit war oder der inzwischen stolze Alkoholpegel, konnte keiner mit Sicherheit bestimmen. Sogar der Dritte ließ sich davon anstecken, obwohl er selbst es eigentlich war, über den die beiden lachten. Irgendwie konnte keiner aus dem Trio sich für die nächste Minute wirklich beruhigen. Das war eigentlich Warnung genug, dass es bei ihnen langsam zu heiter wurde und diese Flasche Wodka die letzte sein würde. Zumindest bis zur nächsten Schicht. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch keiner, dass sie besser gar nicht erst zu trinken angefangen hätten. Denn im Gelächter bemerkte keiner die Person im Türrahmen, deren Rücken vom flackernden Licht angestrahlt wurde und so als dunkle Silhouette erschien.


    Dreizehn Minuten. Länger hatte es nicht gedauert. In nur dreizehn Minuten hatte der Feind beinahe allen, im verlassenen Bürogebäude mitten in Graphitport stationierten Rockets, den Tod gebracht. Ein Massaker. Ein Gemetzel. Eine Schmach. Nur eine Gruppe aus vier Männern und einer Frau war übrig geblieben. Und eben diese fünf bahnten sich in absoluter Stille ihren Weg zum Ausgang. Den Weg zur Flucht durch die nächtliche Dunkelheit. Der Strom war längst ausgefallen – mit Sicherheit auch ein Werk des Feindes. Keiner von ihnen besaß auch nur im Entferntesten den Mut, sich dem zu stellen, was all ihre Kameraden, deren Leichen die Flure füllten, umgebracht hatte. Auf Zehenspitzen und ihre Waffen nervös mit Schweißhänden umklammernd näherten sie sich dem Treppenhaus. Dieses lag hinter der breiten Flügeltür, von der sie nur noch einige Meter entfernt waren. Doch sie wagten es nicht, Hals über Kopf zu rennen. Denn auf dem Weg dahin hatten sie sowohl eine Flurkreuzung als auch den Nebenraum, in dem für gewöhnlich die Nachtwache ihre Schicht absaß, passieren müssen. Schon von weitem sah man den menschlichen Arm, der aus dem Türrahmen in den Flur hineinragte und sich nicht rührte. Wie schon bei all den anderen Toten, vermieden sie es, genau hinzusehen. Nach den ersten Rüpeln mit durchgeschnittener Kehle oder mehrfach durchlöchertem Brustkorb – um nur die tödlichen der zahlreichen Wunden zu nennen – hatten sie bereits verstanden, dass hier lediglich der Tod auf sie alle wartete, sollten sie bleiben und kämpfen. Wer auch immer sie so zugerichtet hatte, hatte dies nicht bloß getan, um sie zu töten. Zu solcher Brutalität griff nur jemand, der seine Opfer als Warnung für die hochrangigen Mitglieder des Team Rocket zurück ließ.
    Das Grüppchen erreichte die Kreuzung. Mit einem raschen Handzeichen bedeutete der Mann an der Spitze einem anderen, zu ihm aufzuschließen, damit sie beide Seiten gleichzeitig inspizieren konnten. Ein kurzer, klärender Augenkontakt, dann hob einer seinen Dolch, der andere seine Schusswaffe und sie huschten in die Mitte der Kreuzung.
    „Sicher“, bestätigten beide sofort, als bloß weitere Leichen zu sehen waren. Sie ließen die anderen passieren, während sie wie Soldaten ihre Stellung hielten, um sicherzugehen, dass sich nicht doch noch etwas rührte. Schließlich folgten sie wieder dem Rest und bildeten nun die Nachhut. An der Front führte nun eine langhaarige Blondine. Der Schweiß rann ihr ebenso über die Stirn, wie ihren männlichen Begleitern und ihre Hände zitterten. In jeder Sekunde rechnete sie mit einen Angriff aus dem Hinterhalt. Sie erwartete gar nicht viel zu bemerken, sollte es zu einem solchen kommen. Ein leiser Schritt, eventuell das kurze Aufblitzen eines Messers, bevor der Stahl sich in ihren Körper bohren würde. Sie konnte Gedanken wie diese einfach nicht verbannen. Doch sie wehrte sie vehement dagegen. Sie alle taten das. Keiner wollte hier sterben. Schon gar nicht so, wie ihre Kameraden hatten sterben müssen. Immerhin der Besitz einer Schusswaffe innerhalb der Gruppe gab ihnen einen Funken Sicherheit. Als einziger in diesem Versteck besaß der Mann, welcher gerade das Schlusslicht darstellte, eine solche, da er hier das Sagen hatte. Besagte Person blickte gerade zur Decke hinauf. Genauer gesagt zum Lüftungsschacht, welcher hier an einer Stelle offen war. Das Gitter, welches da eigentlich hingehörte, fehlte. Doch da drinnen konnte sich ein normaler Mensch nie im Leben lautlos bewegen. Jeder Idiot würden es bemerken. Das beruhigte ihn ein wenig, aber ein seichter Schauer jagte ihm dennoch über den Rücken, als er sich der Stelle näherte, weshalb er seinen Blick immer mit dem Lauf seiner Waffe eisern dort haften blieb, bis sie alle vorbei geschlichen waren. Die Flügeltür kam näher. Der Weg in die Freiheit, die Sicherheit, war fast geschafft.
    Plötzlich fuhr die ganze Gruppe zusammen. Da war ein Geräusch! Augenblicklich wagte keiner auch nur einen Finger zu rühren. Ihre Körper verfielen fast ein eine Schockstarre. Jeder war sich sicher, dass ihre donnernden Herzen sie gerade würden verraten können. Das so unverhoffte Geräusch war sofort wieder verklungen. Es war wie ein... Schleifen gewesen. Als ob jemand etwas über den Teppichboden zog. Lange Sekunden verharrten sie. Bewegten sich nicht. Atmeten nicht. Warteten einfach nur, bis entweder das Geräusch ein weiteres Mal erklang, um zu bestätigen, dass ihre Sinne sie nicht getäuscht hatten oder bis währende Stille sie vom Gegenteil überzeugte. Woher war es eigentlich gekommen?
    Alle Blicke richteten sich geradeaus. So nahe. Nur ein paar Schritte trennten sie von dem Ausgang. Doch etwas stimmte nicht. Etwas war trügerisch an diesem Bild des unbeleuchteten Flures. Etwas war anders. Und als einer es bemerkte, brach er sogar das Schweigen.
    „Wo ist die Hand?“
    Eiseskälte stieg innerhalb eines Herzschlages in ihnen allen auf und versetzte jedem einen Klos im Hals. Er hatte recht. Die Hand eines Menschen, die eben noch aus der Tür des Nebenzimmers in den Gang geragt hatte. Sie war fort! Die Frau an der Spitze schluckte. Der Körper, welchem eben jene Hand angehörte, war weiter in den Raum gezogen worden und hatte wohl somit das ominöse Geräusch verursacht. Der Feind befand sich gerade auf ihrem Weg! Kurz warfen sich alle einander prüfende Blicke zu. Warten hätte keinen Sinn und einen anderen Weg hinaus gab es nicht. Davon abgesehen, dass sie sich im dritten Stock befanden, waren die Fenster seit der Räumung des Gebäudes allesamt verriegelt worden und sie gewaltsam zu öffnen, würde nur dafür sorgen, dass sie selbst gejagt werden würden. Doch hier und jetzt in diesem Moment hatten sie die besseren Karten. Sie würden den Feind überraschen können. Das war vielleicht die Chance, die sie nie zu erhalten erwartet hatten.
    So rasch, wie sie es wagten, bewegte sich die Gruppe vorwärts. Die blonde Frau winkte sich zwei Männer hinzu, die dicht hinter ihr blieben, um mit ihr den Raum zu stürmen. Einer von ihnen war nur mit einem Totschläger bewaffnet, doch ein satter Schlag mit diesem sollte in jedem Fall ausreichen, damit die beiden anderen mit ihren Stichwaffen den Todesstoß setzen konnten. Noch einmal ein kurzer Blickkontakt, während sie alle dicht an die Wand gedrängt die kläglichen Reste ihres Mutes zusammenkratzten und schließlich den Schritt wagten. Die Messerkämpfer rannten voraus, der Dritte mit dem Schlagstock hinterher.
    Drei Leichen. Das war alles, was sie hier fanden. Allesamt schlugen sie entweder eine Hand oder einen Unterarm vor den Mund und unterdrückten einen Aufschrei. Der Kopf des Mannes zu ihren Füßen war merkwürdig verdreht, schien in dieser unnatürlichen Position festzusitzen. Ein anderer lag mit dem Kopf auf dem Tisch, die Arme hingen schlaff herunter. In seinem Genick steckte ein Springmesser, das einen blutigen Schlitz hinter sich herzog. Der letzte lag auf dem Boden und war direkt ins Herz erdolcht worden. Ansonsten befand sich hier niemand. Ein Tisch, auf dem Alkohol und Aschenbecher hin und her gereicht worden waren. Das war´s. Die Blicke der Rockets wechselten stetig zwischen Schreck, Ratlosigkeit und Panik. Was hatte den Mann bewegt? Wo befand sich der Feind? Mit wem in aller Welt hatten sie es hier zu tun? Keinem von ihnen fiel das fehlende Gitter des Lüftungsschachtes, dessen Öffnung sich über der Tür befand, in irgendeiner Form auf.
    Die beiden übrigen Männer auf dem Flur wagten nicht, den Raum ebenfalls zu betreten, doch achteten sie auch nicht weiter auf ihre Umgebung. Die Mischung aus Furcht und Neugier war dafür zu verantworten.
    „Was ist?“, flüsterte einer dann schließlich.
    „Nichts“, erhielt er als Antwort. Ungläubig über selbige zogen sich seine Augenbrauen zusammen. Nun war ihre Wachsamkeit endgültig dahin. Zu ihrem Leidwesen ließ sich nur wenige Schritte hinter ihnen gerade eine Gestalt, lautlos und zielstrebig wie eine pirschende Bestie, aus dem offenen Schacht fallen, den sie alle vor einer Minute erst passiert hatten.
    Ein weiterer Mann trat in den Türrahmen, seinen Kameraden am Ende der Gruppe völlig außer Acht lassend.
    „Was soll das heißen, da ist nichts? Da muss doch...“
    Der Rocket brach ab. Erneut hatte ein verräterischer Laut hatte ihn zum Schweigen gebracht. Instinktiv folgte sein Blick ihm zurück in den Flur und fand seinen Kollegen vor, der irgendwie abwesend und mit offenem Mund in die Luft schielte.
    „Hey“, sagte der nur, selbst nicht wirklich in Gewissheit, wie er auf diesen Zustand reagieren sollte. Es antwortete ihm ein widerliches, schneidendes Geräusch von Metall, eingetaucht in menschliches Fleisch. Ein letzter Ruck begleitet von einem Schmerzensschrei, der sich auf halbem Weg die Kehle hinauf verlor, dann brach der Mann zusammen und hinter ihm kam ein Mädchen mit rubinroten Augen zum Vorschein. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Dolch mit blutverschmierter Klinge. Das Gesicht war von einem Schal verhüllt. Nur ihre Augen, furchterregende, glühende Augen konnte man erkennen. Dann ertönte doch noch ein Schrei. Lange hatte er sich zusammengerissen und war aus Angst um sein Leben so still und leise gewesen, wie wohl nie zuvor. Doch jetzt waren sie entdeckt worden. Ängstlich wich er zurück. Stolperte über seine eigenen Füße und landete auf dem Boden. Das Mädchen wischte die Klinge ihrer Waffe in aller Seelenruhe an der Kleidung ihres jüngsten Opfers sauber und steckte sie anschließend weg. Für diese Schwächlinge würde sie ihre geliebten Dolche nicht brauchen.
    Die anderen drei Rockets stürmten aus dem Raum hinaus, erkannten sofort den Feind und reagierten zunächst mit einer erneuten Schockstarre. Das Schleichen und Verstecken hatte ein Ende. Zu ihrem Leidwesen, zweifellos. Doch mischte sich die Angst mit Verwirrung. Ein Mädchen? Sie allein sollte all ihre Kameraden gemeuchelt haben? Und nun hatte sie den Boss erwischt – den einzigen Mann hier mit einer Pistole und somit einem reellen Vorteil. Doch sie waren noch immer zu viert und sie hatte außerdem gerade ihre Waffe aus der Hand gelegt. War das nicht ihre große Chance? So dachte der Mann, der nun mutig und mit einem längst nicht so überzeugenden Kampfschrei auf sie zustürmte. Er wollte ihr sein Messer tief in den Bauch rammen, doch sie fing den Stoß spielend mit einer Hand ab. Mittels einer Drehung wandte sie sich an ihm vorbei, verrenkte ihm den Arm dabei schmerzhaft auf den Rücken. Mit einem raschen Tritt gegen das Brustbein warf sie den nächsten Angreifer zurück, welcher von der Frau aufgefangen werden musste. Die konnte sein Gewicht jedoch nicht halten, weshalb beide zu Boden gingen. Der vierte Rocket war derweil von eiskalter Furcht gepackt bis zu der erlösenden Tür gekrochen und zog sich nun daran hoch. Nicht einen Gedanken verschwendete er nun an seine Kameraden. Einzig und allein das Mädchen beherrschte seine Gedanken. Er musste fliehen. Egal wohin, einfach raus und weg. Irgendwohin. Jeder Ort war ihm recht, solange er nur Distanz zwischen sie und sich selbst brachte. Jetzt nur noch die Klinke hinunterdrücken, die Pforte aufstoßen und...
    „Abgeschlossen?“
    Das war der Moment, in dem sein Blut zu Eis gefror. Kein Ausweg. Es hatte nie einer existiert. Sie waren selbst mit jedem ihrer Schritte immer weiter in die Todesfalle vorgedrungen. Doch wie war das möglich? Sie musste durch diese Tür eingedrungen sein! Einen anderen Weg hinein gab es nicht. Die Fenster waren verbarrikadiert und auf dem Dach hatten Wachen gestanden. Wie? Wie nur? Wer... war dieses Mädchen?
    Kurz sah er über seine Schulter, wand den Blick aber rasch wieder ab und kniff verbissen die Augen zusammen. Sie hatte dem Mann, dessen Arm sie noch immer festhielt, seine Waffe abgenommen und in Absicht eines zielsicheren Todesstoßes erhoben. Gerade noch hatte er wegsehen können, bevor sie ihr tödliches Werk verrichtete. Nur ein sehr kurzer Schrei. Dann das monotone Geräusch eines leblosen Körpers, der zusammenbrach und sich fortan nicht mehr rührte. Er wünschte sich im Nachhinein, er hätte die Augen gar nicht wieder geöffnet. So sah er auch der blonden Frau beim Sterben zu, die sich gerade erst wieder auf gekämpft hatte. Den Dolch mit einem Ruck aus dem zusammenbrechenden Mann befreiend, warf das Mädchen ihn mit einer zielgerichteten Bewegung aus dem Handgelenk und traf ihr Ziel in den Torso. Der Schmerz hatte sich noch nicht einmal vollends ihrer bemächtigt, da hatte die Assassine schon die wenigen Schritte bis hin zu ihr überwunden, riss den Dolch gewaltsam aus ihr heraus und schnitt ihr mit einem ebenso flinken Angriff ihre Kehle durch. Eher aus Verzweiflung als tatsächlichen Mut angetrieben, startete der nächste Rocket einen kläglichen Angriffsversuch. Lediglich mit dem Schlagstock bewaffnet wollte er in ihre offene Seite prügeln. Selbstverständlich scheiterte er. Sie fing ihn am Handgelenk ab und umschlang seinen Arm dann mit ihren beiden. Ein gekonnter Griff, ein lautes Knacken, das einen kalten Schauer beschwören mochte und ein lauter Schrei. Der Arm war gebrochen. Es folgte ein Schlag mit dem Ellenbogen an seine Schläfe. Den Totschläger entfernte sie aus seiner Hand und stach ihm mit dem Dolch, den sie noch immer in der anderen Hand führte, gnädiger Weise direkt ins Herz. Es schwieg sofort – ein schneller Tod. In Ehrfurcht vor ihrer Kraft verließen ihn seine Lebensgeister. Doch sie wollte die von ihr so vermisste Verführung des Tötens auskosten. Selbst wenn sie bloß Schwächlinge meucheln durfte. Oder eher – besonders deswegen. So wandte sie sich in einer raschen Drehung an ihm vorbei und stieß die Waffe zusätzlich in sein Kreuz, ließ sie auch dort stecken, als er zusammenbrach.
    Über ihr Gesicht hatte sich in dem Moment, in dem auch dieser Gegner fiel, die Dunkelheit gelegt. Erst als sie ihr Haupt wieder vorsichtig anhob, funkelten die roten Juwelen erneut auf, durchstachen die Finsternis. Sie fanden eine jämmerliche Gestalt eines Mannes in schwarzer Uniform, der zitternd an der Flügeltür lehnte. Das Vergnügen endete hier wohl. Der Taugenichts war erstarrt. Hatte sich bereits ergeben, wie sie an den Händen, die er ihr offen zeigte und kapitulierend anhob, erkannte. Ob er wohl etwas wie Gnade erhoffte? Wie töricht.
    Stramm und gleichmäßig waren ihre Schritte. Fast lautlos obendrein. Der letzte jedoch kam dem Rocket vor, wie eine tosenden Welle, die wütend gegen ein Kliff krachte, im energischen Versuch es zu bewegen. Eine flinke Drehung, um Kraft zu sammeln. Sie hob den Schlagstock, kostete den süßen Anblick eines besiegten Feindes und schlug selbigem direkt auf das Jochbein. Dem grausamen Geräusch zertrümmerter Knochen folgte nur Schwarz. Schwarz und Rot in flüssiger Form.
    „Kein schlechter Anfang“, war alles, was die folgende Stille durchstach.


    „Gütiger Gott.“
    Blankes Entsetzen. Das war es wohl, womit die allermeisten der schwarz uniformierten Männer und Frauen gerade zu kämpfen hatten. Im Team Rocket verbreiteten sich große Neuigkeiten selten schnell, da einfache Rüpel meist nie wirklich über solche Ereignisse in Kenntnis gesetzt wurden. Das war ein Grundprinzip dieser Organisation – dienen, folgen und kämpfen, ohne zu viel zu wissen und wissen zu wollen. Doch trat einmal der rare Fall ein, dass ein ganzes Versteck in einer Nacht zerschlagen und alle dort stationierten Mitglieder tot aufgefunden wurden, wusste es am nächsten Tag selbst jeder noch so unbedeutende Handlanger und Laufbursche in ihren Reihen. Niemand wollte bei so etwas zu den ersten gehören, die davon erfuhren, sprich solch ein Massaker mit eigenen Augen vorfinden. Doch genau das passierte hier gerade. Genau das hatten sie vor wenigen Minuten mit eigenen Augen vorgefunden.
    „Jetzt irgendwelche Götter anzurufen, wird von keinem Nutzen sein.“
    Es war eine einzelne Person, welche von der allgemeinen Atmosphäre unbeeindruckt und unberührt blieb. Mit dem Flachmann, den sie an ihre Lippen führte, um einen genüsslichen Schluck daraus zu nehmen, konnte man leicht in die Irre geführt werden. Doch dass sie ständig und zu jeder Tageszeit trank, war sozusagen ein offenes Geheimnis und stand mit diesem Schlachtfeld in keiner Verbindung. Derartiges hatte sie schon das ein oder andere Mal gesehen. Außerdem war es nicht so, dass sie mit so etwas nicht gerechnet hätte.
    „Es sind Menschen, die hier töten. Die Götter scheren sich nicht um das, was hier passiert ist.“
    Gerade untersuchte die junge Frau – die Schwelle des Erwachsenendaseins wohl gerade erst überschritten – eine weitere Leiche. Ein einzelner, zielgerichteter Schnitt hatte dieses Leben beendet.
    „Wie viele Leute waren hier stationiert?“, fragte ein kleiner Mann in die Runde, welche neben der Agentin und ihm selbst sechs weitere Rockets zählte.
    „Knapp vierzig“, lautete die Antwort.
    „Und die, die das hier angerichtet haben? Wie viele waren das wohl?“
    „Es war nur eine Person.“
    Die Antwort war von der jungen Frau gekommen, die sich gerade erhob und zur Eingangstür marschierte, ohne weiter zu erklären oder die Gruppe gar noch weiter zu beachten. Innerhalb dieser tauschte man unverständliche und schockierte Blicke aus. Hatten sie sich gerade verhört? Eine einzelne Person?
    Natürlich wusste sie, wer das hier angerichtet hatte. Darüber musste sie gar nicht erst spekulieren. Von der ersten Sekunde, seit sie auf die beiden angesetzt worden war, hatte sie befürchtet, dass sie sich früher oder später wenigstens für kurze Zeit einmal trennen würden, um sie in die Irre zu führen. Letztlich wäre es egal gewesen, wem von ihnen sie nachgejagt wäre. Die blonde Frau hätte das Versteck ebenso im Alleingang ausräuchern können. Vielleicht hätte sie kein ganz so grausames Blutbad hinterlassen, doch unterm Strich machte es keinen Unterschied.
    Ein etwas älterer Mann unterzog die große Flügeltür, welche nur zur Hälfte geöffnet war, da an der anderen noch immer ein toter Rocket lehnte, einer genauen Betrachtung. Sofort stand er stramm, als er sie auf sich zukommen sah.
    „Die Tür war verschlossen.“
    Ihre Aussage war mehr der Beginn einer Zusammenfassung dessen, was sie bereits wussten, als eine Frage.
    „War sie“, bestätigte er sofort.
    „Und der einzige Schlüssel für sie ist dieser hier.“
    Sie präsentierte besagten Gegenstand in ihrer Hand, welchen sie gerade bei einem der Toten gefunden hatte. Dabei zog sie mit einem undefinierbaren Funkeln in ihren bernsteinfarbenen Augen eine Braue hoch.
    „So ist es. Einen zweiten gibt es nicht.“
    Zwei aus der Gruppe, die eben noch die Toten untersucht hatten, schlossen sich der Diskussion an, achteten dabei ebenfalls auf korrektes Auftreten ihrer Vorgesetzten gegenüber.
    „Also muss die Tür aufgebrochen worden sein“, schlussfolgerte einer von ihnen. Doch erntete er nur ein Kopfschütteln seines Kollegen.
    „Sie ist unbeschädigt. Außerdem hätte das doch zu viel Lärm gemacht. Und das Schloss, das wir eingebaut haben, ist das beste, das man mit Geld kaufen kann. Unmöglich, dass das jemand geknackt hat.“
    „Aber wie...“
    Die Agentin zog die Mundwinkel nach oben. Wirklich nicht übel. Ja, das hatte sie gerissen angestellt.
    „Sie ist über´s Dach gekommen.“
    Alle Augenpaare richteten sich auf sie. Wieder spiegelte sich in ihrer aller Augen Verwirrung so wie ein Hauch Skepsis.
    „Eine Frau?“
    „Auf dem Dach waren doch auch Wachposten“, warf einer sofort ein.
    „Richtig – waren. Die sind auch tot.“
    Bis dort hinauf waren sie zwar noch nicht vorgedrungen, doch konnte sie das mit Bestimmtheit vorhersagen. Sie verstand sich schließlich auf diese Art von Menschen. In gewisser Weise gehörte sie dieser Art selbst an. Spione, Auftragskiller, Assassinen – nichts Anderes war es, worauf zu jagen sie sich spezialisiert hatte. Und hier hatte sie es sicher zweifellos mit der besten zu tun, die sie jemals als ihr Ziel bezeichnen konnte.
    „Wenn das wirklich wahr ist...“
    „Es ist eine Tatsache“, stellte die Agentin klar, noch bevor er ausreden konnte. Er sprach seine Zweifel dennoch aus.
    „Warum liegen dann so viele hier unten anstatt auf einem höheren Stockwerk?“
    Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. Die Frage war durchaus berechtigt. Dass sie jeden Einzelnen hier aus dem Hinterhalt getötet hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie hatte es selbst gesagt – Menschen waren hier am Werk. Keine Geister oder Götter. Also müssten die Männer und Frauen theoretisch hinaufgeeilt sein, um den Eindringling zu stoppen. Doch für sie war es eine ganz natürliche und logische Schlussfolgerung, während die übrigen Anwesenden gänzlich im Dunkeln tappten. Wie wohl gleich die Furcht in ihnen hinaufkriechen würde, wenn sie ihnen das ihr Offensichtliche erklärte?
    „Weil sie alle zu fliehen versucht haben.“
    Selbst nach einer Minute herrschte unter den Rockets noch absolute Stille. Gejagte und schockierte Blicke wurden ausgetauscht. Die Stimmung war erdrückend. Kaum einer rührte sich auch nur. Dieser Moment, in dem man gerade darüber unterrichtet wurde, dass der Feind übermächtig war und sie alle so enden mochten, wie ihre Kameraden hier auf den Fluren. Keiner war je auf so etwas vorbereitet, wenn man die Entscheidung traf, sich Team Rocket anzuschließen. Sicher, jeder erhoffte sich von diesem Schritt ein anderes Ziel, obwohl Verhaftung oder eben Schlimmeres immer eine Eventualität war. Doch diese eine Sache hatten alle unter ihnen gemeinsam und würde sich wohl auch nie ändern.
    Die junge Frau, die ihnen gerade die Botschaft überbracht hatte und sich ohne weiteres mit überlegenen Schritten den Schauplatz verließ, gehörte allerdings nicht zu ihrer Organisation. Wem sie tatsächlich diente, konnten Mitglieder eines niederen Standes wie sie es waren, nur mutmaßen. Nicht viel war über sie bekannt – selbst in ihren eigenen Reihen. Sie unterstand womöglich unmittelbar dem Schwarzen Lotus, doch für ihren Boss Giovanni empfand sie weder Treue noch Sympathie. Zumindest hatte sich dies so herumgesprochen. Wahrscheinlich war sie eine unabhängige Agentin, eine Einzelgängerin, die für jeden arbeitete, der sie ausreichend bezahlte. Es gab einen regelrechten Markt für solche Menschen – natürlich alles inoffiziell und hinter vorgehaltener Hand. Doch wer sich selbst auf ihm behaupten konnte, dem winkten äußerst lukrative Geschäfte. Und sie? Wenn an den Gerüchten was dran war, gehörte sie zur Elite, sprich war einer der besten in dem, was sie tat. Kaum zu glauben eigentlich, wenn man ihr rund um die Uhr beim Trinken zusah. Doch allein ihre Präsenz, ihre Aura ließ einen in Ehrfurcht erstarren. Vergleichbares kannte man lediglich vom Schwarzen Lotus selbst. Wenn selbiger die Hilfe einer solchen Frau in Anspruch nahm, waren ihre Gegner gefährlich. Doch andererseits war es beruhigend, sie, die jeden von ihnen wohl innerhalb eines Lidschlags zu töten vermochte, in den eigenen Reihen zu wissen. Oder nicht?


    Die Straßen waren zur späten Mittagsstunde voll von Menschen. Menschen mit unterschiedlichsten Intentionen. Manche spazierten gemütlich zum Zeitvertreib, manche schlenderten vergnügt beim Shoppen, andere bewunderten fasziniert die Sehenswürdigkeiten und ein paar wenige führten gar einen erbitterten Kampf. Die Rede war hier jedoch nicht von Pokémon- oder gar Straßenkämpfen. Es war eher einer der Sorte, von dem die allerwenigsten Menschen überhaupt wussten, dass er gerade ausgetragen wurde. Noch befand er sich in der Frühphase. Die Kontrahenten tasteten einander ab, loteten Grenzen und Fähigkeiten aus. Doch der Tag würde kommen, an dem jede einzelne Person nicht bloß hier in Graphitport, sondern in ganz Hoenn davon betroffen sein würde. Vielleicht würde der Kampf sogar weltweite Konsequenzen nach sich ziehen, doch das wagte sie sich nicht vorzustellen. Immer wieder beschlich diese grausame Eventualität die Gedanken der jungen Frau, während sie plante, schätzte, überlegte, wie sie all dies möglichst rasch und mit möglichst wenigen zivilen Opfern beenden könnte. Doch einen solchen Weg zu finden war unmöglich, da der Verlauf nicht allein in ihren Händen lag. Alles wäre so viel einfacher, wenn dem so wäre. Gerade vorhin erst hatte sie überlegt, ob es nicht irgendwie zu verhindern gewesen wäre, Ryan Carparso in ihre Angelegenheiten zu involvieren. Doch die Erkenntnis war im Grunde längst gekommen, dass es dafür bereits seit seines Eindringens in das Versteck bei Wurzelheim zu spät war. Niemals würde er ihn ihr überreichen und selbst wenn, wüsste sie nicht, ob sie ihn wirklich in ihrem Besitz wollte. Gerne würde sie behaupten können, sie erachte ihn bei seinem derzeitigen Träger als am Sichersten. Immerhin war Ryan Carparso durchaus in der Lage, sich zu verteidigen, befand sich ständig unter vielen Menschen und somit im Schutz der Masse sowie dem seines Reisegefährten. An ihn heranzukommen wäre für die einfachen Mitglieder Team Rockets fast unmöglich. Doch es gab weit gefährlichere Agenten unter ihnen. Wenn der Schwarze Lotus es wirklich ernsthaft auf ihn abgesehen hätte, wäre er wohl längst beseitigt worden. Dennoch war es wohl selbst unter Berücksichtigung dieser Fakten klüger, ihn nicht selbst zu tragen. Denn sie kam dem Feind immer näher und damit stieg auch die Gefahr, ihn irgendwann an selbigen zu verlieren. Ihn zu verstecken war ebenfalls keine Option, da sie keinen Ort wüsste, an dem er nicht gefunden werden könnte und sie zudem permanent beobachtet wurden. In dieser Angelegenheit durfte sie einfach nicht leichtfertig sein.
    Auch das wäre ihr eine willkommene Ausrede. Doch letztlich gab es nur einen Grund, warum sie diesen verfluchten Kristall nicht an sich genommen hatte und auch nicht an sich nehmen wollte. Und zwar, weil sie Angst vor ihm hatte.
    Die Frau bog in eine Allee ab. Hauptsächlich befanden sich hier Lokale, Cafés und dergleichen. Schmale, blühende Laubbäume säumten die Straße mit ihrem Grün, spendeten ein wenig Schatten in der sommerlichen Hitze und sorgten für einen seltenen Kontrast in dieser ansonsten naturarmen Metropole. In diese Reihe hinein war ein Zeitungsstand errichtet. Zwischen selbigem und eben einem der Bäume huschte eine weibliche Gestalt hervor. Zielstrebig hatte sie auf die blonde Frau gewartet. Aus dem Augenwinkel nahm diese die Bewegung wahr und wurde in der nächsten Sekunde mit dem Anblick einer Auftragskillerin belohnt – ihrer Auftragskillerin und außerdem Partnerin.
    „Ich schätze es nicht, an solch offenen Treffpunkten zu warten.“
    Ihre Beschwerde war ruhig ausgesprochen und gründete allein auf die Gefahr, entdeckt zu werden. Ihr persönlicher Ärger wäre für jeden anderen Menschen verschleiert, doch kannte Mila sie einfach zu gut. Natürlich wusste sie, dass es ihr missfiel.
    „Bitte verzeih. Du darfst deine Gedanken dazu frei aussprechen. Aber ich muss dich bitten, es noch eine Weile zu ertragen.“
    Die Antwort stimmte sie keinesfalls zufrieden, doch lag das nicht an der Aussage selbst. Das Mädchen wandte den Blick ab und zupfte ihren Schal zurecht. Ihn trotz dieser Jahreszeit zu tragen, hatte ihr bereits viele, verständnislose Blicke eingebracht. Doch sie trug ihn immer und das würde sich auch nicht ändern.
    „Nun redet meine Gebieterin, als müsse sie sich bei mir entschuldigen. Womit willst du mich noch strafen?“
    Jedes einzelne Wort so nüchtern und unzugänglich wie immer, doch zog Mila dennoch die Brauen zusammen.
    Gebieterin.
    Dieses Wort hatte sie lange nicht benutzt. Zwar hatte ihr Wortschatz nie gänzlich in diese Epoche gepasst, doch sprach sie auch niemals eine Silbe unbedacht aus. Vielleicht wollte sie darauf hinweisen, daran erinnern, dass sie sich niemals beschweren, protestieren oder mit Mila auf eine Stufe stellen würde. Nicht weil sie es nicht wagte, sondern weil sie es nicht wollte. Sie nahm Befehle an, führte sie aus, berichtete von ihrem Erfolg. Das war alles, was sie je getan hatte und je tun wollte.
    „Gab es Probleme?“
    „Keine.“
    Die beiden setzen sich in Bewegung, passten sich der Menge an und marschierten durch die Straßen, ohne Aufsehen zu erregen. Ihre Unterhaltung führten sie vorsichtig, immer mit einem Auge ihre Umgebung inspizierend. Es war keine Paranoia, die sie verfolgte. Lediglich behielten sie ihre Vorsicht und ihre Aufmerksamkeit bei, die ihnen so oft schon das Leben gerettet hatte. Nur weil Team Rocket eine fähige Agentin angeheuert hatte, gab es keine Garantie, dass sich kein einfacher Rüpel als Zivilist ausgab und sie belauschte.
    „Du wirkst zufrieden.“
    Ohne sie anzusehen, nickte die Jüngere knapp.
    „Ich tue alles, was du mir aufträgst, dies weißt du. Doch weißt du auch, dass ich am liebsten die Dinge tue, die ich gut kann.“
    Mila seufzte angesichts ihrer Vorahnung.
    „Soll ich raten? Du hast... es sehr ausgekostet?“
    Zwischen den Zeilen fragte sie auf diesem Wege, ob sie ein sehr grausames Gemetzel veranstaltet hatte. Nicht dass sie Mitleid mit ihren Feinden hatte. Dafür war hier einfach kein Platz. Doch es bereitete ihr keine Freude, wenn Menschen so etwas angetan wurde. In gewisser Weise war es traurig. Nicht mehr und nicht weniger.
    Wieder nickte das Mädchen bloß, was mit einem Seufzen quittiert wurde. Sie sah keinen Fehler in ihrem Handeln. Das Töten selbst war nichts als eine Art – ihre Art – ein Ziel zu erreichen. Oder in diesem Kontext auszulöschen. Doch es sprach nichts dagegen, äußerst brutal vorzugehen, um Angst unter ihren Feinden zu säen. Jedenfalls würde es ihnen sicher kein Nachteil sein. Doch viel mehr beschäftigte sie ein anderer Gedanke.
    „Rechnest du wirklich fest damit, dass Ryan Carparso deinem Ruf folgen wird?“
    Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie ihn bei ihrem Treffen im Wald augenblicklich umgebracht. Durch den Vorfall bei Wurzelheim wusste er bereits zu viel. Nicht direkt über den Gegenstand, den er gestohlen hatte – allein dass ihm seine Existenz bekannt war, überspannte den Bogen.
    „Und wenn ich in unserer Lage noch so wenig garantieren oder versichern kann. Für sein Kommen lege ich meine Hand ins Feuer“, antwortete sie mit dem leichten Anflug eines zuversichtlichen Lächelns. Würde dieser Optimismus doch auf ihre Partnerin überspringen. Doch derartiges stand nicht im Raum. Zumindest nicht in dem Raum, in welchem sie lebte. Für sie zählten bloß Fakten, Tatsachen, Ergebnisse. Keine Chancen, keine Eventualitäten, keine Umwege. Nichts davon hatte sie je gebraucht.
    Sie stoppten. Gleichzeitig, mit demselben Schritt unterbrachen sie ihren Weg. Die zwei Augenpaare verengten sich. Ein Mann mittleren Alters stolperte tollpatschig an ihnen vorbei und sah sie kurz mit zusammengezogenen Brauen an. Wahrscheinlich überrascht vom plötzlichen Halt der beiden. Er wurde nicht beachtet. Nur weiter den Gehweg entlang zielten die Blicke. Zwischen der Vielzahl von Zivilisten stach eine Person unverkennbar hervor. Niemand, an dem sie vorbeischritt, kam um einen flüchtigen Blick herum, Manche wanden sogar noch einmal den Kopf nach ihr und musterten ihre Rückseite genauestens. Das Klackern ihrer schwarzen Absätze auf dem gepflasterten Gehweg schien zwischen all den Geräuschen der Menschenmassen um sie herum herauszustechen, war für Mila und ihre Partnerin jedoch fast wie ein donnerndes Warnsignal. Die schwarze Stoffhose wurde um die Knöchel ein wenig weiter und endete nach einem langen Weg bis zum oberen Ende in zwei weißen Gürteln, welche mit glänzenden Nieten besetzt waren. Allerdings handelte es sich bei jenen aufgrund der Tatsache, dass sie sehr lose um ihre schmalen Hüften lagen, bloß um Accessoires. Die Ärmel ihrer perlweißen Bluse waren bis zu den Ellenbogen hochgeschoben und gaben schwarze Armbänder mit eisblauen Runen darauf preis. Ihre ebenfalls schwarze Stoffweste, die etwas an die Uniform einer Kellnerin erinnerte, war nicht zugeknöpft. So sah man mehrere, silberne Halsketten, hauchdünn und mit einigen, glänzenden Steinchen in derselben Farbe, wie die Runen auf den Armbändern, bis auf Höhe ihrer Taille herabbaumeln und im Takt ihres Ganges mitschwingen. Das halblange, schwarze Haar war auf der linken Kopfseite hinter ihr Ohr, an dessen Läppchen ein schwarzes Piercing mit eingelassenem Edelstein funkelte, gekämmt und mit Spray in Position gehalten. Auf der rechten Seite hatte sie es nach vorne gestylt, sodass eines ihrer zartvioletten Augen fast gänzlich verdeckt wurde. Diese Augen, die nicht eine Sekunde etwas Anderes als Mila fixiert hatten und den Rest ihres Umfeldes gänzlich auszublenden schien. Mit weiten Hüftschwüngen steuerte sie die Blondine zielgenau an, bis sie direkt vor ihr stand. Nur eine Unterarmlänge voneinander entfernt fochten ihre Blicke miteinander. Um sie herum nahmen die wenigsten von der obskuren Situation Kenntnis und jene die es taten, keine Anteilnahme. Bloß das Mädchen mit dem Schal und den stechend roten Augen hielt sich und ihre Messer bereit. Diese waren sicher vor flüchtigen Blicken an ihrem Körper versteckt.
    „Warst du es, oder sie?“, fragte sie schließlich, während ihre Augen zwischen ihnen wechselte. Eine Antwort wollte nicht folgen.
    „Habt ihr eine Ahnung was für ein Aufwand es war, die Sauerei aufzuräumen?“
    Sie klang nicht wütend, feindselig oder dergleichen. Auf ihren Lippen lag ein verschmitztes Lächeln und sie schien eher aus Neugier zu fragen.
    „Nicht dass ich mir selbst die Hände an diesem armen Trotteln schmutzig machen würde, aber ich bin eine viel beschäftigte Person und ihr...“
    Sie wechselte auffällig das Standbein und stemmte eine Hand in die Seite, während die andere in der Luft gestikulierend nach den richtigen Worten suchte.
    „Ihr stehlt mir durch solche Ärgernisse meine kostbare Zeit. Zeit die ihr gar nicht wert seid.“
    „Was wollt Ihr von uns?“, verlangte Mila schließlich harsch zu wissen.
    „Ihr seid nicht dumm genug, mitten auf der Straße mit uns kämpfen zu wollen, oder?“
    Ihre Partnerin hoffte innig, dass sie die Frage bejahen würde. Ob in nächtlichem Schutz oder tagsüber in der Öffentlichkeit, das scherte sie nicht im Geringsten. Diese Frau zu töten war ihr oberstes Ziel und vielleicht endlich der Gegner, nach dem sie suchte. Schon seit so langer Zeit.
    Die ominöse Frau legte den Kopf leicht schief.
    „Sagte ich gerade nicht, dass ich keine Zeit für euch habe?“
    „Dann beantwortet meine erste Frage. Was wollt Ihr von uns?“
    Ihre Stimme wurde nachdrücklicher. Sie musste sich zügeln und Obacht geben, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sie alle zu ziehen. Diese Konfrontation auf offener Straße war bereits Unheil genug.
    „Ausgezeichnete Frage“, bemerkte die Schwarzhaarige bloß, hob dabei bedeutend den Zeigefinger.
    „Doch die bessere wäre wohl, was ihr eigentlich wollt? Oder konkreter, was ihr zu erreichen versucht?“
    Die Frau trat noch einen Schritt näher an Mila heran. Sie war noch ein paar Zentimeter größer und beugte sich daher leicht, um ihr direkt in die Augen zu sehen.
    „Tut ihr das, was ihr tut, aus edlem Pflichtbewusstsein heraus? Klammert ihr euch noch an alte Schwüre oder Versprechen? Erzählt es mir, sprecht aus, was euer sinnloses Handeln antreibt.“
    Mit jedem Satz wuchs ein finsteres Grinsen in ihrem Gesicht, gepaart mit einer beinahe faszinierten Stimme, die nach Antworten verlangte. Es war, als sei sie gefesselt von unwiderstehlicher Neugierde. Sie ließ sich vom unbegründeten Optimismus der beiden begeistern und genoss es gleichzeitig, sie sich an bereits nicht mehr existierende Hoffnung klammern zu sehen.
    Mila drehte den Spieß geradewegs um und antwortete ihrerseits nicht auf die Fragen. Dies hatte jedoch nichts mit Antipathie – welche bei ihr in Mengen vorhanden war – zu tun, sondern bedachte sie sich einfach darauf, ihr nichts zu verraten, was ihr in irgendeiner Form Hinweis auf ihre Pläne sein könnte. Doch im Gegensatz zu ihrem Gegenüber umging Mila ihre Fragen nicht, sondern hüllte sich in Schweigen, versuchte mit Körpersprache aufzutrumpfen. Dass diese erkannt und vernommen wurde, war frei von jedem Zweifel. Selbst ein Narr würde erkennen, was ihr fester Stand, die geballten Fäuste und der geneigte Blick aus entschlossenen, funkelnden Augen zu bedeuten hatte.
    „Jetzt sag nicht...“
    Als hätte man ihr gerade eine schockierende Botschaft überbracht, machte die fremde Frau einen Schritt zurück und drückte sachte eine Hand vor den Mund. Das verdutzte Mila und ließ sie einmal blinzeln.
    „Ihr glaubt tatsächlich noch, es aufhalten zu können?“
    Sie wartete keine Antwort ab, ignorierte die himmelblauen Augen, die zu schmalen Schlitzen wurden und lachte trocken, beinahe spöttisch auf.
    „Oh, ihr seid zu amüsant“, bemerkte sie und griff sich an die Schläfe. Nichts deutete auf einen vorgegaukelten Akt hin. Ihre Reaktion war weder falsch noch überzogen. Es war ihr voller Ernst.
    „So beschäftigt könnt Ihr wahrlich nicht sein, wenn Ihr selbst für diese Farce die Zeit findet. Ihr wisst es bereits seit längerem“, lautete der Konter.
    „Nun sei nicht so steif, Mila. Kein Grund, unser kleines Spielchen nicht zu genießen.“
    Auf wirklich nichts, was Mila anschnitt, stieg sie auch nur im Geringsten ein. Fast wünschte sie, es wäre anders.
    Zum ersten Mal wanderte der Blick der Fremden an ihr vorbei und fiel auf ihre schweigsame Partnerin. Interessiert zog sie eine Braue hoch und ging ihr ein paar Schritte entgegen.
    „Du bist also die, von der Bella mir erzählt hat.“
    Ihre Augen wanderten prüfend ihre Statur hinab und wieder rauf. Sie grinste erneut. Verschmitzt.
    „Diese Augen. Zum Fürchten. Sie sind wirklich wunderschön. Ich muss sagen, du hast nicht im Geringsten übertrieben, Bella.“
    Das Mädchen, das bislang so still und teilnahmslos gewesen war, wandte desinteressiert und abweisend den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Keine willkürliche Seite, denn auf einer spürte sie beinahe schon die Berührung. Und jene Berührung widerte sie bereits jetzt an.
    „Deine Komplimente sind weniger wert als Dreck.“
    Da war er. Der feminine Arm, der sich um ihre Schulter legte, als seien sie vertraute Bekannte und schwarzes, welliges Haar, dass ihre Wange kitzelte.
    „Aber, aber. Du wirst doch nicht rot werden, oder?“
    Die Agentin lächelte den Assassinen unschuldig und doch irgendwie verräterisch von der Seite an. Obwohl sie es ein wenig kränkte, dass sie offenbar schon wieder nicht unbemerkt geblieben war. Das galt jedoch nicht für Mila, welche über die Schulter lugte und alle Mühe aufbringen musste, ihren Schock zu verbergen. Es war tatsächlich Bella. Die, die ihnen in den vergangenen Tagen auf Schritt und Tritt gefolgt war. Für einen kurzen Moment huschten die bernsteinfarbenen Augen zu ihr hinüber, was sie dazu veranlasste rasch den Blick abzuwenden. Sehr zufrieden damit schmunzelte Bella und inspizierte schließlich den Assassinen etwas genauer.
    „Ich habe zwar bereits erzählt, dass du ein... bildhübsches Exemplar bist. Aber das ist auch für mich das erste Mal, dass ich dich aus der Nähe betrachten kann.“
    Anzüglich wanderte ihre rechte Hand – in der linken hielt sie einen Reisebecher, der jedoch nicht nach Kaffee, dafür aber verräterisch nach Alkohol roch – von der Schulter, über den muskulösen Rücken, ihre Seiten hinab und legte sich aufdringlich auf die breiten Hüften. Jede Stelle wurde genausten ertastet.
    „Und ich stelle fest, bei dir ist wirklich alles da, wo es hingehört.“
    Nach wie vor erhielt sie keine echte Reaktion. Weder auf ihre Worte, noch auf ihre Hände. Ein wenig ernüchternd und auch frustrierend, wie sie eingestehen musste. Doch nicht gänzlich unerwartet.
    „Deine Anstößigkeit ist ebenso bodenlos wie deine Trinklaunen“, merkte sie bloß nüchtern an, ohne sich eine Blöße zu geben. So einfach war sie weder in Verlegenheit noch in Unsicherheit zu bringen.
    „Ah, du Biest“, schnurrte Bella heißblütig. Wie sehr sie sich jetzt bereits auf die Begegnung freute, die mit Blut gefeiert werden würde.
    „Zu schade, dass du dich dem Willen dieser Frau unterordnest. Du bist viel zu hinreißend, um die Sklavin einer vernarrten Gläubigen zu sein.“
    Damit hatte Bella einen Nerv getroffen. Sklavin? Vernarrte Gläubige? Über sie selbst sollten die Menschen ruhig sagen, was immer sie wollten. Das könnte sie nicht weniger interessieren. Doch Mila stellte ein Tabu dar. Niemand würde jemals über sie urteilen dürfen, solange sie – ihr verlängerter Arm – atmete. Ein klein wenig musste sie sich sogar Mühe geben, die Beherrschung nicht zu verlieren und einen ihrer geliebten Dolche in ihren Hals zu bohren.
    „Keine Sklavin“, schaffte sie gewohnt monoton zu beteuern. Sie musste ihren eigenen Wunsch hinten anstellen. Zumindest bis Mila etwas Anderes befahl. Oder eher erlaubte.
    „Ich bestrafe ihre Feinde. Das schließt dich ein, wie du weißt.“
    „Nur zu gut“, entgegnete Bella grinsend. Ihr gefiel dieser Umstand sehr. Das war nicht zu verfehlen.
    „Überlege dir also schon mal ein paar letzte Worte. Vielleicht werde ich gnädig genug sein sie anzuhören.“
    Man konnte förmlich sehen, wie das Herz der Agentin einen Sprung machte. Endlich hatte sie es geschafft, den Wall dieses Mädchens bröckeln zu lassen. Die Stille und Abweisung mit welcher sich der Assassine stetig umgab, schwächelte wenigstens für einen Satz. Sie ließ sich auf die Provokation ein und sprach Drohungen, wie es sich für eine Mörderin gehörte. Fabelhaft!
    „Du bringst mich richtig in Stimmung, meine Süße. Mit jeder Minute steigt mein Interesse an dir. Du bist so anziehend, aufreizend...“
    „Das genügt, Bella.“
    Ohne den Blick abzuwenden, entfernte sich die Agentin einen Schritt vom Objekt der Begierde, erlaubte ihrer Hand aber bis zu allerletzt an ihrem Kinn zu verweilen und ihr Gesicht ihr ihre Richtung zu ziehen. Davon befreite sich das Mädchen jedoch mit einer faden Kopfbewegung. Zu schade. Ihre Mauer war bereits wieder voll errichtet.
    Mila sah sich nun von der Frau, die über Bella befahl, flankiert. Sie lächelte nach wie vor heimtückisch, schickte sich aber zum baldigen Gehen. Ihre Blicke richteten sich geradeaus, aneinander vorbei.
    „Seht eurer Aussichtslosigkeit ins Auge. Ihr erspart mir lästigen Ärger und verlängert euer Leben.“
    Mila ließ den Kopf sinken. Über ihre Augen legte sich ein Schatten und ihre Schulter spannten sich. Die verzweifelte Erkenntnis, dass man verloren hatte, so wollte man meinen. Doch weit gefehlt.
    „Gelebt habe ich lange genug. Ihr dagegen bereits zu lang.“
    Ein kurzer Seitenblick. Mehr schenkte sie ihr nicht. Welch eine Pein sie doch war. Ihr Ziel wäre so viel schneller und einfacher erreicht, würde sie endlich aufgeben. Doch wenn sie auf diese Weise zu sterben beabsichtigte, sollte es so sein. Kurz zuckte ihr Mundwinkel noch einmal nach oben. Vielleicht könnte sie dem ganzen noch etwas Freude abgewinnen. Falls nicht, würde Bella es umso mehr. Jener bedeutete sie mit einer knappen Handbewegung, zu folgen. Sie hatte sich schon halb abgewandt, da flüsterte sie dem Assassinen noch ein letztes Mal ins Ohr.
    „Bye, bye. Ich freue mich auf unser Rendezvous.“
    Eine abweisende Antwort ersparte sie sich diesmal. Sie war bereits müde, dies zu tun.
    Eine geschlagene Minute später hatten sich die beiden noch nicht gerührt. Mila hielt Kopf und Schultern weiterhin unten und schien fast depressiv, geschlagen, doch wusste ihre Partnerin, dass sie angestrengt nachdachte. Für gewöhnlich unterbrach sie ihre Gedanken nicht, doch eine Frage brannte auf ihrer Zunge. So heiß, dass sie diese nicht halten konnte.
    „Wieso hast du mir nicht den Befehl gegeben?“
    Sekunden vergingen, ohne irgendein Anzeichen, dass Mila die Frage erfasst hatte.
    „Du sagtest einmal, sie zu töten stünde an oberster Stelle. Warum lassen wir sie dann ziehen?“
    Erneut schien sie keine Antwort geben zu wollen. Zunächst. Doch gerade als die Frage mit mehr Nachdruck wiederholt werden wollte, erhob sich ihre leise, abwesende Stimme.
    „Du verstehst das falsch.“
    Endlich richtete sie sich zu voller Körpergröße auf und blickte über ihre Schulter die Straße entlang. Die Richtung, in der der Schwarze Lotus verschwunden war.
    „Sie war es, die uns gehen ließ.“

  • Kapitel 22: Death so close


    „Wenigstens ist diesmal nichts Schlimmes passiert. Also lass die Nörgelei stecken.“
    „Für dich vielleicht. Ich hab sicher drei Kilo verloren.“
    Aus irgendeinem Grund versuchte Ryan wirklich aufrichtiges Mitgefühl für seinen besten Freund zu entwickeln. Wohl lag das daran, dass er vor ein paar Tagen beinahe draufgegangen wäre und sie beide einander spürbar noch eine Stufe näher waren – was sie aber weder aussprachen noch offen zeigten. Über den sentimentalen Part waren sie hinaus. Dennoch scheiterte er bei seinem Vorhaben samt und sonders. Dass es Andrew während der Überfahrt so mies gegangen war, hatte er selbst zu verschulden, da er die Klinik ganz erwartungsgemäß zu früh endgültig verlassen hatte. Und das trotz des unschön verlaufenen Ausflugs, den er einen Tag vorher noch unternommen und welcher in beobachtender Position bei Ryans Pokémonjagd geendet hatte. Sein Körper war noch etwas angeschlagen von Stress und Medikamenten, weshalb er den etwas rauen Wellengang nicht sehr gut verkraftet hatte.
    „Als hättest du zuletzt so viel gegessen. Außerdem hast du´s noch geschafft, zielgenau in den Mülleimer zu kotzen. So schlimm kann´s nicht gewesen sein.“
    Andrew zog gierig die salzige Meeresluft ein, die über dem Hafen von Graphitport City lag und dem Smog der Großstadt trotzte. Fernab der See würden sie hier wohl kaum in den Genuss solch angenehmer Luft kommen.
    „Du bist nicht grad fürsorglich“, stellte der leicht blasse Trainer fest.
    „Ich geb mir auch keine große Mühe.“
    Bei all den schönen wie schweren – vor allem schweren – Erinnerungen an die letzten Tage sollte der Wind nun endlich drehen. Die jungen Trainer hatten sich ein neues Ziel gesetzt und wollten ihre erste gemeinsame Reise in die Richtung lenken, die sie von Anfang an angestrebt hatten. Ein Aufschwung, ein Ruck, frischer Wind in ihrer Karriere, um sich irgendwann den Lebenstraum erfüllen zu können, eine nationale Liga zu gewinnen. Streng genommen hatte Ryan das bereits geschafft, doch verbot das Gesetz ihm als Minderjährigen das, was sich eigentlich hinter dem Triumph in solch einem Wettbewerb verbarg. Der wahrhaftige Preis neben dem Ruhm, Preisgeld und einer Trophäe. Das Recht, die Top Vier der Region herauszufordern. Das wollten sie beide unter den Dingen, die mit ihren Karrieren in Verbindung standen, mehr als alles andere. Und selbstverständlich wollten sie die großen Vier aus ihrer Heimatregion. Doch zunächst mussten sie stärker werden und mehr Erfahrung sammeln. Hier in Hoenn.
    Dieser Zielsetzung hatten sie bislang überhaupt nicht nachgehen können. Ryan würde das auch weiterhin nicht. Nicht sofort zumindest. Denn nun galt es, einer Herzensangelegenheit nachzugehen.
    „Du schaffst es doch allein zum Pokémoncenter, oder?“
    Auf einmal klang er keineswegs mehr spöttisch, schadenfroh oder desinteressiert. Die Frage war ganz nüchtern und offen.
    „Ja, geht schon.“
    Einige Sekunden sahen sie einander wortlos an. Unsicherheit über den Gegenüber. Unsicherheit über sich selbst. Nicht mehr und nicht weniger war es, was ihr Schweigen bezeugte. Was Ryan zu erledigen hatte, fiel niemandem leicht, der seine Situation kannte. Andrew hatte das Glück, dabei nicht mitreden zu können. Er kannte diese schwarze Maske des Lebens nur vom Hörensagen. Er würde gerne etwas tun. Irgendetwas, um Ryan beizustehen, ihm eine Hand zu reichen. Doch der hatte dies schon immer abgelehnt. Er wollte niemanden mit diesem Teil seines Lebens belästigen.
    „Verschwinde schon. Wir sehen uns später.“
    Andrews Worte waren kumpelhaft. Sie taten, was in der Macht so weniger Worte lag, um ihn aufzubauen und wenigstens ein bisschen das Gefühl zu vermitteln, dass er jemanden hatte, der ihm beistand. Doch dieses Thema hatte er immer umgangen. Würde es vielleicht auch immer tun.
    „Bis dann“, verabschiedete er sich und ging Richtung Promenade entlang. Andrew steuerte die Hauptstraße an, die ins Zentrum führte.
    Ryan hatte wenig später sein Handy am Ohr, als gerade der Bus vorfuhr, welchen er laut Studium des Fahrplans zu besteigen und sechs Stationen mit ihm zu fahren hatte.
    „Graphitport?“, erklang es aus dem Gerät. Die Verwunderung war hörbar, aber längst nicht so groß, wie Ryan erwartet hatte. Für gewöhnlich machte seine Mom aus jedem noch so kleinen Drama einen Riesenaufwand.
    „Ja, sind grade angekommen. Wollte dich nur wissen lassen, dass alles gut ist bei uns.“
    Normalerweise rief er aus solch banalen Gründen nicht zuhause an. Doch nachdem er und Andrew vor ein paar Tagen erst knapp dem Tod entkommen waren, hatte er einfach den Wunsch, ihre Stimme zu hören. Oder eher, sie seine Stimme hören zu lassen. Er musste den Gedanken bekämpfen, sie um ein Haar alleine zurückgelassen zu haben. Sie sollte nicht auch noch ihren Sohn verlieren.
    Dankbarer Weise verschonte diese ihn mit löchernden Fragen und lästigen Anmerkungen zu den vergangenen Tagen. Die Nachricht von ihrem Schiffbruch schien ihr wundersamer Weise entgangen zu sein, obwohl sie in den Nachrichten eigentlich ausreichend Erwähnung gefunden hatte. Doch er war dankbar dafür. Diesen Schock hätte er ihr niemals antun wollen. So blieb es schließlich bloß bei einer wirklich relevanten Frage.
    „Besuchst du deinen Vater?“
    Eine ganze, stille Minute hatte es gedauert, bis Ryan knapp bejaht hatte.


    Adam L. Carparso
    Mehr war von diesem Menschen nicht geblieben als diese gravierte – der Handabdruck eines Tengulist, dem treuesten und ältesten Partner dieses Mannes, flankierte die Beschriftung – recht simple Granitplatte mit goldenen Lettern. Weder das Datum seiner Geburt, noch das seines Todestages waren in seinen Grabstein gemeißelt. Ob dies wirklich sein Wunsch gewesen sein sollte, wusste Ryan nicht zu beantworten und wagte es auch nicht darüber zu spekulieren. Seine Mutter hatte dies veranlasst. Hatte damals vom gemeinsamen Besuch des Grabes von Adams kleiner Schwester Vivian erzählt, deren Todestag ebenfalls nicht festgehalten worden war. Ihr Grabstein benachbarte den seinen. Einmal im Jahr hatte dieser sie besucht, um für ihre Seele zu beten. Gerade einmal zwölf Jahre hat sie auf dieser Welt verbracht, bevor sie von der Leukämie dahingerafft worden war. Wäre das nie geschehen, hätte Ryan heute eine Tante von ungefähr 40 Jahren. Niemals würde er den Augenblick vergessen, als Mom ihm eröffnet hatte, dass Adam – genau wie bei seiner Schwester Vivian – nicht wolle, dass vorbeigehende Menschen sich genötigt fühlten, Mitleid für das zu kurze Leben eines Fremden zu entwickeln. Im Tode seien alle Menschen gleich, so hatte sie ihn zitiert. Ryan hatte dies nie begreifen wollen. Er dachte nicht gerne über den Tod nach. Die Ungewissheit, was ihn nach seinem Leben erwartete, fürchtete er und mit positiven Gedanken oder unbegründetem Optimismus konnte er es nicht einfach abtun. Und das Beten lehnte er grundsätzlich ab, da er nicht wusste, an wen er seine Worte denn richten sollte, weshalb er seinem Vater stattdessen auch mit einer materiellen Geste gegenübertrat.
    Ein Strauß mit verschiedenfarbigen Schnittblumen fand seinen Platz direkt am Fuß des Grabes. Ryan blieb zunächst in der Hocke, eine Hand auf dem Stein ruhend. Ein wenig fühlte es sich für ihn an, als würde er seinem Vater auf die Schulter klopfen. Die Kiefern, welche die dutzenden, wenn nicht hunderten Gräber umgaben bogen sich leicht in einem der vielen Windstöße, die hier so unweit der Küste regelmäßig auftraten. Ryan fröstelte es ein wenig dabei. Seltsam. Es herrschten sommerliche Temperaturen. Eigentlich empfand er es absurd, bei herrlichem Sonnenschein einen Friedhof zu besuchen. Es fühlte sich einfach falsch an. Er fühle sich belogen, verhöhnt. Gar wäre ihm ein Regenschauer lieber gewesen.
    „Tut mir leid, dass ich dich so lange nicht besucht hab.“
    Erst das zweite Mal seit der Beisetzung suchte er sein Grab auf. Sein Tod war viel zu früh gekommen. Gäbe es keine Fotos, würde Ryan nicht einmal sein Gesicht kennen. So jung war er damals noch gewesen, als dieser Bastard seines Vaters Leben für das Geld in dessen Tasche mittels einer Kugel beendet hatte. Lebenslänglich hatte er für den Mord bekommen. Bis heute empfand der Trainer es als Schande, dass in Johto die Todesstrafe lange nicht mehr verhängt wurde. In anderen Regionen wäre er dafür nicht in einer Zelle, sondern auf dem elektrischen Stuhl gelandet. Ryan hatte sich oft gewünscht selbst noch den Hebel betätigen zu können.
    Obwohl seine Eltern schon vor seiner Geburt in seine heutige Heimat gezogen waren, war Mom sich sicher gewesen, dass Adam gerne in seiner Geburtsstadt begraben werden würde, hätte sie ihn je gefragt. So war es auch mit Vivian geschehen. Obwohl Ryan sich weder in Sicherheit darüber wog, noch anmaßend genug war die Gedanken- und Gefühlswelt seines ihm viel zu unbekannten Vaters kennen und verstehen zu können, schätzte er es als logisch ein. Hätte er selbst einen verstorbenen Bruder, würde er wohl auch neben ihm bestattet werden wollen. Schnell schüttelte Ryan bei diesem Gedanken den Kopf, um ihn rasch zu vertreiben. Er war nicht tot und wollte auch nicht daran denken tot zu sein.
    „Ich sollte, genau wie du, jedes Jahr herkommen“, dachte er leise mehr an sich als an Adam gerichtet. Den Gedanken hatte er schon früher angedacht. Allerdings waren die Umstände auf seinen Reisen dafür immer ein Stein im Weg gewesen. Doch nun, da er hier war und seit langem wieder mit ihm sprach, verspürte er den Wunsch. Eine Minute dachte er darüber nach, wägte ab, ob sich ein Schuld- oder Pflichtbewusstsein in diesem Entschluss verbarg. Doch er war sich ziemlich sicher, dies ausschließen zu können. Er wollte es von Herzen.
    „Es gibt so viel, was ich dir gerne zeigen würde. So viele, die ich dir gern vorstellen würde“, begann er leicht peinlich berührt, da ihm keine echten Worte einfallen wollten, die ihm gerecht erschienen. Er wurde einfach nicht gerne sentimental, weil er schlecht darin war. So bemühte er sich um einen Hauch Banalität. Versuchte mit ihm zu reden, als stünde er leibhaftig vor ihm und höre seinem Sohn zu.
    „Ich hab so viele, tolle Partner gefunden. Du würdest sie mögen, sie sind großartig. Und... und wir sind...“
    Was sollte er ihm nur erzählen? Von ihrem Erfolg? Von ihrem Misserfolg? Alltägliches? Bewegendes? Ein Stoßseufzer gegen den starken Herzschlag und den sich anbahnenden Kloß im Hals. Wie gerne würde Ryan ihm alles zeigen können. Nichts würde ihm glücklicher machen, als seinen Vater zu sehen, wie er Anteil an seinem – an ihrem Leben nahm.
    „Sie sind gut zu Mom“, sagte er schließlich. Das waren sie wahrhaftig. Nie hatte auch nur eines seiner Pokémon in ihre Richtung geknurrt, gegrollt, gefaucht oder nach ihr geschnappt. Im Gegenteil. Selbst Garados oder Nidoking fielen in ihrer Gegenwart aus ihrem rauen Schale und begegneten ihr mit liebenswerter Zuneigung.
    „Du wärst so stolz, wenn du sie sehen könntest. Sie macht sich toll als Züchterin und versteht sie alle so gut. Sie mag besonders Vulnona sehr gern.“
    Kurz lachte Ryan auf, doch er überzeugte sich selbst nicht von seiner Aufrichtigkeit. Es war gezwungen.
    „Hundemon verschwindet immer gleich, wenn sie von Mom gestreichelt wird. Es ist zu komisch, wenn er eifersüchtig wird. Und dann Panzaeron. Es ist unglaublich auf ihm zu fliegen. Panzaeron kämpft immer so aufopferungsvoll und hat mich schon so oft beschützt.“
    Ryan atmete einmal tief durch. Er musste seine Gefühle im Zaum halten, wenn er vermeiden wollte, am Grab seines Vaters zu weinen. Er wusste es nicht mit Gewissheit, doch glaubte er, dass er das nicht wollen würde. Kein Vater wollte seinen Sohn weinen sehen.
    „Und gerade hatte ich sogar das Glück ein Shiny zu fangen. Du hast mir mal von deiner Begegnung mit einem erzählt, weißt du noch?“
    Kurz drückte Ryan zwei Finger in seine Augen, verbot sich aber eine wegwischende Bewegung. Er wollte nicht weinen! Die schweren, unregelmäßigen Atemzüge versuche er niederzuringen, indem er tief Luft holte und diese erst nach mehreren Sekunden wieder ausstieß.
    „Ich wünschte du könntest sie alle sehen.“
    Verlegen massierte eine behandschuhte Hand seine Stirn, fuhr anschließend sporadisch durch das blonde Haar, während er die andere auf den Oberschenkel stemmte. So sehr er sich auch dagegen sträubte, wusste Ryan genau, dass er es bei solch belanglosen Worten nicht würde belassen können. Nicht weil er sich dazu vor seinem Vater verpflichtet fühlte. Eher weil er es von sich selbst erwartete. Er war bei weitem kein Religiöser. Doch für Adam L. Carparso wollte er eine angemessene Geste erbringen.
    „Ich weiß wirklich nicht, ob solche Worte, dass du von irgendwo immer ein Auge auf mich haben wirst, wahr sein können. Aber ich will so fest daran glauben, wie es nur geht. Solange ich das tue, kann ich glaube ich wenigstens ein bisschen Glück darin finden.“
    Ein weiterer Windzug blies verstreute Kiefernnadeln auf und ließ die Spitzen seines Haares tanzen. Gleichzeitig überkam ihn ein leichter Schauer. Schon wieder. Bei frischerem Wetter würde er es problemlos auf selbiges schieben können, doch die strahlende Sonne dieses Tages lies lediglich seine Gefühle als einzige Ursache dafür zu.
    „Ja, ich denke...“
    Kurz sah Ryan auf zum Himmel. Überdachte seinen angefangenen Satz. Konnte er das wirklich? Wahrhaftig? Aufrichtig?
    „Ich denke damit kann ich zufrieden sein.“
    Ob er das konnte, würde er wohl erst in einiger Zeit beantworten können. Vielleicht erst in Jahren. Nichts desto trotz wollte er es somit eigentlich abschließen, weshalb er sich auch erhob. Doch Ryans zitternde Schultern wollten keine Ruhe geben. Bis er nicht in der Lage war, aufrecht und ohne Reue diesen Ort zu verlassen, würde er sich selbiges nicht erlauben. Das käme einer Flucht gleich und würde seinen Vater sicher enttäuschen. Er wollte schließlich daran glauben, dass er ihn beobachtete. Doch Halt geben, seine Hand greifen und ihn aus der Trauer hinausziehen, das konnte er nicht. Das konnte nichts und niemand. Dabei könnte Ryan es wirklich gebrauchen. Da war wieder einer jener Momente, in denen seine Hand wie von selbst in seine Jackentasche wanderte. Sie fand einen harten Gegenstand mit glatter Oberfläche und asymmetrischen Kanten. Obwohl Ryan seine Lederhandschuhe trug, fühlte er sofort eine wohlige Wärme von ihm ausgehen. Rasch breitete sie sich in seinem ganzen Körper aus und er konnte fühlen, wie sein Unbehagen verflog. Sie wich einem knisternden Gefühl der Unverletzlichkeit. Er fühlte sich leicht, entspannt und... stark. Und stark wollte er sein. Für seinen Vater. Für seine Mutter. Für seine Pokémon. Und vor allem für sich selbst. Stärke würde er sehr gut brauchen können. Sie würde ihm helfen, würde ihn schützen, ihm alle Türen aufstoßen. Er fühle sich, als habe man ihm Flügel verliehen. Unfassbare Leichtigkeit breitete sich in ihm aus, als könne er über alles und jeden hinwegschreiten. Der Himmel raste ihm einladend entgegen. Jeder Gegner war nur eine Stufe hinauf zum Olymp seines Stolzes. Er würde jede einzelne nehmen, auf ihre Gesichter treten, würde dann auf sie hinabsehen und genüsslich in ihrem Neid und ihrer Missgunst schwelgen, während er auf einen überragenden Siegeszug zurückblickte. Den Siegeszug, mit dem er ein für alle Mal der Welt gezeigt hatte, wer er war. Wer Ryan Carparso war. Seinen Ballast abfallend, seine Faust erhebend, ragte über all jene hinaus, die sich ihm in den Weg stellten. Was auch in den nächsten Tagen und Wochen passieren würde, Ryan war fest entschlossen, allen Widersachern entgegenzutreten. Und wenn nötig, sie zu vernichten...
    Für einen Moment erschien ihm der Friedhof so leer, still und tot, wie es eben nur ein Friedhof sein konnte. Der Wind hatte innegehalten und die Sonne sich hinter eine kleine Wolkengruppe geflüchtet. Kein Zwitschern von Vogelpokémon, kein Rascheln, Krabbeln, Kriechen oder Rennen von irgendwelchen Waldbewohnern, die sich zweifellos auch hierher verirren mussten. Ryan blinzelte einige Male. Wann war sein Blick so abwesend gen Himmel gewandert? Und wie lange starrte er diesen schon an? Einen Moment zuvor noch hatte er doch auf dieses Grab hinabgeschaut. Dann war ihm, als sei eine Zeitspanne von undefinierbarer Länge dazwischen, die er nicht zu füllen wusste. Sie fühlte sich sehr kurz an, doch sicher war er sich nicht. Hatte er sich in seinen eigenen Gedanken verloren?
    Ryan atmete langsam und tief ein. Blickte sich um. Es war niemand zu sehen. Er hatte den Friedhof einsam betreten und war es nach wie vor. Eine Brise blies ihm entgegen, klärte seinen vernebelten Verstand. Der Gesang einiger Schwalbini erklang in der Ferne. Alles war normal. Als wäre diese Welt perfekt. Nur nicht für jene, die hier bestattet lagen.
    Ryan sah ein letztes Mal auf das Grab von Adam L. Carparso. Von Tränen und Trauer keine Spur. Ehrgeiz und Entschlossenheit funkelten in seinen Augen. Rasten durch seinen Körper. Durchstießen eine Wand in seinem Inneren, von der weder Existenz noch Bedeutung ihm bekannt waren. Doch es fühlte sich gut an, Mauern einzureißen. Wenn nötig würde er dies mit allen tun.
    „Ich werde stärker werden. Das verspreche ich dir. Du wirst stolz auf mich sein können.“
    Damit wandte er sich ab. Ein paar Sekunden noch rührte er sich nicht vom Fleck, verbot sich aber einen weiteren Blick. Diese Begegnung war sein innigster Wunsch gewesen, so sehr sich ein Teil von ihm auch gern davor gedrückt hätte. Doch an die Toten zu viele Gedanken zu verschwenden, war das Letzte, was er daraus mitnehmen wollte. Bei allem Respekt vor seinem Vater – er lebte, hatte vor lange weiterzuleben und würde sich von nichts und niemandem abbringen lassen, seine Ziele zu erreichen. Nicht von Terry, nicht von Andrew und verflucht nochmal schon gar nicht von dieser Mila. Wenn es die Situation verlangte, würde er sie alle schlagen. Mit jedem erforderlichen Mittel. Ohne zu zögern und ohne es zu bereuen.
    Seltsam. Wann waren seine Gedanken in solch feindselige Bahnen geraten?


    „Nein. Nein, auch nicht. Was glaubst denn du?“
    Selten war es zur Mittagszeit in einem Pokémoncenter still und leblos. Gerade die diensthabende Schwester Joy konnte von fehlender Beschäftigung oder gar Langeweile bestenfalls träumen. Dutzende Trainer tummelten sich in der Eingangshalle, drängten sich mehr oder weniger gesittet vor dem Empfangstresen und erhofften die Aufmerksamkeit der Ärztin zu erlangen. Die meisten wollten ihre Partner untersuchen lassen. Um diese Zeit des Tages hatten sich bereits zahlreiche Grünschnäbel und blutige Anfänger sinnlose Duelle geliefert, nur mit dem Ziel, ihre Freunde beim kindischen Wetteifern um den Titel des besten Trainers unter ihnen auszustechen. Dies waren jene Trainer, für die ihr Dasein als solche nicht mehr als ein Hobby war. Freizeitpokémonkämpfer quasi.
    Und wegen dem stolzen Haufen solcher war an den Bildtelefonen am hinteren Ende der Halle kaum das eigene Wort zu verstehen. Vom Wort des Gesprächspartners ganz zu schweigen.
    „Ja, hab ich. Was? Nein, hab ich nicht“, war im akustischen Tumult herauszufiltern. Eine junge, weibliche Stimme war es. Ihre Besitzerin hielt mit ganzer Kraft das freie Ohr zu und drückte den Hörer fest an das andere, während sie angestrengt versuchte, die Geräuschkulisse hinter sich auszublenden und ihre große Schwester am anderen Ende der Leitung zu verstehen.
    „Ich hab doch gesagt, dass es ein paar Tage dauern wird. Ich weiß, aber ich kann jetzt noch nicht zurück.“
    Vehement versuchte man sie zur Heimkehr zu überreden. Sie von der Sinnlosigkeit ihres Unterfangens zu überzeugen. Doch dem würde sie sich nicht beugen. Sie war schon weit gekommen. Und sie war nahe dran.
    „Nein. Hör zu, ich muss weiter. Ich ruf morgen wieder an, ja? Ja, ist gut. Bis dann.“
    Seufzend hing sie den Hörer auf und ließ einen Moment den Kopf fallen. Manchmal war ihre Familie eine kleine Plage. Und manchmal eine große. Hielten sie noch immer für ein übermütiges, kleines Kind. Dabei hatte sie nicht selten das Gefühl, die reifste Person unter ihrem Dach zu sein. Doch dazu stand ihre Sturheit und Verbissenheit in einem krassen Gegensatz. In Faustauhafen hatte sie ihn verpasst. Dank der Information von Joy, der offenbar von seinen Plänen berichtet worden war, hatte sie wenigstens die Fähre noch erwischen, ihn auf der Überfahrt nach Graphitport jedoch einfach nicht finden können. Für ganz schlau hatte sie sich noch gehalten, als sie beim Anlegen völlig verfrüht angetreten war, um somit als allererste das Schiff verlassen und alle Passagiere anschließend überschauen zu können. Doch hatte sie die Menschenmassen sträflich unterschätzt. Nicht nur war sie direkt in den Fußverkehr des Hafens hineingedrängt worden, sodass sie sämtliche Übersicht rasch verloren hatte. Auch waren ihr aussteigende Passagiere in derartigen Wellen entgegengekommen, dass einen einzelnen unter ihnen herauszufinden sich als Ding der Unmöglichkeit herausgestellt hatte. Nun war sie also hier – in der größten Metropole Hoenns – und suchte nach einem einzigen Trainer. Wenn das nicht klasse war.
    Es wäre zu schön gewesen, wäre sie in Faustauhafen nicht diesem Andrew, sondern Ryan in die Arme gelaufen. Doch das wäre wie aus einer kitschigen Romanze geklaut. Solche Glücksfälle gab es im echten Leben nicht. Melody atmete einmal tief ein und massierte ihre Stirn, um ihre Gedanken zu klären. Nachdenken, logisch schlussfolgern. Das Pokémoncenter, in welchem sie sich gerade befand, war das nächstgelegene zum Hafen. Gerade einmal zwei Straßen trennten es von der Promenade. Ihr erster Gedanke war natürlich gewesen, dass anreisende Trainer dieses gleich aufsuchen würden. Auf der anderen Seite gab es mit Ausnahme der hier so zahlreichen Grünschnäbel eigentlich für keinen einen echten Grund. Schließlich trat keiner eine Fahrt mit der Fähre mit erschöpften oder gar verletzten Pokémon im Schlepptau an und aus welchen Grund sollte man nach jener Fahrt direkt hierher?
    Was auch immer Ryans Ziel in dieser Stadt war, er hatte es wohl direkt angesteuert. Doch was könnte dieses Ziel sein? Die Arena? Klang naheliegend. Vielleicht sollte sie es da versuchen.
    „Erzähl keinen Scheiß!“
    „Ist so, schwöre.“
    Melody warf einen leicht verachtenden Blick über die Schulter. Selbst bei dem beachtlichen Lärmpegel vor dem Tresen schafften es zwei Jugendliche in der Sitzecke, wo nebenbei ein Fernseher die aktuellen Infos in der Trainerszene ausstrahlte, noch hörbar herauszustechen. Vielleicht taten sie das gezielt, um einander verstehen zu können. Andernfalls gingen ihre Worte wohl ebenso unter, wie der Ton des Fernsehers.
    „Was ist denn los?“, schaltete sich eine dritte Person in die Unterhaltung der beiden ein. Offenbar kein Unbekannter für sie.
    „Der hat vorhin Ryan Carparso am Hafen gesehen!“
    „Quatsch nicht!“
    „Doch, Mann.“
    Hatte sie gerade richtig gehört? Ryan Carparso? Mit einem Mal waren alle Umgebungslaute für sie ausgeschaltet. Es herrschte Stille in ihrem Kopf. Nur die Unterhaltung, die von der Couch ausging, erreichte ihr Gehör. Sofort gesellte sie sich in die Runde.
    „Entschuldigung, hast du gerade Ryan Carparso gesagt?“
    Keiner aus der nun vier Personen zählenden Gruppe bemerkte, wie eine weitere Person in der hintersten Ecke des Raumes den Kopf in ihre Richtung neigte, als der Name fiel.
    „Oh, Alter“, stieß der Junge – vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahre, wie seine Kumpels – teils belustigt, teils genervt aus und ließ sich auf die Lehne fallen. Dabei fuhr er sich durch den Ansatz des roten Haares.
    „Am besten ich heb ein verdammtes Plakat hoch, damit´s auch jeder gleich weiß.“
    „Sorry“, meinte Melody gleich, meinte es aber nicht so wirklich ernst. Der Typ interessierte sie grade kein Stück. Nur das, was er eventuell wusste.
    „Weißt du zufällig, wohin er gegangen ist, oder was er in Graphitport will?“
    Der bald-vielleicht-Plakat-Träger zog eine Braue hoch.
    „Bist du´n Fan?“
    „Eher Bekannte“, antwortete sie wahrheitsgemäß.
    „Hab nicht mit ihm geredet, also nein.“
    „Aber, wenn er ausgerechnet jetzt hier ist, denk ich, dass er beim Summer Clash mitmachen will“, fügte nun ein anderer hinzu. Der war etwas älter und sah mit seinem langen, schwarzen Haar, das unter einem modischen Hut herauslugte, etwas aus wie ein Hipster.
    „Summer Clash? Was´n das?“
    Die drei sahen sich an, als hätte sie gefragt, was denn bitte ein Pokéball sein soll. Herablassendes Gelächter versuchten sie mit nicht allzu viel Mühe zu unterdrücken, weshalb Melody ein kurzes Kichern zu ertragen hatte. Sie versuchte sich an einer etwas finsteren Mimik, um klar zu stellen, dass sie sich nicht verarschen lassen wollte. Als die Jungs das bemerkten, verstummten sie gleich, lächelten aber weiter. Nur etwas verlegener.
    „Du kannst definitiv nicht von hier sein. Der Summer Clash ist so ziemlich das größte und wichtigste Turnier in der Region. Abgesehen von der Hoenn Liga natürlich.“
    „Findet immer am Sommeranfang statt. Ist quasi die Generalprobe für die Liga.“
    „Mit dem Unterschied, dass man keine Orden braucht. Kann also jeder mitmachen.“
    „Aber die Anfänger überstehen die Qualifikation eh nie. Die werden aussortiert, bevor die echten Kämpfe überhaupt losgehen.“
    Dass ständig ein anderer unter ihnen das Wort ergriff, ging Melody recht schnell auf den Zeiger. Mit jedem Satz musste sie den Kopf drehen, um den Sprecher anzusehen.
    „Wann und wo?“
    „Prime Stadium im Zentrum von Graphitport. In knapp drei Wochen.“
    „Such Carparso am besten im Center direkt am Stadion. Das ist seit vorgestern für die Teilnehmer reserviert.“
    Melodys Herzschlag wurde kräftiger. Wenn er tatsächlich bei diesem Summer Ding antreten wollte, hatte sie ihn quasi so gut wie gefunden. Vor allem, da sie noch zwei Wochen Zeit hatte. Doch das spielte im Grunde keine Rolle. Sie wollte ihn sehen! Am liebsten gestern.
    „Wie komm ich da hin?“
    „Buslinie sechs. Ich glaub sieben Stationen vo- hey!“
    Noch bevor der Hipster seinen Satz beendet hatte, war sie aus der Runde, durch die anstehenden Trainer vor dem Tresen und schließlich durch die automatischen Schiebetüren getreten. Buslinie sechs Richtung Zentrum. Diese Worte wiederholten sich in ihrem Kopf, als seien sie das einzig wichtige in diesem Augenblick. Doch so wie sie einen Fuß auf den Bürgersteig setzte, dämmerte Melody, dass sie gut daran getan hätte, auch nach der Haltestelle zu fragen. Es war nämlich weit und breit keine zusehen.
    „Toll gemacht, Melody“, murmelte sie in sich hinein. Noch einmal zurück ins Center zu gehen und weiteren Spott über sich ergehen zu lassen, schloss sie kategorisch aus. Da machte sie lieber den Weg zurück zur Promenade. Dort war ihr schon beim Verlassen der Fähre ein haltender Bus ins Auge gesprungen und der Weg war schließlich nicht weit. Doch ihrer Eile wurde durch die Stadt und ihre Bewohner selbst ein Riegel vorgeschoben. Dichte Menschenmassen, rücksichtslose Autofahrer und Ampeln, welche den Fußgängern nur alle Jubeljahre mal für einen Wimpernschlag Grün zeigten, ließen es kaum zu, dass sie mal eine Straße überquerte. Gerade letzteres strapazierte ihre Nerven aufs Übelste – und zwar in genau diesem Augenblick. Wenigstens schien keiner der anderen, wartenden Fußgänger ihr Tippeln mit den Füßen zu registrieren. Sie musste aussehen, als ei sie auf der Flucht. Aber scheinbar machte man sich hier in so einer Metropole nicht viel aus Fremdkörpern wie ihr, die von einer abgelegenen und nur spärlich bevölkerten Inselgruppe stammte. Und doch konnte sich das Mädchen dem Gefühl nicht erwehren, beobachtet zu werden. Flüchtig warf sie einen Blick erst über die linke, dann die rechte Schulter. Beinahe hatte sie sich schon davon überzeugt, sich Dinge einzubilden, da blieben ihre Augen an einer Frau ein paar Schritte hinter ihr haften. Sie war groß, recht dunkel gekleidet und starrte sie direkt an. Einen Moment hielten sie beide Blickkontakt. Melody für ihren Teil tat es in der Hoffnung, sie würde rasch verlegen wegsehen oder feststellen, dass sie doch nicht das visuelle Ziel von ihr darstellte. Aber ihre Augen wanderten nicht. Blieben fest auf ihr haften. Nicht einmal blinzeln wollte sie. Melody war, als sei für einen langen, stillen Moment die Stadt wie leergefegt. Keine Autos, die fuhren und dröhnten. Keine Verkäufer, die warben und buhlten. Nicht einmal andere Passanten. Nur sie beide und ihr Duell.
    Ein Duell, das Melody sang- und klanglos verlor. Rasch blickte sie wieder nach vorne, als hoffte sie, nicht erkannt oder entdeckt worden zu sein. Sie stand nervös gekrümmt und starrte einen willkürlichen Punkt auf dem Straßenbelag an. Ihr Herzschlag beschleunigte sich rapide. Ihre Atemzüge wurden schneller. Wer in aller Welt war diese Frau bloß? Was spielte sie hier mit ihr?
    Endlich kam der Verkehr kurzzeitig zum Stillstand und die Fußgängerampel schaltete um. Melody war schon nach wenigen Sekunden allen anderen einige Meter voraus und tauchte in der Menge entgegenkommender Fußgänger unter. Möglichst unbemerkt änderte sie die Richtung. Anstatt der Hauptstraße weiter zu folgen, wollte sie eine Nebenstraße erreichen oder besser gleich ganz zur Promenade hinunter. Zwei flinke Straßenüberquerungen später drängte sie sich unscheinbar vor einen Lebensmittelladen und begutachtete zum Schein die ausgestellten Früchte. Dabei scannte sie immer wieder den Bürgersteig und vorbeiziehende Passanten. Nach einer guten Minute war sie sich schließlich sicher, die ominöse Frau abgeschüttelt zu haben.
    Wohl war sie einfach weiter geradeaus gegangen.
    Melody atmete erleichtert auf und kratzte sich am Hinterkopf. Schon wunderte sie sich über ihre Paranoia. Eine wildfremde Frau, die sie beobachten, gar verfolgen würde. Lächerlich war das. Von wem hatte sie denn etwas zu befürchten? Zudem hatte sie es doch eigentlich eilig. Sofort wollte sie zum Stadion und im Pokémoncenter nach Ryan fragen. Sie wollte ihn endlich wiedersehen. Sie wollte...
    Ein wuchtiger Stoß in ihrer Brust ließ ihr Herz einen ganzen Schlag aussetzen. Der nächste dafür reichte glatt bis zum Hals. Sie stand direkt neben ihr. Keine Armlänge von ihr entfernt roch sie gerade prüfend an einer Grapefruit. Melody stieß einen erstickten Laut aus und stolperte zwei Schritte zurück. Scheinbar erst dadurch auf sie aufmerksam werdend, blickte die Fremde sie gleich wieder mit durchdringenden Augen an. Doch es war kein Blick der Verwunderung oder Gleichgültigkeit. Wie sie auf sie herabsah, mit leicht gehobenem Kinn. Es war wie ein Raubtier, das sein Beute fixierte.
    Stadion, Bushaltestelle – das interessierte sie gerade kein Stück mehr. Das Ziel war egal geworden. Melody wollte bloß noch weg. Sie sprintete los, als ob gerade ein Messer gegen sie erhoben worden wäre. Sie blickte nicht zurück. Das verbot sie sich. Nur nach vorne schauen und rennen, bis sie nicht mehr konnte. Gewaltsam drängte sie sich an mehreren Personen vorbei, hörte deren Proteste oder Beleidigungen nicht einmal. Die erste Hausecke war ihr gut genug, um dahinter zu verschwinden. Ihre Gedanken rasten in diesem Augenblick. Wohin? Welche Richtung? Wie schnell? Wie weit? Wo sie ankommen würde, interessierte sie jedoch nicht im Geringsten. Es galt einzig und allein die Verfolgerin abzuschütteln. So registrierte sie eine kleine Lücke im ansonsten dichten Straßenverkehr und schlüpfte kurzerhand zwischen zwei Autos hindurch, die ein wenig Abstand zueinander besaßen. Dass der heranfahrende Wagen wegen ihr unverhofft abbremsen musste und daraufhin wütend hupte, nahm sie nur am Rande wahr. Auf der anderen Seite angekommen rannte sie den Häuserblock bis zu seinem Ende hinab und bog dann nach links. So musste sie dem Sichtfeld der Frau doch eigentlich entkommen sein, oder? Sie wagte nicht, es zu prüfen. Lieber nutzte sie die Gelegenheit, die eine gerade grüne Fußgängerampel ihr anbot und überquerte erneut die Straße. Ein Gedankenblitz trieb sie in Richtung einer schmalen Gasse. Einmal erreicht, gönnte Melody sich ein paar Sekunden, um nach Luft zu ringen. Sie hatte es erst nicht bemerkt, doch hatte sie offenbar seit Beginn ihrer Flucht keinen Atemzug getan. Gehetzt drängte sie sich eng an die mit Graffiti besprühte Hauswand, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rang nach Luft.
    Das war doch absurd! Sie kam sich vor wie in einem schlechten Film. Es tauchten keine wildfremden, obskuren Personen auf der Straße auf und verfolgten einen, wie ein Tier. Doch wurde Melody hier wirklich verfolgt? Sie huschte an die Hausecke und lugte vorsichtig auf die Straße.
    Sie kam direkt auf sie zu! Befand sich schon auf ihrer Straßenseite und marschierte mit schnellen, strammen Schritten in ihre Richtung. Das war doch...
    Melody dachte gar nicht erst weiter. Sie machte kehrt und zwang ihren Körper erneut zu Höchstleistungen. Doch diesmal kam sie nur ein paar Schritte weit. Die Gasse besaß eine kleine Nische, in der wohl die Abfalltonnen, die einfach auf dem Boden lagen, stehen sollten. Die Flüchtige bereitete sich schon darauf vor, über sie hinweg zu springen, da trat aus der Nische eine Gestalt hervor. Eine Hand erfasste die ihre, die andere ihre Schulter. Blitzschnell wurde sie herumgerissen und dann gegen die Hauswand gedrückt. Dann spürte sie, wie eine Hand ihren Schopf griff und den Kopf in den Nacken zog. Schließlich blitzte das Messer auf. Melodys Bewegungen gefroren augenblicklich. Ihre Kehle lag der Stichwaffe völlig entblößt gegenüber. Die Klinge konnte nur Millimeter von ihrer Haut entfernt sein. Beinahe war es ihr, als läge sie schon darauf. Doch das konnte auch Einbildung sein. Bedingt durch die Todesangst, die gerade in ihr aufstieg. Ein schrumpfendes Gefühl in der Bauchregion verursachte eine beklemmende Leere ihres Körpers. Jeder Muskel war angespannt, doch würde sie von nicht einem davon eine Bewegung wagen. Wäre die Waffe nicht so nahe, würde sie wohl Hyperventilieren, doch kämpfte sie verzweifelt dagegen an, um keinen Kontakt mit der Klinge zu provozieren.
    Dann stockte ihr Atem erneut. Vor ihr stand ein Mädchen. Kaum älter als sie selbst. Eine Komplizin der Frau von der Straße? Sie erahnte die Antwort bereits, als das leichte Echo der Gasse gleichmäßig Schritte an sie herantrug. Nur Sekunden später stand sie vor ihr. Der Blick genauso, wie an der Ampel und dem Lebensmittelladen. Starr, eindringend, den Kopf leicht erhoben. Aus ihrer ohnehin hohen Position fühlte Melody sich sofort von ihr bedroht. Von dem Messer an ihrer Kehle ganz zu schweigen.
    Einige Momente lang sagte niemand etwas. Die Stille machte sie wahnsinnig. Was wollten die beiden? Was war der Grund für diese Drohung? Doch die ersten Worte der Frau galten dem Mädchen mit dem Messer, als sie scheinbar beschwichtigend eine Hand auf ihre Schulter legte.
    „Sei doch nicht so grob. Nun lass sie schon los.“
    Zunächst glaubte sie, sie hätte sich verhört. Doch tatsächlich löste sich der Griff des Mädchens, so abrupt, dass sie selbst keinen festen Stand fand und zu Boden glitt. Sofort wanderten ihre Hände zum Hals und prüften, ob nicht doch ein Schnitt dort gezogen worden war. Nichts. Sie war unverletzt. Schnelle Atemstöße sowie ein leicht ungläubiger Blick hatten sie dennoch in ihrer Gewalt.
    „Ihr fragtet vorhin nach Ryan Carparso, richtig?“
    Unsicher, was nun mit ihr geschehen würde, blickte sie auf.
    „Wir sollten uns unterhalten.“

  • Kapitel 23: Talent und Fleiß


    So schwer. So irrsinnig schwer waren ihre Glieder. Die Muskeln wollten ihr kaum noch gehorchen. Sie stank nach Dreck und Schweiß und sehnte sich nach nichts mehr als dem Ende. Doch von dem Kampf erlöst werden oder ihn gar verlieren, das kam nicht in Frage. Zitternd protestierte ihr rechtes Knie, das auf den Boden gesunken war, als sie sich unter Strapazen erhob und eine sehr wackelige Kampfposition einnahm. Nur noch ein kleines bisschen. Ihr Gegner war ebenso erschöpft. Wenn nicht noch mehr.
    Dieser brauchte bereits alle Viere, um der Erdanziehungskraft zu widerstehen. Dabei fühlten diese sich an, als seien sie mit schweren Gewichten bestückt. Seine Lungen schmerzten und sein Herz hämmerte wild in seiner Brust. Verzweifelt versuchte er, sich nicht vom Adrenalin überwältigen zu lassen, die Ruhe zu bewahren und überlegt zu handeln. Was ist nun der beste Schritt, diesen Kampf zu gewinnen? Keine andere Frage ließ er in seinem Verstand verweilen.
    Moorabbel und Kirlia hielten kampfeseifrig Blickkontakt, warteten, lauerten auf das berüchtigte Blinzeln des Gegners. Und da kam es. Das anmutige Psychowesen stellte den vorderen Fuß leicht quer. Das Amphibium erkannte den Zug wieder. Zu häufig vollführte sie immer wieder dieselben Manöver. Moorabbel sprintete los. Sowie er das tat, ging Kirlia in einer Drehung über, streckte die Arme und materialisierte in jeder Hand einen dunkelvioletten Energieball. In einer fließenden Bewegung schleuderte sie beide auf ihren Gegner. Der machte sich ohne viel Federlesen sehr klein, schlidderte durch die Erde und duckte sich so unter dem ersten Hinweg. Dann formte er seinerseits eine Kugel in der Hand, welche allerdings von blauer Färbung war. Mit einem wilden Sprung warf er den Arm nach vorne und schmetterte sie dem Spukball entgegen. Die Aquawelle entfaltete ihre Wirkung, entlud sich zu einer Wand aus kaltem Wasser und spülte alles auf ihrem Weg hinfort. So auch Kirlia, die diesen Massen schier nicht standhalten konnte. Doch dieser Treffer forderte seinen Tribut. Die finsteren Kräfte des Spukballs waren nicht verpufft. Morrabels Arm wurde mit einem schmerzenden Stechen belegt und er selbst von der Druckwelle der Kollision zurückgeschleudert. Der lilafarbene Rauch, welcher noch für die Dauer des Schmerzes von der blauen Haut aufstob, zeugte von der Wirkung von Kirlias Attacke. Wieder einige Meter auseinander konnten beide unter größten Anstrengungen nur noch den Oberkörper aufrichten. Zähneknirschend und energisch stöhnend und klagend suchten sie erneut den Blick ihres Kontrahenten. Bald würde der Sieger des Kampfes ermittelt werden, indem einer diesem Blick nicht mehr standhielt. Damit war es genug.
    „Sehr gut, ihr beiden. Das war´s.“
    Ryan klatschte nicht nur um das Ende ihres gemeinsamen Trainings zu verkünden, sondern auch ihrer Leistung halber. Die zwei hatten wirklich alles gegeben und mit bemerkenswertem Eifer gekämpft. Würde er sie hier nicht stoppen, wäre eine baldige Verletzung ein fast unausweichliches Resultat. Eigentlich war eine gewisse Grenze schon seit einigen Minuten überschritten, doch dieses Duell hatte Ryan regelrecht fasziniert und ihn seine Rolle als sogenannter Schiedsrichter zeitweilig vergessen lassen. So einen Kampfeswillen hatte er nicht zu beobachten erwartet.
    „Ihr wart wirklich gut. So wollte ich das sehen.“
    Er trat auf das Kampffeld – eines von dreien, die sich im Hinterhof des Pokémoncenters befanden – und zwischen die beiden, winkte sie dabei zu sich ran. Nun, da ihnen Ruhe vergönnt war und nicht länger der ganze Körper unter Spannung stand, fielen einfache Schritte bereits leichter für die Pokémon. Ein klein wenig wurmte es aber insgeheim beide, den Stärkeren unter ihnen nicht ermittelt haben zu können. Ryan ging in die Hocke und empfing seine Schützlinge mit lobendem und respektvollem Streichen von Kopf und Rücken.
    „Das war Kämpfen auf hohem Niveau“, beteuerte er weiter und sah den Pokémon dabei ganz bewusst fest in die Augen. Solche Dinge sagte er nicht einfach so. Er pflegte seit langem schon einen harten Drill beim Training, doch erbrachte Leistung sowie Willen und Fleiß hatte er auch immer angemessen zu loben gewusst.
    „Ihr besitzt ein wahnsinniges Talent. Mit so einer Basis könnt ihr es weit bringen.“
    Sporadisch begann er Blessuren und leichte Wunden vorsätzlich zu untersuchen und förderte für deren Behandlung Salben und Spray aus seinem Rucksack zutage. Moorabbel hatte bereits gelernt, was diese bedeuteten – an erster Stelle Schmerz und üblen Geruch. Damit hatte er jedoch kein Problem, wenn es seine Blessuren linderte. Ob Kirlia diese Einstellung teilen würde, stand in einem anderen Buch. Tatsächlich zog sich das kindliche Wesen bei dem ersten Stechen in ihrer Nase einen alarmierten Schritt zurück. Sofort bemühte sie sich aber um Haltung, als sie erkannte, dass ihr Kamerad – sie nannte ihn allein des Befehls ihres Trainers wegen so – davor nicht zurückschreckte. Ryan überraschte diese Reaktion kaum.
    „Du wirst dich dran gewöhnen, Kirlia. Keiner mag es beim ersten Mal, aber du wirst die Wirkung schätzen lernen.“
    Vorsichtig trug er die kühle Masse auf ihrer Haut auf. Leichtes Zucken und Protestieren ignorierte er dabei, als hörte er es gar nicht. Kirlia war wirklich eine Spur zu Stolz für ihr eigenes Wohl.
    Ryan legte sich währenddessen in Gedanken einige Worte zurecht, mit denen er die zwei bezüglich ihrer Defizite zu konfrontieren gedachte. Talent, Einsatz und Leistung hin oder her, hatten sie noch einen weiten Weg vor sich. Selbstverständlich, wie man festhalten musste. Es waren noch recht junge Geschöpfe, aber mit hervorragenden Anlagen und vorbildlicher Einstellung. Sie waren Rohdiamanten, die von einem fähigen Trainer geschliffen werden mussten.
    „Ich will mal mit den Negativpunkten anfangen“, setzte er nun wieder weniger euphorisch und begeistert an.
    Moorabbel und Kirlia blickten ihn aufmerksam an. Die kleine Göre vielleicht mit etwas weniger Gehör, da sie von den angeblich heilenden Substanzen auf ihrer Haut dezent angewidert war. Doch Ryan wandte sich zunächst dem Wasserpokémon zu.
    „Du handelst mir auf jeden Fall noch zu impulsiv. Schön und gut, wenn du so eifrig zur Sache gehst und dabei keinen Moment zögerst. Aber du versuchst jede noch so kleine Chance wahrzunehmen, um einen Treffer zu landen und gehst hohe Risiken ein. Wir kämpfen geduldiger und überlegter.“
    Im Laufe seiner Karriere hatte es nicht wenige Momente gegeben, in denen Ryan die Idee verfolgt hatte, seine Taktik mehr den kämpfenden Pokémon anzupassen. Nicht nur seinem eigenen, sondern auch dem des Gegners. Immerhin hatten verschiedene Spezies verschiedene Stärken und Schwächen. Doch jedes Mal war er zu der Erkenntnis gekommen, dass sein Stil keine Art von Kämpfer bevor- oder benachteiligte. Er ließ seine Gegner gerne Auflaufen und ihre Schwächen entblößen und dies ließ sich mit vielerlei Taktiken bewerkstelligen. Ob mit Nah- oder Fernkämpfern, ob mit einem schwergewichtigen Kraftpaket oder einem filigranen Techniker. Mit jedem fand er Mittel und Wege, seine Gegner abzuwehren oder ihnen auszuweichen und dann im kritischen Moment zuzuschlagen. Doch das konnte nicht gelingen, wenn Moorabbel seinerseits ins offene Messer sprang.
    „Wenn wir zusammen kämpfen, sprich du nach meinen Anweisungen handeln musst, sollte das kein Problem sein. Aber es gibt Situationen, in denen du gedankenschnell sein und dann eigenständig richtig reagieren musst. Und dann ist es besser, wenn man defensiver denkt.“
    Das Wasserpokémon nickte immer wieder und hing an jedem Wort seines Trainers. Er hatte bereits gelernt, dass er von Ryans Erfahrung nur profitieren konnte. Selbst wenn das bedeutete, die eigene Kampfeslust etwas zu zügeln. Dieser Mensch hatte mehr Kämpfe erlebt, als sich das Amphibium vorstellen konnte. In erster Linie ordnete er sich ihm deswegen unter und nicht wegen einer Hierarchie von Pokémon zu Trainer.
    „Aber ich bin wirklich begeistert, von deiner Auffassungsgabe“, setzte Ryan nach kurzer Pause an und begann dabei aufrichtig zu lächeln.
    „Du hast ein wahnsinniges Gespür für den Gegner und erkanntest immer früh, was Kirlia vorhatte. So etwas nennt man den Kampf lesen. Und das ist gerade für unseren Stil unglaublich wertvoll. Wir werden uns künftig darauf konzentrieren, deine Attacken zu verbessern. Wenn du in der Lage bist, einen Gegner mit zwei, drei gezielten Treffern zu überwältigen, wirst du zu einer Festung.“
    Insgeheim dachte er damit ein wenig weit voraus. Als vollentwickeltes Sumpex würde dieser Plan noch viel besser aufgehen. Als Moorabbel besaß er noch etwas zu wenig Kampfgewicht und war schlicht noch nicht kräftig genug. Doch das würde er ausgleichen können, indem er defensive Attacken wie Schutzschild förderte und clever einsetzte.
    „Genau das ist etwas, was dir ein wenig fehlt, Kirlia.“
    Die Psychodame machte eine leicht empörte Geste. Unverschämtheit. Sie hätte den Kampf doch sicher gewonnen, hätte er nicht dazwischengefunkt. Dieser plumpe Sumpfhüpfer war doch schon am Ende gewesen.
    „Du beherrschst sehr gute Attacken und setzt sie auch sehr gut ein. Aber du hast ein recht durchschaubares Angriffsmuster. Wenn etwas nicht ganz nach deiner Vorstellung funktioniert, gerätst du schnell in Bedrängnis. Dabei bist du eigentlich sehr agil und geschickt. Mach davon Gebrauch. Wenn du gewollt hättest, hättest du Moorabbel richtig an der Nase herumführen können.“
    Anfangs hatte Ryan sogar vermutet, dass Kirlia genau das vorgehabt hatte. Gerade weil ihr Gegner etwas ungestüm und übermütig attackiert hatte, wäre es für einen erfahrenen Kämpfer unschwer gewesen, dieses Duell herumzureißen. Doch jene Erfahrung fiel nicht vom Himmel. Sie brauchte mehr Zeit und mehr Training.
    „Und vor allem darfst du dich nicht dran aufhängen, wenn eine Aktion nicht nach Plan verläuft. So etwas wie einen perfekten Kampf gibt es nicht. Ihr werdet immer auch einstecken müssen. Das gehört zum Rhythmus eines Kampfes. Aber das bringen wir dir schon noch bei“, versprach der junge Trainer abschließend. Er konnte eindeutig sehen, dass ihr diese Belehrungen und die Kritik missfielen. Doch sie würde lernen, sich seine Ratschläge zu Herzen zu nehmen. Denn den Willen stärker zu werden, hatte er längst in ihr gefunden. Und dafür würde sie ihre Sturheit beiseiteschieben.
    Gerade wollte Ryan erneut ansetzen, da war plötzlich eine enorme Hitze auf seinem Rücken sowie ein leichtes Beben, das die Erde durchstieß, zu spüren. Begleitet wurde dies von dumpfen Schlägen auf dem Boden und dem Knistern lodernder Flammen. Moorabbel und Kirlia erschraken ein wenig, während ihr Trainer höchstens halbwegs interessiert über die Schulter blickte. Despotar und Hundemon standen sich in einigen Metern Abstand gegenüber und sahen einander tief in die Augen. Es war keinerlei Abscheu, Hass oder wilder Zorn, der darin brannte. Lediglich gesunder, aber dennoch harter Konkurrenzkampf unter Kameraden. Eine schwarze Schneise auf dem Boden verriet deutlich, wo Hundemons Flammenwurf gewütet hatte. Der Schattenhund selbst stand umringt von schwerem Gestein, das Despotar auf ihn geschleudert und selbiges sich bei diesem Fehlversuch tief in die Erde geschlagen hatte. Viel Zeit zum Ausruhen gönnten die Kontrahenten einander nicht. Hundemon sammelte bei sich eine dunkle, wabernde Energiemasse, während Despotar mit einer schwungvollen Bewegung seines ganzen Körpers einen Sandsturm heraufbeschwor. Dieser kollidierte nur eine Sekunde später mit der Finsteraura und wurde zu einem unberechenbaren Sturm aus Schattenenergie. Ryan hielt sich eine Hand vor und bedeutete mit der anderen Kirlia und Moorabbel, hinter ihm zu bleiben. Reißende Winde und Schlieren dunkler Unlicht Kraft schlugen um sie, waren glücklicherweise aber auf dieser Distanz nicht mehr gefährlich. Nur einen Moment hielt der Spuk an, bevor wieder Ruhe herrschte und mit Blicken gefochten wurde.
    „Hey, hey, ihr zwei. Ich sagte ihr sollt euch fit halten, aber es nicht übertreiben. Vor dem Turnier darf sich hier niemand verletzen.“
    Ryan ging einige Schritte auf die kampferprobten Pokémon zu, die für Erfahrung und auch einen gewissen Grad an Stärke in seinem momentanen Team zuständig waren. Er hatte zwar vor, nach Möglichkeit seine Neulinge mehr an den Kampf heranzuführen und ihre Fähigkeiten zu fördern. Doch er würde sie nicht in ein Match schicken, das zu gewinnen er ihnen nicht zutraute. Sollte sich dennoch so eines ankündigen oder sonst ein unerwarteter Fall eintreten, hatte er zwei mehr als fähige Kämpfer in der Hinterhand. Und diese hatten anscheinend zu viel Auszeit gehabt, weshalb sie nun vor Energie strotzten.
    „Hört zu. Ich sehe, ihr wollt wieder loslegen und ich verspreche, das werdet ihr bald auch. Aber bis zum Turnier sind es noch knapp drei Wochen und davon brauche ich so viel Zeit wie möglich, um Kirlia und Moorabbel voran zu bringen.“
    Beide lauschten aufmerksam, änderten aber ihre Position nicht. Nur einen Seitenblick bekam Ryan von ihnen und er wusste, dass er mehr auch nicht zu erwarten hatte. Dafür waren sie einfach zu distanziert, wenn sie erst einmal die Luft des Kampfes schnupperten.
    „Verzeiht das eurem egoistischen Trainer halt mal. Haltet euch in Form und findet wieder einen Trainingsrhythmus. Auch wenn ihr nicht sehr lange Urlaub hattet, merkt euer Körper das und er wird euch ganz schnell auf den Teppich holen, wenn ihr zu viel von ihm verlangt. Geht es langsam, aber konsequent an. Mehr erst mal nicht. Und keine ernsten Kämpfe.“
    Den letzten Satz betonte er mit einem erhobenen Finger. Das Zeichen, dass er es ernst meinte und keine Ausflüchte dulden würde. Ein bisschen autoritär musste Ryan vor seinen Pokémon – besonders vor diesen beiden – manchmal einfach wirken. Höfliche Bitten oder halbherzige Anordnungen würden nämlich ignoriert und er selbst nicht respektiert werden. Das würde sich auch nie ändern, egal wie lange er sie schon trainierte. Solch mächtige und wilde Geschöpfe würden nur auf sein Wort hören als wäre es das von Arceus, so lange er sich wie ein Anführer verhielt. Was nicht bedeutete, dass sie sich von ihm abwenden oder im Stich lassen würden. Ihr Zusammenhalt würde im Ernstfall jede Hierarchie, jeden Zwist und jeden Rang nichtig machen. Doch komplett bedingungslosen Gehorsam bei jedem Verhalten brauchte er gar nicht erst zu erhoffen. Für solchen müsste er in den Wald gehen und kleine Ratten oder Käfer fangen.
    Insgeheim spotteten Hundemon und Despotar ein klein wenig über den Vorwurf. Meinte ihr Trainer denn, sie hätten seit seiner Abreise nur faul in der Sonne gelegen? Ihre Leidenschaft würde sich nicht bremsen lassen, nur weil weder er noch ein tatsächlicher Gegner da war. Und was sie ihrem Körper zumuten konnten, wussten sie selbst doch wohl am besten. Und dennoch gaben sie ihm ein einverständliches Nicken. Einerseits weil sie verstehen konnten, dass er Risiken vermeiden wollte. Schließlich wäre es auch nicht das erste Mal, wenn einer von ihnen den einen berühmten Schritt zu weit ging und das Training mit etwas mehr als nur leichten Blessuren endete. Das wollte auch von ihnen keiner so richtig. Dafür respektierten sie einander zu sehr und zu behaupten, es würde keine Kameradschaft oder sogar Freundschaft unter ihnen existieren, wäre definitiv gelogen. Doch der Hauptgrund für ihren Gehorsam war eben nicht nur der Respekt füreinander sondern der Respekt ihrem Trainer gegenüber. So wie jetzt und nicht anders wünschten sie ihn sich. Er war hart, aber fair. Anspruchsvoll, aber auch verständnisvoll. Antreibend, aber auch fürsorglich. Alles davon eben immer dann, wenn es angebracht war. Er hatte ein Gespür für jeden von ihnen, wusste was sie brauchten und wollten und auch wann. Einen viel besseren Trainer hätte sich keiner von ihnen wünschen können.
    „Fein“, war alles, was Ryan dazu kommentierte. Wenn seine Pokémon gehorsam versprachen, würden sie ihn auch leisten. Selbst wenn es ihnen nicht immer gefiel. Damit war das Gespräch für ihn durch und alles gut. Er machte kehrt und schritt wieder auf Moorabbel und Kirlia zu, die ziemlich perplex wirkten. Nicht nur da diese beiden Pokémon, die so stark und erfahren waren, anstandslos auf das hörten, was Ryan ihnen sagte, sondern auch ihrer Kraft wegen. Sie hatten lediglich einen kleinen Hauch dessen gespürt, was tatsächlich in ihren Angriffen steckte und dennoch hätte es sie beinahe von den Füßen gerissen. Während das Amphibium zur Salzsäule erstarrt war und mit offenem Mund beobachtete, wie das Training des Schattenhundes und der riesigen Felsechse fortgesetzt wurde, hatte das feminine Psychopokémon die Hände zusammengefaltet und sah ihnen mit großen, glitzernden Augen zu. Ryan registrierte das natürlich und drehte sich ein weiteres Mal kurz um.
    „Seht ihr das?“, fragte er schließlich, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dann ging er in die Hocke und sah beide fest an.
    „Ich hab euch hoffentlich mehr als klar gemacht, wie viel Talent ihr besitzt.“
    Beide bejahten, ohne einen Moment nachzudenken oder zu zögern. Daraufhin deutete Ryan mit dem Kopf einmal in die Richtung der Kämpfenden.
    „Was ihr da seht, entspringt vielleicht zu zehn Prozent Talent. Die übrigen neunzig Prozent davon sind harte Arbeit.“
    Einen Moment lang sagte er nichts weiter, um Gelegenheit zu geben, diese Wort zu verstehen und zu verarbeiten. Es war auf eine gewisse Weise vielleicht etwas niederschmetternd, so etwas zu hören, doch war es nichts als die Wahrheit. Wenn sie sich auf ihr Talent zu sehr verließen, würden sie übermütig werden und der Rückschlag der dann erfolgen würde, sobald sie jemanden gegenüberstanden, der schlicht und ergreifend stärker war als sie, wäre allemal niederschmetternder als diese kleinen Worte. In gewisser Weise war es auch abhängig von der Auffassung. Er hatte schon einigen seiner Pokémon exakt dasselbe gesagt und manche von ihnen hatten sich direkt herausgefordert gefühlt und besagte harte Arbeit leisten wollen. Auf manche wirkte es also auch motivierend.
    Für Moorabbel und Kirlia war das heutige Training beendet. In ihrem erschöpften Zustand wäre es unverantwortlich, sie weiter kämpfen zu lassen. Sie hatten sich ihre Ruhe verdient. Mindestens bis zum Abend, wenn er den Tag mit einem kurzen Abschlusstraining ausklingen lassen würde. Ryan gab die beiden routinemäßig bei Joy ab und entschuldigte sich bereits vorab für den Zustand des genutzten Kampfplatzes – Hundemon und Despotar hatten bereits einiges angerichtet und wohl würden sie es nicht bei ein paar Brandspuren und Schlaglöchern belassen. Er hoffte doch sehr, dass er noch einen als Kampffeld zu identifizierenden Ort vorfinden würde, wenn er gleich wieder raus ging. Ärger gab´s keinen. Nur eine kleine Predigt über gehorsam bezüglich der Pokémon und Anstand gegenüber dem Gastgeber, also dem Center und Joy persönlich. Dass diese Unterkunft ihm schließlich nicht aus Nächstenliebe gewährt wurde, schien für die Schwester keine Rolle zu spielen.
    Als der junge Trainer den Tresen verließ und den Seitenausgang ansteuerte, durch den er zurück in den Hinterhof gelangen würde, erhaschte er einen Seitenblick auf die Gruppe Jugendlicher in der Sitzecke. Bereits bei seinem Eintreten hatte er die Blicke auf sich ruhen gespürt und ihr Tuscheln war schwer zu überhören, herrschte doch ansonsten in diesem riesigen Center totale Leere und folglich Stille. Das würde sich in den nächsten Tagen und Wochen jedoch ändern, wenn die Teilnehmer des Summer Clash nach und nach eintrafen. Das Center war bereits nur für eben jene reserviert und vergab bis zum Ende des Turniers keine Zimmer an „außenstehenden“ Gäste. Nur im Notfall, sprich bei einem schwer Verletzten Pokémon, das dringend Hilfe benötigte, nahm sich Joy dessen an. In allen anderen Fällen musste man ein anderes Center aufsuchen, von denen es in der Metropole praktischerweise fast zu viele gab. Bei den nationalen Ligen war es Gang und Gebe, dass allein den Teilnehmern unweit des Stadions diese medizinischen Dienste sowie eine komfortable Unterkunft zur Verfügung gestellt wurden. Dazwischen gab es weltweit nur wenige Turniere, welche dies boten. Doch es war ein weiteres Anzeichen für das Prestige des Summer Clash. Nicht nur die jüngsten Mitglieder seines Teams, sondern auch Hundemon und Despotar würden hier sicher auf harte Gegner treffen. Für einen Trainer seines und auch Andrews Kaliber sollte der Sieg bei so einem Wettkampf immer das Ziel sein. Doch hier würden sie es nicht mit Fallobst zu tun bekommen. Der erwünschte Sieg würde hart erkämpft werden müssen. Sehr hart.
    Über die Jungen und Mädchen, welche Ryan aus der Ferne scharf beobachteten, konnte selbiger nur müde Schmunzeln. Da Joy viel zu entspannt und beschäftigungslos wirkte, um einen der erwähnten Notfälle vermuten lassen zu können, musste es sich bei ihnen ebenfalls um Teilnehmer handeln. Und erfreut schienen sie nicht gerade über seine Anwesenheit. Ein Umstand, der Ryan immer wieder gefiel. Es heizte ihn zusätzlich an, wenn er aus erster Hand erfuhr, dass er ein ungern gesehener Gegner war. Vielleicht würde er das Training seiner beiden Routiniers heute doch noch etwas anziehen.


    Andrew hatte diesen Tag, der bereits die Mittagsstunde erreicht hatte, bislang nur für das Frühstück das gemeinsame Zimmer im Pokémoncenter verlassen. Sie hatten das Glück, eines der letzten Doppelzimmer erwischt zu haben, denn sobald der Ansturm an Teilnehmern anstieg, würden diese ausgebucht sein. Diejenigen, die spät eintrafen, würden sich Gruppenzimmer für 4 bis 6 Personen mit Fremden teilen müssen. Derzeit konnte man die täglichen Zuwanderer an einer Hand abzählen, doch sobald sich das änderte – und es würde sich ändern – könnte das Center niemals die nötigen Kapazitäten bereitstellen, wenn hier nur Einzel- und Doppelzimmer vorhanden wären. Ein lästiger, wenn auch verständlicher Umstand, wie Andrew befand und umso froher war er über ihr Glück. Denn vor den Augen eines fremden Trainers würde er Dragonir nicht so liebevoll pflegen können, wie er es gerade tat. Nicht dass es etwas zu verstecken gäbe, doch ihm war einfach unwohl dabei, solche Dinge unter Beobachtung von Unbekannten zu tun. Eine seiner nicht wenigen Macken.
    Gerade wischte er sich mit einem Lappen eine dickflüssige Substanz von den Händen, mit der er das blau-weiße Schuppenkleid eingerieben hatte. Diese war extra für Pokémon hergestellt und sorgte nicht nur für makellosen Glanz der Schuppen, sondern wurde von den meisten Gattungen auch als sehr wohltuend empfunden. Die Drachenschlange hatte leider nicht die erhofften gesundheitlichen Fortschritte gemacht, seit sie Faustauhafen verlassen hatten. Diese wenigen Tage wären für viele Spezies auch nicht ansatzweise genug, um sich von einer Verletzung diesen Grades zu erholen und in Gänze war das natürlich auch in Dragonirs Fall unmöglich. Doch die von Joy so sehr gepriesenen Fähigkeiten der Selbstheilung und Genesung hatten ihn wohl einfach zu optimistisch werden lassen. Jedenfalls aß sie noch immer nicht viel und schlief auch über den Tag sehr lange. Zwei bis drei Mal täglich ging er mit ihr an die Luft und ließ sie eine Weile fliegen, damit sie etwas Bewegung bekam. Attacken ließ er noch keine einsetzen. Ob Dragonir beim Summer Clash würde kämpfen können, stand ebenfalls noch in den Sternen. Doch wenn Andrew die Reichweite dieses Turniers und das Prestige, mit der er es in Form anderer Trainer und deren Pokémon zu tun bekommen würde, standen die Chancen eher schlecht. Die folgende Woche würde wohl die Richtung deuten. Wenn er mit Dragonir wenigstens eine Woche lang auf gewohntem Niveau trainieren könnte, sah er keinen Grund, sie nicht einzusetzen.
    Um die Gesundheit seines restlichen Teams war es glücklicherweise besser bestellt. Psiana, Magnayen und Schwalboss trainierten derzeit allesamt regelmäßig und zeigten zufriedenstellende Resultate. Die beiden Letztgenannten hoffte er bis zu Beginn des Turniers noch ein, zwei Schritte voranbringen zu können. Man durfte nicht vergessen, dass sie bei weitem nicht so lange Teil seines Teams waren wie die Psychokatze. Sie würden in den nächsten Wochen mit hoher Wahrscheinlichkeit an ihre Grenzen gehen müssen, um den Clash zu gewinnen.
    Die Drachenschlange war während seiner Überlegungen und Planungen mit dem Kopf in seinen Armen liegend eingeschlafen. Sie hatte heute bereits einige Übungen für die körperliche Fitness hinter sich, weshalb ihr die Ruhe vergönnt war. Andrew würde ganz gern dasselbe tun, doch auf ihn und vor allem seine übrigen Pokémon wartete heute noch Arbeit. Gerade rief er das schlafende Geschöpf in den Pokéball, da drang durch das geschlossene Fenster ein dumpfer Knall von draußen hinein. Ryan war schon seit einer ganzen Weile am Trainieren und hatte offenbar entschieden, Hundemon und Despotar heute die Zügel doch noch abzunehmen. Seit einer guten Stunde vernahm er immer wieder das Knallen, Donnern und Krachen ihres Trainingskampfes. Und beim jedem Mal zuckten seine Finger, eine geballte Faust andeutend. Andrews Vorfreude auf den Clash stieg mit jeder Stunde. Doch von der zu überbrückenden Zeit würde er besser so viel wie möglich nutzen.
    Mit der wachsenden Euphorie in seiner Brust schnappte er sich Psianas, Schwalboss und Magnayens Pokébälle und stürmte aus den Zimmer. Die Treppen hinunter in die Empfangshalle überwand er fast mit einem einzigen Satz, womit er sich nebenbei noch die Bestätigung abholte, dass seine anfängliche Übelkeit dahin war. Mal schauen, ob Hundemon und Despotar als Sparringspartner noch zu gebrauchen waren.


    Der Tag schritt alles andere als ruhig voran. Zumindest für die Besucher des Pokémoncenters am Prime Stadium in Graphitport. Schuld daran waren lediglich zwei scheinbar nicht müde zu bekommende Trainer, die es sich ganz offensichtlich zur Mission gemacht hatten, sämtliche Kampfplätze im Hinterhof des Centers zu verwüsten. Über Stunden hinweg sprangen, rannten, grollten, brüllten und kämpften ihre Pokémon als ging es heute um alles. Die nach und nach eintreffenden Teilnehmer des Turniers – die Zahl war noch recht überschaubar – erhielten einen frühen Ersteindruck von dem, was sie erwarten würde. Während ihres Trainings hatten Ryan und Andrew nur eine kurze Verschnaufpause eingelegt und zwischendurch ihren Partnern und auch sich selbst eine Stärkung gegönnt. Wer hart arbeitete, musste schließlich auch essen. In dieser Zeit waren sie Strategien durchgegangen und hatten die Ergebnisse des Trainings gedanklich ausgewertet und eingeschätzt sowie gleichzeitig einen ersten Plan erstellt, woran es die nächsten Tage noch zu arbeiten galt. Wenn die beiden erst einmal völlig in ihre Sache vertieft waren, gab es im Grunde keine Pausen für sie. Selbst während der raschen Nahrungsaufnahme galt jeder Gedanke dem nächsten Schritt auf ihrem Weg zum erhofften Turniersieg. Danach wurde gleich wieder rangeklotzt. Die Dämmerung war indessen schon weit vorangeschritten, sodass ein feuriges Abendrot die beiden Trainer in sein warmes Licht tauchte, während diese dabei waren, den langen Tag allmählich ausklingen zu lassen. Die letzte Trainingseinheit gestaltete sich immer gleich, wenn sie die Plätze eines Pokémoncenters nutzten. Sie nannten sie liebevoll: Aufräumen. Es war zwar nicht so, dass Joy verursachte Schäden und Kampfspuren selbst beseitigte. Nein, dafür gab es extra bezahlte Kräfte. Doch man mussten selbigen ja das Leben nicht unnötig erschweren. Außerdem wollten andere Trainer denselben Platz für denselben Zweck nutzen. Wo gehobelt wurde, fielen Späne, das war selbstverständlich. Doch ebenso selbstverständlich war, dass man diese nicht schulterzuckend liegen ließ. Es war nur sozial, wenigstens für ein bisschen Ordnung zu sorgen, bevor man ging. Hier ein paar Schlaglöcher auffüllen, da einige Brandspuren verwischen, einmal mit dem Rechen über den Platz und schon sah dieser wieder annehmbar aus. Ryan und Andrew packten dabei nicht weniger mit an, als ihre Pokémon. Das gehörte einfach mit zum Ganzen dazu.
    Andrew klopfte sich den Staub von den Händen und sah sich einigermaßen zufrieden um. Natürlich war der Ascheplatz nicht mehr so eben und unberührt wie noch am Morgen, doch wäre das der Fall, hätte auch keiner von ihnen mit dem Training zufrieden sein können.
    „Denke das reicht“, merkte er an und rief somit zum Feierabend auf. Ryan nickte dies ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit einiger Zeit war er nur noch im T-Shirt, welches heute garantiert noch in die Wäsche wandern würde. Manch einer würde wohl nicht verstehen, warum der Trainer fast genauso ins Schwitzen geriet, wie seine Pokémon, doch wenn man wirklich mal selbst mit Leib und Seele mit seinen Partnern zusammenarbeitete, verstand man gleich. Er stand eben nicht nur gelangweilt daneben und gab Anweisungen wie ein Sergant Grundausbilder. Hinzu kam, dass er, ebenso wie Andrew gewisse Kraft und Ausdauerübungen, die fester Bestandteil ihres Trainingsprogramms waren, selbst mitmachte. Es gab ein Einheitsgefühl und stärkte das Vertrauen von Pokémon zu Trainer, wenn letzterer nicht nur daneben stand, sondern mit ackerte.
    Doch für heute war es genug. Joy sollte sich gleich der ganzen Gruppe annehmen und dann stand ein ruhiger Abend auf dem Programm.
    „Gutes Training. Morgen machen wir genauso weiter. Dann konzentrieren wir uns auf eure Ausdauer“, adressierte er seine beiden Schützlinge. Die nahmen es nüchtern zur Kenntnis. Sie waren lange genug an Ryans Seite, die Worte richtig zu deuten. Sie waren beide etwas früh ermüdet und hatten gegen Ende des Trainings kaum noch die Energie für einen satten Angriff gehabt. Das war es, was er teilweise befürchtet und anfangs mit seiner Warnung angedeutet hatte. Übungen und Kämpfe untereinander schön und gut, doch während ihrer Abwesenheit hatten sich ihre Körper das stramme Programm von Ryan leicht abgewöhnt. Es war an und für sich einfach nicht ganz dasselbe, wenn man unter sich Duelle austrug und sich „ein wenig fit hielt“ und dann auf einmal wieder ein fordernder, anspruchsvoller Trainer die Zügel in der Hand hielt. Doch daran würden sie sich schon wieder gewöhnen. Das brauchte höchstens ein paar Tage und dann galt es nur noch, die eigenen Fähigkeiten in der kurzen Zeitspanne noch weit wie möglich zu steigern.
    Für Andrew war das Resultat ein ähnliches gewesen. Es war verständlich, dass seine Pokémon nach der Zwangspause in Faustauhafen ebenfalls nicht auf 100 Prozent sein konnten. Doch mit dem Engagement und der Leistungsbereitschaft durfte er mehr als zufrieden sein. Im Team zu trainieren war auch daher von Vorteil, da man sich gegenseitig zu Höchstleistungen anstachelte. Kameradschaft hin oder her, letztlich wollte doch keiner zurückfallen und seinen Rang als Teamstärkster – den abgesehen von der bescheidenen Natur Dragonirs jeder einzelne von ihnen für sich beanspruchte – hergeben.
    Ryan schulterte den Rechen und die abgenutzte Schaufel, die ihm bei den Aufräumarbeiten als Mehrzweckwerkzeug gedient hatte, nahm auch die von Andrew entgegen und verfrachtete sie in dem Schuppen in der hintersten Ecke des Hofes. Während die graue Umhängetasche wieder an die Schulter ihres Besitzers wanderte, warf selbiger seinem Kumpanen die grüne Jacke entgegen, als sie sich vor der elektrischen Schiebetür trafen. Jetzt noch eine heiße Dusche und dann hieß es endlich Abendessen und anschließend ins Bett fallen. Die in Maßen strapazierten Muskeln aber auch grauen Zellen hatten viel Energie gekostet, weshalb beide das nahende Tagesende sehr willkommen hießen.
    „Weiß nicht wie´s dir geht, aber ich bin für heute platt.“
    Andrew grinste sofort bitterböse.
    „Schlappschwanz.“
    Zum Sticheln und Ärgern war er wohl nie zu müde. Ryan würdigte ihn keines Blickes, ließ sich aber – dumm und unbelehrbar wie er war – verbal drauf ein, während sich die Tür vor ihnen öffnete.
    „Sag mal gibt’s dich eigentlich auch mit Niveau? Bei jedem...“
    Er verschluckte die übrigen Worte. Auf der Schwelle war ihm versehentlich jemand entgegengetreten. Ein Zufall, das unbeabsichtigte Vorhaben zweier Menschen, ein und dieselbe Tür gleichzeitig von der anderen Seite zu durchschreiten. Es resultierte ein Beinahe-Zusammenstoß.
    „Oh, Verzeih...“
    Beide hatten so begonnen, wie aus einem Munde. Und gleichzeitig versagte ihre Stimme, als sie zurückwichen und sich ihres gegenüber gewahr wurden. Einen sehr, sehr langen Moment war es still. Ungläubig aufgerissene Augen starrten sich einander an, bis es schließlich Ryan war, der seinen Unglauben aussprechen musste.
    „Melody?“

  • Kapitel 24: Revelation

    „Melody?“
    Sie war es. Sie war es wirklich.
    Schon sprang ihn ein weiblicher Körper an und schloss in die Arme. Fest spürte er sie in seinem Nacken und ihr Gesicht an seine Schulter schmiegend. Einen einzelnen Schritt taumelte er zurück, noch immer fassungslos und verunsichert. Zum Einen misstraute er aus irgendeinem Grund seinen Augen. Zu Anderen war ihm die Situation einfach zu absurd. Was in aller Welt war das denn für ein Zufall? So was gab es doch eigentlich nicht?
    „Ich hab dich so vermisst.“
    Melodys Stimme erklang arg gedämpft, da sie in den Stoff seines Shirts hinein murmelte. Doch es genügte Ryan. Genügte, damit er diesen Moment als real, als unverfälscht klassifizieren konnte. Endlich, endlich, so dachte Melody, nahm auch er sie fest in den Arm und lachte überglücklich. Es war... jenseits von allem, was die Geschicke dieser Welt schon vollbracht hatten. Er hätte sie niemals auch nur auf diesem Kontinent vermutet und vor ein paar Sekunden hatte sie lediglich eine einzige Tür voneinander getrennt. Doch selbst dies schien unerreichbar weit entfernt, verglichen mit dem gegenwärtigen Augenblick. Arm in Arm, vereint, zusammengeführt. Es war wohl keine Übertreibung zu behaupten, Ryan hatte gerade die größte Überraschung seines Lebens erfahren.
    Langsam, fast etwas widerwillig, da sie sich eine gefühlte Ewigkeit nach seiner warmen Umarmung gesehnt hatte, legte Melody den Oberkörper etwas zurück und ließ ihre Arme hinunter zu seinem Rücken gleiten, um ihn ansehen zu können. Ihre Augen schimmerten. Ein winziger Anflug von Freudentränen. Doch ihr fehlten schlicht und ergreifend ein wenig die Worte. Was konnte sie sagen? Welche Worte waren angemessen? Im Grunde keine. Doch sie wollte, musste etwas sagen.
    „Du siehst gut aus.“
    Sie hatte sich für etwas total banales entschieden. Doch sie sprach diesen knappen Satz mit so überschwänglicher Freude aus, dass Ryan darin zergehen könnte.
    „Und du erst, Melody. Ich fasse es nicht, du bist... du bist echt...was machst du denn hier?“, mochte er sofort wissen und hetzte die Worte eiligst aus seinem Mund. Er konnte sein Glück kaum fassen und reagierte peinlich übertölpelt. Er redete hastig, wie ein verknallter Schuljunge.
    „Na dich sehen“, lachte sie ihn fröhlichst an und fiel ihm gleich wieder um den Hals.
    „Mann, ich glaub´s nicht. Du bist doch verrückt“, lachte Ryan nun ebenso und hob sie in seinem Glück ein wenig in die Luft und drehte sich einmal mit ihr.
    „Ich schieß mal ins Blaue und sag ihr kennt euch?“
    Erst jetzt wurde sich Melody der zweiten Person und Ryan seiner peinlichen Reaktion wirklich gewahr. Letzterer konnte darauf ausnahmsweise pfeifen, dafür war seine Freude zu überschwänglich. Doch das Mädchen in seinen Armen war nun ihrerseits an der Reihe, die Existenz der Person vor ihr in Frage zu stellen.
    „Du, Andrew?“
    Ryan sah zwischen beiden hin und her, bis sein Blick fragend bei Andrew hängen blieb.
    „Ihr zwei?“
    Wie jetzt? Andrew und Melody kannten sich? Der antwortete mit einer überdeutlichen Geste, dass es eigentlich an ihm war, diese Frage zu stellen.
    Ihrzwei?“
    Das war wohl aus seiner Perspektive berechtigt. Melody schien über das offensichtliche Unwissen Andrews bezüglich ihrer Person wenig überrascht. Sie und Ryan hatten geschworen, ihre gemeinsame Geschichte geheim zu halten. Zu heiß war das Eisen, aus dem sie geschmiedet wurde und zu gefährlich für die Öffentlichkeit und das Ohr dubioser Menschen.
    „Schätze wir haben was zu erzählen“, erkannte Ryan. Zu seinem Leidwesen musste er beobachten, wie die strahlenden Gesichtszüge Melodys schwanden und sich ein Schatten über ihr Gesicht legte. Eine trübe Wolke, die sich vor die Sonne ihres Wiedersehens schob.
    „Nicht nur über uns.“
    Gleichmäßige Schritte ertönten im Flur hinter ihr. Eine Person näherte sich ihnen und auch Ryans Freude wich einem unguten Gefühl, vergleichbar mit einer Mischung aus Schuld und Angst.
    „Es trübt mich zutiefst, eure Wiedervereinigung unterbrechen zu müssen. Doch ich schlage vor, dass wir uns an einen ruhigeren Ort begeben.“
    Von Sarkasmus oder Missachtung keine Spur in diesen Worten. Sie klangen aufrichtig, überzeugt und offenkundig sprachen sie im Interesse aller. Anders hatte er es von ihr auch nicht erwartet.
    „Mila.“
    Grüßend deutete sie eine leichte Verbeugung an.
    „Es ist gut Euch zu sehen, Ryan Carparso. Euch ebenso, Andrew Warrener.“
    Letzteren schien die Situation mehr und mehr zu überfordern.
    „Kennen wir uns?“
    „Nein“, antwortete Mila schlicht und hatte auch nicht vor, mehr hierzu beizusteuern.
    „Bitte, Ryan Carparso, suchen wir Ruhe vor neugierigen Ohren.“
    Nicht nur vor solchen würde er gerade liebend gern flüchten.


    Menschen hatten wohl unterschiedliche Auffassungen von Gefangenschaft. Neben der typischen Vorstellung von einem Knast existierten noch dutzende Definitionen, Umschreibungen oder Umstände für dieses Wort. Ryan sah sich selbst gerade ebenso als Gefangenen an. Gefangen in dem Raum, den er für die nächsten Wochen mit Andrew über Nacht teilen würde und eigentlich ein Rückzugsort für ihn sein sollte. Doch nun sah er sich, so ohne Ausweg auf seinem Bett sitzend, in die Ecke gedrängt. Beinahe schon eingepfercht.
    „Wo ist... deine Partnerin?“
    Einen Moment lang hatte er nach ihrem Namen überlegt, bis ihm einfiel, dass er ihn nicht kannte. Mila schloss gerade die Tür hinter sich und baute sich direkt vor ihr auf, als wolle sie mögliche Fluchtversuche unterbinden. Dies trug nicht gerade zu Ryans Wohlbefinden bei.
    „Behält die Umgebung im Auge. Wir wollen schließlich nicht belauscht werden, oder?“
    Es war deutlich zu spüren, dass sie ihre Worte bewusst gewählt hatte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie bereits etwas von einem Agenten Team Rockets erwähnt.
    „Leute, ich hab keine Lust mehr“, stöhnte plötzlich ein sehr genervter Andrew, der zwischen den beiden stand. Seine Laune überspielte er zumindest ein bisschen mit seinem unvergleichlichen Humor, war im Unterton jedoch angehaucht von einer Prise „Ihr-könnt-mich-gleich-alle-mal“.
    „Entweder mir sagt jemand mal sofort, was hier Sache ist oder ich bin weg und ihr klärt euren Kram allein – ganz einfach.“
    Ryan sah hilfesuchend zu Mila doch ihr Blick war entgegen von allem, was er erhofft hatte. Erwartungsvoll, auffordernd, eisenfest blockte sie seine stumme Bitte ab. Verlegen räusperte er sich und suchte nach den richtigen Worten. Gab es denn überhaupt richtige Worte, um all dies zu erklären?
    „Ähm, das hier... ist Mila“, begann er zögernd auf sie deutend.
    „Hi, Mila. Andrew, aus Johto. Freut mich. Weiter?“
    In Ryan kam der Wunsch auf, Andrew rauszuschmeißen. Nicht, dass er seine Ungeduld und seinen Missmut nicht verstehen konnte. Doch ihm war das hier eh schon unangenehm genug. Das war zumindest die gediegene, untertriebene Version seiner Gefühlslage. Dass ihm der Arsch gehörig auf Grundeis ging, wäre schon treffender. Melody, die neben ihm Platz genommen hatte und ihm beistehend eine Hand auf die Schulter legte, konnte daran leider auch nicht viel ändern. Dennoch war er dankbar für ihre Nähe.
    „Ich hab sie getroffen, kurz bevor du aus dem Krankenhaus raus bist. Sie ist... ähm...“
    Noch so eine Sache, die er nicht wusste, obwohl er davon ausging, sie wissen zu müssen. Vielleicht sollte er zunächst einige seiner eigenen Fragen klären, bevor er die von Andrew beantwortete.
    „Was bist du genau?“
    Da war es wieder. Das verfluchte Lächeln, das nach einem Moment noch ein wenig breiter wurde. Mila hatte es ihm bei ihrer ersten Begegnung bereits mehrfach gezeigt. Ryan mochte es nicht. Es war ihm verdächtig öffnend, vertraulich, ehrlich. Doch er wollte es nicht als solches anerkennen.
    „Die Drachenpriesterin.“
    Bestimmt eine halbe Minute herrschte totale Stille. Die Gesichter der drei Jugendlichen sprachen für sich. Irrglaube – in reifster Form. Ob sie davon ausgingen, dass sie log oder ob sie ihren Ohren misstrauten, konnte selbst Mila nicht bestimmen. Sehr wohl aber die nervösen Blicke, die sie untereinander wechselten. Sie erwarteten wohl mehr als Antwort, doch mehr hatte sie nicht vor auszusprechen, bevor nicht einer der drei etwas erwiderte. Es war schließlich Andrew, der eben dies tat.
    „Ich hör heute schlecht. Hat die das grade gesagt?“, wandte er sich an Ryan. Der war selbst nicht sicher, ob sie das hatte. Dabei war er schon davon ausgegangen, ihn könnte bezüglich dieser Frau wohl kaum noch etwas überraschen.
    „Etwas mehr Kontext wäre hilfreich, Mila.“
    „Gewiss.“
    Sie machte zwei langsame Schritte auf ihn zu und legte ihre Hände ins Kreuz.
    „Holt dazu bitte raus, was Ihr bei Euch tragt, Ryan Carparso.“
    Alle Augenpaare legte sich auf ihn. Himmel, was er jetzt dafür geben würde, sich einfach in Luft auflösen zu können. Das war genau das, wovor er sich am meisten gefürchtet hatte. Ihm war klar, von welchen Gegenstand sie sprach und wollte eigentlich sämtliche Gespräche ihn betreffend am liebsten umgehen. Reines Wunschdenken, wie er schon erkannt hatte. Sehr zögerlich wanderte eine behandschuhte Hand an einen der Reißverschlüsse seiner Jacke und öffnete ihn langsam. Noch langsamer glitt seine Hand schließlich hinein. Ein letzter, flehender Blick richtete sich noch an Mila, doch ihr Nicken ließ keine Ausflüchte zu. Das Zimmer wurde in naturgrünes Licht getaucht. Ausgehend von einem schillernden Kristall, der nebelartige Schleier in sich gefangen hielt. Andrew und Melody stockte der Atem. So viele Fragen, die sich in diesem einen Moment auftaten. Und nicht festzumachen, welche davon zuerst gestellt werden musste.
    „Was Ihr hier in Eurer Hand haltet, ist der Grund warum wir, also meine Partnerin und ich, gegen Team Rocket kämpfen.“
    Jeder von ihnen hörte Mila aufmerksam zu, doch konnten sie dies nicht tun, ohne den Blick von diesem wunderschönen, strahlenden Objekt abzuwenden.
    „Es ist das Herz des Drachengottes Rayquaza.“
    Und fort waren die Fesseln an ihren Augen. Denn alle wanderten sie zu der blonden Frau und sollte man bei der Aussage mit der Priesterin schon Zweifel in ihnen gelesen haben, musste hierfür eine neues Wort her. Diese Erklärung klang lächerlicher als alles, was sie Ryan noch auf Faustauhafen erzählt hatte. Doch genau wie schon zuvor an jenem Ort konnte er sich nicht dazu überwinden, ihr nicht zu glauben. Ob es Andrew und Melody genauso erging, zweifelte er jedoch stark an.
    „Ich sagte Euch bei unserem letzten Treffen, dass ihr einen dornigen Weg auf euch werdet nehmen müssen, Ryan Carparso. Dieser Gegenstand ist Ursache und Schlüssel dieses Konfliktes, in den ihr unwiderruflich geraten seid.“
    „Sorry, Mila“, unterbrach Andrw plötzlich. Das mit der Entschuldigung meinte er wahrscheinlich ernster, als sich erahnen ließ. Dennoch musste er ihr einschneiden.
    „Seit wann hast du das verdammte Ding, Ryan?“
    Schuldbewusst presste der die Lippen aufeinander und wandte den Blick ab. Ihm war natürlich klar, mit welcher Reaktion er jetzt zu rechnen hatte.
    „Ich hab ihn in Team Rockets Versteck in Wurzelheim gefunden.“
    „Na geil.“
    Kapitulierend warf Andrew die Arme in die Luft.
    „Bist du eigentlich vollkommen bescheuert, so etwas einfach einzustecken?“
    „Als hätte ich ahnen können, was es wirklich ist. Ist ja nicht so als Stünde das da drauf.“
    Andrew akzeptierte diese Ausrede keinesfalls.
    „Scheißegal was es ist. Du hast was gestohlen, falls dir das klar ist, du Idiot.“
    Abfällig schnaubte der Angeklagte. Das interessierte ihn nun wirklich mitunter am wenigsten in dieser Sache.
    „Ich hab was genommen, was eh schon geklaut war und es eben behalten.“
    Andrew war kurz davor an die Decke zu gehen. Was war eigentlich in Ryans hohlen Schädel gefahren? Das änderte doch rein gar nichts an seiner dummen Tat!
    „Willst du mich verarschen, oder kapierst du echt nicht, was du falsch gemacht hast?“
    Es war nicht so, dass er es nicht kapierte. Viel mehr so, dass er diese falsche Tat, dieses Verbrechen – so musste man es nennen – in Kauf genommen hatte, um diesen sogenannten Drachensplitter behalten zu können. Andrews Predigt, die in seinen Augen eigentlich Mila halten müsste, fiel in denselben Bereich. Jeden Vorwurf und Anschiss hätte er über sich ergehen lassen. Nicht aber, wenn Mila anwesend war. Die hatte sich bis eben in die Position einer schweigsamen Beobachterin gebracht und geduldig abgewartet. Nun legte sie Andrew eine sanfte Hand auf die Schulter und brachte ihn damit zur Ruhe. Ohne ihn dabei anzusehen, trat sie vor Ryan und ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihm zu sprechen. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte weiter auf ihn herabgesehen. So war es schwieriger, ihren Blicken auszuweichen.
    „Ich bin wohl kaum in der Position, einen Diebstahl verurteilen zu können. Dafür habe ich selbst zu viele Verbrechen begangen. Aber Euch muss klar sein, dass ihr nun dennoch dafür geradestehen müsst.“
    Ryan fuhr die behandschuhte Hand in sein Haar und seufzte resignierend. Er kam aus der Sache nicht mehr raus. Geradestehen sollte er also. Und was stellte sie sich konkret darunter vor?
    „Wie? Soll ich ihn dir einfach geben? Ist das alles, damit wir getrennte Wege gehen können?“
    „Sicher nicht. Die Situation ist leider weit komplexer.“
    Mila richtete sich wieder auf, legte die Hände ins Kreuz und wankte abwesend ans Fenster. Die untergehende Sonne war von ihm aus zu sehen und beschien sie durch das Glas mit rötlichem Licht.
    „Wir stehen kurz vor einem Krieg.“
    Melody sog neben Ryan scharf Luft ein und schlug eine Hand vor den Mund. Er spürte, wie sich ihr Griff um seinem Arm verkrampfte. In diesem Moment dachte er daran, dass sie diese Frau mit ihren faszinierend ehrlich Worten selbst schon ein Stück weit kennengelernt hat und wusste, woran sie bei ihr war. Melody verdächtigte sie, ebenso wie Ryan, nicht eine Sekunde lang der Lüge. Wenn Mila sagte, dass ein Krieg kam, so glaubten sie beide ihr. Genau wie bei allem anderen. Einen gab es jedoch, dem es anders erging.
    „Ein Krieg? Das ist nicht dein Ernst?“
    Andrew vergaß im Angesicht der ihm immer noch obskuren Situation die Höflichkeiten, indem er Mila duzte. Die störte sich scheinbar nicht im Geringsten daran. Doch dass derartige Formalitäten für sie von Belangen wären, hatte auch keiner von ihr erwartet. Zunächst schien sie die Frage zu ignorieren oder aber als rhetorisch einzuschätzen. Nur einen Moment bevor Andrew klarstellen wollte, dass dies nicht der Fall war, öffnete Mila auf einmal das Fenster und trat einen Schritt zur Seite. Ein tief klackerndes Geräusch drang von draußen zu ihnen herein. Ein Schritt auf den Dachziegeln über ihnen, wie sich erahnen ließ und schon hangelte sich eine feminine Gestalt von oben herab und schwang sich ins Innere des Zimmers. Die drei Jugendlichen erschraken ein wenig, Andrew trat gar einen alarmierten Schritt zurück. In einer hockenden Position suchten die rubinroten Augen sofort die von Ryan. Sie waren alles, was nicht unter dem Blauen Schal verdeckt wurde.
    „Verdammt, wer bist du denn jetzt?“, verlangte ein noch immer sehr überraschter Andrew zu wissen. Tatsächlich war er der einzige im Bunde der drei, der sie jetzt gerade zum ersten Mal traf. Ryan räusperte sich nervös. Ihre Anwesenheit machte die Situation für ihn nicht erträglicher.
    „Das ist Milas Partnerin...“
    Er hatte gesprochen, als wollte er ihren Namen hinzufügen und unbewusst war das seine Absicht gewesen. Doch da merkte er wieder, dass er nicht wusste, wie er lautete. Er bereute es im selben Moment, da Andrew ihn erwartungsvoll ansah und unverkennbar nach einem Namen verlangte.
    „Sie heißt...“, setzte Ryan absolut unwissend erneut an und sah fragend zu Mila herüber. Dass er das Mädchen nicht zum Reden würde bewegen können, hatte er sich bereits gedacht, doch dass selbst Mila schwieg, war definitiv entgegen seiner Erwartung.
    „Na wie denn jetzt?“
    Schnell huschte Ryans Blick zwischen Mila und Andrew hin und her. Warum sagte sie nichts? Warum überließ sie ihn sich selbst mit der Erklärung?
    „Äh, sie heißt..., äh...“
    Er schnippte mit den Fingern, als läge ihm der Name auf der Zunge. Irgendeiner musste her.
    „Sie heißt Si..., ähm Sheila.“
    Gott was war hier gerade passiert? Wieso hatte er denn das nun gesagt? War er denn von Sinnen?
    „Ihr Name ist Sheila“, wiederholte Ryan aus ihm unbekannten Gründen. Hätte er doch einfach gesagt, er wüsste es selbst nicht. Hatte ein Anflug von Panik ihm so die Zunge gelöst?
    Ein furchtsamer Blick ging zu dem Mädchen, dem er der allergrößten Wahrscheinlichkeit nach gerade einen falschen Namen verpasst hatte. So trafen sich ihrer beider Augen erneut. Doch seltsamerweise waren sie noch genau so, wie vor ein paar Sekunden, als sie hereingesprungen war. Sie hatten sich kein bisschen verändert. Einen Moment lang hielten sie den Kontakt, bevor sich das Mädchen langsam und plötzlich völlige Gleichgültigkeit ausstrahlend aufrichtete, während das Fenster hinter ihr wieder geschlossen wurde.
    „Und?“
    Die frisch getaufte Sheila trat sachte an die Wand heran, um daran zu lehnen und die Arme vor der Brust zu verschränken.
    „Die Umgebung ist sicher“, berichtete sie knapp. Ein Nicken nahm es zur Kenntnis, bevor Mila wieder in die Mitte des Raumes schritt.
    „Ernst ist es mir absolut“, knüpfte sie an die vorige Frage an. Alles bezüglich ihrer Partnerin und deren neuen Namen ließ sie völlig unkommentiert. Ryan nahm sich fest vor, sie später zur Rede zu stellen.
    „Doch bevor ich euch erzähle, welche Tragweite dies hat, muss ich wissen, ob es euch ebenfalls ernst ist. Ob ihr bereit seid, für das, was ich euch erzähle und ob ihr bereit seid, zu kämpfen.“
    Prüfend sah sie alle drei an. Ryan zuletzt und an ihm blieb ihr Blick auch stehen, eine Antwort erwartend. Er dachte ohnehin nicht, dass er eine großartige Wahl hätte. Die konnte er sich nicht leisten. Und obwohl ihm diese ganzen Umstände und Offenbarungen, vagen Erklärungen und Vorwürfe schon in Faustauhafen zerfressen hatten, gab es da etwas, das noch stärker an ihm nagte. Und das war das Gefühl der Schuld. Gleich was er zuvor gesagt oder nicht gesagt hatte. Was er abgestritten und kleingeredet hatte. Er wusste selbst um seine Tat. Und in diesem Augenblick, in dem Mila ihn abwartend, keinesfalls fordernd oder erwartungsvoll, ansah, wuchs in ihm der Wunsch, seine Tat wieder gut zu machen. Er wurde in diesem Moment weder gedrängt noch getrieben und doch gab es keine andere Option. Er gestatte sich selbst keine weitere als die, für seine Tat gerade zu stehen.
    „Sag uns, was hier los ist.“
    Andrews Seitenblick bemerkte er gar nicht, doch seine Meinung würde er in diesem Fall nicht anhören. Egal wie sie aussähe, sie würde seinen eigenen Entschluss nicht beeinflussen. Wenn er hinterher sagte, dass er mit all dem nichts zu tun haben wolle, würde er das ohne jeden Missmut akzeptieren und alleine die Konsequenzen tragen. Gerade als er diesen Gedanken beendet hatte, spürte er wieder Melodys warme Hände auf dem Rücken seiner eigenen. Sofort zog es seinen Blick zu ihr. Ihre Augen strahlten einen stärkenden, unerschütterlichen Glanz aus. Sie versprachen ihm hier und jetzt ihre bedingungslose Unterstützung, was auch immer gleich passieren würde. Ryan war für einen Moment wie gelähmt. Wie konnte es sein, dass er nach so kurzer Zeit beinahe ihre Augen vergessen hätte?
    „Es ist zwar nur sehr wenigen Menschen auf der Welt bekannt, aber der Drachengott Rayquaza hegt bereits seit hunderten von Jahren einen tiefen Groll gegen die Menschen“, begann Mila schließlich.
    „Damals, als Ritter, Jäger und Helden sich aufmachten, um für Ruhm und Gold oder aus Furcht und Hass Drachen zu töten. Viele tausend ihrer Art wurden innerhalb von wenigen Jahren hingemetzelt. Und mit jedem schwindenden Leben wuchs der Zorn Rayquazas. Zorn auf die Menschen, Zorn auf ihr Denken, Zorn auf ihr Handeln, Zorn auf ihre Existenz. Und nach einem Jahrhundert des leidvollen Zusehens, fasste der Drachengott schließlich den Plan, die Menschheit auszurotten.“
    Ryan schluckte schwer. Dass dieses Ereignis nun schon mehrere hundert Jahre in der Vergangenheit liegen musste, war die eine Sache. Doch ihm stellte sich unwillkürlich die Frage, was wohl passiert wäre, hätte Rayquaza Erfolg gehabt. Oder hat er seinen Plan vielleicht aus eigenem Entschluss aufgegeben? Es war Melody, die seine eigene Frage letztlich stellte.
    „Hat er den Menschen doch vergeben, oder warum hat er es nicht getan?“
    „Oh, er hat es getan. Oder war eher zielstrebig dabei, seinen Plan zu verwirklichen.“
    Die beiden tauschten untereinander und auch mit Andrew schweißtreibende Blicke aus. Keiner wusste besonders viel über Rayquaza, außer, dass die meisten als das Oberhaupt aller Drachenpokémon handelten und in einigen Religionen als Gott verehrt wurde. Allmächtige Fähigkeiten traute man ihm allgemein nicht wirklich zu, jedoch wart ihm seit jeher eine unglaubliche, zerstörerische Macht nachgesagt.
    „Ich weiß nicht genau, wie viele Menschen seinem Zorn zum Opfer gefallen sind, doch die Zahl ist sicher erschütternd“, erzählte Mila mit einer leicht trauernden Stimme weiter. Nahm sie gar so viel Anteil an dem – zugegeben tragischen – Schicksal der Menschen von damals?
    „Von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf brannte er alles nieder und löschte Familien, Sippen, fast sogar ganze Königreiche aus. Er war zum Gott des Krieges und des Todes geworden und zerstörte, vernichtete so grauenvoll und gnadenlos...“, sie brach ab. So richtig wollte auch keiner, dass wie weiter ins Detail ging. Jeder Idiot merkte, welch dunkle Gedanken sie mit diesem Ereignis verband.
    Andrew schüttelte es. Man stelle sich vor, Rayquaza würde zu heutigen Tagen einen solchen Entschluss fassen. Man stelle sich vor, ein riesiger, grüner Drache flog über die Städte und ließ alles in einer Flut aus Feuer und Gewalt versinken. Zu behaupten dies wäre beängstigend, war ungefähr so zutreffen wie die Aussage, dass die Oberfläche der Sonne warm sei.
    „Doch ja, Melody“, fuhr Mila dann nach einem stillen Moment fort, in dem sie genau beobachtet hatte, wie ihre Geschichte auf jeden einzelnen wirkte. Sie waren seit Jahren die ersten, die davon hörten.
    „Rayquaza hat den Menschen eine weitere Chance gewährt. Er hat sie – hat uns verschont. Nur durch die Aufrichtigkeit und den Mut einer einzelnen Frau. Eine Frau, die in Begleitung ihres Drachengefährten um Rayquazas Gnade flehte und ein Umdenken unter den Menschen zu erreichen versprach. Eine ehrenvolle und stolze Kriegerin namens Mirjana. Sie wurde die erste Drachenpriesterin.“
    All diese Informationen zu verarbeiten, war nicht gerade einfach. Mehr und mehr wurde allen bewusst, welche Tragweite die Situation besaß und auf was sie sich gefasst machen mussten.
    „Was hat das mit dem Drachensplitter zu tun?, verlangte Ryan zu wissen.
    „Du sagtest, er sei sein Herz, richtig?“
    „Ein Teil davon, um genau zu sein. Seine Existenz band die Drachenpriesterin jedoch an sich. Er verlieh ihr fortan ewige Jugend, damit sie ihn über die Zeitalter hinweg schützen konnte. Er ist außerdem ein Symbol für seine Gnade, seinen guten Willen. Doch der entstandene Frieden war brüchig.“
    Ihre Gesichtszüge wurden finsterer, beinahe melancholisch. Ihre himmelblauen Augen hatten den Glanz verloren und ihr Blick schien sich in irgendeinem Fernen Punkt zu verlieren.
    „Viele Menschen wollten nach dem Blutbad nichts von Gnade und Frieden wissen. Im Gegenteil. Der Hass war größer denn je. Einige schmiedeten sogar Pläne, Mirjana zu benutzen, um Rayquaza zu hintergehen und umzubringen. Vergeblich hatte Mirjana versucht die Narren von ihrem törichten Unterfangen abzuhalten. So hatte sie aus Angst, Rayquazas Zorn würde sich erneut gegen sie richten, keinen anderen Weg gesehen, als jenen Menschen das Leben zu nehmen.“
    „Sie hat diese Leute einfach umgebracht?“
    Melody klang ungläubig. Sie hatte im ersten Moment tiefen Respekt für diese Mirjana empfunden. Sich allein einem rasenden Drachengott zu stellen und ihn zu besänftigen, war bei Leibe nichts, was jeder konnte. Allein den Mut des Versuches würde wohl nur ein Bruchteil aller Menschen aufbringen können, doch es war nicht nur beim Versuch geblieben, sie hatte Erfolg gehabt! Und dann war sie solch radikale Wege gegangen?
    „Zu oft und nicht selten wurde ihr Arm von ihren Emotionen und ihrer Angst gelenkt. Ich kann das nicht rechtfertigen. Ich stehe hier nur als eine weitere von vielen Seelen, die die Last ihrer Bürde höchstens im Ansatz zu erahnen vermag. Doch sie hatte es aus einem noblen Grund heraus getan. Sie war bereit, alles Leid und jede Schuld auf sich zu nehmen, damit die Menschheit fortbestehen konnte. So grausam ihre Methoden auch waren, ist es gut möglich, dass es keinen anderen Weg gegeben hatte. Nicht, wenn sie ihr Wort halten wollte.“
    „Du sprichst bemerkenswert präzise davon.“
    Alle Augen richteten sich auf Ryan. Seine Worte hatten beinahe anklagend geklungen und ebenso schaute er Mila an. Erstaunlich, wenn er daran dachte, wie schwer ihm das bisher gefallen war. Doch er meinte etwas zu erkennen. Mila verschwieg ein wichtiges Detail, das sie ihnen unbedingt preisgeben musste. Das sagte ihm zumindest sein Gefühl.
    „Wie kannst du so alte Ereignisse so genau erzählen und dir sicher sein, nicht falsch zu liegen?“
    An dieses breiter werdende Lächeln würde er sich wohl nie gewöhnen. Doch diesmal fand er, dass es anders war. Er meinte fast so etwas wie Zufriedenheit darin zu erkennen. Ja, als sei sie zufrieden mit seiner Auffassungsgabe. Stimmte seine Vorahnung etwa doch?
    „Noch einige Monate bevor Mirjana die Aufgabe als Wächterin des Drachensplitters übernahm, gebar sie eine gesunde Tochter. Der Vater blieb allen Folgegenerationen unbekannt und so zog sie das Kind alleine auf. Es ist jedoch sicher, dass auch er unter Rayquazas Zorn gefallen war.“
    Ryan spürte, dass sie mit dieser Erklärung auf etwas hinarbeitete, ihm vielleicht den gesamten Umfang der Antwort auf seine Frage klar zu machen gedachte. Daher wartete er geduldig ab und ließ sie erzählen.
    „Die Magie des Splitters schützte eben nur vor dem Alter, nicht jedoch vor dem Tod selbst. Letztlich hatte sich Mirjana zu viele Feinde gemacht und so holte er auch sie zu sich. Daraufhin leistete die Tochter, die zu diesem Zeitpunkt fast in Mirjanas Alter schien und doch viele Jahre jünger war, den altehrwürdigen Schwur, der sie als neue Drachenpriesterin bestimmte und somit ihrerseits ewige Jugend verlieh.“
    „Wer war ihre Tochter?“, fragte nun Andrew. Es war keine Häufigkeit, dass er einer Geschichte so still und wissbegierig lauschte. Doch er hatte schon immer das Gespür für ernste Situationen besessen und sein sonst so lebhaftes Verhalten zurückgestellt. Und Ryan spürte deutlich, dass es seinem besten Freund kein bisschen anders erging, als ihm selbst.
    „Wer war ihre Nachfolgerin?“, konkretisierte er, da Mila auch nach einigen Sekunden Stille walten ließ.
    „Es gab nur eine weitere Drachenpriesterin nach ihr.“
    Es fiel ein Groschen. Er schlug auf, auf eine Fels irgendwo zwischen dem Verstand von Ryan, Andrew und Melody und summte ein schallendes Echo. Draußen vor dem Fenster schwand gerade der letzte Rest sonnigen Tageslichts hinter dem Horizont und tauchte die Szenerie in das diffuse Licht einzelner blasser Sonnenstrahlen, die sich noch über ihn hinwegsetzten.
    „Ihr Name lautet Mila.“


    Auch nach einer geschlagenen Minute war es still im Raum. Nicht jedoch, da einer von ihnen Mila nur eine Sekunde misstraute. Sie hatten alle inzwischen begriffen, dass Mila nicht log und die Situation bei weitem viel zu ernst für Scherze war. Doch auch schien keiner so richtig schlüssig, was man in solch einem Moment nach solch einer Nachricht erwiderte. Wie viele Menschen hatten wohl eine vergleichbare Geschichte verarbeiten müssen? Spontan würde ein jeder von ihnen auf Null raten.
    „Ja, Mirjana war meine Mutter und sie...“, Mila deutete auf ihre noch immer stillschweigende Partnerin in der Ecke. „...machte ich zu meiner Gefährtin. Wir beide sind inzwischen über sechshundert Jahre alt.“
    Ryan stützte die Ellenbogen auf die Knie und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Zwei Menschen aus einer anderen Epoche. Zwei unsterbliche Kriegerinnen, die einem gottähnlichen Drachen dienten. Er hatte bereits Dinge mit eigenen Augen gesehen und erlebt, die ihm wohl kaum eine Seele auf dieser Erde glauben würde, hätte er jemals davon erzählt. Doch das war auch für ihn ein schwerer Brocken.
    Melody sah ihn desillusioniert von der Seite an. Sie wollte in diesem Moment nichts sagen. Ihr fiel auch nichts ein, was irgendjemandem hier helfen oder sonst wie von Nutzen sein könnte. Dafür war sie nicht genug in die Situation involviert. Dieses Gefühl beschlich sie zumindest, doch Tatsache war wohl, dass sie mit ihrer Anwesenheit während Milas Erklärung genau das war. Doch dessen würde sie sich wohl erst im Laufe der Nacht bewusst werden.
    Andrew hatte die Hände in die Hüften gelegt und starrte abwesend zur Zimmerdecke. Er fühlte sich an seine Kindheit zurückerinnert. Sein Vater war sehr belesen und interessiert an alten Sagen und Legenden und hatte ihm an manchen Abenden, anstatt eine Geschichte vorzulesen, wie es bei anderen Kindern zu dieser Lebenssparte üblich war, über die Götter erzählt. Andrew hatte dem immer teils ehrlich interessiert, teils belustigt gelauscht. Es waren meist unglaubliche Geschichten gewesen, die ihn regelrecht in Ehrfurcht hatten erstarren lassen, doch war er immer davon ausgegangen, dass er niemals zu der Handvoll Menschen unter Millionen gehören könnte, die tatsächlich mit ihnen in Kontakt kamen. Die fortwährende Legenden weiter schrieben. Und jetzt stand er hier inmitten einer solchen Legende. Die Umstände machten ihn jedoch deutlich weniger froh darüber, als er je gedacht hätte.
    Langsam wanderte Milas linke Hand hinauf an den rechten Oberarm. Dort, wo der braune Lederhandschuh endete, befand sich einer Schnalle, die sie beherzt öffnete und ihn behutsam auszog.
    „Dies ist das Zeichen, das den Schwur bekundet.“
    An ihrem Zeigefinger steckte ein silberner Ring in Form eines Drachenkopfes. Er glänzte wie akribisch poliertes Platin und in seinen Augen saßen kleine Smaragde.
    „Mit diesem Ring wart die Drachenpriesterin ernannt und gleichzeitig die Macht gegeben, einen Menschen zu ihrer rechten Hand zu ernennen und ebenfalls mit einem verlängerten Leben an ihre Aufgabe zu binden.“
    Sie sah zu der Attentäterin, die nach wie vor schweigend, fast desinteressiert alldem beiwohnte.
    „Ich machte ihr vor langer Zeit das Angebot, ihr Leben an meiner Seite zu führen. Eine der besseren Entscheidungen in meinem langen Dasein, wie ich betonen muss. Sie hat mir nicht nur durch unzählige Gefahren hindurch die Treue gehalten und mir dabei mehrfach das Leben gerettet, sondern ist mir ein unersetzlicher Mensch geworden.“
    „Und wie kam sie dazu?“
    Erneut trat Stille ein. Zwei rubinrote Augen blitzen erstmals mit Interesse auf und fixierten den blonden Trainer, der fest Mila ins Visier nahm und den Blick des Mädchens nur kurz erwiderte. Ryan hatte aufgehört, ihre Worte zu hinterfragen, Spekulationen anzustellen und alles auf die Goldwaage zu legen. Er hatte sich entschieden, die Dinge, die er mit seinem Diebstahl wohl teilweise mit ins Rollen gebracht hatte, zu akzeptieren. Doch diese Sache wollte er klären. So unbekannt und schleierhaft, wie ihm die von ihm benannte Sheila noch war, weigerte er sich, den beiden zu vertrauen. Mila hatte bereits einmal bekundet, dass es sie nicht interessierte, ob er ihnen sein Vertrauen schenkte, doch er wollt es ihnen schenken können. Dazu musste er die grundlegenden Dinge über sie wissen.
    „In welcher Verbindung stehst du zu Mirjana?“, richtete er die Frage, die ihm am meisten auf der Zunge brannte nun direkt an Sheila. Es war ihm selbst noch immer komisch dabei, selbst wenn er sie nur in Gedanken so nannte. Doch besser er gewöhnte sich gleich daran. Denn würde man beabsichtigen, sie anders anzusprechen, hätte einer der beiden protestiert – was sie auch jetzt nicht taten.
    Mila sah zu ihrer Partnerin herüber und nickte kaum merklich. Erlaubnis oder vielleicht Befehl, die Antwort selbst zu geben. So kalt und gespenstisch wie Ryan es selbst von ihr nicht erwartet hätte, tat sie eben dies und wirkte dabei doch belanglos und monoton, als sei es ach so banal.
    „Ich habe sie getötet.“

  • Hey Shimoto,


    scheint so, als würde die Story nun langsam losgehen. Zumindest erklärt sich hier jetzt endlich mal der Titel der Geschichte und wie Rayquaza eigentlich da drin hängt. Bleibt eigentlich nur noch die Frage, was Ryan und vermutlich auch Andrew zu tun gedenken, nachdem sie nun die Hintergründe erfahren haben. Ich find vor allem diese Legende interessant, weil das sowas ist, was über die lange Zeit einfach vergessen wird oder wenn überhaupt nur noch bruchstückhaft da ist. Es ist wie die Reise in eine vergangene Zeit und durch die Verbindung dieser alten Geschichten mit Rayquaza kommt dadurch eine passende Stimmung auf. Das hast du gut umgesetzt.


    Ansonsten noch ein Wort zum Kapitel davor: Übungskämpfe mit den Pokémon finde ich eh immer sehr interessant, aber wie du es gemacht hast, hab ich das bisher eher selten gelesen. Du lässt halt wirklich die Pokémon in den Vordergrund rücken und nicht die Auseinandersetzung an sich, was man auch gut bei der Nachbesprechung sieht. Persönliche Ansprachen des Trainers an die Pokémon lassen die Beziehung zwischen ihnen deutlich interessanter ausfallen und dass nicht jedes Pokémon gleich ist, zeigst du auch in derselben Szene. So kann man während des Lesens die Pokémon als richtige Charaktere wahrnehmen und nicht einfach als Mittel zum Kampf. Hat mir sehr gefallen.


    Wir lesen uns!

  • Hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet, nochmals Kommentare beantworten zu dürfen :thumbsup:


    Zitat


    scheint so, als würde die Story nun langsam losgehen. Zumindest erklärt sich hier jetzt endlich mal der Titel der Geschichte und wie Rayquaza eigentlich da drin hängt.

    Losgehen. In Kapitel 24 :assi:

    Ich würde diese Passage nicht als Beginn betiteln. Der Plot rund um Rayquaza hatte spätestens angefangen, nachdem Ryan den Drachensplitter gefunden hatte. Nur konnte der Leser das da noch nicht wissen.


    Zitat

    Ich find vor allem diese Legende interessant, weil das sowas ist, was über die lange Zeit einfach vergessen wird oder wenn überhaupt nur noch bruchstückhaft da ist. Es ist wie die Reise in eine vergangene Zeit und durch die Verbindung dieser alten Geschichten mit Rayquaza kommt dadurch eine passende Stimmung auf. Das hast du gut umgesetzt.

    Erstmal danke für das Lob. Diese ganze "Enthüllung" durch Mila hat mir auch unglaublich viel Spaß gemacht und in der Regel merkt man das beim Lesen.

    Witzig, dass du gerade an dieser Stelle Reisen in die Vergangenheit ansprichst, denn, so viel sei verraten, das nächste (Doppel)kapitel wird die Vergangenheit von Mila und vor allem Sheila mehr erläutern. Gerade der Schlusssatz des Kapitels könnte das ja schon vermuten lassen.


    Zitat

    Übungskämpfe mit den Pokémon finde ich eh immer sehr interessant, aber wie du es gemacht hast, hab ich das bisher eher selten gelesen. Du lässt halt wirklich die Pokémon in den Vordergrund rücken und nicht die Auseinandersetzung an sich, was man auch gut bei der Nachbesprechung sieht.

    Hätte mir mal vor ein paar Jahren jemand gesagt, dass mir meine Zeit als Fußballer mal in dieser Form nützlich ist...:upsidedown:

    Ich denke jeder, der selbst mal einen Trainer hatte, weiß, wie man sowohl das Team im Ganzen als auch seine Mitglieder im Einzelnen anpacken muss, um Fortschritte zu erzielen. Dass jedes Pokémon dabei individuell behandelt werden muss, ist für mich selbstverständlich, wenn sie so grundverschieden sind. Ich gebe mir bei jeder Gelegenheit Mühe, ihnen in solchen Momenten eine Persönlichkeit zu geben.


    Zitat

    Wir lesen uns!

    Du weißt, wo du mich findest ;P

  • Kapitel 25: Born with no life


    Mitternacht

    Knapp zwei Sommer nach Geburt des Drachensplitters

    In einem abgelegenen Dorf irgendwo im Königreich Hoenn...


    Stürmisch war jene Nacht in den Wäldern. Blitz und Donner zuckten und grollten, als tobe hoch über den Wolken eine Schlacht unter den Göttern. Vielleicht waren es aber auch nur die unbehaglichen Zornesschreie des mächtigen Himmelsdrachen. Wie sich jene anhörten, das wussten sie alle ganz genau. Sie hatten sie bereits gehört. Hatten ihn gesehen, wie er ihr Dorf in Flammen hatte aufgehen lassen und wie er Teile ihrer Familien ausgelöscht hatte. Sie waren von seiner Rache genauso wenig verschont geblieben, wie all die anderen Städte. Doch im Gegensatz zu ihnen, war niemand hier auf selbiges, auf Rache aus oder hatte den göttlichen Drachen verflucht. Hier lebten jene, die sich ihrer Schandtat bewusst waren und ihre Strafe akzeptierten. Hier in der tiefsten Wildnis des Königreichs Hoenn. Das Reich, das bald untergehen würde, sollte der König dem niederen Volk keine Hilfe zukommen lassen.

    Viele hatten während Rayquazas Rachefeldzug alles verloren. Ohne Heim und ohne auch nur einen Laib Brot hungerten sie auf den Straßen oder drängten sich in die ohnehin schon überfüllten Städte – jene, die noch bewohnt wurden. Raue Sitten herrschten in den letzten Monden. Die Herzen der Menschen waren kalt und hart. Man wurde auf den Straßen überfallen oder im Schlaf erdolcht, um seiner Habe wegen, die man mit Not aus seinem brennenden Hause hatte retten können. Es gab nicht genug Essen für die Bürger und keine Arbeit für die Bauern, da sie ihr Vieh verloren hatten – jene Pokémon, die ihnen die Arbeit ermöglichten.

    Doch dieser Ort blieb unerreicht von Armut. Vor diesem Dorf machte das Elend halt. Der Grund war einfach. Sie hatten immer so gelebt. Neunzehn Familien zählte ihr Dorf gegenwärtig. Nie waren es mehr gewesen, nie weniger. Es war unbeschreibliches Glück gewesen, dass nicht eine Familie während der letzten Monate vollständig ausradiert worden war. Jeder war ein Mitglied geblieben, dass den Namen weitertrug. Und heute Nacht würde ein weiteres Leben in diese Gemeinschaft geboren werden.

    Der Regen prasselte unaufhörlich gegen das Dach und die Außenwände jeder einzelnen Hütte. Das beste und stabilste Holz war für ihren Bau verwendet worden, um selbst solchen Unwettern standhalten zu können. Der Waldboden war weitestgehend sehr uneben, weshalb die Gebäude auf Stützpfeilern standen, die eine Armlänge maßen. Eine Tür war nicht vorhanden, nur ein offener Rahmen, durch den man von außen ins Innere blicken konnte. An diesem lehnte ein Mann. Groß und kräftig gebaut, die Haut dunkel und das Gesicht mit finsterer Miene in die verregnete Nacht gerichtet. Eine Hose aus dunklem Leder trug er samt Gürtel aus Pokémonleder. Füße und Oberkörper waren nackt, sodass Regentropfen sich in Strömen über seine breiten Schultern, den kräftigen Rücken und die Bauchmuskeln ergossen. Er stand da und lauschte den Geräuschen, die durch den Türrahmen klangen. Aufgeregtes Getuschel der ältesten Frauen des Dorfes, die das Nahende ungeduldig erwarteten, vermischten sich mit den wehklagenden Schreien einer werdenden Mutter. Sie übertönte den Regen, übertönte den Donner. Und schließlich erklang eine Stimme zum ersten Mal in dieser Welt. Die unverkennbare Stimme eines schreienden Babys drangen an sein Ohr.

    Ohne eine weitere Sekunde im Regen zu verharren, stieß sich der Mann vom Türrahmen ab und trat ein. Kurz schüttelte er das schulterlange, schwarze Haar, in das sich bereits erste Grautöne schlichen, um seinen Nacken davon zu befreien. Lästig war die nasse, klebrige Frisur. Vor ihm kniete im Schein von einem Dutzend Kerzen ein Halbkreis aus alten Frauen mit grauem, dünnen Haar und von Falten wie Furchen geprägten Gesichtern. In ihrer Mitte lag seine wunderschöne Frau auf einigen weichen Fellen. Ihr Haar war ebenso schwarz wie das seine, allerdings ohne graue Ansätze, aufwendig geflochten und noch ein wenig länger. In ihren Armen hielt sie das in eine Wolldecke gewickelte Kind. Sie sah ihn aus ihren blauen Augen an und die dünnen Lippen formten die Antwort auf eine unausgesprochene Frage.

    „Es ist ein Mädchen.“

    Wortlos nahm er seine Tochter entgegen. So behutsam es nur ging, hielten die großen, starken Hände das frische Leben und erlaubten eine genaue Betrachtung seines Antlitzes.

    „Bist du enttäuscht, Agnar?“

    Sowohl seine Geliebte – Hanifa war ihr Name – als auch die Ältesten um sie herum wussten von der Ernüchterung ihres Oberhauptes. Vor einiger Zeit noch hätte es ihn nicht im Geringsten gekümmert, ob er einen Sohn oder eine Tochter bekäme. Doch die Situation hatte sich geändert. Diese Geburt war kein Grund zur Freude. Sie war ihre Hoffnung und zugleich ihre Bürde, bedingt durch das, was das Leben für dieses Kind bereit hielt. Die Karte, die das Schicksal für sie gezogen hatte. So schwieg der Stammesführer. Ein gesunder Junge wäre so viel besser gewesen. Junge Männer gab es genug in ihrem Dorf, und doch waren sie alle schon zu alt, um eine Ausbildung dieser Intensität zu beginnen. Aber weitere Geburten waren in nächster Zeit nicht zu erwarten und Agnar hatte es ohnehin nicht verantworten wollen, ein anderes Kind als das Seine mit dieser Bürde zu belasten. Es musste genau dieses Kind sein.

    Eine der alten Frauen stand auf. Sie war in ein Gewand aus weitem, rotem Stoff gehüllt und trug an Hals und Handgelenken mehrere Ketten aus weißen Steinen. Ihr Haar, obgleich so grau und dünn wie das der anderen, hatte sie zu einem Zopf geflochten. In ihrer rechten Hand hielt sie einen hölzernen Stab mit einer perlenartigen, roten Verdickung am oberen Ende. Sie war die Dorfälteste – von seiner geliebten Hanifa abgesehen, das einzige Weib, dessen Meinung Agnar wirklich respektierte.

    „Versinke nicht in Verzweiflung, so wie es die Welt getan hat. Ich weiß du wolltest einen starken Recken großziehen und ihn die Kunst des Schwertes lehren. Aber dieses Kind ist unsere einzige Hoffnung.“

    Ihre dunklen, schwachen Augen sahen so eindringlich in die harten Züge seines Gesichts, wie kaum ein anderes Paar es vermochte und funkelten dabei mysteriös im Kerzenschein.

    „Wir haben die Götter bereits befragt. Dieses Mädchen ist nicht untauglich. Trainiere sie so gut du kannst und ich bin sicher, aus ihr wird ein hervorragender Assassine. Von deiner Ausbildung wird es abhängen, ob sie ihre Bürde erfüllen oder sterben wird.“

    Langsam richteten sich Agnars stählerne Augen auf die Älteste. Sein Blick war, als wolle er sie erschlagen, doch sie kannte ihn lange und gut genug. Er blickte die Menschen immer so an. Ebenso, wie er immer mit derselben, rauen, bedrohlichen Stimme sprach.

    „Sterben wird sie, wie jeder von uns. Das ist bereits Gewissheit.“

    Sodann richteten sich die Seelenspiegel wieder auf das Neugeborene und er sprach mit einer absoluten Überzeugung in der Stimme, während er zärtlich über ihre Wange strich.

    „Doch eines Tages wird sie Mirjana töten.“



    Kurz vor Sonnenuntergang

    Vierzehn Sommer nach Geburt des Drachensplitters


    Volle Konzentration erfüllte sie. Die finsteren Augen hafteten energisch an ihrem Gegenüber. Ihre Hände waren ruhig, ihr Atem gleichmäßig und kontrolliert. Sie dehnte ihre Finger, ließ die Gelenke knacken, ohne aus ihrer Kampfposition zu weichen. Ihre nackten Füße gruben sich in den Sand, bereiteten sich vor. So wie sich jeder Muskel in ihren Beinen spannte, meinte sie fast, ihre beengende Lederhose würde reißen. Immerhin hatte sie die Erlaubnis erhalten, wenigstens ihren Oberkörper frei bewegen zu dürfen, weshalb dieser nur an den nötigsten Stellen von weißen Bandagen verdeckt wurde. Ihr nachtblaues Haar war zusammengebunden, um ihre Sicht nicht zu behindern.

    Dann stürmte er heran. Wie ein Bulle kam er auf sie zu, ballte die Fäuste und holte zum vernichteten Schlag aus. Sie sah gleich ihre Chance. Er war auf Angriff fokussiert, vernachlässigte seine Deckung. Sie holte zu einem Tritt gegen die Schläfe aus. Die Bewegung war perfekt, dennoch nicht gut genug. Blitzschnell blockte der starke Mann mit dem linken Arm, der Rechte sauste auf ihren Körper zu. Für den winzigen Bruchteil einer Sekunde war sie versteinert, verwundert über die schnelle Reaktion. Hatte er sie kommen sehen? Doch blieb sie mit Leib und Seele in das Kampfgeschehen vertieft. Sie ließ den Oberkörper weit nach hinten fallen, ohne den Stand zu verlieren. Dem fatalen Schlag ausweichend, zog sie das rechte Bein an den Körper und setzte zu einem Tritt auf das Kinn an. Diesmal traf sie, erreichte jedoch nicht mehr als ein wütendes Schnauben von ihrem Gegner. Dieser schlug nun auf sie nieder, verfehlte allerdings erneut, als sich das Mädchen rückwärts abrollte, noch im Aufstehen zu einem Sprung ansetzte und dabei zweifach zuschlug. Erneut blockte er ihren Gegenangriff, ergriff dabei sogar ihr rechtes Handgelenk und schleuderte sie herum. Eine schmerzhafte Landung auf der ausgetrockneten Erde des abgegrenzten Duellrings blieb jedoch aus. Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich ausrichten können, um den Sturz mit allen Vieren abzufangen. Dann setzte sie zu einer Drehung an und trat mit dem linken Bein zu. Sie schlug ihm die Parade mit den Unterarmen weg und öffnete den Weg für einen platzierten Körpertreffer mit dem rechten Fuß, noch bevor sie wieder festen Stand hatte. Allerdings wich er nicht einen Schritt zurück. Stattdessen nutzte er ihre fehlende Standhaftigkeit aus. So machte er einen raschen Schritt nach vorn, griff mit seinen monströsen Händen nach ihr, hievte sie hoch, als sei sie sein Spielzeug und schmetterte sie über die Schulter zu Boden. Kaum hatte der donnernde Schmerz eingesetzt, spürte sie schon, wie er seinen Fuß auf ihre Brust stemmte und sein Gewicht darauf verlagerte. Sie keuchte, als ihr die Luft brutal aus den Lungen gedrückt wurde. Sie war bewegungsunfähig. Der Kampf war vorbei. Einige Sekunden der Stille lang blickten sie einander in die Augen. Sie war die einzige unter ihnen, die schnaufte.

    „Wie nahe, Vater?“

    Ihre schweren Atemzüge waren das einzig Folgende auf ihre Frage. Es kam keine Antwort, nur ein prüfender Blick und Schweigen. Zunächst.

    „Wie nahe bin ich meiner Bestimmung?“

    „Wie lange mag es wohl dauern, bis du mir ebenbürtig bist?“

    Sie verstand die verborgene Antwort. Seit Beginn ihres Trainings war es ihr festgelegtes Ziel, Agnar im Kampf zu besiegen. Er würde das Maß sein, an dem sie sich zu messen hatte, bevor sie auch nur daran denken konnte, ihre Bestimmung zu erfüllen. Doch sie wollte es am liebsten sofort. Und das wusste Agnar.

    „Wir richten die Augen nicht auf den Horizont, sondern auf unser nächstes Ziel. Du hast noch einen weiten Weg vor dir und kindischer Übereifer beschämt dich ebenso wie mich selbst. Lerne dich zu zügeln, übe dich in Geduld.“

    Als wolle sie auf diese Weise um Vergebung bitten, schwieg das Mädchen, schloss die Augen und neigte leicht das Haupt. Die Geste war rein symbolisch, da sie noch immer am Boden lag.

    „Doch du bist wahrlich talentiert“, überlegte Agnar im Anschluss, sprach dabei sehr leise. Seine Worte ließen die Schülerin wieder aufstehen.

    „Sehr talentiert sogar. Du bist sehr viel besser, als ich es in deinem Alter war.“

    Eine kurze Pause folgte. Dem Mädchen genügte dies nicht im Geringsten. Talentiert oder nicht, begabt oder nicht, sie mussten so stark werden, wie nur menschenmöglich. Andernfalls war es ihr Versagen. Nun nahm er den Fuß von ihr und erlaubte ihr aufzustehen.

    „Wir werden das Training von nun an für dich erschweren. Wir beginnen ab morgen noch vor dem ersten Sonnenstrahl und enden, wenn ich es sage. Keine Sekunde eher. Auch wann du isst, wann du schläfst, alles geschieht auf mein Wort. Außerdem kämpfe ich ein wenig ernster. Und wenn du wehrlos zu Boden gehst, werde ich nun zuschlagen.“

    Einige Sekunden lang verinnerlichte das junge Mädchen diese Ankündigung tief bis in ihr Herz. Mit dem nächsten Tag würden mehr Schmerz, mehr Strapazen und mehr Erniedrigung beginnen. Sie würde nicht mehr mit Samthandschuhen angefasst, sondern wie eine ebenbürtige Gegnerin behandelt werden. Mit Respekt und ohne Zurückhaltung.

    „Danke. Ich werde dich nicht enttäuschen“


    Der Abend zog ereignislos dahin. Sie aß heute nicht mehr. Je früher der nächste Tag beginnen würde, umso mehr würde es ihren Körper träge machen. Ihre Mahlzeit vom Nachmittag musste reichen.

    Wie hypnotisiert sah sie den Älteren beim Training zu, während sie an die Mauer der Hütte lehnte, in der sie geboren worden war. Das Mädchen war – ebenso wie diese Jungen – noch nicht alt genug, um echte Klingen zu erhalten, doch mit den Übungsschwertern aus massivem Holz waren sie ihr noch immer um etwas voraus. Sie wünschte sich schon lange, endlich eine Waffe halten zu dürfen und sei es auch keine echte. Allein das Gefühl wollte sie kennenlernen. Ihr Vater beobachtete sie eindringlich, musterte ihren begierigen Blick, während sie den jungen Männern zusah.

    „Du wirst schon sehr bald viel stärker sein, als sie. Du wirst irgendwann stärker sein, als man jemals zu träumen gewagt hat.“

    „Verrätst du mir auch bald wofür?“

    Agnar zuckte beinahe zusammen, schaffte es aber, nach außen völlige Ruhe auszustrahlen. Er hatte gehofft, dass sie diese Frage erst in ein paar Jahren stellen würde. Sie war noch ein Kind – ein tödliches Kind, dass einen normalen Menschen bereits töten könnte – und es bestand die Gefahr, dass sie die Beweggründe noch nicht verstehen würde. Doch er hatte keine dumme Tochter großgezogen. Und dass sie ihm und seinem Training ohne Grenzen loyal war, hatte er schon vor langer Zeit erkannt.

    „Du wirst jemanden töten, dem wir unser aller Leben verdanken.“

    Nun wanden sich ihre Augen von den trainierenden Jungen ab und sahen ihren Vater aus einem skeptischen Seitenblick an. Einen Moment herrschte Schweigen. Dann...

    „Gut.“

    „Gut?“

    Sie nickte so knapp, dass man es leicht übersehen konnte.

    „Willst du den Grund nicht wissen?“

    „Sei nicht wissbegierig, sondern töte, aber töte nicht blind. Töte, wer den Tod verdient. Das war deine erste Lektion. Wenn ich dieser Person gegenüberstehe, werde ich mich von ihrer Schuld überzeugen. Und wenn sie es verdient hat, werde ich sie aufschlitzen.“

    Wahrlich hatte er keine Idiotin großgezogen. Für gewöhnlich durften die Schüler nicht zu viel über ihre Ziele erfragen, durften nicht zu viel wissen, durften keine Partei ergreifen. Sie durften nur hinterher in der Ehre baden, wenn sie Menschen töteten. Das war es, wofür man in diesem Dorf seit Generationen Krieger und Assassinen ausbildete. Das war es, was er ihr hatte beibringen wollen. Doch wer aus eigenem Scharfsinn solch wertvolle Standpunkte erfasste, war über die Lehre der Hinterfragung bereits hinausgewachsen. Und sie war es bereits nach neun Sommern.

    „Du wirst der Stolz unserer Geschichte sein. Du wirst der beste Assassine sein, den unser Dorf und die Welt je gesehen hat.“



    Sonnenhöchststand

    Sechzehn Sommer nach Geburt des Drachensplitters


    Ihr Körper war aufrecht, gerade, aber gespannt. Mit gesenktem Haupt wanderten ihre Augen ruhig und aufmerksam umher. Einer stand direkt vor ihr. Ein Weiterer nur vier Schritte daneben zu ihrer Linken. Ein Dritter in ihrem Rücken. Sie blieb in ihrer Position. Zwei der drei Feinde befanden sich direkt in ihrem Blickfeld. Den übrigen ließ sie in dem Glauben, sie wüsste nicht, was er hinter ihr täte. Sie waren allesamt sehr muskulös, unterschieden sich äußerlich kaum voneinander, da bei den männlichen Schülern seit jeher das Haar kurz geschoren wurde. Ihr Vater stand außerhalb des Duellrings, doch würdigtet sie ihn keines Blickes. Er war es heute nicht, den es zu bekämpfen galt. Es waren diese Jungen, die schon zwei oder drei Sommer mehr erlebt hatten, als sie selbst. Zu leicht. Sie kannte ihre Namen. Hork, Faruin und Jorn. Sie waren die drei besten ihres Jahrgangs und genossen unter allen Schülern den meisten Respekt. Nur nicht von ihr. Sie respektierte nur die Regeln und ihren Lehrmeister.

    Wie erwartet war es Jorn, der von hinten zuerst angriff. Sie nahm den Klang der Schritte und die Erschütterung im Boden wahr, so wie er auf sie zu rannte. Blitzschnell fuhr sie herum. Seine Faust sauste ins Leere. Stattdessen landete die ihre auf seinem Kinn. Dann schlang sich ein schlanker, weiblicher Arm um seinen Nacken und riss ihn auf die Knie. In einer fließenden Bewegung hatte das Mädchen sich sogleich wieder umgedreht und ihren Gefangenen mitgeschleift. Hork kam als zweiter schon in der nächsten Sekunde auf sie gestürmt. Mit einem Tritt in ihre ungeschützte Seite wollte er sie aus dem Gleichgewicht bringen. Sie jedoch reagierte völlig routiniert, fing den Fuß mit der linken Hand am Gelenk ab und ließ ihn nicht mehr los. Sie entließ Jorn aus ihrem Griff, um ihren Ellenbogen auf seine Wirbelsäule zu schlagen. Sofort sackte er zu Boden. Derweil trat sie Hork gegen das verbleibende Standbein, sodass dieser ebenfalls einknickte. Nun griff sie auch mit der rechten Hand nach dem Fuß, den sie noch immer festhielt und verdrehte ihm selbigen mit einer hundertfach geübten Technik. Ein widerliches Knacken bestätigte ihren Erfolg und ließ ihren Gegner einen lauten Schrei ausstoßen, obgleich er nur kurz war. Die Pein war so stark, dass er für einige Sekunden nicht einmal an einen Aufstehversuch würde denken können.

    Kaum lag er auf dem Erdreich, wandte sie sich wieder Jorn zu. Nicht einmal die Chance hatte er gehabt, sich aufzurichten, so schnell hatte sie den anderen Schüler ausgeschaltet. Nur den Kopf hatte er erhoben, womit er ihr Tür und Tor für den nächsten Angriff öffnete. Ihre rechte Kniescheibe rammte sie ihm nach einem kurzen Anlauf ins Gesicht. Einige Tropfen Blut schlugen ihr entgegen.

    Dann griff zum ersten Mal Faruin ein. Diesem nun den Rücken gewandt, sah sie ihn nicht kommen, handelte daher rein instinktiv. Sie hob den linken Unterarm über ihren Kopf, gerade rechtzeitig, bevor zwei zusammengefaltete Fäuste darauf landeten, deren eigentliches Ziel ihr Kopf gewesen war. Sicher hätte sein mächtiger Hieb ausgereicht, um ihr das Bewusstsein zu rauben. Einen kurzen Moment lang ließ sie ihm in Gedanken Spott und Verachtung zukommen. Anstatt gemeinsam mit seinen Brüdern anzugreifen, hatte er gewartet, bis sie ihm den Rücken gekehrt hatte. Dabei hätte der Narr wissen sollen, dass dies seine Chancen nicht steigerte. Sein Angriff war fehlgeschlagen und sein Körper ungeschützt. Gleich drei Mal schlug sie mit dem rechten Ellenbogen in Faruins Torso. Überrumpelt und schmerzvoll stöhnte er bei jedem Hieb auf und seine Hände lösten sich voneinander. Kaum, dass dies geschehen war, ergriff die eiskalte Hand des Mädchens mit stählernem Griff seinen Unterarm und drehte sich einmal flink um die eigene Achse. Dem Jungen wurde der Arm schmerzhaft verdreht, doch erst als sie den entscheidenden Schritt machte und ihn gewaltsam mit sich zog, entfaltete sich erst die wahre Wirkung. Der Kontrolle über seinen Körper beraubt, musste er der ihm vorgegebenen Richtung folgen, oder sie würde ihm den Arm ohne zu zögern aus dem Gelenk reißen. So wurde er hilflos über ihre Schulter geworfen und landete mit einem dumpfen Aufprall ebenfalls auf dem Boden. Mit perfekter Technik hatte sie ihn trotz körperlicher Unterlegenheit auf den Rücken befördert.

    Schon folgte erneut ein Angriff. Hork kam mit einem wütenden Schlag auf ihre rechte Schläfe. Sofort hob sie den Unterarm und hielt dem immensen Druck seiner Muskelkraft stand. Frustriert über den Fehlversuch, wagte er den gleichen Angriff nun auf der anderen Seite. Als hätte sie es erwartet, blockte das Mädchen auch diesen Schlag und setzte sofort zu einem Tritt in den Bauch an. Stöhnend sackte er mit Kopf und Oberkörper nach vorne. Doch anstatt seine nun offene Deckung auszunutzen, wirbelte sie rasch herum, sodass ihr Haar einen Schwung machte. Ihre Intuition hatte sie einmal mehr nicht im Stich gelassen. Sie blickte in das völlig überraschte Gesicht von Jorn, als sie seine Faust auffing. Gleich danach verzog es sich vor Schmerz, als sie sein Handgelenk nach oben druckte, worauf dieses mit einem lauten Knacken antwortete. Den Tritt von Hork, der auf ihren Hinterkopf zielte, nahm sie ebenfalls rechtzeitig wahr. Sie blockte mit ihrem Handknöchel, ging selbst in eine rasche Drehung über und demonstrierte, denselben Angriff in erfolgreicher Ausführung. So wie sie aus jener Drehung herauskam, schlug sie Jorn zwei Mal trocken in die Magengegend, bevor sie aus dem Augenwinkel wieder Faruin heranstürmen sah. Sie glitt ein eine leicht breitbeinige Position und hielt den Oberkörper tief. Die Faust ihres Gegners fing sie auf und zog selbigen ein Stück zu ihr herunter, nur um ihm dann ihre eigene mit aller Kraft aufs Kinn zu schlagen, was Faruin zurücktaumeln ließ. Aus ihrer tiefen Position heraus reckte sie dann das rechte Bein ausgestreckt in die Höhe und traf den noch leicht benommenen Jorn ebenfalls am Kinn. Dieser Treffer sorgte dafür, dass er sich erneut im Sand wiederfand und dabei einen Zahn ausspuckte, sowie einen Schmerzensschrei niederkämpfte. Doch da kam Hork schon wieder auf sie zu und streckte seine Hand nach ihr aus. Diese bekam allerdings nichts zu fassen, da das Mädchen sich unter ihr durch tauchte und mit einem besonders kräftigen Schlag in seinen Torso dafür sorgte, dass er Speichel spuckend seinen Oberkörper nach vorne beugte. Sie nahm sofort die Chance wahr und ergriff seinen Kopf. Mit einem schwungvollen Sprung vollführte sie eine Gegenbewegung, welche der Schüler widerwillig zu folgen hatte. Laut knackte es noch in der Luft bevor sein Kiefer auf den Boden knallte. Hätte sie den Angriff mit vollem Effet durchgeführt, wäre sein Genick wohl gebrochen. Damit war Hork ausgeschaltet. Davon würde er sich nicht so rasch erholen.

    Sofort drückte das Mädchen die Beine in die Höhe und schwang sich mit einem Ruck des gesamten Körpers wieder in eine aufrechte Kampfposition. Erneut ließ der nächste Ansturm nicht lange auf sich warten. Es war wieder Jorn, der mittlerweile aus Mund und Nase stark blutete. Diesmal wartete sie einen Moment ab, wich vor einer Kombination aus Schlägen und Tritten zurück oder duckte sich darunter weg, bis sie ihm plötzlich einen raschen Schritt entgegen kam, sich dabei leicht seitlich wandte, um seinem Fäusten auszuweichen und zwischen sie zu schlüpfen. So konnte sie selbst nicht zu einem Faustschlag ausholen, rammte dafür jedoch ihren Ellenbogen direkt auf seinen Kehlkopf. Röchelnd wich er zurück.

    Durch einen verräterischen Schritt erahnte das junge Mädchen derweil Faruin ein weiteres Mal direkt hinter ihr. Sie trat mit links zu, ohne sich umzudrehen, indem sie ihrem Oberkörper nach vorne beugte, um ihr Gewicht auszubalancieren. Ihr Fuß traf ihn so stark wie ein Bulle mit seinen Hörnern und entriss seiner Kehle ein hohles Stöhnen. Ohne das Bein abzusetzen ging das Mädchen dann in eine Drehung über und trat ihm anschließend gegen den Fußknöchel, sodass er einknickte und zu Boden fiel. Dann wechselte sie in einer fließenden Bewegung das Standbein, sprang in eine weitere Drehung und trat Jorn seitlich gegen den Kieferknochen. Sofort wurde es finster in dessen Wahrnehmung. Er spuckte erneut Blut und fiel wie ein gefällter Baum zu Boden. Sie landete fest auf beiden Beinen.

    Für einen langen Atemzug betrachtete die Schülerin nun die beiden Gegner, die kampfunfähig vor ihr im Staub lagen. Zwei hatten überall Blut im Gesicht, der andere hielt sich jammernd das Genick. Alles schien für diesen Moment still zu stehen. Dann jedoch bemerkte sie, wie Faruin hinter ihr erneut aufzustehen versuchte, sich dabei würgend eine Hand auf seinen Magen drückte. Würde dieser Dummkopf doch lieber im Dreck liegen bleiben. Glaubte er etwa noch an seinen Sieg? Hatte er das auch nur eine Sekunde getan?

    „Wie töricht.“

    Ein letztes Mal sammelte sie ihre Kraft, ballte sie Faust, drehte sich und schlug ihm mit aller Macht und in einem letzten, genüsslichen Moment des Kampfrausches auf den Wangenknochen. Es war der einzige Schlag, in den sie all ihre ungezügelte Kraft legte, sich nicht zurückhielt. Der ohnehin schon schwache Körper verlor das Bewusstsein und fiel regungslos zu Boden. Das Mädchen drehte sich mit der Wucht ihrer Bewegung in die Ausgangsposition zurück.


    Leicht breitbeinig und die Fäuste noch immer geballt, allerdings unten haltend, sah sie zu ihrem Vater hinüber. Einige Tropfen Blut klebten an ihrem Körper, auf ihrer Wange. Dieser hielt ihrem eiskalten und beinahe wütenden Blick mühelos stand. Schließlich hatte er ihr diesen Blick aufgezwungen. Missbilligend stieg sie über zwei der stöhnenden Jungen hinweg und marschierte auf Agnar zu. In ihrem Gesicht stand deutliche Unzufriedenheit. Ebenso klang auch ihre Stimme, doch war sie trotzdem ruhig und beherrscht, wie immer. Unmissverständlich war ihr Unmut, obgleich sie in der gleichen Lautstärke sprach, wie sie es stets zu tun pflegte.

    „Wie lange hast du noch vor, mich gegen diese Schwächlinge kämpfen zu lassen?“

    „Du tätest gut daran, nicht ganz so arrogant auf sie herabzublicken. Schließlich warst du mehrfach in Bedrängnis“, belehrte er, schien aber nicht auf Vernunft oder Verständnis zu stoßen.

    „Diese Welpen sind keine Herausforderung. Ich kann sie Tage und Nächte niederschlagen, ohne einen Kratzer. Bevor sie mich wahrhaftig bedrängen, sterbe ich durch einen Blitzschlag von Zapdos.“

    „Nimm den Namen solch mächtiger Wesen nicht so leichtfertig in den Mund. Andernfalls kann es passieren, dass sie dein kümmerliches Leben zerschmettern, um dich zu strafen.“

    Agnar gefiel diese aufsässige Seite seiner Tochter nicht. Noch nie hatte sie ihn für sein Training kritisiert. Doch das vorlaute, junge Weib schien sich ein wenig zu überschätzen, wie es den Anschein hatte.

    „Ich will stärker werden. Ich will lernen, wie man das Fleisch seiner Feinde teilt und ihr Inneres zum Vorschein bringt.“

    Nun stand sie direkt vor ihm. Obwohl für ihr Alter sehr groß, maß sie zwei Köpfe weniger als Agnar, wenn nicht mehr. Dabei stand der langsam aber dennoch unübersehbar alternde Mann längst nicht mehr so stramm und aufrecht, wie früher noch. Er hatte schon größer gewirkt.

    „Ich will, dass du mich endlich die Klingen lehrst!“

    Ihr Blick war fordernd und trotzig. Sie wollte mehr, als sie derzeit bekam. Wofür trainierte sie so hart, wofür machte sie so rasche Fortschritte, wenn sie nicht auf die nächste Stufe gebracht wurde? Sie hatte oft genug bewiesen, wie gut sie war. Die meisten Mädchen, die ihr Alter erreichten, sich bald der Schwelle zum Erwachsenwerden näherten, wurden von diesem Zeitpunkt an nach und nach unbrauchbar für den Kampf. Indem sie zur Frau wurden, verdorrten ihre Fertigkeiten, die sie sich antrainiert hatten und verloren ihre Kampfinstinkte. Nichts dergleichen war bei ihr geschehen. Der einzige Unterschied zu früheren Jahren war, dass ihr dunkles Haar länger und allmählich blasser wurde und sie ein paar Bandagen mehr benötigte, um ihren Oberkörper zu verhüllen. Doch im Weg war ihr reifender Körper ihr noch nie gewesen. Sie war besser, als der Rest und daher verdiente sie es, noch besser werden zu dürfen.

    Prüfend sah Agnar auf sie herab. Waren Stärke und Geschick noch so überwältigend, sollte sie für Respektlosigkeit nicht belohnt werden. Doch wenn sie auf härteres Training brannte, so würde sie es kriegen. Es war wohl an der Zeit, sie von ihrem Ross zu holen. Er wandte sich ab und sprach, ohne seine Tochter anzusehen.

    „Geh zu Esmiralda. Sie soll dir einen Dolch geben. Mit dem wirst du heute Fleisch für das Dorf jagen. Bevor du es herschaffst, gehst du dich säubern. Ich will nicht, dass du das Abendmahl mit dem Gestank von Schweiß und Blut ruinierst. Ich erwarte reiche Beute, sonst kannst du gleich im Wald bleiben und zwischen seinen Bewohnern nächtigen. Sollte das passieren, bete lieber, dass sie deine Überheblichkeit riechen und du ihnen zuwider bist.“

    Damit war er fort. Sie blieb zurück. Ein leichtes Zucken ging über ihr Gesicht, das man fast als Lächeln betiteln konnte - fast.

    „Na endlich.“

    Ihr war wohl bewusst, dass ihr Vater sie nicht belohnen wollte. Er rechnete nicht damit, dass sie Beute brachte, sonst hätte er ihr nicht nur einen lächerlichen Dolch versprochen. In diesen Wäldern gab es zuhauf Geschöpfe, die mit einer solch mickrigen Klinge anzugreifen den sicheren Tod bedeutete. Doch nicht für sie. Sie würde Beute bringen und sie würde – wie Agnar es versteckt befohlen hatte – zum Abend wiederkehren, um am Feuer mit dem ganzen Dorf zu essen. Sie würde es sich gut schmecken lassen. Außerdem durfte sie auf diese Weise eine richtige Waffe aus Eisen halten, kein Holzschwert, wie die anderen Schüler. Und sie würde den Moment genießen, wenn sich der Dolch in den Leib ihres Opfers bohren würde. Sie fragte sich, ob es vergleichbar anfühlte, wenn man einen Menschen erstach. Wahrscheinlich nicht. Einen Menschen umzubringen, war sicher weit besser. Doch auch dieser Tag würde kommen.



    Dämmerung

    Siebzehn Sommer nach Geburt des Drachensplitters


    Agnar hielt das Schwert, so groß und schwer es doch war, nur mit seiner rechten Hand als sei es ein Stock. Mit überragender Leichtigkeit wuchtete er es durch die Luft, schlug wieder und immer wieder zu. Gnadenlos setzte er seine Tochter – derzeitig war sie in erster Linie seine Schülerin – unter Druck, zwang sie immer weiter, in die Enge. Fieberhaft versuchte sie ihre Konzentration zu wahren, sich nicht überwältigen zu lassen, immer bloß den nächsten Schlag abzuwehren. Mit einem einfachen Dolch war dies jedoch überaus schwierig. Sie besaß nicht die nötige Reichweite, um einen Gegenangriff zu starten und schaffte es nur mit Mühe und Not, die größere Klinge zu parieren, weshalb sie sich mehr auf Ausweichmanöver konzentrierte. Das Gewicht, welches auf sie einschlug, war mit einer solch mickrigen Waffe kaum von seinem Weg abzubringen und durch Agnars unbändige Kraft, mit welcher er die seine schwang, besaß sie auch keinerlei Vorteil in Sachen Geschwindigkeit.

    Doch dann folgte ein Streich mit der Rückhand auf ihre rechte Schulter. Er kam von unten heraus, daher witterte sie ihre Chance. Einen raschen Schritt machte sie zur Seite, wich somit dem Schwert aus und schlug selbiges nach oben. Blitzschnell wollte sie reagieren und die nun offene linke Seite attackieren. Noch nie war es ihr gelungen, Agnar eine tiefe Wunde zuzufügen. An dem Tage, an dem sie dies schaffte, würde ihre Ausbildung die nächste Stufe erreichen. Und nun hatte sie die Gelegenheit. Sie hielt den Dolch mit der Klinge nach unten gerichtet, preschte nun mit einem einzigen Schritt nach vorn und richtete die Spitze auf seinen Arm. Doch der Moment des Triumphs blieb verwehrt. Den noch immer vorhandenen Schwung seiner Waffe hatte Agnar genutzt, um in eine rasche Drehung zu vollführen und den Angriff seiner Schülerin mit ebenfalls tief gerichteter Klinge zu blocken. Das scheppernde Geräusch des kollidierenden Stahls missfiel ihr, bedeutete ihren Misserfolg. Sich davon jedoch nicht entmutigen lassend, schlug sie mit ihrer freien, rechten Hand nach seinem Körper. Blitzschnell hatte Agnar jedoch die Hand erhoben und ihre Faust aufgefangen. Es folgte ein Tritt mit dem rechten Knie in ihre Magengegend. Dieser war von so roher Gewalt, dass sie einige Zentimeter vom Boden abhob und mit einem keuchenden, erstickten Laut Blut und Speichel ausspuckte. Als nächstes spürte sie den scharfen Schnitt von Agnars Schwert auf ihrem Oberschenkel. Sie schrie nicht, obgleich sie bitteren Schmerz empfand. Doch an jenen hatte sie sich gewöhnt. Dies sah man ihr auch an, war doch ihr ganzer Körper sicher schon mit einem Dutzend Narben versehen, die ihr während des jahrelangen Trainings zugefügt worden waren. Dennoch wich sie einen Schritt zurück.

    „Hör auf dir einzubilden, du würdest meine Stärken im Kampf kennen. Noch hast du mich nicht an den Punkt getrieben, da ich mit ganzer Kraft kämpfen muss. Also sei nicht so unbedacht im Angriff, wenn du dir der Fähigkeiten deines Gegenübers nicht gewahr bist“, belehrte er sie. Ihr Blick änderte sich kein bisschen. Noch immer sah sie ihn aus feindseligen Augen an, als wolle sie ihn durch ihre Macht ausweiden.

    „Sieh deinen Gegner als übermächtig an, um deiner Überheblichkeit entgegenzuwirken und selbige bei ihm zu säen. Aber verliere nie die Überzeugung, dass du ihn töten wirst. Jede Stärke bedeutet auch immer eine Schwäche, die es herauszufinden gilt.“

    Jede Stärke bedeutete eine Schwäche. Diese Worte wiederholte sie mehrfach in ihren Gedanken. Wo sollte Agnars Schwäche liegen? Mit einem solchen Schwert wäre jeder normale Mensch viel zu langsam, um gegen sie bestehen zu können. Die Klinge war breiter als sein Arm und der Knauf reichte ihm stehend bis zum Brustbein. Agnar jedoch stand ihr im Punkt Schnelligkeit nicht nach, schwang seine Klinge geschickt und nahm den Schwung aus jedem Schlag für den nächsten mit. Außerdem musste sie sehr nahe an ihn heran, um ihren Dolch in sein Fleisch zu treiben. Vielleicht...

    Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Keine zwei Schritte hinter ihr steckten die Fackeln des Duellrings im Sand. Den Ring zu verlassen, bedeutete zehn Strafschläge auf den Rücken und nicht zuletzt die Schmach des Rückzuges.

    „Nun zeig mir, was du kannst.“

    Das Mädchen verengte die Augen, als sich die Schwertspitze ihr entgegen richtete. Vielleicht war seine Schwäche ja, dass er glaubte, er habe keine? Dass sie als Schülerin zu dumm und einfältig oder schlicht zu schwach sei, gegen ihn zu bestehen? Doch entsprach es nicht der Wahrheit? Selbst wenn dem so war, wie könnte sie dies ausnutzen?

    Ihre Körperhaltung entspannte sich ein wenig. Sie sah den Dolch in ihrer Hand an und dann wieder zu Agnar. Überheblichkeit in seinem Gegner säen. Schwächen erkennen. Sein Rang als Lehrmeister bedeutete doch im Grunde nichts, war weder Rüstung noch Schild. Kein Gesetz, keine Regel schützte ihn vor Verletzungen. Es war nur er selbst, den sie überwinden musste. Sie kämpfte gegen Fleisch und Blut. Somit waren die Voraussetzungen dieses Kampfes dieselben, wie in jedem, den sie bestritten hatte und noch bestreiten würde.

    Einen kurzen Moment lang überlegte sie, dann warf sie ihre Waffe fort. Mit der Klinge blieb sie im Boden stecken, nur einige Schritte entfernt.

    „Was soll das?“, verlangte der Stammesführer teils verärgert und teils gleichgültig zu wissen. Das Wort „Aufgabe“ hatte er sie nicht gelehrt. Also was hatte dies zu bedeuten? Nach einigen stillen Momenten nahm sie unglaublich langsam wieder ihre Kampfhaltung ein. Die unbekleideten Füße gruben sich in die Erde, als sie in eine breitbeinige Position überging. Sie dehnte die Fingerknöchel und hielt ihre Hände kampfbereit im Anschlag. Ihre Augen hafteten nun fest auf den seinen, waren durch nichts abzulenken.

    Agnar war verwirrt, ließ sich seine Ratlosigkeit aber nicht anmerken. Stattdessen umfasste er sein Schwert nun wieder fester.

    „Was immer du vorhast, ich mache weiter.“

    Keine Reaktion von der Schülerin. Dann sei es so. Der erfahrene Krieger stürmte vorwärts, die Klinge sauste auf ihren Oberkörper zu. Er schwang sie waagerecht. Zurückweichen war unmöglich. Zur Seite schaffte sie es ebenfalls nicht. Ließ sie sich zu Boden fallen, wahr sie hilflos. Welche Alternative blieb ihr?

    Aus dem Stand heraus drehte das Mädchen ihren Körper leicht seitlich, holte mit jedem einzelnen, verfügbaren Muskel so viel Kraft und Schwung wie möglich und tatsächlich sprang sie über Agnars Schwert hinweg. Sie befand sich nur Zentimeter über dem tödlichen Schwert, entging selbigem sowie einer tiefen Wunde nur um Haaresbreite. Durch die Bewegung rotierte ihr Körper in der Luft einmal um die eigene Achse und trat ihrem Lehrmeister daraus gegen das Kinn. Dieser konnte kaum wissen, wie ihm geschah. Sie hatte ihn ausgetrickst, hatte Wehrlosigkeit simuliert und mit einer überraschenden Täuschung sowie einer unvorhersehbaren Bewegung einen Treffer gelandet.

    Doch davon ließ er sich nicht beeindrucken – nicht so leicht. Ein wenig war er ins Taumeln geraten, wodurch ein weiterer Schwertstreich zu spät kommen würde. So machte er eine Drehung auf dem Fußabsatz und trat auf Kopfhöhe zu. Kaum gelandet, schien seine Schülerin jedoch bereits damit gerechnet zu haben, da sie beide Arme schützend erhoben hatte. Das Schienbein prallte wirkungslos ab. Doch schon im nächsten Moment stach er wieder mit seiner Klinge zu. Doch wieder ging der Schlag ins Leere. Geschmeidig und wendig hatte sie sich nach hinten fallen lassen und mit einer Hand in der Rolle den Dolch ergriffen, der noch im Boden steckte. Als sie wieder auf den Füßen landete, ihre Waffe wieder in der Hand, machte sie einen Satz nach vorne und griff an. Agnar hob reflexartig das Schwert.

    Aus einer Drehung heraus schlug das Mädchen zu. Sie zielte tief, als sie an ihrem Gegner vorbeirauschte, schlitterte durch den Sand und verblieb in einer hockenden Position. Mit der linken Hand stützte sie sich zusätzlich auf den Boden, in der rechten hielt sie den Dolch, den Arm vor dem Gesicht und den Kopf gesenkt. Für einen Moment ließ sie die letzten Sekunden gedanklich Revue passieren. Ließ den Ablauf noch einmal vor ihrem inneren Auge abspielen und sah sich selbst dabei zu. Und erst jetzt realisierte sie ihr Handeln, als wäre sie gar nicht mehr Herrin über sich selbst gewesen. Ihr Sprung, der Block, das Aufnehmen ihrer Waffe und schließlich der Angriff. Es war tatsächlich ihr eigenes Handeln gewesen, ohne nachzudenken und aus reiner Intuition heraus. Als sie aufsah, erblickte sie das Blut an ihrem Dolch. Nun drehte sich Agnar zu ihr um.

    „Noch nicht gut genug.“

    Resignierend, jedoch den Ausgang des Duells vollkommen akzeptierend, erhob sich die Schülerin. Sie hatte alle Register gezogen. Und doch blieb ihr nur die Niederlage.

    „Wie wahr.“

    Sie spürte, wie das Blut ihren Körper hinunterlief. Über ihrem linken Schlüsselbein hatte Agnars Schwert sie erwischt. Ein wenig tiefer noch und es wäre auch mit dem Knochen geschehen. Ihre Bandagen um die Brust wären ebenfalls beinahe aufgeschnitten worden, hingen nun bloß noch schlaff und nicht mehr fest.

    „Aber dennoch hast du heute einen großen Schritt getan“, sprach ihr Vater dann. Er besah sich der Schnittwunde an seinem linken Unterschenkel. Sie hatte weitaus tiefer in ihn hineingeschnitten, als er es bei ihr getan hatte. Dies würde er einige Tage spüren.

    „Ich glaube, du hast heute etwas sehr Wichtiges begriffen.“

    „Das habe ich.“

    Ja, begriffen hatte sie in der Tat. Stärke und Überlegenheit waren oft nichts als Illusion. Dass sie keine Muskeln brauchte, um Männer zu besiegen, die wesentlich kräftiger und schwerer als sie waren, darüber war sie sich längst im Klaren. Beim Tanz mit den Klingen zählten jedoch ganz andere Gesetzte. Taktik und Manipulation war ebenso wichtig wie die kämpferischen Fähigkeiten. Der Gegner durfte nur denken, was sie ihm zu denken erlaubte. Diese Lektion würde sie nie vergessen. Ebenso den Moment, in dem sie Agnar beinahe besiegt hatte.



    Morgengrauen

    Neunzehn Sommer nach Geburt des Drachensplitters


    „Ich sage dir noch einmal, es war zu früh. Viel zu früh!“

    Die Dorfälteste schien auch nach Stunden noch immer nicht müde zu werden, ihre Ansichten wieder und wieder zu äußern. Gar hatte sie bereits gestern, als er ihr sein Vorhaben eröffnet hatte, bereits damit begonnen. Agnar hatte ihr seines Erachtens unmissverständlich klar gemacht, dass er ihre Worte respektiere, aber dennoch anderer Meinung war.

    „Im Gegenteil. Es war längst überfällig.“

    Die graue, alte Frau in dem roten Gewand begann aufbrausend zu werden. Wütend schlug sie mit dem unteren Ende ihres Holzstabs auf den Boden. Bislang hatte Agnar noch das bisschen Anstand behalten, sie einfach zu ignorieren. Nun aber, da er diese Behauptung aussprach, empfand sie es als Beleidigung ihr sowie als Unrecht seiner Tochter gegenüber.

    „Überfällig sagst du? Die Schüler werden für gewöhnlich erst nach zwanzig Sommern losgeschickt, um einen Waldbären zu jagen! Und wieder hast du ihr nichts als einen Dolch erlaubt. Du hast sie in den sicheren Tod geschickt, starrköpfiger Agnar.“

    Das Stammesoberhaupt schwieg zunächst. So lange die Generationen ihres Dorfes zurückdenken konnten, war das Töten eines mächtigen Waldbären und das Stehlen einer seiner Klauen das Ritual, die Prüfung für die angehenden Krieger und Assassinen, in der man sich zu beweisen hatte, um die letzte Stufe der Ausbildung zu erreichen. Ein Erfolg war beinahe schon gleichbedeutend mit dem Abschluss des Trainings – aber eben nur beinahe. Ein Misserfolg bedeutete meist den Tod. Waren die kämpferischen Fertigkeiten einmal ausgereift, galt es nur noch mentale Stärke und taktisches Geschick zu schulen. Für diese Schülerin allerdings wäre dies unnötig. Ihr letzter Schritt würde ein wenig anders aussehen.

    Agnar verschränkte die Arme vor der wie immer nackten Brust. Sein schwarzes Haar, das immer mehr Grau aufwies, hatte er heute zusammengebunden, wodurch es sanft mitschwang, als er leicht den Kopf schüttelte.

    „Du irrst. Ich habe ihr sehr wohl mehr erlaubt. Sie bestand selbst darauf, kein Schwert zu führen. Sie wollte bloß ihre beiden Dolche bei sich haben. Ich schätze durch das Training mit ihnen, hat sie sie liebgewonnen.“

    Die Älteste grunzte missmutig und stieß einen raschen Atemzug aus. Dieses Mädchen war ebenso unbedacht,

    wie ihr alter Herr. Froh sollte sie eigentlich sein über jede noch so kleine Hilfe, die sie von ihm bekam und von ihm gestattet wurde. Im Gegenzug war es nämlich an ihr, alles Weitere zu erlernen. Das Schleichen, das Jagen, das Lesen von Fährten, das Überleben in der Wildnis. All dies wurde den Schülern zwar gelehrt, doch mussten sie es in der Praxis allein umsetzen. Ihnen wurde nur gezeigt, welche Pflanzen nützlich und welche zu meiden waren. Für alles Weitere mussten sie ihren Verstand gebrauchen und zu improvisieren wissen. Wer versagte, starb. Und sie, die nun als jüngste Schülerin in der Geschichte des Dorfes einen Waldbären jagte, lehnte eine echte Klinge ab, um mit Küchenwerkzeugen zu kämpfen? Waffen, die höchstens zum Schlachten von Vieh geeignet waren? Im Grunde jedoch lag die Schuld dennoch bei Agnar, da er sie so hatte losziehen lassen.

    „Sollte sie nicht zurückkehren, werde ich dessen ungeachtet dich für ihren Tod verantwortlich machen. Folglich werde ich meinen Stab dann auf deinen Kopf schlagen, anstatt auf die unschuldige Erde.“

    „So soll es sein.“

    Wieder wurde die alte Frau etwas zorniger. Zum ersten Mal sah sie Agnar direkt in die Augen, wofür sie den Kopf weit in den Nacken legen musste, war sie doch kaum mehr als halb so groß.

    „Du leichtsinniger Schwachkopf! Du benimmst dich, als sei dir ihr Leben völlig egal. Was, wenn sie...“

    „Vor einigen Tagen...“, unterbrach der kräftige Mann in völliger Ruhe.

    „Vor einigen Tagen habe ich sie bei Gesprächen mit anderen, älteren Schülern belauscht. Die drei sagten ihr, man könne einen Bogen oder einen Speer in der Wildnis verstecken, um damit zu jagen. Sie sagten, man könne die Klaue eines jungen Waldbären stehlen und sie würde ebenso genügen, wie eine größere. Und sie verrieten, wo Waldbären manchmal zum Sterben hingehen würden, um von einem alten oder gar bereits toten Exemplar eine Klaue zu rauben.“

    Agnar pausierte für einen Moment und starrte in den Wald hinein. Sobald man seine Grenze zu ihrem Dorf übertrat, befand man sich in tödlicher Gefahr. Durch große Fackeln und das Verbrennen einiger Kräutermixturen hielten die Alchimisten wilde Bestien von ihren Häusern fern. Nun, da bereits die Dämmerung anbrach, war jede einzelne davon entzündet und großzügig mit den sonderbaren Gewächsen gefüttert worden, sodass das ganze Dorf nach ihnen roch. Genau dies war das Ziel. Wenn die Dunkelheit erst einmal hereinbrach, würden die Jäger des Waldes kühn werden, sofern jetzt nicht schon genügend verbrannt wurde. Befand man sich außerhalb dieser aromatischen Schutzbarriere, war man potenzielle Beute für unzählige, gefährliche Räuber, die einen Menschen auf hundert Arten umzubringen vermochten. Jeder wusste dies.

    „Soll ich dir sagen, was sie geantwortet hat?“

    Er wartete nicht auf die Bestätigung der Ältesten. Allein da sie sich ein wenig beruhigt zu haben schien, fühlte er ihre Neugier.

    „Sie fragte die anderen Schüler, wie sie denn ihr Spiegelbild betrachten könnten. Sie fragte, welcher Ausbilder ihnen diese feigen, niederträchtigen Methoden nahegelegt habe und wie sie sich selbst so erniedrigen konnten. Sie bezeichnete sie als unwürdige Feiglinge und ehrlose Hunde. Sie betonte mehrfach, dass sie nur ihre Dolche mitnehmen würde. Dass sie so auf die Jagd gehen würde, wie sie gerade vor ihnen stünde und dass sie die Klaue des größten und kräftigsten Waldbären stehlen würde, den sie würde finden können.“

    „Wie haben die Schüler reagiert?“

    Die Frage klang stark beiläufig und sie selbst an der Antwort nicht wirklich interessiert. Tatsächlich war es jedoch so, dass die graue Frau die Antwort unbedingt erfahren wollte, Agnar aber ungern danach fragte. Viel lieber würde sie ihm weiter seinen Fehler vorhalten wollen und ihre Drohung, die den Stab in ihrer Hand miteinbezog, wahr machen.

    „Sie haben sie zum Kampf gefordert. Die Heiler waren lange mit ihnen beschäftigt.“

    „Ist dies deine Begründung? Vertraust du allein den Worten einer hochnäsigen Schülerin? Sie ist lange nicht so gut, wie sie von sich glaubt. Sie muss noch viel stärker werden, denn wenn wir sie verlieren...“

    Die Dorfälteste brach ab. Das Knacken von Ästen und das Rascheln von Laubblättern drang an ihr noch immer starkes Ohr. Agnar reagierte nicht im Geringsten. Für einige Sekunden hielten die Geräusche an, ohne dass etwas aus dem Unterholz trat. Dann erschien eine Silhouette zwischen den Bäumen. Sie war schlank, ging aufrecht und maß noch gut einen Kopf weniger als Agnar. Sie bewegte sich mühsam, machte viel Lärm und strauchelte ein wenig.

    Erst als sie gänzlich aus dem Schatten der Blätter trat, erkannte auch die Älteste jene Gestalt als Agnars Tochter und Schülerin. Ihr Antlitz war geziert von Kaskaden aus Blut, die sich über sie ergossen haben mussten. Der schwachen Frau stockte der Atem bei dem Anblick. Ihr dunkles Haar war von der roten Flüssigkeit völlig verklebt, haftete an ihren Wangen, an ihrem Hals, über ihrem Gesicht. Für die Jagd hatte sie einen Lederharnisch bekommen. Dieser war ebenfalls von Blut durchtränkt und die rechte Seite war eindeutig von einer Pranke aufgeschlitzt worden. Die klaffende Wunde darunter war widerwärtig. Aus ihr rann das Blut trotz des provisorischen Verbandes noch immer heraus, lief ihr rechtes Bein herunter und tropfte zu Boden. Der Hüftgurt, an dem sie bei Aufbruch ihre Dolche getragen hatte, war fort, wohl durch denselben Schlag durchtrennt und verloren gegangen. Die linke Hand wies einen tiefen Schnitt zwischen Daumen und Zeigefinger auf, war so gut wie unbrauchbar. Die Finger zuckten unkontrolliert, sodass sie beide Dolche in der rechten trug. Nicht einen Flecken des grauen Stahls konnte man erkennen. Alles war mit einem Schleier aus Rot überzogen. Und am ganzen Körper, Gesicht und Gliedmaßen zähle man blutige Kratzer und Schnitte. Quälend langsam kämpfte sie sich voran. Hielt den Kopf stark gesenkt und hinkte bedenklich. Sie wirkte mehr tot als lebendig. Doch nicht ein Ton entkam ihr. Kein Keuchen, kein Stöhnen, kein Wehklagen.

    „Ich traue meinen Augen nicht.“

    Agnar reagierte so gegensätzlich, wie menschenmöglich. Nicht eine Miene verzog er bei dem Anblick des Mädchens, dass scheinbar durch die Hölle und wieder zurück gereist war, um jetzt vor ihnen zu stehen.

    „Sie ist schneller zurückgekehrt, als ich erwartet hatte“, murmelte er leise vor sich hin, sodass es nur die Frau an seiner Seite hörte. Die Jägerin sackte nun zusammen, fiel auf das rechte Knie und stützte sich mit der unverletzten Faust auf den Boden. Sie hustete, röchelte, spuckte nebensächlich Blut aus, richtete sich aber bereits nach ein paar Sekunden wieder auf. Scheinbar beiläufig wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund und spuckte einige weitere Spritzer aus dem Mundwinkel. Doch irgendwie wirkte es komisch. Irgendwie wollte man meinen, sie täte sich schwer dabei. Als hätte sie etwas im Munde, das sie behinderte.

    Nun stand sie direkt vor Agnar und der Ältesten. Der starke Geruch von Blut, Dreck und Tod schlug den beiden entgegen. Langsam ob sie das Haupt, sodass zum ersten Mal ein freier Blick in ihr Gesicht gewährt wurde. Zwischen ihren Zähnen steckte die größte Klaue, die sie jemals gesehen hatten. Sie war ebenfalls benetzt vom Blut und außerdem vom Speichel des Mädchens. Beinahe das Doppelte einer normalen Klaue maß sie, war gar viel länger als die Dolche der Schülerin. Wütend schnaubte diese, atmete gereizt und erschöpft. Die Rubine ihrer Augen hafteten auch unter ihrem schweren Atem auf Agnar, wie die eines Raubtieres. Es war wieder dieser kalte Blick des Todes – noch wild und trunken vom Blutrausch –, den sie im Kampf immer aufsetzte und wie jedes Mal war er erfreut, ihn zu sehen.

    „Gut. Geh dich säubern und lass dich von den Heilern ansehen. Leg dich danach für heute zur Ruhe. Morgen früh erwarte ich dich zum Training.“

    Er klang nicht im Geringsten zufrieden. Als wäre ihre Tat selbstverständlich, war sie hiermit für ihn Vergangenheit und somit unbedeutend. Zumindest hatte man diesen Eindruck. Die Wahrheit sah anders aus.

    Kommentarlos wandte sich das blutgetränkte Mädchen ab und marschierte ich Richtung der Heilerhütte. Die Klaue würde sie behalten, als Andenken an das Leben des mächtigen Waldbären, der nun tot auf einer Lichtung lag. Er hatte sie mit seinem Leben geehrt. Dafür würde sie sich dankbar zeigen. Außerdem würde sie einigen Frauen den Weg zum Kadaver weisen, die Fleisch, Fell und Knochen mit sich nahmen. Von allem war genügend vorrätig, doch es lag in der Verantwortung eines Jägers, seine Beute vollständig zu verwerten.

    So wie sie außer Hörweite war, sah die schockierte, alte Frau wieder zum Stammesoberhaupt auf.

    „Bedeutet das nun...?“

    „Ja, das tut es.“

    Zum ersten Mal seit Jahren wurde Agnars Gesicht todernst. Ein Hauch von Sorge und Trauer war ebenfalls darin zu lesen. Die Zeit war reif, da sie ihr Ritual empfing. Einen letzten, bedenklichen Blick wandte er über die Schulter, um seiner Tochter hinterher zu sehen.

    „Sie ist soweit.“



    Einbruch der Dunkelheit

    Eine Woche nach der Prüfung


    „Was soll das heißen?“

    Hanifas Mimik sprach eindeutig die Sprache der Trauer. Sie hatte zwar keine besonders starke Beziehung zu ihrer Tochter, aber dennoch konnte sie eben diese eine Tatsache mit Sicherheit bestimmen. Ebenfalls war sich das Mädchen gewahr, dass sie sich nicht verhört hatte. Nichts desto trotz wollte sie die Botschaft nicht wahrhaben, weshalb sich Hanifar wiederholte.

    „Agnar ist nicht länger das Oberhaupt unseres Dorfes.“

    „Wieso nicht?“, verlangte sie zu wissen. Sie sprach in unglaublich scharfem Ton. Nur äußerst selten spiegelten sich Emotionen in ihren Gesichtszügen, doch in diesem Augenblick war sie von immenser Wut erfüllt, die sie einfach nicht unterdrücken konnte und auch nicht wollte. Das war absurd!

    „Er ist gealtert, das ist wahr. Aber er ist noch immer der stärkste Krieger des Dorfes. Wer sollte ihn ablösen können?“

    Hanifa hielt die Augen geschlossen und erwiderte ohne eine Spur von Zögern oder Unsicherheit. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde das junge Mädchen sagen, sie habe sich längst mit der Tatsache abgefunden, dass ihr Mann entmachtet worden war.

    „Es war seine eigene Entscheidung. Der Rat der Ältesten wird sich morgen versammeln, um einen neuen Clanführer zu wählen.“

    „Das ist lächerlich!“, schrie sie nun aufgebracht. Ihre wütende Stimme war selbst außerhalb der Hütte deutlich zu vernehmen. Es war jene Hütte, in der sie geboren worden war. Dieser unbedachte und ungezügelte Ausbruch rief ihr jedoch in Erinnerung, was der Waldbär ihr vor einigen Tagen noch hinterlassen hatte, als ein leichter, stechender Schmerz in ihrer rechten Seite aufkeimte und sie sich die betroffene Stelle hielt. Dabei verzog sie allerdings keine Miene.

    Hanifa seufzte. Dass diese Botschaft bei ihrer Tochter auf wenig Verständnis stoßen würde, dessen war sie sich bewusst gewesen. Doch nun sah es so aus, als wolle sie, getrieben von ihrer Wut, aufspringen und jemanden umbringen. Völlig ungewohnt für sie, hielt sie doch seit Jahren jegliche Gefühlsausbrüche im Zaum, verriegelt hinter einer kaltblütigen Maske, die für nichts als den Kampf lebte. Jedoch blieb sie vollkommen ruhig sitzen, ballte allerdings die Hände, welche auf ihren Knien ruhten, krampfhaft zu Fäusten.

    „Warum sollte er aus eigenem Entschluss zurücktreten? Welchen Grund kann er dafür haben?“

    „Dies sollst du ihn selbst fragen.“

    Ihre Stirn legte sich in Falten. Eine winzige Spur von Neugier und Verwirrung machte sich in dem jungen Mädchen breit, was bewirkte, dass ihre Hände sich entspannten und sie zu ihrer Mutter aufsah.

    „Er wartet am östlichen See auf dich. Er lässt dir ausrichten, dass du gänzlich gerüstet erscheinen sollst. Nimm also auch Dolch und Harnisch.“

    „Wieso gerüstet? Und wieso dort?“

    Mit zunehmenden Abartigkeiten wurde das Mädchen wütender. Warum sprach ihre Mutter, ohne eine echte Antwort zu geben? Warum war Agnar nicht hier? Und vor allem, warum war er zurückgetreten?

    „Dies herauszufinden, liegt an dir.“

    Einen Moment lang zögerte sie. Die Situation strapazierte ihre Geduld. Aus heiterem Himmel wurde sie mit verstörenden Informationen konfrontiert und dann wurden auch noch Forderungen an sie gerichtet, ohne dass man ihr ausreichend erklärt hatte. Doch es gab wohl nur einen Weg, um Klarheit zu erlangen.

    Abfällig schnaubte sie und erhob sich rasch. Ohne ein weiteres Wort kehrte sie ihrer Mutter den Rücken und verließ die Hütte. Vielleicht, so dachte Hanifa, würde ihr Zorn ihr in dieser Nacht von Nutzen sein.


    Der See im Osten ihres Dorfes war ein wohl bekannter, wie auch wunderschöner Ort. Am Tage spiegelte das kristallklare Wasser die Sonnenstrahlen so sehr, dass man erblinden mochte, sah man zu lange dem schillernden Lichtspiel zu, da die Sonne bei ihrem höchsten Stand haargenau über dem See hing. Daher hatte man ihn „Sonnenspiegelsee“ getauft. Nun in der Nacht beschränkten sich die funkelnden Tänze der Wasseroberfläche auf Mond und Sterne, hatten damit ihren eigenen Reiz. Die mächtigen Laubbäume hielten einige Meter Abstand zum Ufer und erlaubten eine weiteläufige Betrachtung dieses Ortes. Nahe des Westufers – jene Richtung, aus der sie kam – lag eine kleine Insel in deren Zentrum ein kleiner, jedoch prächtig gesunder und blühender Laubbaum gedieh. Waren die kalten, dunklen Tage des Jahres vorüber, so trug er herrliche Blüten in Zartrosa, die bald darauf den See in eine Blütendecke hüllten, wenn sie zu fallen begannen. Nun jedoch trug er dasselbe saftige Grün an seinen Zweigen, wie es der ganze Wald tat. Nur wenige Meter trennten sie von Rande des Sees, sodass das Wasser von ihr aus bis zum Ufer nur bis zu ihren Knien reichte.

    Die Schülerin trat leise und doch von immensem Frust erfüllt aus dem Dickicht. Sich auch im dichtesten Wald lautlos zu bewegen, um aus dem Hinterhalt angreifen zu können war eine der wichtigsten Fähigkeiten eines Assassinen. Dass sie selbst solch schwieriges Terrain im Schlaf meisterte, dessen hatte sich auch der gewaltige Bär vor einigen Monden gewahr werden müssen.

    Ohne zu zögern schritt das Mädchen voran, trat in das kühle Wasser des Sees, bewegte sich dabei so gekonnt elegant, dass es kaum schäumte oder spritzte. Schon nach wenigen Metern hatte sie wieder Gras unter den Füßen, da sie die kleine Insel betreten hatte. Jedoch fühlte sie es nicht, da sie nicht wie sonst Barfuß war, sondern einfache Stiefel aus leichtem Leder trug. Den Harnisch aus demselben Material hatte Hanifa ihr ja zudem aufgezwungen. Im Schleier der Nacht sah ihr ohnehin schon dunkles Haar aus wie ein verschlingender Todesmantel aus reiner Finsternis, der ihr Gesicht verhüllte. Letztlich blieb sie stehen. Agnar war direkt vor ihr. Ihr den Rücken gekehrt und seine Hände auf dem Knauf seines Schwertes ruhend, dessen Spitze im Boden steckte. Seine Augen waren geschlossen, als kehre er gerade in sich.

    „Du fragst dich sicher, warum ich dich hierher habe kommen lassen“, sprach er monoton, ohne ein Wort der Begrüßung.

    „Ich frage mich so manches.“

    „Das kann ich dir nicht verübeln.“

    Agnars Kopf hob sich, um die Sterne am Himmel zu erblicken. Bei Dunkelheit war selbst des Vaters Haar in einen gänzlich schwarzen Schein getaucht, obwohl sein Schopf doch mittlerweile stark ergraut war. Die Nacht war klar und wunderschön – überhaupt nicht angemessen für dieses Ereignis. Welch eine Verschwendung.

    „Ich verlange Antworten“, forderte die Schülerin bissig. Auch wenn Agnar sie nicht ansah, so hatte sie trotzdem ihren tödlichen Blick aufgesetzt, allein ihres Unmuts wegen. Der ehemalige Clanführer seufzte laut.

    „Du bekommst eine einzige Antwort und sie wird all deine Fragen klären. Doch ich bin mir nicht sicher, wie du sie aufnehmen wirst.“

    „Nun sprich schon.“

    Man merkte dem Mädchen ihre gereizten Nerven an. Langsam aber sicher ballten sich ihre Hände fester zu Fäusten und sie unterdrückte hörbar eine höhere Lautstärke in ihrem Ton.

    „Ungeduldig wie immer. Nun gut.“

    Agnar mühte sich nach wie vor nicht, sich umzudrehen, die Schülerin anzusehen.

    „Du wirst heute deine Ausbildung beenden oder den Tod finden.“

    Leicht hoben sich ihre Brauen. In euphorischer Erwartung machte sie sich die Bedeutung von Agnars Worten klar. Heute Nacht war es also soweit. Es würde enden – nein, beginnen! Ihr Leben als Assassine. Sie würde die süßen Früchte ihrer Lebensarbeit ernten. Dessen, wofür sie trainierte, seit sie eine Faust bilden konnte. Die unzähligen, kräftezehrenden Übungen, um ihren Körper zu stärken, ihre Ausdauer zu steigern, ihre Sinne zu schärfen.

    „Nur noch eine Prüfung musst du bestehen.“

    Mit der rechten Hand fasste er nun langsam den Griff seines Schwertes. Dann, blitzschnell, wandte er sich um, zog dabei die Klinge durch die Erde, welche sie mühelos durchpflügte und schlug von unten heraus auf seine Tochter ein. Ihre über Jahre erlernten Reflexe setzten ein. Sie ging leicht in die Knie, um den Körper in eine Rücklage versetzen und dennoch im Gleichgewicht bleiben zu können. Die Schwertspitze zischte kaum eine Fingerbreite an ihrem Gesicht vorbei, schnitt lediglich einige Haarspitzen ab.

    Schon im nächsten Herzschlag sprang sie einen Schritt zurück, um einem möglichen zweiten Schlag zu entgehen und zückte ihre Dolche. In einer knienden Position sah sie zu Agnar auf, kämpft dabei den Schmerz ihrer Wunde nieder.

    „Was soll das?“, fragte sie erzürnt. Ein so plötzlicher, feiger Angriff sah ihm ganz und gar nicht ähnlich. Was sollte das für eine Prüfung sein? Unmöglich konnte er einen einfachen Trainingskampf wollen. Solche hatten sie schon zu hunderten ausgetragen.

    Agnar sah nur mit ernster Miene auf sie herab. Das vernarbte und inzwischen von Falten durchzogene Gesicht wirkte mit einem Mal eisern und kalt wie nie zuvor. Die Schwertspitze richtete sich auf das Mädchen.

    „Deine letzte Prüfung bin ich.“


    Die junge Schülerin war konsterniert, fühlte sich, als verliere sie den Boden unter den Füßen und fiele in ein endlos tiefes Loch. Darin bestand ihre letzte Prüfung? Sie sollte...

    „Was ist los?“

    Agnar wirkte höhnisch, zeitgleich aber auch verärgert.

    „Ich hatte mit ein wenig mehr Begeisterung gerechnet.“

    Das war nicht sein Ernst. Das meinte er nicht wahrhaftig so, wie er es sagte. Das war absurd!

    „Du willst, dass ich...“

    „Nein, du willst es. Dies ist der Moment. Heute Nacht wirst du die Bedeutung deines Lebens ergründen.“

    Der stämmige Veteran der Kampfkunst griff nun, zum ersten Mal seit sie beide miteinander trainierten, mit beiden Händen das Schwert und ging in eine leicht gebückte Haltung über.

    „Ich werde heute zum ersten und letzten Mal mit all meiner Kraft gegen dich kämpfen. Versagst du, so ist dein Leben vorbei und du wärst ohnehin nicht stark genug, um deiner Bestimmung entgegenzutreten. Erweise dich deines Lebens und seiner Aufgabe als würdig, oder stirb in diesen Wassern.“

    Agnars Worte endeten. Sein Angriff begann. Er startete mit einem Schlag auf ihre rechte Schulter. Unter jenem duckte sie sich hinweg, machte direkt danach eine instinktive Ausweichdrehung, da sie den nächsten Schlag erahnte. Ihre Intuition hatte sie vor dem Verlust ihres Kopfes gerettet, doch schon im nächsten Moment sauste die Klinge, die eben noch um einige wenige Zentimeter zu kurz gereicht hatte, bereits wieder auf sie zu. Jeder einzelne Streich verursachte zischende Laute in der Luft, als würde sie selbst zerteilt werden. Das Ziel war diesmal ihr Oberschenkel. Einen Ausweichsprung nach hinten oder über den tödlichen Stahl hinweg hätte sie nicht mehr geschafft, weshalb sie beide Dolche fest ergriff, mit der Klinge nach unten gerichtet, und den Schlag parierte. Das sonst so vertraute Scheppern der Klingen und die Erschütterung, die sie in den Armen verspürte, war so intensiv wie nie zuvor. Kein Zweifel – Agnar machte ernst.

    „Enttäusche mich bloß nicht. Solltest du heute sterben, hätten wir beide unsere letzten Jahre verschwendet.“

    Das Mädchen rang mit sich selbst. Ihr Blick war noch niemals so unsicher gewesen. Dennoch, aus reinem Überlebenswillen, wirkte sie so aggressiv und energisch wie immer und versuchte Agnar ihren Willen zu töten in ihren Augen zu zeigen. Doch er fand diesen Willen nicht. Nirgends konnte er ihn lesen. Die Rubine wirkten blass und matt, voller Verunsicherung. Sie konnte sich nicht überwinden. Ihr fehlte die Entschlossenheit.

    Der Druck auf ihren Waffen erstarb. Ihr Vater und Lehrmeister war in eine Drehung übergegangen und schlug nun auf Körperhöhe von der anderen Seite zu. Mit einer Rolle entging sie erneut dem tödlichen Angriff und brachte sich außer Reichweite. Einige Schritte taumelte sie jedoch aus reiner Unsicherheit, nicht aus Erschöpfung oder Missgeschick. Ihre Füße standen wieder im Wasser des Sees. Agnar sah mit grimmiger Entschlossenheit auf sie herab. Seine Stimme jedoch wurde mit einem Mal unglaublich zart. So rau wie eh und je, aber dennoch sanft.

    „Gib deinem Leben einen Sinn. Und lass auch mein Leben einen Sinn gehabt haben. Du bist unsere letzte Hoffnung.“

    Völlig unpassend zu seiner Mimik waren diese Worte. Und obwohl das Mädchen sehr berührt von dieser ihr bislang unbekannten Seite ihres Vaters war, konnte ihr Gesicht kaum andere Gefühle als solche für den Kampf zeigen. Nie im Leben hatte sie gelächelt, nie hatte sie gelacht. Von ihrem ersten Atemzug an war ihr Dasein von Leid geprägt gewesen. Sie hatte Schmerz, Kummer und Erniedrigung ertragen müssen, um zu einem Kampfwerkzeug geformt zu werden. Und nun war sie dies – ein Kampfwerkzeug. Ein Kampfwerkzeug, das sich nicht überwinden konnte, seinen Daseinszweck zu erfüllen.

    „Ich werde bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen und dir alles abverlangen, was du gelernt hast.“

    Agnars Stimme war unglaublich leise geworden. Wären ihre geschärften Sinne dem einen gewöhnlichen Menschen nicht haushoch überlegen, hätte sie die folgenden Worte wohl gar nicht vernommen.

    „Aber ich will nicht, dass du stirbst. Du bist meine Tochter und ich liebe dich mit Körper, Geist und Seele.“

    Nun passierte es, da ein zuvor nie zu beobachtender Ausdruck in das Gesicht der jungen Schülerin trat. Die Augen waren weit aufgerissen und aus dem leicht geöffneten Mund zog sie scharf Luft ein. Ihre Unterlippe zitterte leicht und ein feiner Rotschimmer machte sich auf ihren Wangen breit. War das Verwunderung? Nein – etwas Stärkeres. Ein Schock vielleicht? Auch nicht, dafür fühlte es sich zu warm an. Wie nannte man dieses Gefühl? Sie wusste es nicht. Sie hatte nie etwas über Gefühle gelernt.

    „Ich liebe dich von ganzem Herzen, meine teure Tochter. Also bitte stirb heute nicht“, wiederholte Agnar.

    Es brauchte einige Sekunden, bis sie sich der Bedeutung jener Worte bewusst geworden war. Doch als sie jene Bedeutung endlich entschlüsselt hatte, kam ihr etwas Anderes in den Sinn. Nämlich, dass sie unwichtig war. Sie zählte im Hier und Jetzt nicht, war nicht von Bedarf. Dies sollte kein warmherziges Zueinanderfinden von Vater und Tochter werden. Es war ihr Ritual, ihre letzte Prüfung – und sie wollte sie bestehen.

    Für einen kurzen Moment schloss das Mädchen die Augen, um sich zu sammeln. Als sie ihre Lider wieder öffnete, stand ihr eine eiskalte Mimik, ins Gesicht geschrieben und ihre Augen funkelten böswillig.

    „Gut.“

    Ganz langsam ging sie in ihre routinierte Kampfposition über. Die Arme überkreuzten sich. Das linke Bein leicht nach vorne gestreckt. Ein wenig in die Hocke gehend, fixierte sie aus tiefem Blick ihren Gegner. Mehr war er von jetzt an nicht mehr. Nicht ihr Vater stand vor ihr, sondern ihr Gegner, ihre letzte Hürde. Der eine Dolche zeigte gen Nachthimmel, der andere nach wir vor mit der Klinge nach unten. Nun straffte sie ihre Beinmuskeln, ging mit dem Körper ein Stück nach hinten, um ihre Haltung besser auszubalancieren und richtete die Spitze beider Dolche auf Agnar.

    „Ich werde es tun.“

    Ein zufriedenes Lächeln machte sich auf dem Gesicht des ehemaligen Stammesführers breit.

    „Ich werde dich töten – und meine Ausbildung beenden.“



    Nacht

    Am Ufer des Sonnenspiegelsees...


    Wie lange mochte der Kampf sich nun hinziehen? Zwei Stunden vielleicht? Gar drei? Die halbe Nacht? Ihr kam es so vor, als könne jeden Moment die Sonne ihre Strahlen über den Horizont schicken, um den Morgen anzukündigen. Nie hätte sie erwartet, dass Agnar und sie einander so ebenbürtig waren. Nicht allerdings überraschte sie die Zähigkeit ihres Gegenübers, sondern ihre eigene. Einen Kampf gegen Agnar so lange durchzustehen, hätte sie für unmöglich gehalten.

    Sie kniete im seichten Wasser, begrüßte die Frische, mit der es ihrem Körper umarmte und gleichzeitig die verschiedensten Wunden an ihren Beinen kühlte. Jeder Atemzug schien auf ihre noch nicht ganz verheilte Wunde unter den Rippen zu drücken, wie ein schwerer Stein. Blut lief ihre rechte Schläfe hinunter. Eine hässliche Platzwunde nach einem Schlag mit dem Ellenbogen, als Agnar ihren Angriff durchschaut hatte. Auch an ihrem linken Arm lief die warme Flüssigkeit herab, ergoss sich in das klare Wasser und beschmutzte seine Reinheit. Hier hatte ihr Lehrmeister sie mit seiner Klinge gestreift, jedoch war es nur ein Kratzer. Zudem hatte sich die Wunde in ihrer Seite, die sie bei ihrer Jagd von ein paar Tagen davongetragen hatte, wieder geöffnet.

    Sie hatte im Gegenzug keinen Treffer mit ihren Dolchen landen können. Lediglich Agnars Unterlippe war nach einem satten Tritt aus der Luft aufgeplatzt. Beiläufig spuckte dieser Blut aus, ohne dabei seine Tochter aus den Augen zu lassen.

    „Du verlangst mir wahrlich alles ab.“

    Langsam erhob sich das junge Mädchen, hatte das Haupt nun gesenkt und wankte auf ihren von Schnitten, Schrammen und Schürfwunden übersäten Beinen. Ihre Kraft versiegte allmählich.

    „So du auch mir.“

    Ihr Atem war laut, erschöpft, sie keuchte. Auch Agnar war die Müdigkeit anzusehen. Immer wieder ertappte sie ihn dabei, wie der Griff um das Schwert in seinen Händen sich für einige Zeit lockerte, bis er sich dessen gewahr wurde, und sich alle Mühe gab, wieder fest zuzupacken. Doch er hatte nun genug. Im Stand der Sinn nach dem Ende.

    „Lassen wir das Schicksal nicht länger warten. Wenn wir uns Zeit zum Ausruhen lassen, haben wir als Kämpfer versagt.“

    Es war irgendwie absurd. Nie hatte Agnar ihr im Training auch nur eine einzige Sekunde der Ruhe gegönnt. Hatte sie einen Atemzug lang nicht aufgepasst, so hatte er sie gnadenlos zu Boden geschlagen oder ihr eine schmerzhafte Schnittwunde beigebracht. Doch sie wusste, warum dieser Kampf anders war. Er sah sie als ebenbürtige Gegnerin an und nicht länger als Schülerin. Vielleicht schätzte er sie sogar als die Stärkere ein. Sie war aus seinem Schatten getreten.

    „Du sprichst mir aus der Seele. Ich bin nicht gewillt, das Erreichen meines lang erwarteten Ziels noch weiter hinauszuzögern.“

    Einmal atmete sie tief durch, konzentrierte ihre verbliebene Kraft und spannte ihre Muskeln. Ihre Dolche hielt sie nun wieder beide nach unten gerichtet. Den linken Arm hielt sie quer über ihrem Körper, den rechten vor das Gesicht, sodass man nur ihre tödlichen Augen sah. Mit urplötzlich gewonnener Sicherheit marschierte sie gemächlich auf den Krieger zu, der das sich inzwischen so schwer anfühlende Schwert anhob. Mit unendlicher Freude blickte er in ihre Seelenspiegel und las darin den Willen zu töten. Sie war so fest entschlossen. Sie wollte siegen, um jeden Preis. Sie wollte jetzt siegen!

    Dann griff sie an. Mit dem Dolch in ihrer linken Hand stach sie in Richtung Unterbauch. Rasch wirbelte Agnar seine Klinge herum und parierte den Stich. Dann folgte ein Schlag von oben heraus mit der Rechten auf seine Schlaghand, um ihn zu entwaffnen. Jedoch missglückte auch dieser Versuch an festem Stahl. Aus diesem Angriff heraus drehte sich das Mädchen um die eigene Achse, veranlasste den Gegner zu einem alarmierten Schritt nach hinten. Doch trotz seiner Vorsicht war er auf diesen Angriff nicht vorbereitet. Noch in der Bewegung sprang sie vom Boden ab, in eine Höhe, die seine Körpergröße leicht übertraf und schlug zu. Das Schwert wog für seine brennenden Muskeln einfach zu schwer, um es so plötzlich in diese Höhe zu reißen. So fiel ihm nichts anderes ein, als seinen Unterarm schützend über sich zu halten. Der erwartete Schmerz trat prompt ein. Das heiße Gefühl des Stahls, der sich durch Haut und Fleisch Schnitt war ihm bekannt genug. Ein kurzer Schmerzensschrei drang gegen die zusammengebissenen Zähne. Sie hatte wahrlich viel Kraft in den Angriff gelegt, sodass sein körperlicher Schild nach unten geschlagen wurde. Erneut war sein Körper ungeschützt und er sah den nächsten Stich kommen. Doch den Atemzug, den er durch sein Opfer gewonnen hatte, hatte Agnar genutzt, um seine Kraft im Schwertarm zu mobilisieren. Einhändig schlug er die heranrauschende Klinge zur Seite, vollführte nun ebenfalls eine Drehung, wobei er gekonnt sein Schwert in seinem Rücken wirbeln ließ, um Schwung zu sammeln. Ein seitlicher Hieb folgte, doch der gesammelten Kraft zum Trotz wich sie diesmal nicht aus, parierte auch nicht mit ihren Dolchen, sondern stemmte sich mit beiden Händen gegen den Arm, um ihn zu stoppen. Für einen winzigen Moment erfasste sie eine starke Selbstkritik. Wie dumm war sie denn? Wieso hatte sie nicht direkt zugestochen? Sie hatte die falsche Reaktion gezeigt. Diese Wut auf sich selbst entlud sich in ihren Armen. Sogleich spürte Agnar einen satten Schlag ihrer Faust in der Magengegend. Dies wurde vergolten, indem er sein Knie in ihre verletzte Seite trat. Ein hohlen aufstöhnen und widerlicher Schmerz war der Preis. Es war, als würde die Wunde der vergangenen Jagd ein weiteres Mal aufgerissen. Doch die Schülerin erkannte eine einmalige Gelegenheit. Sie durfte die Chance nicht verstreichen lassen. Sein Körper war zwar ungeschützt, jedoch außer Reichweite ihres Armes. So stieß sie einen Dolch so tief sie konnte in seinen linken Unterarm. Diesmal schrie er laut und aus tiefster Kehle und ließ die Waffe plätschernd ins Wasser fallen. Nun hatte sie ihn schwer verwundet. Nun hatte sie die Oberhand gewonnen. Der Schrei brach ab, als seine Tochter aus einer weiteren Drehung heraus einen hohen Tritt auf seinen Unterkiefer platzierte. Ihre Waffe ließ sie rücksichtslos in seinem Fleisch stecken. Agnar taumelte zurück, ging mit einem Bein in die Knie und stützte sich mit dem unverletzten Arm. Er stöhnte und knurrte, biss energisch die Zähne zusammen. Er betrachtete seinen linken Unterarm. Die Klinge saß vollständig darin fest, trat auf der Rückseite wieder aus. Sein Blut rann in Strömen seine Haut herab ins Wasser. Jenes reichte ihm in seiner knienden Position bis zur Hüfte. Er merkte, dass er weit zurückgedrängt worden war. Das Wasser begann tief zu werden.

    Seine Gegnerin besah sich ihrem so gut wie hilflosen Gegenüber mit unberührter Miene. Nun war es fast vorbei. Es fehlte nur noch der Gnadenstoß, dann würde es geschafft sein. Nichts anderes hatte sie im Sinn. Doch sie erwartete nicht, dass seine Gegenwehr nun ersterben würde. Das würde nicht zu ihm passen. Agnar würde mit aller Kraft kämpfen, bis sie sein Herz endgültig zum Schweigen gebracht hatte. So schrie er nun vor Schmerz gleichermaßen wie von Kampfgeist erfüllt auf, als seine rechte Hand sich um den Griff des Dolches legte und ihn herauszog. Nur langsam kam die blutrote getränkte Klinge zum Vorschein, stellte seine Kraft und seinen Verstand auf eine schier unmenschliche Probe. Ein Gefühl, vergleichbar mit einem hohlen Schlag in den Eingeweiden machte sich in ihm breit. Ihm wurde kalt, er zitterte, konnte seine Bewegungen kaum noch kontrollieren. Beinahe verlor er vor Entkräftung das Bewusstsein, doch er kämpfte die herannahende Ohnmacht nieder wie einen verhassten Feind. Er befahl seinem Körper Gehorsam und Standhaftigkeit. Kaum realisierte er es, als er die Waffe seiner Tochter endlich aus seinem Arm herausgezogen hatte. Doch so wie ihn die Gewissheit erreicht hatte, sprang er von urplötzlicher Energie erfüllt auf und holte in einer blitzartigen Bewegung zu einem Wurf aus. All seine Kraft und Konzentration begleiteten diesen einen Versuch. Sein letztes Aufbäumen, sein letzter Angriff. Er zielte auf ihren Hals und warf. Zischend durchschnitt die Klinge die Luft. Für das bloße Auge war sie als kaum mehr als ein undefinierbares, rotierendes Etwas zu erkennen. Und niemand wäre je schnell genug gewesen, um diesem tödlichen Geschoss zu entgehen. Binnen einer einzelnen Sekunde überwand es die gesamte Distanz bis hin zu seiner inaktiven Besitzerin, welche gleich von ihrem eigenen Dolch aufgespießt werden würde. Ihr Blick änderte sich zu keinem Moment. Er war kalt, mordlüstern, emotionslos und von dem antrainierten Willen zu töten gezeichnet. Doch alles ging viel zu schnell. Agnar sah das Ende.

    Jetzt hatte er seine Tochter getötet. So wurde er sich gewahr. Sie war unachtsam gewesen, für diesen einen Moment. Sie hatte sich zu überlegen gefühlt, hatte den Kampf als entschieden angesehen. Welch eine Närrin. Sie bezahlte teuer.

    Durch den erneut aufkeimenden Schmerz in seinem Arm kniff Agnar die Augen zusammen und stöhnte gequält. Er drückte die Hand auf die blutende Wunde und kämpfte den Schwächeanfall nieder. Sein Herz pochte nur noch langsam, fühlte sich aber unglaublich stark an, wie es mit enormem Kraftaufwand gegen seine Brust hämmerte. Und als er zwischen all der Pein erneut aufsah, blieb ihm der Mund offen stehen. Seine Augen weiteten sich und seiner Erschöpfung zum Trotz stockte sein Atem. Nicht einen Schritt hatte seine sich Tochter bewegt. Sie stand noch genauso da, wie zuvor, als er in die Knie gegangen war. Sie hatte sich nicht aus ihrer überlegenen, souveränen Haltung gerührt – mit Ausnahme ihre rechten Arms. Den hatte sie erhoben, sodass die geschlossene Faust nun ihre untere Gesichtshälfte verdeckte. Und in ihr steckte der geworfene Dolch. Doch er hatte sie nicht durchbohrt. Sie hatte lediglich ein kleines Opfer gebracht, so wie Agnar, als er ihren Schlag mit dem Unterarm pariert hatte. Doch sie... sie hatte den Dolch aufgefangen!

    Agnar keuchte und stöhnte nur fassungslos. In einer solchen Ruhe diesen Dolch mit der Hand aus der Luft zu fassen erschien ihm übermenschlich. Allein der Reflex, war bemerkenswert. Und dann, dann stahl sich ein glückliches Lächeln auf sein Gesicht, als ihn die Erkenntnis ereilte. Sie hatte nicht einen Moment lang die Konzentration verloren, war nie unachtsam gewesen. Sie hatte es ihn nur glauben lassen. Ihn manipuliert, wie er es sie einst gelehrt hatte. Welch ein Idiot er doch war. Wie hatte er nur glauben können, sie wäre übermütig?

    „Ich habe dich gut ausgebildet“, stellte er leise und mit vollster Zufriedenheit fest. Nein, mit aufrichtigem Glück tat er dies!

    Dessen ungeachtet war der Kampf nicht vorbei. Die Entscheidung war gefallen, der Sieg der Schülerin über den Meister nur noch Formsache. Doch noch atmete Agnar.

    „Beende es, meine geliebte Tochter“, bat er leise flüsternd und kämpfte sich mühsam auf die Beine. Kaum stand er, so griff das Mädchen an. Die gefangene Klinge aus ihrer blutenden Hand warf sie ihrerseits auf Agnar zu. Selbst wenn er noch hätte reagieren können, so hätte er es nicht getan. Er war dieses Kampfes müde. Er lächelte seinem Tod entgegen. Er spürte kaum, wie sich ihre Waffe ein zweites Mal in ihn hineinbohrte. Ein flaues und stechendes Gefühl machte sich dennoch in seiner Brust breit, doch er fühlte nur leichten Schmerz. Schon gleich danach stürmte sie heran. Mit einem letzten, lächelnden Seufzen, das ihm das Blut aus dem Mund trieb, tat er, was sein Kriegerstolz ihm befahl und hob seine unbewaffneten Hände, um sich dem Angreifer zu stellen. Er ging einen entschlossenen Schritt auf sie zu und sah ihr ein letztes Mal in die Augen. Die Augen seiner Tochter, welcher er so gerne ein schöneres Leben geschaffen hätte. Doch für die unmenschliche Bürde, die sie von nun an zu tragen hatte, war sie bestens vorbereitet. Er war stolz auf sie. Das Allerletzte, was er sah in dieser Welt, war eine einzelne Träne, die dem Mädchen, welchem sein Leben gehörte, über die Wange lief.

    Am Fuße des edlen, wunderschönen Baumes, der auf der Insel mitten im See wuchs, blühte eine kleine, weiße Blume. Über ihr tanzten, geworfen durch das helle Licht des klaren Vollmondes, die Schatten zweier Menschen. Und der eine Schatten trieb einen schmalen, spitzen Gegenstand in den Hals des anderen. Nach einer stillen Sekunde brach der Schatten zusammen. Der klang des Wassers vermeldete einen Fall. Ein Bluttropfen landete auf der weißen Blüte.

  • Hey Shimoto,


    dass du Kämpfe gut umschreiben kannst, zeigt sich auch wieder in diesem Kapitel. Ist nur etwas unkonventioneller als die bisherigen Pokémon-Kämpfe, aber die Koordination zwischen den Angriffen ist dir sehr gelungen und war anschaulich. Am besten hat mir in dem Zusammenhang tatsächlich der Schluss mit der weißen Blume gefallen. Es ist praktisch ein Sinnbild dafür, dass Milas Unschuld (wenn man das in diesem Moment noch so nennen mag) durch den Mord an ihrem Vater beeinträchtigt ist. Und nachdem da noch einiges mehr vorgefallen ist, wird es wohl nicht bei diesem einzelnen Blutstropfen bleiben, sondern noch wesentlich mehr werden.

    Die ganze Geschichte dahinter erinnert an andere Jägergeschichten. Das auserwählte Kind, die große Stärke und Überlegenheit gegenüber anderen und die Prüfungen: Da passt alles zu einer guten Legende und dadurch, dass du immer wieder verschiedene Abschnitte hervorgehoben hast, konntest du das auch recht kompakt zusammenfassen. So gesehen war es unterhaltsam zu beobachten, wie sich ihre Einstellung im Lauf der Jahre verändert hat, wie sie immer verbissener auf ihre Ziele hinarbeitet und schließlich vor ihrem Vater nicht weiß, was sie machen soll. Das wirkt sehr nachvollziehbar und ich bin mal gespannt, wie es nun weiter gehen wird.


    Wir lesen uns!

  • Heyho Rusalka, schön, wieder von dir zu lesen.


    Zitat

    dass du Kämpfe gut umschreiben kannst, zeigt sich auch wieder in diesem Kapitel. Ist nur etwas unkonventioneller als die bisherigen Pokémon-Kämpfe, aber die Koordination zwischen den Angriffen ist dir sehr gelungen und war anschaulich.

    Genau wie bei den Pokémonkämpfen, habe ich immer versucht, die Kämpfe so zu beschreiben, dass sie leicht vor Augen zu führen sind. Jeder Angriff und jede Bewegung sollen schnell nachzuvollziehen sein. Schön, dass es auch auf diesem WEg geklappt hat.


    Zitat

    Es ist praktisch ein Sinnbild dafür, dass Milas Unschuld...

    Stopp, stopp, stopp, Vollbremsung! Mila? :wtf:

    Ich hoffe das war bloß ein Tippfehler von dir. Das Mädchen hier ist nicht Mila! Ich habe aufgrund einer Szene im nächsten KApitel bewusst keinen Namen genannt, aber durch die Beschreibung war´s eigentlich offensichtlich. :blush:


    Zitat

    So gesehen war es unterhaltsam zu beobachten, wie sich ihre Einstellung im Lauf der Jahre verändert hat, wie sie immer verbissener auf ihre Ziele hinarbeitet und schließlich vor ihrem Vater nicht weiß, was sie machen soll.

    Der Kampf mit Agnar wird im Verlauf der Story noch das ein oder andere Mal Bedeutung zeigen. Es ist ein essenzieller Moment in ihrem Leben, der erst ermöglichen konnte, dass sie zu der Waffe werden konnte, die sie sein muss. Doch selbst ohne den Zwang würde sie dieses Ziel ebenso eifrig verfolgen, weil sie nie etwas anderes im Auge gehabt hat.

  • Kapitel 26: Fallen warrior


    Hanifa und die Dorfälteste sahen auf. Schritte hallten durch die Nacht. Leise, dennoch entschlossen und bestimmt war ihr Rhythmus. Die beiden Frauen behielten den offenen Türrahmen im Auge, erwarteten das Eintreten der nächtlich marschierenden Person. Im Schein der Türfackel erschien eine menschliche Silhouette. Ihre Größe war sofort einzuordnen. Hanifa schlug die Augen nieder und unterdrückte ein Schluchzen. Dass sie diesen Moment hatte kommen sehen, war selbst für die gestandenen Mitglieder des Dorfes keine Vorbereitung auf selbigen. Der Verlust eines Geliebten schmerzte immer und würde nun Agnar vor ihr erscheinen, wäre sie nicht weniger bestürzt. Die Älteste hielt die Augen nur schwach offen, sprach ein stilles Gebet für die entschwundene Seele.

    In den Lichtschein trat Hanifas Tochter. Ihr Gesicht und ihr Harnisch waren blutbesudelt.

    „Du hast Agnar also gefunden“, stellte die alte Frau fest. Weder sie noch der neue Assassine schenkten der Trauernden Aufmerksamkeit.

    „Sein Körper blutet sich am Grund des Sonnenspiegelsees leer.“

    Nun, schier unsagbar langsam, hob Hanifa wieder das Haupt und besah sich ihrer rot getränkten Tochter. Getränkt durch das Blut ihres eigenen Vaters. Ihres, Hanifas, geliebten Gatten. Ihre Gesichtszüge wurden von Schock und Fassungslosigkeit zerfressen. Wie? Wie konnte sie nur solch kalte Worte für Agnar finden? Sie hatte gerade ihren Vater getötet – den Mann, der ihr im Leben am nächsten gestanden hatte. Der Mensch, den sie besser gekannt hatte, als alle anderen. Empfand sie gar keine Trauer?

    Ihre Tochter bemerkte den erschütterten Blick, widerstand ihm jedoch unberührt. Nein, sie verachtete ihn! Hanifa suchte nach Gefühl in dem ihren. Doch sie fand nichts. Ihre Augen waren leer. Sie fühlte nicht das Geringste. Der Tod Agnars war ihr gleich und so wäre es auch der ihrer Mutter.

    „Du blickst wie ein Welpe.“

    So kalt waren ihre Worte. Ein Todeshauch aus dem Körper ihres geliebten Kindes, das zu kennen sie sich eingebildet hatte.

    „Verschone mich mit diesen Augen oder steche sie dir aus.“

    Hanifas Herz wunde entzweit. Sie fiel aus ihrer knienden Position zurück auf den Rücken. Ängstlich wich sie bis an die Wand, wie ein verschrecktes Beutetier. Was sie da sagte – die Art und Weise wie sie es sagte. Dieses Mädchen war nicht ihre Tochter. Nie und nimmer. In ihr herrschte der Tod. Sie war das fleischgewordene Instrument zur Hinrichtung.

    Die Dorfälteste presste nervös die Lippen aufeinander. Ein Schweißtropfen rann ihre faltige Schläfe herab. Ihre gefalteten Hände verkrampften sich vor Anspannung.

    „Dann steht dir nur noch eine letzte Sache im Weg. Du musst deinen Namen ablegen.“

    Der Blick des Assassinen raubte der Dorfältesten den Atem. Er ließ einen befürchten, man müsste die Erlaubnis zum Sprechen erhalten, oder man würde mit dem Leben bezahlen. Er ließ einen glauben, jede voreilige Regung von Körper und Stimme würde sofort mit Blut vergolten werden. Doch es war ihr Glück, dass selbst dieser Dämon in Gestalt eines Mädchens den Regeln des Dorfes zu folgen hatte, was bedeutete, sie durfte die Älteste nicht anrühren. Dennoch lief ein Schauer über ihren Rücken, als sie antwortete.

    „Ich habe ihn bereits vergessen.“

    Möglichst unauffällig atmete die graue, alte Frau auf und spitzte die Lippen.

    „So bist du bereit für deine Aufgabe.“

    „Wen darf ich töten?“

    Ihre Stimme klang so gleichgültig, so unberührt, ließ das Verlangen, das dem Assassinen innewohnte nicht ansatzweise erahnen. Doch es war da, das Verlangen. Es beherrschte ihr Denken und war fortan ihr einziges Ziel, solange sie atmete. Sie wollte nur noch Leben nehmen. Der Totengott musste gerade voller Freude in seinem schwarzen Herzen auf sie hinabschauen. Eine neue Henkerin gab es, die ihm weitere Seelen sandte. Und der ersten, der sie in dieser Nacht den Weg zu ihm gezeigt hatte, würde auf ewig die Fesseln des Zauderns in ihr lose halten. Sie hatte den Menschen getötet, der ihr am meisten bedeutet hatte. Fortan würde sie niemals zögern, ein Leben zu beenden. Ganz gleich, welches es sein sollte.

    „Nun gut“, sprach die Älteste und holte tief Luft.

    „Als Assassine ist es deine Pflicht, zu töten. Und es gibt eine Frau, die schon zu lange unter den Lebenden weilt. Du wirst sie in die Unterwelt stoßen und die Menschheit von ihr befreien. Danach wirst du dich ihrer Tochter stellen.“

    „Ich darf also zwei Körper aufschneiden?“

    Selbst ihre gespenstische Stimme konnte nicht die Freude verbergen, die jene Botschaft in ihr auslöste. Sie war allerdings nicht zu sehen oder zu hören. Eher spürte man sie tief in ihrem Inneren. Jedoch würde die Älteste die Bezeichnung „Herzenswunsch“ niemals mit ihr in Verbindung bringen.

    „Sogar mehr als zwei. Deine Klingen werden satt werden.“

    Da trat dieser Ausdruck in das Gesicht des Assassinen, den man bei ihr schon als ein Lächeln betiteln mochte. Bösartig und mordlüstern und für normale Menschen ganz und gar nicht als solches zu erkennen. „Doch was die Tochter betrifft...“


    ***


    Man merkte schon sehr, dass die Festung nicht aus taktischen Gründen hier erbaut worden war. Für gewöhnlich errichtete man derartige Mauerwerke auf dem Gipfel eines imposanten Hügels oder an den Ausläufern einer Gebirgskette, von wo aus sie einfacher zu verteidigen waren. Nicht einfach mitten in die Wildnis hinein, direkt an den mächtigen Klippen der Stillen Küste. Gar besaß die Burg, welche von recht überschaubarer Größe war, gar keine geschlossene Rückseite. Offen zeigte sie sich den hohen Felsen in der See und den unendlich blauen Weiten eben jener. Nun jedoch war das Meer schwarz wie Pech. Die Nacht hatte sie in einen gähnenden, nassen Schlund verwandelt. Ebenso die Wälder. Zwischen den Bäumen waberten Nebelschleier, sichtbar nur durch das unheimliche Licht des sichelförmigen Mondes am Nachthimmel. Sie wirkten bedrohlich, gierig, als würden sie sofort alles was sich zwischen sie wagte in einen Abgrund ohne Wiederkehr zerren. Umringt von diesen Bäumen fühlten sich die beiden Torwächter sehr unbehaglich. Der Mensch fürchtete, was er nicht sehen konnte und malte sich in Gedanken die grauenhaftesten Dinge aus, wenn er nicht wusste, wer oder was nur zehn Schritte vor ihm war. Da kam man sich auch in einer Plattenrüstung sehr verletzbar vor.

    „Wieso müssen ausgerechnet wir Nachtwache halten. Für so einen niederen Dienst habe ich in dieser Garde nicht angeheuert.“

    Der etwas ältere Mann neben der maulenden Wache grunzte abfällig über dies kindische Verhalten seines Kameraden. Was hatte er denn erwartet? Wie jeder von ihnen hatte er genau gewusst, wie das Leben hier aussah. Das wurde allen Neuen dargelegt.

    „Halt dein Maul, Mathis. Du kannst froh sein, dass unsere Herrin dich für dein Verhalten und deine Faulheit noch nicht eigenhändig enthauptet hat.“

    „Ich soll froh sein, mir hier draußen in der finstersten Nacht, die Zehen abfrieren zu dürfen?“

    „Ganz genau das sollst du. Es bedeutet nämlich, dass du noch lebst. Für deinen Mangel an Gehorsam, Pflichtbewusstsein und Respekt der Herrin gegenüber ist das mehr, als du verdienst.“

    Mathis verschaffte seinem Unmut ein wenig Luft, indem er spöttisch auf den Boden spuckte. Gesten wie diese waren es, die ihm immer und immer wieder aufs Neue vorgehalten wurden – besonders von seinem heutigen, nächtlichen Leidensgenossen Brandolf. Wahre Ritter verhielten sich angeblich nicht so, sagte er dann. Er war doch ein Ritter und er sah es als sein Recht an, zu spucken und zu fluchen, wenn man ihn wie einen Hilfssoldaten behandelte. Mürrisch wanderte sein Blick wieder durch die Nacht.

    Einige Schritte unbefleckter Erde hatten die beiden Männer zwischen sich und der Finsternis des Waldes. Wäre es nach ihnen gegangen, so hätte man jedoch den ganzen verfluchten Wald gerodet, anstatt dieser notdürftigen Fläche, die nicht einmal drei Äcker maß. Doch hier lebten ohnehin keine Bauern. Nur sie, die Garde hauste hier. Schlafgemächer, Trainingsplatz, Schmiede, Vorratskammer – mehr hatten sie hier nicht. Mehr brauchten sie hier nicht. Sie hatten ihr Leben Mirjana verschrieben, was bedeutetet, dass sie den meisten menschlichen Annehmlichkeiten entsagten. Stolz und Ehre waren für wahre Männer mehr Lohn, als Geld und Frauen. Doch überkam in solch unheimlichen Nächten oft Angst und Zweifel jene Männer. Mathis und Brandolf waren da keine Ausnahme. Denn auch wenn letzterer es gut verschleierte, nagten Frust und Zweifel gleichermaßen an ihm. Zu welchem Zweck nahmen sie ein Leben ohne Familie und eigene Bedürfnisse auf sich? Vor wem in Teufels Namen sollte sie den Drachensplitter verteidigen? Und wo war letztlich die Ehre, der ersehnte Lohn für ihrer aller Opfer? Manch einer behauptete immer aufs Neue, dass sie existiere und jeder von ihnen damit gesegnet sei. Doch solche Dinge redeten sich diese Männer bloß ein. Das befand selbst er, der sich stets um seine Treue bemühte.

    Es knackte verräterisch zwischen den Bäumen. Beide Wachen griffen ihre Piken alarmiert fest mit einer Hand in der Mitte der Stange, mit der anderen knapp unter dem Spieß. Aufmerksam und kampfbereit spähten sie in die Nacht. Nichts rührte sich in den Nebelschleiern. Nichts, was sie sehen konnten. Schon wieder drängten sich ungewollt beängstigende Fantasien in ihre Köpfe. Und dennoch zwang sich Brandolf, einige Schritte voraus zu gehen, bis die Krone eines stolzen Laubriesen ihn überdachte. Unruhig wanderten seine Augen umher. Schweiß rann seine Stirn hinab, trotz der nächtlichen Kälte. Sein Atem war deutlich sichtbar und machte die Situation noch gespenstischer. Die scheinbar so tückische Stille war beunruhigend, doch wäre es denn besser gewesen, würden peitschende Winde monströses Geheul durch die Bäume schicken? Wohl kaum. Als auch nach mehreren stillen Momenten kein Anzeichen auf Leben sichtbar wurde, entspannten sich die Gemüter wieder. Spöttisch grinsend wand sich der Wachmann ab, um seine Position am massiven Holztor wieder zu beziehen.

    „Huh, Hirngespinste“, meinte er kopfschüttelnd. Das waren die Nerven. Hoffentlich würde die Nacht bald zu einem friedlichen Ende kommen.

    Es gab kein weiteres Knacken und auch sonst keine verräterischen Laute. Es blieb absolut still. Doch etwas regte sich. Das erkannte Mathis, der an der Pforte zurückgeblieben war, nun deutlich. Direkt über seinem Kameraden, in drei bis vier Metern Höhe, huschte eine Gestalt auf einen festen Ast und ließ sich hinab fallen. Es war ein Mensch, zweifellos, doch er bewegte sich grazil und geschickt, wie es wohl selbst nur wenige Waldbewohner konnten. In der rechten Hand hielt er einen Dolch. Schon befürchtete der Wachposten, sein Kamerad würde gleich sein Leben aushauchen, doch der Angreifer schlug lediglich mit dem Knauf in sein Genick. Nichts desto trotz verlor er das Bewusstsein, noch bevor er den Angriff überhaupt realisiert hatte. Als würde von einer Sekunde auf die nächste all seine Kraft aus dem Körper weichen, sackte er zusammen. Mathis jedoch kam nicht einmal dazu, Luft für einen alarmierenden Warnruf zu sammeln. Kaum war der Körper des Ohnmächtigen auf den Waldboden gesunken, hatte der hinterhältige Angreifer bereits die Distanz zu ihm überwunden und drückte eine freie Hand auf den Mund der Wache. Unnötig wäre dies gewesen. Zu überrascht war er, als dass er noch hätte schreien können. Warum? Weil er in das verhüllte Gesicht eines Mädchens blickte. Ihr Haar war finster, wie alles zu nächtlicher Zeit. Doch wie es Teile ihrer Selbst hinter einem scheinbar todbringend finsteren Mantel verdeckte, der sich unheimlich um ihre obere Körperhälfte schmiegte, wirkte sie beinahe unwirklich. Sie trug einen Harnisch aus Leder, das konnte er noch erkennen. Ebenso die Stoffleinen, die sie um ihre Unterarme sowie Mund und Nase gewickelt hatte. Und dann noch die Augen. Wie zwei funkelnde Rubine in dieser dunklen Nacht, die in den finsteren Höhlen eines Monsters saßen, sodass die nackte Furcht nach ihm griff, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Weiter darüber nachdenken konnte er nicht mehr, denn schon spürte er einen harten Aufprall seines Hinterkopfes an der Festungsmauer. Sie konnte beobachten, wie seine Augen nach oben wanderten, bis nur noch weiß zu sehen war. Seine Glieder erschlafften. Ihn an seinem halblangen, blonden Schopf haltend, betrachtete der weibliche Assassine sein Opfer. Sie ließ ihn zu Boden sinken, betrachtete dabei die Platzwunde an seinem Hinterkopf. Hätte der Narr einen Helm getragen, wie auch der andere, wäre ihm dies erspart geblieben. Nicht, dass sie das aufgehalten hätte, aber dennoch. An sich würde es ihr nicht missfallen, die beiden zu töten. Doch sie hatten das Glück ihrer Schwäche. Trotz der anfänglichen Freude, sie könne gleich mehrere Leben ins Reich des Totengottes schicken, hatte sie beschlossen, dass ihr erstes Opfer jemand Besonderes sein musste. Sonst wäre sie gar nicht erst so vorgegangen. Es würde eine einmalige Ehre sein, die nur jemand empfangen durfte, der würdig war.

    Zielstrebig blickte sie die Mauern empor. Das Tor zu öffnen war mit Sicherheit nur von innen möglich und selbst wenn nicht, wäre es viel zu auffällig. Über dem Durchgang jedoch befand sich ein langer Holzbalken, der eine Laterne hielt. Ihre Augen verengten sich ob des Lichts, das sie zu meiden gelernt hatte, doch so ging es am schnellsten. Zwei Schritte nahm sie Anlauf, sprang dann an die Mauer, stieß sich mit einem Fuß gleich wieder von ihr ab, um Höhe zu gewinnen und hechtete nach dem Halt. In einer fließenden Bewegung, ohne hilfloses Zappeln oder Zögern, zog sie sich daran hoch, sodass sie bereits in der nächsten Sekunde sicher auf dem Balken hockte. Mit einem weiteren Sprung erreichte sie die Zinnen, griff diesmal beherzt beidhändig zu, stemmte sich mit den Solen ihrer Stiefel ab und spähte über sie hinweg. Niemand war zu sehen. Kurzerhand schwang sie sich auf die andere Seite und ging erneut in eine hockende Position. Ihre Bewegungen waren so ruhig, so sicher, das Ergebnis eines lebenslangen Trainings. Dennoch ließ sie Vorsicht walten und besah sich einen Moment lang ihrer Umgebung genauestens. Unter ihr lag ein Hof aus schlammiger Erde, in der sich kreuz und quer die Fußabdrücke der Menschen zeichneten. An der linken Mauer sah sie die noch immer leicht glühenden Kohlen eines Schmiedefeuers, neben Amboss und Schleifstein – alles hölzern überdacht. Auf der anderen Seite zwei Trainingspuppen aus Holz, zwei Zielscheiben für Bogenschützen und ein Duellring. Er unterschied sich von jenem in ihrem Heimatdorf. Dort war dieser nur mit Fackeln gekennzeichnet. Hier hatte man Tatsächlich eine Holzbande erschaffen, um ein ungewolltes Verlassen des Rings zu verhindern. Wie Amateurhaft.

    Die Mauern waren auf beiden Flügeln erheblich dicker, als auf der Vorderseite und sie erspähte einige schmale Öffnungen, die Tageslicht einfallen lassen konnten. Wohl waren dies Wohngemächer und Lagerräume für Vorräte und Waffen. Überrascht war sie, dass es hier nur sehr kleine Stallungen gab – sie boten Platz für höchstens eine Handvoll der bekannten, flammenden Pferde –, waren sie doch so weit entfernt von der nächsten Stadt. Sie musste es wissen. Ganze Vierzehn Tage waren vergangen, seit sie die nächstgelegene Ortschaft hinter sich gelassen hatte. In jener hatte sie lediglich Informationen zu ihrem Ziel erlangen wollen. Essen, Wasser und eine Schlafstätte hatte sie stets in den Wäldern gefunden. Es wäre schneller gegangen, hätte die Dorfälteste ihr mehr verraten als den Namen des Menschen, den es zu töten galt. Ein ganzer Monat war schon vergangen, seit sie ihre Heimat verlassen hatte. Eine viel zu lange Zeit. Ihre Klingen wollten Blut kosten!

    Wie es ihre Informationen besagten, war die Rückseite der Festung offen. Über die nackten Klippen hinweg sah sie bereits ihr Ziel. Ein gigantischer Felsen vor der Küste, fast schon ein Berg, ragte er doch beinahe auf die Höhe er Klippe, obwohl der Meeresspiegel mindestens zwanzig Meter unter ihr lag. Der Höhleneingang wirkte, obwohl klein, doch sehr finster, verschlingend – genau nach ihrem Geschmack. Dies war der Ort, an dem sich Mirjana für gewöhnlich aufhielt. Es war der Ort, den die Angreiferin erreichen musste.

    Doch ein weiteres Hindernis gab es noch. Ein Mann – der Rüstung nach zu urteilen ebenfalls ein Mitglied der Wache – schritt gemütlich und sorglos bei den Trainingsplätzen umher und rauchte eine Pfeife. Er hatte sie nicht gesehen und sie würde sich ohne Probleme an ihm vorbei schleichen können. Doch das war nicht in ihrem Sinne.


    Das entflammte Kraut in der Pfeife wärmte während dieser kühlen Nacht. Es beruhigte die Nerven und verschaffte ihm ein willkommenes Gefühl der Befriedigung und der Ruhe. So etwas war hier teuer, denn dieses Leben bot nicht viel Erstrebenswertes. Eine Waffe führen zu dürfen, hergestellt von einem meisterhaften Schmied, war noch die größte Ehre, die man als Mitglied dieser Garde erhielt. Ausgenommen war natürlich der Lohn, den man für gute Arbeit und einen ehrenhaften Sieg im Kampf von Mirjana bekam, doch dies hatte noch niemand erreichen können. Nie hatte sich eine Chance ergeben. Bei seinem nächtlichen Spaziergang über den Hof erreichte der leicht gealterte Mann die Schmiede.

    Gedankenverloren lehnte er sich an einen der Stützpfeiler, die das Dach über dem Schmiedeofen hielten und strich sich durch sein schulterlanges, schwarzes Haar, sowie anschließend seinen stolzen Bart. Wie gerne würde er einmal einen Feind an der Spitze seines Schwertes sehen.

    Kaum hatte er diesen Gedanken beendet, spürte der Wachmann, wie sich etwas auf seinen Mund drückte. Erschrocken riss er die Augen weit auf, ließ seine Pfeife fallen. Aufgeschreckte Schreie drangen gegen die menschliche Hand, nach der er panisch greifen wollte. Doch der aufblitzende Dolch, der plötzlich vor seinen Augen erschien und sich sodann auf seine Kehle legte, ließ ihn erstarren. Er konnte das Gesicht nicht sehen, das unheilvoll hinter dem Pfeiler hervorlugte. Er befand sich in Unkenntnis über seinen Angreifer. Sehr erstaunt war er jedoch, als er eine junge, weibliche Stimme vernahm, leicht vertuscht, als würde sie in ein Stofftuch sprechen.

    „Gib sofort Ruhe, oder ich werde selbst dafür sorgen.“

    Beschwichtigend hob er die Hände. Er war eingeschüchtert und hilflos und sich seiner Unterlegenheit auch vollkommen bewusst. Wohl kein zu großer Narr.

    „Ich werde meine Hand gleich wieder entfernen. Dann du wirst mir ganz leise und ohne etwas Unkluges zu tun, verraten wo ich eure Anführerin finde.“

    Sicher, sie kannte den Ort, an dem Mirjana meist zu finden war. Jedoch hatte sie keine Gewissheit, ob sie sich denn tatsächlich gerade dort aufhielt, in diesem Augenblick.

    Ihr Opfer versuchte zaghaft, den Kopf zu drehen, um sie anblicken zu können. Doch sie ließ es nicht zu. Sie war umso zufriedener, je weniger Feinde dies taten. Warnend drückte sie die Klinge auf seine Haut. Augenblicklich verebbten die Bewegungsversuche der Wache, als er die ersten Bluttropfen seinen Hals herablaufen spürte. Dass sie nicht vorhatte, ihn wahrhaft zu töten, konnte er ebenso wenig wissen, wie er es aus ihrer Sicht musste.

    „Du hast genau einen Versuch“, klärte sie ihn mit tiefer, drohender Stimme auf. Er bemerkte sofort ihren Ernst. Ganz vorsichtig und nur um wenige Zentimeter löste sich ihre linkte Hand von seinem Mund und wartete ab. Doch kein Wort kam über seine Lippen. Lediglich kurze, nervöse Atemzüge waren zu vernehmen. Rasch verließ sie die Geduld. Ungehalten nahm sie seine Wangen zwischen ihre Finger und drückte zu, sodass er die Zunge raus steckte und dabei aus Angst um sein Leben ein gequältes Stöhnen unterdrückte.

    „Du schweigst also?“

    Er begann zu zittern. Dabei hatte sie ihre Stimme kein bisschen erhoben und wie sie ihre Augen verengte, konnte er auch nicht sehen. Eher klangen ihre Worte wie eine nüchterne Feststellung, als eine nach Bestätigung suchende Frage. Doch die Lust, ihre Klinge noch ein wenig tiefer in seinen Hals zu drücken, verspürte sie unbestritten. Allerdings musste sie sich ihres Vorhabens wegen zurückhalten. Und dennoch, mit einer einfachen Ohnmacht sollte dieser Mann nicht davonkommen. Eine flinke Bewegung vollzog sie aus dem rechten Handgelenk. Ein Schnitt, gefolgt von einem wehklagenden, sehr lauten Schmerzensschrei. Dieser allerdings verlor sich fast gänzlich in ihrer Hand, die bereits wieder seine Kiefer blockierte. Rasch brachte sie ihn mit einem Schlag auf die rechte Schläfe vorerst endgültig zum Schweigen. Wie auch bei ihrem letzten Feind ließ sie ihn leise und vorsichtig zu Boden gleiten.

    „Wie töricht.“

    Kurz überlegte sie, ob sie den Ohnmächtigen verstecken sollte. Allerdings fand sich hier auf die Schnelle kein geeigneter Ort und ihr Auftrag drängte sie vorwärts. So zerrte sie den regungslosen Körper kurzerhand in die nächste dunkle Ecke, vergewisserte sich einmal mehr ihres Umfeldes und setzte sodann ihren Weg fort, als sie überzeugt war, weiterhin unentdeckt zu sein.

    Direkt an der Klippe wand sich ein schmaler Pfad die Felsen hinab. In spitzem Zickzack verlaufend gelangte man so zu dem natürlichen Weg aus nassem Fels, der aus dem Wasser ragte und in den lediglich eine ebene Fläche geschlagen worden war. Diese Brücke, erschaffen von der Natur selbst und lediglich von Menschenhand geformt, mochte ihr gar nicht gefallen. Ein Assassine hielt sich vorzugsweise in den Schatten auf, hinter Bäumen, unter Dächern. Dort, wo sie sich vor den Blicken ihrer Opfer verbergen konnte. Doch dies war ihr zu offen, zu ungeschützt und doch ihr einziger Weg ans Ziel.

    Doch sie musste das Glück auf ihrer Seite haben. Trotz des langen, vor Blicken ungeschützten Pfades erreichte sie den Fels ohne hindernde Zwischenfälle und ohne gesehen zu werden. Obwohl die Nacht nahezu windstill war und keine Wellen gegen die Klippen oder den Landweg schlugen, kam sie leicht durchnässt am Eingang an. Nicht nur der Schweiß körperlicher und geistiger Anspannung rann mittlerweile aus jeder Pore, sondern auch die Meeresgischt trug ihren Teil dazu bei. Wie gut, dass sie vorausschauend das kleine Bisschen an nackter Haut ihres Körpers mit Dreck und Erde eingerieben hatte, damit es nicht verräterisch im Mondschein glänzte.

    Der Assassine starrte in den Schlund. Einige Meter weit führte ein schmaler Höhlenpfad schnurgerade voraus, erhellt von je einer Fackel an den Wänden. Dahinter konnte sie erkennen, dass sich der Weg öffnete, in eine große, weitläufige Höhle führte. Von hier an, war das Schleichen vorbei. Nun wollte sie offen auftreten und ihrem Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Sie zückte den zweiten Dolch aus der Scheide an ihrem Oberschenkel, nahm eine aufrechte Haltung ein und atmete tief durch. Nervös, das war sie nicht. Es war eine positive Anspannung. Sie fieberte der Begegnung mit Freude entgegen. Ihr Zeigefinger griff unter das Leinentuch um ihre untere Gesichtshälfte und zog es ein letztes Mal straff. Es war soweit.


    „Wer wagt es, in diese Höhlen zu treten?“

    Der Assassine wollte am liebsten schreien vor Wut, hielt jedoch sämtlichen Zorn im Zaum. Sie war nicht da. Mirjana war nicht da! Sie besaß tatsächlich die Dreistigkeit, sie und damit ihren Tod nicht zu empfangen. Vor ihr stand ein Koloss von einem Mann. Sicher zwei Meter groß, unglaublich muskulös und mit einer sehr tiefen Stimme. Er mochte dreißig Sommer gesehen haben, war am Kopf kahl und besaß einen dunklen Hautton. Eine Kriegsbemalung legte sich schwarz unter seine Augen und über seine Glatze. Er war in einen Kettenharnisch gekleidet, welcher mit Nieten an Schulter, Hüfte und Armen befestigt war und verhinderte, dass das Metall flatterte. Des weiteren trug er schwarze Hosen aus festem Leder sowie Beinplatten aus Stahl und führte eine gewaltige, zweischneidige Axt. Seine Waffe war länger als der gesamte Körper des Mädchens.

    Hinter ihm stand ein Thron aus weißem Stein, einfach gefertigt. Ein goldenes Kissen lag darauf und die Lehne wurde von einer kunstvollen Schnitzerei des Kopfes eines Rubinflügels gekrönt. Daneben fand sich ein edler, vergoldeter Tisch, auf dem sich eine Schale mit frischen Obst, ein juwelenbesetzter Kelch mit klarem Wasser und ein zweiter mit Wein fanden. Und hinter diesem Thron befand sich ein schmales Podest, ebenfalls aus weißem Stein geschlagen. Es war geformt wie ein sehr schmales Stundenglas und schien am oberen Ende in eine Drachenklaue überzugehen. Und jene Klaue hielt ein grünlich schimmerndes Juwel. Das musste es wohl sein. Das legendäre Herzstück von Rayquaza. Obgleich ihr Auftrag dieses Juwel in keinster Weise einschloss, war es ein tiefer Wunsch von ihr gewesen, es zu sehen.

    „Hat man dir die Zunge gestohlen? Ich fragte nach deinem Namen.“

    Zunächst erklang nur ihr spöttisches, amüsiertes Schnauben. Ihr hatte man die Zunge nicht genommen. Dennoch antwortete sie. Schließlich musste sie herausfinden, wo Mirjana war.

    „Wer ich bin, musst du nicht wissen, da du bald tot sein wirst. Aber bevor ich den Boden mit deinem Blut färben kann, wirst du mir sagen, wo sich eure Anführerin versteckt. Sie muss zuallererst sterben.“

    „In welchem Ton sprichst du mit mir, arrogantes Gör?“

    Der Wachposten wurde sofort rasend vor Wut.

    „Hast du ignorantes Kind überhaupt eine Ahnung, wo du dich befindest und mit wem du redest? Du bist im Heiligtum der Drachengarde. Vor dir steht ihr General und Mirjanas persönliche Leibwache, Gallgrim. Ich will sofort wissen, wer du bist und wie du hier...“

    „Das war keine Frage“, unterbrach sie ruhig und souverän.

    „Ich sagte, du wirst mir verraten, wo sich eure Anführerin versteckt.“

    Diesmal betonte sie ihr Anliegen etwas nachdrücklicher, um klarzustellen, dass dies keine Diskussion war und der Mann ohne Umschweife zu antworten hatte.

    „Ich weiß sehr wohl, wo ich bin. Über dich will ich nicht das Geringste wissen und von mir wirst du ebenso wenig erfahren. Du wirst mir antworten und dann schweigend in das nächste Loch kriechen oder meine Klingen spüren.“

    Gallgrims Miene wurde von Zornesröte erfüllt. Dieses Mädchen, sie besaß eine derartige Dreistigkeit. Sie wagte es nicht nur, unerlaubt hier einzudringen, sondern stellte auch noch absurde Forderungen und sah dabei so herablassend auf seine Person hinab, dass er seine Axt kaum zügeln konnte.

    „Es widerstrebt meinen Prinzipien, meine Waffe gegen ein kleines Mädchen zu erheben. Doch wenn du mir nicht augenblicklich mit Respekt und Demut begegnest, werde ich dich als Feindin der Drachengarde ansehen und dich ohne zu zaudern niederstrecken.“

    Dieser Narr. Hatte noch immer nicht die Situation begriffen. Doch zweifellos stand er seiner Pflicht weitaus gewissenhafter gegenüber, als die drei Männer, denen sie bislang begegnet war. Er besaß ein gewaltiges Ehrgefühl, wie sie an der Art und Weise seines Ausdrucks erkannte. Er sprach von diesem Ort und seiner Garde und natürlich auch Mirjana in ehrfurchtsvollen Tönen und war gewillt, für beides sein Leben zu geben. Sie fand Gefallen an solch aufopferungsvoller Treue. Es steigerte ihre Hoffnungen, die sie in diese Nacht und diesen Kampf hatte. Auf der anderen Seite war es selbstverständlich töricht, sich ihr in den Weg zu stellen und glich einem Akt des Selbstmordes. Außerdem war die Opferung des eigenen Lebens, das schlicht und ergreifend keinen Wert besaß, nichts anderes als eine Beleidigung, entstanden aus dem verzweifelten Versuch, selbigem einen Sinn zu geben.

    „Ich sehe schon, du wirst mir nicht antworten. Dann muss ich dich wohl bestrafen.“

    Der Assassine umklammerte ihre Dolche. Die Unverschämtheit, ihr nicht gehorcht zu haben, würde sie mit Blut vergelten. Doch mit wie viel? Schließlich sollte Mirjana ihr erstes Opfer werden.

    „Wenn du glaubst, du könntest es mit mir aufnehmen...“

    Beide Hände griffen nach der – so mochte man meinen – tonnenschweren Axt und hoben sie über den Kopf ihres Besitzers.

    „...dann werde ich dich im Namen meiner Herrin vernichten!“

    Wie ein Donnerschlag sauste der schwere Stahl auf sie nieder. Ein Treffer würde ihre Knochen wohl in tausend Splitter zerschmettern. Doch mit einem raschen Schritt zur Seite war sie ihm ausgewichen und die Axt schlug in den erzitternden Boden ein, wo sie einen tiefen Spalt hinterließ.

    „Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast, Mädchen. Ich besitze die Kraft eines Stiers.“

    „Sowie seinen Geruch“, entgegnete sie trocken. Ohne seine Waffe wieder zu heben, ließ Gallgrim die Rückhand seiner geballten Faust auf das Mädchen niedergehen. Spielend entkam sie erneut, war dabei sogar so hochmütig, über die Axt hinweg zu treten. Mit der gleichen Hand schlug der General und Leibwächter ein weiteres Mal nach ihr, zielte diesmal auf ihr Kinn. Indem sie ein Hohlkreuz bildete und sich weit nach hinten fallen ließ, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, verfehlte er sie schon wieder. In einer fließenden Bewegung und von einem entschlossenen Kampfgebrüll begleitet wuchtete er dann mit der übrigen Hand seine Axt wieder in die Luft. Unter dem ersten Schlag duckte sie sich hinweg. Er wirbelte die monströse Waffe, als sei es eine Feder. In der Tat war Gallgrim der wohl kräftigste Mann, dem sie je begegnet war. Das mochte etwas heißen. Schließlich war Agnar ihr Vater gewesen.

    Ein diagonaler Schlag von rechts kam auf sie nieder. Wieder duckte sie sich. Weitere Schläge folgten, wobei sich der kräftige Mann einige Male um die eigene Achse drehte und den Schwung für den nächsten Angriff nutzte. Nach mehreren Fehlversuchen zielte er direkt auf ihren Hals. Jedoch ließ sie sich ein weiteres Mal zurückfallen, sodass das Blatt nicht einmal eine Handbreite von ihr entfernt das Ziel verfehlte. Doch sie hatte die absolute Kontrolle, tat gar nicht mehr als nötig war. Irgendwann würde er müde und dieser Tanz langweilig werden. Nicht dass sie keine Möglichkeit sah, selbst anzugreifen. Dieses Spiel bereitete ihr jedoch in geringem Maße Vergnügen und sie musste noch erfahren, wann Mirjana zurückkehren würde. Den tödlichen Stahl nur Zentimeter an ihrem eigenen Kopf vorbeirauschen zu sehen und zu hören. Wie lange hatte sie gewartet, um dieses unbeschreibliche Gefühl zu erfahren?

    Doch dann kam er plötzlich. Der Griff der gewaltigen Axt sauste auf sie zu und schlug ihr auf das Kinn. Der Schlag war hart, von roher Gewalt gefüttert. Sofort schmeckte sie Blut und wich einen Schritt zurück. Des Schmerzes zum Trotz blieben ihre Bewegungen erhaben. Doch ihr Handrücken wanderte zum verhüllten Mund. Das unbeugsame Metall hätte beinahe ihren Unterkiefer zerschmettert. Sachte färbte sich ein Fleck auf ihren Leinen rot.

    „Wie gefällt dir das, kleine Prinzessin? Wenn ich mit dir fertig bin, wird dies das Harmloseste sein, an das du dich erinnerst. Und sobald meine Herrin im Morgengrauen wiederkehrt, wird sie über dich richten.“

    Unberührt von Gallgrims Worten leckte der Assassine das Blut von den eingehüllten Lippen. Es schmeckte.

    Wie ein wildes Tier, das eine Beute gewittert hatte, riss sie die Augen auf und fixierte ihren Gegner aus blutdurstiger Iris. Ein diabolischer Ausdruck wohnte in ihnen, doch ihre Mundwinkel zuckten kaum und dennoch ein kleines Stück nach oben. Es war kein boshaftes Grinsen, doch das lag allein daran, dass ihre Gesichtszüge zumeist immer gleich waren und Gallgrim hatte so oder so nur ein vermummtes Mädchen vor Augen.

    „Mehr wollte ich gar nicht von dir erfahren.“

    Nun hob sie zum allerersten Mal ihre eigenen Waffen. Gallgrim wertete diese belanglose Bewegung offenbar als Bedrohung und schlug sofort ein weiteres Mal zu. Mit einer geschickten Drehung wich das Mädchen dem Angriff aus, das Blatt der Axt schlug hinter ihr in den Boden ein, sodass dieser bebte und fixierte mit ihren Klingen den Feind. Der rechte Arm war ausgestreckt. Der linke war so angewinkelt, dass der Dolch darin parallel zu ihrem Blick lag.

    „Doch nun ist es zu spät. Bis in den Morgen werde ich nicht mit dir spielen. Außerdem hast du mir nun einen Grund gegeben, meine geliebten Dolche einzusetzen.“

    Diese Worte verwirrten den General. Mürrisch verzog er das Gesicht zu einer fragenden Miene, während er seine Axt wieder fest ergriff und sich für einen weiteren Schlag bereit hielt.

    „Du bist ein guter Kämpfer. Du konntest sogar einen Treffer bei mir landen. Ursprünglich sollte Mirjana mein erstes Opfer werden, doch angesichts der Umstände, wirst du diese Ehre erhalten.“

    Sie leckte sich genüsslich über die Oberlippe und senkte den Kopf noch ein wenig tiefer, sodass ihre Augen kaum noch sichtbar waren.

    „Ja, ich denke, du wirst genügen. Los, tränke meine Klingen mit deinem Blut.“


    ***


    „Bringt ihn nach drinnen und versorgt ihn anständig. Lasst es mich wissen, wenn die Torwachen wieder bei Bewusstsein sind.“

    Gehorsam verneigten sich die Männer in ihren Rüstungen knapp und leisteten den Befehlen ihrer Herrin folge. Die allgemeine Unruhe sowie die Verwirrung schienen Mirjana nicht im Geringsten einzuschließen. Mit kühler Gelassenheit, aber dennoch sorglicher Wärme war sie bei ihrer Ankunft dem Tumult begegnet. Drei Wachen außer Gefecht gesetzt, einer davon verwundet und keine Spur von dem Angreifer. Die erfrischende Morgenbrise ließ ihren schwarzen Umhang leicht flattern und ließ einen Blick auf ihre Rüstung erhaschen. Tatsächlich war sie nur im Bereich der Rippen in dünnes, leichtes Metall gehüllt. Ein langärmliges, offenes Gewand in Nachtschwarz bedeckte es zumeist, wenn die Winde ruhten. Gleich waren ihre Beinkleider, doch trug sie einen festen Stahlgürtel um ihre schmalen Hüften. Auch Handgelenke und Füße waren eisenbeschlagen, sodass bei jedem Schritt ein leichtes Scheppern ertönte.

    Jenes bewegte sich nun zum Hauptmann der Wachmannschaft – einem stolzen und kräftigen Mann, wenn auch nicht sonderlich groß. Tatsächlich überragte Mirjana ihn um wenige Zentimeter.

    „Haben die Männer eine Spur gefunden?“

    Leicht eingeschüchtert, obwohl die Drachenpriesterin ruhig und ohne besonders bissigen Unterton gesprochen hatte, rückte der Mann seinen Helm zurecht und straffte seine Haltung.

    „Nein, Herrin. Wir haben keine Fußabdrücke oder sonstige Hinterlassenschaften einer fremden Person finden können. Alle Habseligkeiten der Garde sind unangetastet. Der Eindringling war also hinter etwas Anderem her.“

    Da das Tor keine Schäden aufwies, war es undenkbar, dass eine größere Zahl an Menschen in die Festung eingedrungen war. Niemals hätten diese ungesehen und ungehört bleiben können. Es musste sich um zwei bis höchstens vier oder gar um eine einzelne Person handeln. Doch wie diese ohne Hilfe einen Weg über die Mauern und vorbei an den Wachen gefunden haben sollen, blieb unklar.

    Mirjana wandte den Blick leicht misstrauisch in Richtung ihres Heiligtums. Ihr goldenes Haar schwang weit fort von ihrem Körper und wurde vom Wind aufgefangen. Die aufgehende Sonne bestrahlte ihren Rücken und schenkte wohlige Wärme.

    Alle Habseligkeiten?“

    „Gallgrim ist im Heiligtum. Außerdem haben wir ein halbes Dutzend unserer besten Männer zu ihm geschickt. Das Herz ist also sicher.“

    Ihr Blick wirkte nicht überzeugt. Nachdenklich verengte sie die Augen und runzelte misstrauisch die Stirn. Der Hauptmann beobachtete sie einige Sekunden. Er war absolut ratlos, hoffte einzig auf den Befehl seiner Herrin und auf seine Kraft, diesen ausführen zu können. Ohne den Blick von dem imposanten Felsen im Meer abzuwenden, sprach Mirjana leise vor sich hin.

    „Wann wird meine Tochter ankommen?“

    „Noch vor dem Mittag. Drei Männer begleiten sie – beritten.“

    Wieder hüllte sich Mirjana einige Sekunden in Stille, sprach schließlich aber unbeirrt und mit unverändertem Ton weiter.

    „Sendet eine Gruppe die ihr entgegenkommt und sicher eskortiert. Ich erwarte sie im Heiligtum. Die Männer sollen nicht von ihrer Seite weichen, bis ich einen anderen Befehl gebe.“

    „Fürchtet ihr um eure Tochter? Meint ihr, man ist hinter ihr her?“

    Der Hauptmann musste seine Stimme zunehmend erheben, da sich die Anführerin der Garde bereits gemächlich in Bewegung gesetzt hatte. In langsamen und gleichmäßigem Schritt machte sie sich auf zum Heiligtum. Kaum hörbar raunte sie mit plötzlich fürchterlich dunkler Stimme.

    „Nein.“


    Schon am Eingang der Höhlen sah sie den ersten Körper regungslos vor sich. Das Gesicht lag im Staub, das Schwert direkt neben ihm, die Gliedmaßen leicht verkrümmt. Alles andere als frohen Mutes hockte sich Mirjana vor ihn und hob den Kopf. Seine Augen waren weiß. Jedoch hörte sie seinen Atem, was ihm allerdings in keinster Weise zustand. Er war an seiner Aufgabe gescheitert, hatte seine Pflicht, seinen Schwur nicht erfüllt und lebte dennoch weiter. Ein wahrer Krieger hatte zu fallen, wenn er eine Niederlage erlitt. Doch mit dieser Schande würde er leben müssen. Achtlos ließ sie ihn wieder zu Boden fallen und schritt weiter.

    Die übrigen fünf entsandten Wachmänner lagen verteilt in der ganzen Höhle. Einer direkt neben dem Eingang. Drei weitere unweit von ihm auf dem Boden. Und direkt zu ihren Füßen, im Zentrum der Höhle, lag Gallgrim. Der Stolz ihrer Wache, der beste Kämpfer, dem sie in den so zahlreichen Jahren begegnet war – besiegt und beschämt. Welch eine Schmach für die Drachengarde.

    „Ver-gebt mir, H-Herrin.“

    Seine ohnehin raue Stimme war bedenklich tief, und unglaublich schwach. Ihr folgte ein unkontrollierter Hustenanfall der ihm augenscheinlich Höllenqualen bereitete. Sie hörte das Knirschen seiner Zähne und erkannte die Krampfadern an seinem Hals. Eine Hand drückte er auf seine linke Brust, mit der anderen krallte er sich wie von Sinnen in die Erde.

    „Sie, sie war zu schnell, ich k-konnte ihr nicht folgen. Plö-tzlich war sie hinter mir und ich spürte diesen... diesen Stich. Ich weiß nicht, wie sie das gemacht ha-hat.“

    Verzweifelt versuchte Gallgrim, den Oberkörper aufzurichten und nach Mirjanas Hand zu greifen. Die jedoch, rührte sich gar nicht, wirkte nicht im Geringsten erschüttert oder gar interessiert. Ihre Miene war ausdruckslos, mitleidslos. Auch die Blutlache unter ihrem Leibwächter, die durch das Loch in seinem Rücken noch stetig wuchs, bewegte sie nicht zur Hilfe. Stattdessen blickte sie auf, zu ihrem Thron. Die Gestalt, die auf ihm saß, war ihr fremd. Ebenso wenig hatte sie einen derartigen Feind erwartet. Ein Mädchen, jünger als ihre eigene Tochter, saß dort. Die Kleidung eintönig, Harnisch, Stiefel und Beinkleider, die nicht einmal ihre Schenkel gänzlich bedeckten, aus dunklem Leder. Bandagen an den Unterarmen und ihrer unteren Gesichtshälfte. Blaues Haar, ein wenig blass, sehr dunkel, bis zu den Hüften reichend. Und zu guter Letzt tödlich funkelnde, rubinfarbene Augen. Sie wollte nicht lange über ihr Erscheinungsbild nachdenken. Schließlich könnte sie dies als Zögern und somit als Schwäche wahrnehmen. Doch diese Iris war selbst für sie beängstigend. Seit ihrer Begegnung mit Rayquaza hatte sie kein Augenpaar mehr erblickt, das sie so nahe an die Furcht trieben. So einen Blick konnte es doch eigentlich gar nicht geben. Er war unmenschlich.

    Ihre Gedanken abschüttelnd, ging sie um Gallgrim herum. Das Ersterben seiner Stimme sowie den kraftlosen Fall zurück in die Blutlache ignorierte sie. Für ihn konnte sie nichts mehr tun. Er war tot.

    Die Fremde saß mit überschlagenen Beinen. Ihr rechter Arm war aufgestützt und das Gesicht vorsichtig auf den Fingerknöcheln gebettet. Sie fixierte Mirjana stumm, beobachtete jeden Schritt.

    Ihr eigenes Herz schlug in gleichmäßigem Rhythmus, aber unglaublich fest in ihrer Brust. Das war sie also. Die Frau, für welche sie all die Jahre trainiert hatte. Die Frau, welche sie um jeden Preis töten sollte. Der Grund, warum sie kämpfte, sich hatte ausbilden lassen. Der Grund, warum sie lebte.

    „Warum kommst du hierher und tötest meine Männer?“, verlangte Mirjana zu wissen. Ihre Stimme war fest, stramm, von sich selbst überzeugt. Die Augen des Mädchens hatten sie nicht überwältigt. Die Fremde hob den linken Arm und deutete an ihr vorbei auf den toten Körper Gallgrims.

    „Ursprünglich war es nicht meine Absicht. Doch er war würdig“, hauchte sie gespenstisch. In der Tat. Er war würdig gewesen, ihr erstes Opfer sein zu dürfen. Unter erfahrenen, stolzen Kriegern, war der Sieg über einen ebenbürtigen Feind Teil der Kriegerehre und gehörte zu den erstrebenswertesten Dingen überhaupt. Da auch Mirjana zu dieser Art von Menschen zählte, begriff sie schnell, setzte aber dennoch zu einer Erwiderung an, als ihr Blick ein weiteres Mal über die regungslosen Körper der Wachmannschaft geschweift war. Doch ihr wurde das Wort abgeschnitten.

    „Um sie musst du dich nicht sorgen. Ich habe sie am Leben gelassen.“

    Mirjana schnaubte abfällig. Was dachte sich dieses Mädchen?

    „Wie gnädig. War es auch dieser Güte zu verdanken, dass du einem meiner Männer die Zunge herausgeschnitten hast?“

    „Ich stellte ihm eine Frage und er zog es vor, zu schweigen. So entschied ich, er solle es für immer tun.“

    Die Antwort klang weniger abwehrend oder beschwichtigend, als nach einer simplen, unumstößlichen Wahrheit. Sie versuchte sich in keinster Weise zu rechtfertigen, zu höhnen oder gar zu provozieren. Was sie sprach, sprach sie mit Überzeugung. Doch ihre Skrupellosigkeit widerte Mirjana an.

    „Hast du keinen Respekt vor dem Leben? Wir alle geben das unsere, damit Menschen wie du ohne Furcht ihren Weg in dieser Welt gehen können. Du weißt, was wir hier tun und was wir opfern. Jeder weiß das. Und dennoch willst du den Drachensplitter, ist es nicht so?“

    Einige Sekunden lang erhielt sie keine Antwort. Verträumt spielte das unheimliche Mädchen mit einer Haarsträhne und beobachtete Mirjana einfach nur. Sie schien sie zunächst gänzlich zu ignorieren, doch in Wahrheit tat sie nur das, was sie Agnar vor vielen, vielen Jahren versprochen hatte. Sie machte sich ihr eigenes Bild von diesem Menschen.

    „Respekt vor dem Leben?“, fragte sie schließlich. Ihr Unterton war geringschätzig und sie schien sich vergewissern zu wollen, ob diese Worte wahrhaft ernst gemeint waren. Sie erhob sich langsam und ging drei Schritte auf die berüchtigte Frau und Schwertmeisterin zu.

    „Wie soll man etwas respektieren, das man so leicht nehmen kann? Wie soll ich euer Opfer anerkennen, wenn deine Garde so fett, faul und müde ihre Pflicht zu erfüllen versucht? Hast du auf den Bauernhöfen oder in den Silbermienen einige Netze ausgeworfen und deinen Fang für den Schutz des Drachensplitters angeheuert?“

    Mirjana biss sich auf die Unterlippe. Dass man so abfällig von ihrer geliebten Gemeinschaft sprach, in die sie so viel Hingabe steckte, machte sie wahnsinnig.

    „Ich habe nicht das geringste Interesse an Rayquazas Herz. Auch deine lächerlichen Gefolgsleute sind für mich nutzlos. Der einzige Grund für mein Kommen bist du.“

    „Welch eine Ehre. Eigentlich sollte es mich nicht wundern, dass ein Attentäter geschickt wird.“

    Langsam legte sich Mirjanas Hand um den vergoldeten Griff ihres Schwertes. Er blickte die ganze Zeit schon unter ihrem Umhang hervor, hatte um Befreiung aus der Scheide gebettelt. Nun war es soweit.

    „Seit so vielen Jahren werden wir als Verräter geächtet. Als Menschen, denen das Leben der Drachen – von angeblich blutrünstigen, gewissenlosen Bestien – mehr bedeutet, als das ihrer eigenen Rasse. Niemand hat je verstanden, was wir sind.“

    Die Augen des dunkelhaarigen Mädchens verfinsterten sich und wurden zu schmalen Schlitzen. Sie verschränkte überlegen und straff die Arme vor der Brust.

    „Und ob ich es verstehe“, raunte sie. Mirjana blickte verwundert auf und hielt in ihrer Bewegung inne.

    „Ihr haltet euch für eine heilige Garde, obwohl ihr nichts weiter seid, als Feiglinge. Ihr habt Angst vor Rayquaza und Angst davor, den Menschen zu vertrauen. Und so fällt und vollstreckt ihr Urteile, als seist du eine Königin. Tötet jene, die sich deinem Denken nicht anschließen. Ihr habt menschliche Opfer gebracht, wo keine verlangt waren. Du hast ebenso wenig Respekt vor einem Menschenleben, wie ich es habe. So etwas nennt man nicht Königin und schon gar nicht Priesterin.“

    Wieder biss sich die so stolze Frau auf die Lippe. Wie konnte sie so dreist sein, so von der Drachengarde zu sprechen? Was wusste sie schon über sie? Von brennender Wut erfasst riss sie ihre Klinge zischend aus der Schwertscheide. Der vergoldete Griff war mit braunen Lederstreifen umwickelt. Im Knauf saß ein winziger Smaragd und die Klinge war beachtlich lang und dennoch ungewöhnlich schmal. Sie besaß zudem eine sehr tiefe Hohlkehle. Man sah auf den ersten Blick, dass es sich um eine recht leichte Waffe handelte, mit der man schnell zuschlagen konnte. Perfekt für die Arme einer Frau.

    „Wie kannst du es wagen zu glauben, über all dies erhaben zu sein? Du hast nicht die geringste Ahnung, was ich auf mich nahm, um dieses Land vor dem Untergang zu bewahren!“

    „Da irrst du. Ich habe mein ganzes Leben nichts Anderes getan, als mich auf dich vorzubereiten. Seit Wochen bin ich unterwegs und sammle alles Wissenswerte bezüglich dir und der Drachengarde. Ich habe alles über dich erfahren, was man nur wissen kann. Vieles auch gerade eben aus deinem eigenen Mund.“

    Das Kinn des Assassinen neigte sich ein Stück und sowohl Blick als auch Ton wurde noch ein wenig feindseliger.

    „Und nun, da ich dich getroffen habe, empfinde ich dir und deiner Garde gegenüber nichts als Verachtung. Ihr haltet euch für besonders. Ihr glaubt euch über den Wert von Drachen- und Menschenleben hinwegsetzen zu können und maßt euch an, ein euch nicht zustehendes Urteil zu vollstrecken. Lass dir gesagt sein, das eine ist sehr wohl mit dem anderen aufzuwiegen.“

    Nun trat ein falsches Grinsen auf Mirjanas Gesicht. Sie versuchte ihre Unsicherheit zu überdecken, doch ihr rann sichtbar der Schweiß über die Stirn und der Griff, mit dem sie ihr Schwert hielt war unentschlossen und zittrig.

    „Was ist so falsch an der Absicht, eine Wiederholung der Tragödie von damals verhindern zu wollen? Beide Seiten haben damals schrecklich gelitten und die Opfer, die wir bringen, sind nichts im Vergleich dazu.“

    Sie hoffte, dass die Fremde sich von diesen Worten beeindrucken, vielleicht sogar überzeugen ließ. Sie würde das Richtige tun. Denn sich selbst musste Mirjana nicht überzeugen, da war sie sicher. Dies glaubte sie zumindest. Doch nach wie vor änderten sich ihre Gesichtszüge nicht.

    „Es ist völlig legitim, ein paar Leben zu nehmen, um tausende zu schützen!“, schrie sie nun in voller Verzweiflung. Mirjana verlor die Fassung. Wie war es möglich, dass dieses Mädchen das Vertrauen in ihr eigenes Tun so erschütterte? Was für ein Spiel spielte sie?

    „Damit ist dein Tod nun besiegelt.“

    Das Zittern der Drachenpriesterin erstarb. Sie sog scharf Luft ein und blickte verwundert auf.

    „Du bist dir über deine Fehler im Klaren, das sieht selbst ein Narr. Und doch schreitest du auf diesem Pfad weiter voran.“

    Wieder legte sich ein falsches Grinsen auf Mirjanas Gesicht, als ihr Gegenüber langsam mit beiden Händen in ihr Kreuz griff und zwei Dolche hervorholte. Gleichzeitig senkte sie den Blick, um dem ihren zu entgehen.

    „Ich bin ihn bereits viel zu weit gegangen. Ich kann nicht mehr zurück. Die Menschen begegnen mir mit Hass, die Drachen mit Misstrauen – trotz meiner Taten. Ich muss weitermachen, bis ich endlich ihr volles Vertrauen habe. Erst dann und nur dann, können wir alle wieder friedlich leben.“

    „Alle...“, setzte der Assassine an.

    „...bis auf jene, die wegen deiner Schwäche starben.“

    Nun lachte Mirjana leise. Ihre Schultern zuckten im Rhythmus ihrer Stimme. Die Spitze ihres Schwertes, dass in den vergangenen Momenten immer weiter nach unten gewandert war, bis es den Boden berührt hatte, hob sich nun wieder kampfbereit.

    „Ich habe genug von dir, Mädchen. Wenn du mich töten willst, dann versuche es. Doch gewinnen werde ich in jedem Fall. Denn selbst wenn ich sterben sollte, dann bin ich doch wenigstens diesem Teufelskreis entkommen.“

    „Dann werde dir diesen Gefallen tun.“

    Aus ihrer so ruhigen Haltung heraus setzte das unheimliche Mädchen plötzlich zu einem Sprung an. Selbst aus dem Stand überwand sie die Schritte bis hin zu Mirjana und stach mit beiden Dolchen auf sie nieder. Die Augen der Schwertmeisterin verengten sich konzentriert. Ungeachtet dessen, was sie eben gesagt, hatte sie nicht vor, hier und heute zu sterben. Sie würde mit aller Kraft diesen Feind bekämpfen und die beschmutzte Ehre der Drachengarde neu herstellen.

    Sie hielt das Schwert mit einer Hand, brachte sich nicht einmal in eine echte Kampfposition. Absolut geringschätzig und herablassend trat sie ihren Feind entgegen. Sie hob das Schwert zu einem Stich genau zwischen ihren Händen hindurch. Sie zielte auf den Kopf. Gerade noch erkannte der Assassine den geschickten Gegenschlag und legte den Kopf in den Nacken. Ihre Dolche prallten an der breiten Parierstange ab. Wieder auf den Füßen gelandet ließ sie sich bis in die Hocke nieder und machte einen schnellen Satz nach vorne, um ihren Unterbauch anzugreifen. Doch ein gekonnter Ausweichschritt sowie ein blitzartiger Seitwärtshieb verhinderten ihren Erfolg erneut. Ebenso entging Mirjana dem Doppeltritt, den das Mädchen aus einer Drehung sowie einem hohen Sprung heraus vollführte, und ging gleich darauf selbst in die Offensive. Zwei Mal ließ sie ihr Schwert wie eine weite Acht rotieren und versuchte ihres Gegners Schulter zu treffen. Mit geschmeidigen Bewegungen wich sie jedoch jedem einzelnen Streich aus. Als sie dann den richtigen Moment erfasst hatte, vollführte das Mädchen eine Drehung auf dem Fußabsatz und platzierte einen satten Tritt an die Schläfe, wobei sie einen entschlossenen Kampfschrei ausstieß. Ein pochendes Schwindelgefühl erfüllte Mirjanas Bewusstsein, doch schon einen Herzschlag später war sie wieder in einer ausbalancierten Position und griff entschlossen an. Wütende Schläge regneten auf den jungen Assassinen nieder. Schnell, zielsicher und von der Kraft des Zornes gefüttert. Ihre Reflexe wurden auf eine harte Probe gestellt. Kaum konnte ein untrainiertes, menschliches Auge den Klingen folgen, so schnell schlug Mirjana immer wieder zu – so schnell parierte ihre junge Gegnerin wieder und wieder mit ihren Dolchen. Nach mehreren Fehlversuchen, zielte die Drachenpriesterin auf Hüfte und Bein, in der Hoffnung, es würde den Widerstand erschweren. Nachdem auch in den tieferen Regionen ihres angespannten Körpers vier Schläge fruchtlos blieben, wechselten sich die Angriffe in unregelmäßigem Rhythmus ab. Dann strich die Klinge einmal über den Handrücken. Kein besonders schwerer Treffer, doch vielleicht würde sie nun eine Hand entwaffnen können. Nun griff Mirjana ihr Schwert mit beiden Händen und konzentrierte sich auf die angeschlagene Seite. Zu ihrer Enttäuschung schien dem Mädchen die Wunde nichts auszumachen. Sie parierte den Schlag ebenso wie den nächsten und übernächsten. Doch lange konnte sie dies nicht durchhalten. Ungeachtet des flinken Schwertes, das Mirjana führte, musste sie einfach schneller sein. Sie war ein Assassine, sie trug die schnellsten und tückischsten Klingen der Welt bei sich. Allerdings fand sie keine Lücke in ihrer Verteidigung. Sie wurde mit präzisen Schlägen in Schach gehalten, ohne dass sie sich eine Blöße gab.

    Doch dann machte sie einen Fehler. Das Schwert ging direkt über ihr auf den Kopf nieder – ihre Chance! Sie überkreuzte ihre Dolche und blockte den Sturmangriff somit endgültig. Als nächstes vernahm man das kratzende Schaben aneinander reibenden Stahls, als sie voraus preschte, ihre Klingen an der Parierstange vorbeiführte und Mirjana einen tiefen Schlitz beibrachte. Sie sprang an ihr vorbei, um einem möglichen, sofortigen Vergeltungsschlag zu entgehen. Der kurze, aber laute Schmerzensschrei klang süß in ihren Ohren. Dies sollte ihr das Führen ihrer Waffe erschweren.

    Zähneknirschend betrachtete die verwundete Frau ihren blutigen Arm. Der Schnitt zog sich vom Handgelenk beinahe bis zu ihrem Ellenbogen. Sie konnte von Glück reden, dass ihre Pulsadern nicht durchtrennt worden waren. Doch lange benötigte sie nicht, um sich wieder zu fassen. Mit einer schnellen Drehung, sodass ihr Umhang weit flatterte, kam ein diagonaler Schlag von unten heraus, der allerdings auf Stahl traf und wirkungslos blieb. Mit unglaublicher Geschwindigkeit riss Mirjana die Klinge hoch erhoben herum und wagte einen weiteren Angriff. Diesmal wich das Mädchen aus, doch aus einer weiteren Drehung mit einem weiten Schritt nach vorne resultierte ein mächtiger Hieb auf ihre linke Flanke. Ihr blieb nur eine Parade mit beiden Dolchen. Jene konnte sie aber gegen diesen immensen Druck nicht aufrecht erhalten. Die Kraft, welche auf sie wirkte, überwältigte sie und ließ das Schwert in ihre Seite vorstoßen. Der Harnisch riss auf, ebenso wie die zarte Haut darunter. Der Assassine unterdrückte einen Schrei, doch ein schmerzvolles Stöhnen entkam dem einstürzenden Gefängnis ihrer Lippen. Durch den Schock vermochte sie die Muskelkraft in ihren Armen zu konzentrieren und ein weiteres Vordringen der Klinge zu stoppen. Es blieb bei einer nicht tödlichen Wunde, doch die Qualen und das Fließen des Blutes waren nun unumkehrbar. Außerdem hatte sie nun ihren Körper stark entblößt. Mirjana schrie entschlossen auf, wand ihre Waffe äußerst geschickt an der Blockade vorbei, sodass sie immerhin mit dem Knauf des Schwertes auf ihren Wangenknochen schlagen konnte. Der Kopf zuckte vor unerwartetem, plötzlichem Schmerz zurück und die Kraft in den Armen ließ nach. Die weit erfahrenere Kämpferin erspähte die Lücke in der Verteidigung. Ihr Schwert zielte in tiefere Regionen. Das linke Bein war weit voraus gestreckt und ungeschützt. Der Preis für diese Fahrlässigkeit war ein tiefer Schnitt im nackten Oberschenkel. Das Mädchen keuchte gequält, schreckte reflexartig zurück, da sie einen weiteren Angriff erahnte. Jene Befürchtung bewahrheitete sich sofort, doch ihr entgegenzuwirken, das vermochte sie nicht. Wieder stach die tödliche Klinge in Richtung ihres Kopfes. Die Ausweichbewegung kam gerade noch rechtzeitig, um dem Tod zu entgehen, doch ein heißer Schmerz legte sich auf ihre Wange. Um der sofort folgenden Enthauptung zu entgehen, wollte das Mädchen nun ihre eigene Chance wahrnehmen, Mirjana dem Arm abzuschlagen. Doch blitzschnell wie sie war, zog die sich aus der Gefahrenzone zurück, sodass die Dolche zischend ins Leere schlugen.

    Ein kurzer Moment der Ruhe folgte. Über die Phase des Abtastens waren sie hinweg. Die ersten Eindrücke waren längst gefällt. Beide bluteten, beide schwitzten, doch nur Mirjana behielt noch einen ruhigen Atem. Der junge Assassine dagegen keuchte leicht und war in die Hocke gegangen, um dem schmerzenden Bein einen Moment zu geben, sich zu erholen. Doch trotz ihrer Anstrengungen hatte sich der Blick des Eindringlings nicht ein bisschen verändert. Das gesamte Gefecht über hatten ihre Augen dieselbe Sprache gesprochen und ihre Gesichtszüge lediglich die Emotion der Kampferregung und des Willens zu töten gezeigt. Sie genoss ihr Duell, doch mit dem Verlauf war sie bislang nicht zufrieden. Ohne Mirjana aus den Augen zu lassen wischte sie sich mit dem Handrücken über den Schnitt an der Wange, zog für einen Moment die Leinen von ihrem Mund und leckte das Blut davon. Da sie den Kopf weit gesenkt hatte, verwehrte der Schleier ihres Haars Mirjana einen Blick auf ihr unverhülltes Gesicht. Daraufhin schnaubte sie leicht amüsiert und dürstete nach Vergeltung. Das Gesicht wurde wieder vermummt. Der Griff um ihre Dolche verstärkte sich, sodass zwischen den Fingern der verletzten Hand mehr quellendes Blut herab lief.

    „Ich frage mich, wer dich das Kämpfen gelehrt hat“, sprach Mirjana nachdenklich, neugierig und doch keineswegs unaufmerksam. Sie streckte ihr Schwert der Feindin entgegen.

    „Ich kannte viele Menschen, die wussten in deinem Alter noch nicht einmal mit einer Waffe aus Holz umzugehen. Aber du bist eindeutig aus einer guten Schule.“

    Langsam richtete sich das Mädchen mit dem finsteren Gesicht wieder auf. Ihre Füße schoben sich über die Erde und nahmen ihre antrainierte Kampfstellung ein.

    „Ich bin nicht hier, um Geschichten mit dir auszutauschen.“

    Nun war es Mirjana, die schnaubte. Sie begann die kämpferischen Fertigkeiten ihrer so jungen Gegnerin zu respektieren. Dennoch wollte sie sie um jeden Preis tot sehen. Für die Ehre der Garde und für sich selbst. Sie zu besiegen würde ihr das Selbstvertrauen in ihre Taten zurückgeben.

    „Du bist blind und ohne eigenen Willen, Mädchen“, stellte sie fest.

    „Deine Intentionen gründen auf den Lügen, mit denen man dich vergiftet hat. Ein Kind wie dich, unschuldig und leichtgläubig, hat man Hass gelehrt, ohne die Tatsachen zu erkennen. Dies allein ist der einzige Grund für diesen Kampf.“

    Der vernichtende Blick der Attentäterin blieb von den Vorwürfen gänzlich unberührt. Als hörte sie ihr gar nicht zu. Die herrschende Stille war in ihren Augen jedoch keine Bestätigung. Eher war sie die Quelle von neuer, aufkeimender Verunsicherung.

    „Sei nicht wissbegierig, sondern töte, aber töte nicht blind. Töte, wer den Tod verdient.“

    Erneut trat Schweigen ein und man mochte meinen, dass die Worte des Assassinen in einem nicht existenten Raum der sie doch von alles Seiten umgab, als schallendes Echo widerhallten. Dieser Raum war Mirjanas Verstand.

    „Das war meine erste, wichtige Lektion. Sei versichert, wenn du mich von deinem Weg und deiner Drachengarde hättest überzeugen können...“

    Nun trat sie einen langsamen Schritt auf die Drachenpriesterin zu und senkte bedeutsam ihre Stimme, sodass man niemals wagen würde, die Ehrlichkeit dahinter in Frage zu stellen.

    „Ich wäre dir gefolgt.“

    Mirjana sog scharf Luft ein. Doch unmittelbar nach einem kurzen, vergänglichen und doch endlosen Moment, in dem sie glaubte, tatsächlich einen fühlenden Menschen vor sich zu haben, wurde sie schon wieder vom Zweifel zerfressen. Niemals! Unmöglich! Sie log, sie musste lügen.

    „Unsinn!“

    Dieser Schrei echote nun laut und deutlich im Inneren des Berges und ließ den Fels ehrfürchtig erzittern.

    „Du warst nicht dabei, als ich damals mein Leben für unsere Welt dargeboten habe. Wie willst du verstehen können, was wahr ist und was nicht? Wie will jemand wie du die ungetrübte Wahrheit erkennen können?“

    Über den Blick des Mädchens hatte sich ein Schatten gelegt. Selbst dieser Ausbruch von Mirjanas Gefühlen hatte sie zu keiner Reaktion bewegt. Ihre Haltung war so unglaublich fest und wollte sich um der Götter Willen einfach nicht ändern.

    „Ich kann die Wahrheit sehen“, beteuerte sie und hob den Blick. Was nun in ihren Augen lag, vermochte kein Mensch je zu betiteln. Er zerschlug, zerbrach, durchstach und vernichtete alles, jenseits des menschlich greifbaren.

    „Du willst sie in deinen Gedanken einsperren, doch quillt sie aus jedem Spalt. In deinen oberflächlich so tugendhaften Worten schwebt der faule Gestank der Unehrlichkeit. Ich sehe sie vor mir, so wie ich dich sehe.“

    Für einen kurzen Moment legte sich ein Schatten über die Augen des Assassinen. Die Rubine schienen darunter hell zu glühen und eine wehrlose Beute zu fixieren. Dieser Blick sorgte dafür, dass Mirjanas Wahrnehmung für einen Augenblick verschwamm und sie glaubte, eine übernatürliche Bestie vor sich zu haben, die sie mit wachsendem Blutdurst schief angrinste.

    „In deiner Seele.“

    Mirjana fühlte sich wie von Rayquaza selbst zerschmettert. Wie körperlich verletzt wankte sie einen Schritt zurück. Ihre vor Schock geweiteten Augen blieben fest auf dem plötzlich scheinbar wieder so normal wirkenden Mädchen zu haften, obwohl sie heftig den Kopf schüttelte. Nein, das konnte sie nicht. Dieses Mädchen konnte nicht in ihre Seele blicken. Das konnte kein Mensch. Sie log. Sie trieb ein hinterhältiges Spiel mit ihr. Wut. Nichts als Wut beschworen diese Worte herauf. Sie wollte nicht mehr, hatte genug davon. Stirb doch. Stirb doch einfach. Sie sollte sterben!

    „Schluss mit diesem Unfug!“

    In einem Moment der unausgesprochenen Einigkeit beschlossen die Frauen, ihre bloße Kraft zu messen. Mit einem entfesselnden Kampfschrei auf den Lippen stürmten sie aufeinander zu, ließen mit aller Macht ihre Klingen aufeinanderprallen. Das Mädchen überkreuzte die ihren erneut, um Mirjanas Waffe unter Kontrolle zu halten. Das schabende Geräusch des kreischenden Stahls erreichte die beiden kaum. Sie spürten bloß die starke Erschütterung in den Armen und hörten das rauschende Blut in ihren Köpfen.

    Dann wich der Assassine einen plötzlichen Schritt zurück, um Platz zu gewinnen und ging rasch in einige schnelle Drehungen über, sodass ihr Haar weite Schwünge machte. Mit jeder Rotation schlug sie präzise zu, versuchte Mirjana mit einem Klingenwirbel zu überraschen, zu überwältigen. Jedes Mal, wenn sie das schneidende Geräusch der sich spaltenden Haut vernahm, schlug ihr Herz vor Freude und steigender Kampfeslust. Doch gleichzeitig wuchs der Frust in ihr heran. Denn mehr als einige unbedeutende Kratzer konnte sie ihr nicht beibringen. Mit unglaublicher Sicherheit parierte sie mal, mal wich sie aus und in jedem Fall zeigte sie keinerlei Reaktion auf die leichten Wunden. Äußerlich zumindest und der Feind glaubte sich in Ineffizienz, so wie sie es wollte. Doch sie konnte sich dem brennenden Gefühl nicht erwehren, das sich mehr und mehr in ihren Körper ausbreitete. Jeder Schritt kostete Kraft, jede Bewegung schmerzte und forderte Überwindung. Und jede Wunde an ihren Körper öffneten den Weg für den kostbaren Lebenssaft, der sie stetig verließ. Das konnte so nicht weitergehen. Wenn sie zu viel Blut verlor, würde sie bald erschöpfen und zusammenbrechen.

    Dann setzte das allmählich frustrierte Mädchen zu einem beherzten Schlag mit beiden Dolchen an und grollte dabei zornig. Jedoch gelang es Mirjana erneut ihn abzuwehren, wodurch die stürmischen Angriffe verebbten und sich die Klingen ein weiteres Mal von Angesicht zu Angesicht trafen. Kurz blickten sich die Kontrahenten in die Augen. Unendlicher Siegeswillen und blanker Hass bei Mirjana. Kälte und Blutgier in denen des Assassinen.

    Von einem weiteren Schrei begleitet schlug Mirjana dem Feind die Parade weg und versuchte eine Enthauptung. Rasch duckte sich das Mädchen jedoch und setzte zu einem schnellen Stoß nach vorne an. Sie streckte den Arm, um den Dolch tief in ihr Fleisch zu treiben, doch da schlug sich erneut eine lange, schmale Schwertklinge in ihren Weg und entwaffnete ihre linke Hand. Klirrend landete der Dolch auf dem Boden. Eigentlich hatte Mirjana nicht diesen, sondern ihren Arm von ihr trennen wollen. Doch alles war zu schnell gegangen. Sie hatte den Hieb nicht genau platzieren können. Als Folge dessen spürte sie nun einen dumpfen Schlag im Torso, als sie mit einem Schulterstoß zu Boden gerammt wurde. Mit einem solch groben Gewaltangriff hatte sie nicht gerechnet. Völlig überrumpelt glitt nun auch ihr die Waffe aus den Händen. Kaum hatte sie ihren Sturz realisiert, saß die Feindin schon über ihr und holte zum Todesstoß aus. Der verbliebene Dolch blitzte tödlich im Schein der Fackeln, als er auf sie niederging. Für einen Moment lief die Zeit unglaublich langsam, blieb beinahe stehen. Das Adrenalin explodierte in den Körpern der Kämpfenden und geleitete sie in einen rauschenden Zustand der Ekstase. In Mirjanas Fall war dies durch Todesangst bedingt. Doch sie war noch nicht bereit zu sterben.

    Ihr Überlebensinstinkt ließ sie in einem wahnsinnigen Reflex ihre die Arme hochreißen und das Handgelenk des Angreifers umschließen. Für einen kurzen Moment konnte sie sich einfach nicht der klirrenden Kälte erwehren. Ihre Hände... waren wie Eis. Der Schock jedoch half Mirjana, ihre Sinne zu sammeln und tatsächlich stoppte sie den Angriff – allerdings nur für einen Moment, bis das Mädchen mit dem Knöchel ihrer freien Hand gewaltsam auf den Knauf des Dolches schlug. Sie spürte gleich einen stechenden Schmerz in der Brust. Ein hohles, flaues Gefühl der Leere machte sich in Mirjana breit. Der nächste Atemzug schmerzte fürchterlich und der kalte Stahl ließ sie erschaudern. Langsam glitt ihr Blick hinab auf ihre Brust. Der Dolch steckte in ihr. Die komplette Klinge hatte sie in ihren Körper gestoßen, nur knapp oberhalb des eisernen Panzers. Einige Sekunden lang konnte sie einfach nicht wegschauen. Sie musste es sehen, musste es fühlen, um es glauben zu können. Sollte es das nun gewesen sein? Würde sie hier und jetzt sterben? Nach so vielen Jahren der Hingabe sollte dies ihr Ende sein?

    Mirjanas Augen wanderten schließlich zu dem vermummten Gesicht ihrer Gegnerin. Trotz der Bandagen glaubte sie ein widerliches, zufriedenes Grinsen zu erkennen. Sie war sich selbst nicht sicher, ob das tatsächlich stimmte, doch es spielte keine Rolle. Allein der Gedanke gab ihr Willen, dies zu strafen – und Kraft. Nein, sie würde hier nicht sterben! Auf gar keinen Fall!

    Mirjanas Körper setzte in einem unglaublichen Adrenalinstoß ungeahnte Kräfte frei. Fast ließ das viele Blut in ihrem Kopf sie den Verstand verlieren. Vielleicht war es aber auch nur der kalte Griff des Todes, der sie ihrer Sinne beraubte und sodann auch ihr Leben nehmen würde. Doch sie wollte nicht. Sie wollte nicht verlieren. Mit einem erschütternden Schrei kämpfte sie gegen den Tod selbst an.

    Obwohl sich das Mädchen mit aller Macht auf den Knauf ihrer Waffe stemmte, schaffte sie es tatsächlich, ihn herausziehen und den Körper über ihr zur Seite wuchten. Völlig überrascht von diesem Kraftschub ließ sich der junge Assassine überwältigen. Sie hatte die Kontrolle über die Situation verloren. Dabei hatte sie den Sieg beinahe schon ihr Eigentum nennen können. Ihre Klinge hatte in Mirjanas Körper gesteckt, doch der weigerte sich, ihre Seele ins Totenreich übertreten zu lassen und allein und leer zurück zu bleiben.

    Ein kurzer Blick über die Schulter. Die finsteren Augen verengten sich zielstrebig. Das Mädchen rollte sich zur Seite, verweilte aber anschließend in der Hocke. Sie hatte Mirjana den Rücken gekehrt, sah somit nicht ihr handeln. Dann, völlig unverhofft, spielte sich ein Moment vergangener Tage vor ihrem inneren Auge ab. Der Moment, in dem sie Agnar zum ersten Mal im Training hatte verwunden können. Ihre Taktik, ihre Vorgehensweise, der entscheidende Moment in einem aussichtslosen Duell, das sie nicht hatte gewinnen können. Schlagartig wusste sie, es zu beenden. Doch der Kampf zurück auf die Beine war schwindelerregend. Ihr Gleichgewichtssinn litt fürchterlich unter ihrer Erschöpfung. Unbewaffnet und noch immer dem Feind den Rücken entblößend bot sie die einmalige Gelegenheit für Mirjana, ihr den Todesstoß zu versetzen. Hinter ihr blitzte eine lange, schmale Schwertklinge auf – und ging auf den Assassinen nieder. Selbiger hörte das Schneiden des Stahls in der Luft, fühlte die Seele des Schwertes sowie dessen Ziel, einfach jede einzelne Bewegung. Ein letztes Mal atmete sie tief Luft ein und zwang jede Faser ihrer selbst in absolute Konzentration und Gehorsam. Dieser Körper gehörte ihr! Nicht er erteilte die Befehle, sondern ihr Geist. Ihrem Willen hatte er zu dienen. Nicht umgekehrt.

    Um Haaresbreite verfehlte der tödliche Stoß sie, als sich das Mädchen duckte, gleichzeitig in eine Drehung überging und Mirjana einen satten, ansatzlosen Schlag in die Magengegend versetzte. Anschließend warf sie sich nach vorne, direkt am Feind vorbei, besah sich in ihrer Hechtrolle für den Bruchteil einer Sekunde ihrer Gegnerin. Wie erwartet, hatte sie nach dem Fehlschlag den schnellstmöglichen Angriff gewählt – einen tiefen Hieb auf ihre Beine. Dieser rauschte nun jedoch ebenfalls ins Leere. Der Körper rollte sich ab und geriet wenigstens für einen Moment außer Reichweite der tödlichen Waffe. Mit einer flinken Bewegung wanderte eine Hand an den Ansatz ihres rechten Stiefels und entfernte sich ebenso schnell wieder. Nun wollte sie sich aufrichten, Mirjana wieder in ihre widerlichen Augen blicken und diesen Kampf beenden. Sie hatte, was sie brauchte. Es war beinahe besiegelt.

    Da brachte sie ein mörderischer Ansturm von Schmerz zu Fall, zwang sie auf die Knie. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Wie hatte sie das geschafft? Wie konnte sie trotz einem Loch in ihrer Brust sich so schnell bewegen, ihr zuvor verlorenes Schwert schwingen und unaufhörlich immer weiter zuschlagen, bis der eine, fatale geglückt war? Woher nahm sie plötzlich diese Energie? Sie konnte die Antwort auf diese Fragen gar nicht erst suchen. Der Schmerz blockierte ihr rationales Denkvermögen und betäubte ihren Verstand mit einem verfluchten Gift. Sie verrenkte ihren vor Qual schreienden Rücken, bildete ein weites Hohlkreuz, als wollte sie ihren Körper aus dem Bereich der Höllenschmerzen herauswinden. Sie spürte, wie das Blut in Strömen hinab rann. Es durchtränkte ihren aufgeschlitzten Harnisch, es ergoss sich auf den Boden, es verließ gemeinsam mit den Lebensgeistern ihren Körper. Mit einem trägen Seitenblick sah sie, wie Mirjana eine Hand auf ihre Wunde drückte und Blut hustete. Schwere Schritte brachten ihre Stahlstiefel zum Scheppern, als sie mit müder Wahrnehmung an ihre Seite wankte. Der Schnitt, den sie ihr beigebracht hatte, zog sich vom Schulterblatt bis ins Kreuz. Nur um Haaresbreite hatte die die Wirbelsäule und das Rückenmark verfehlt. Es war ein fast tödlicher Schlag gewesen. Es fehlte nur noch der letzte Stoß.

    Doch der Weg dorthin war eine unmenschliche Tortur. Jeder Schritt war schwach, unsicher, wackelig und kostete Unmengen an Kraft. Das Gewicht eines Kriegshammers aus schwerem Eisen schien sie gen Boden zu drücken. Jeder Atemzug kam einer Folter gleich, zerstach ihre Lungen wie der Fleischer seine Ware, was den Tod plötzlich in ein gar nicht mehr so grausames Licht rückte. Eher wirkte er verlockend, erlösend. Doch alldem zum Trotz ging es ihr nun besser, als dem jungen Mädchen zu ihren Füßen. Erschöpftes Keuchen und qualvolles, wenn auch leises Aufstöhnen erfüllte die Luft. Der junge Leib zitterte vor Anstrengung, zuckte durch unkontrolliertes Aufbäumen der Nerven, die von einem Rest Adrenalin genährt wurden und das Herz am Leben hielten. Sie hockte auf den Knien, die Schultern erschöpft hängen lassend und der Kopf stark gesenkt, sodass ihre sonst so todbringenden Augen kaum sichtbar waren. Eben jene hafteten jedoch eisern auf Mirjana. Sie blickten zu ihr auf und wollten um des Todes Willen nicht abweichen.

    Angewidert von diesem Blick trat sie dem Assassinen mit der Sole voraus gegen die Schläfe. Kraftlos geriet sie zu Fall. Der Kampf, so kurz er doch gewesen war, war von seinem Beginn bis zu seinem Ende über von bebenden Kämpferherzen, Schwertkunst und Körperbeherrschung erfüllt gewesen. Nun klang er auf diese Weise aus. Erniedrigend für den Verlierer und mit fadem, schmerzenden Beigeschmack für den Sieger. Doch den würde Mirjana ertragen.

    Sie trat an den regungslosen Körper heran und drehte ihn mit dem Stiefel auf den Rücken. So wie das Mädchen es vorhin getan hatte, setzte sie sich über sie, drückte sie mit ihrem Gewicht zu Boden. Mit all ihrer verbliebenen Kraft ergriff sie das Schwert mit beiden Händen und setzte die Spitze an ihrem Hals an.

    „Ich... habe gesiegt“, keuchte sie, wobei ihr das Blut aus dem Mund lief. Von ihrem verwundeten Arm tropfte es ebenfalls herab, direkt in das Gesicht des Mädchens. Ihr jedoch wollte sich auch jetzt im Angesicht des Todes nicht ändern. Mirjana wollte ihn nicht länger ertragen müssen. Sie wollte dieses Leben auslöschen.

    „Nun, stirb!“

    Sie holte zum Todesstoß aus. Die Augen des Mädchens schlossen sich sanft.

    Schnell wie ein Pfeil fuhr ihre Hand hinunter an ihr Bein, das sie ebenso rasch anwinkelte. Die zarten Finger, gerötet und geschunden, glitten in den Schaft ihres Stiefels. Binnen eines Herzschlags hatte sie ihren Dolch hervorgezogen und schlitze Mirjanas Bauch auf.

    Ihre Bewegung stoppte. Sie stöhnte hohl, riss die Augen weit auf, sodass die Pupillen winzig klein wurden. Doch ihr Blick war leer, starrte ins Nichts. Das Mädchen unter ihr keuchte ebenfalls laut. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie achtete gar nicht auf die tödliche Wunde oder die warme Flüssigkeit, die sich über sie ergoss – ihr Werk. Sie blickte nur in ihr Gesicht, versuchte den Moment ihres Ablebens zu erfassen. Eine gefühlte, folternde Ewigkeit geschah nichts weiter. Ein erneutes, verfluchtes Mal schien die Zeit still zu stehen.

    Dann letztendlich erschlaffte der Körper. Er kippte vornüber. Mit Leichtigkeit konnte der Assassine nun der sinkenden Klinge ausweichen. Sodann stemmte sich der liegende Körper mit einem letzten Kraftakt auf, schrie sowohl gegen Schmerz als auch gegen aufkeimende Erschöpfung ankämpfend und stieß den leblosen Leib Mirjanas von sich. Der monotone Sturz erschallte im Heiligtum der Drachengarde, als sei er das einzige Geräusch auf der Welt. Einige Atemzüge lang sammelte sie sich, um den Schmerz niederzukämpfen und sich des Moments zu besinnen. Es war wie damals gewesen, im Training mit Agnar. Sie hatte ihren Gegner manipuliert. Sie hatte durch scheinbare Entwaffnung Hilflosigkeit und gebrochenen Kampfgeist vorgetäuscht und auf den rechten Zeitpunkt gewartet, nachdem sich Mirjana so unverhofft aufgerafft hatte und ihrerseits den Feind überrascht. Als sie Mirjana zu Boden gebracht hatte, war ihr der Dolch entglitten. Als sie ihrem unerwarteten, letzten Aufstreben entgangen war, hatte sie ihn wiedererlangt. Unbemerkt durch ihre Schnelligkeit vom Boden aufgelesen, während sie ausgewichen war. Sie hatte wie alle anderen Krieger und Assassinen dieser Welt all ihre antrainierten Fähigkeiten ausgespielt. Und sie war siegreich!

    Dieser Gedanke ließ den quälenden Schmerz ihres Körpers abflauen. Dennoch war ihre Kraft nun versiegt und jede Bewegung forderte einen schweren Tribut. Der Assassine rollte sich auf den Bauch und stemmte die Fäuste in den Boden. Die Arme zitterte, der Leib war schlaff und fühlte sich kalt an. Mit träger Mühe schaffte sie es, das Rückgrat durchzustrecken, wobei der Kopf in den Nacken fiel, als sei er nur noch ein lebloses Anhängsel. Sie blickte an die felsige Höhlendecke und ließ den Triumph auf sich wirken. Sie genoss im Stillen, befahl sich, das Verlangen nach einem törichten Siegesgebrüll zu unterdrücken. Das, wofür sie ihr Leben lang trainiert hatte – die Bürde ihrer Existenz und der Lohn für die harte Arbeit an sich selbst. Es war geschafft. Sieg und Ehre. Wie köstlich war der Geschmack.

    Mit neu gewonnener Sicherheit in ihren Bewegungen stand das Mädchen auf und betrachtete die Besiegte mit nachdenklicher Miene. Diese regte sich nicht mehr. Ihre Seele war gewichen. Es war geschafft. Sie hatte ihr Lebensziel erreicht. Sie bändigte die grenzenlose Freude, die sich in ihr breit machte. Das unbezahlbare Gefühl des Stolzes erfüllte ihre Brust und ließ den Schmerz wenigstens ein wenig abflauen. Doch in ihren Augen zeichnete sich die Glanzlosigkeit leerer Trauer ab. Es war vorbei - bald auch für sie.


    ***


    Mit einem Dutzend Männer an der Seite marschierte die junge Frau den Pfad zur Amnestiespitze entlang. Sie trug einen offenen Mantel von Nachtschwarzem Stoff, ähnlich wie der Mirjanas. Doch verhüllte kein Stahl ihrem Körper. Unter dem Gewand verbarg sich lediglich ein einfaches Stoffhemd in Weinrot. Unterhalb der Gürtellinie war sie gänzlich mit dunklem Leder bekleidet. Auch ihr langes, goldenes Haar erinnerte an die Herrin dieser Festung, obwohl das Ihre gewellt war und nicht spiegelglatt. Es war nun wirklich kein Wunder, dass manch ein Unwissender die beiden verwechselte.

    Stramme Schritte führten sie durch die Pforte in den Berg hinein. Entschlossen und für jede Überraschung bereit erschien ihr Blick. Konzentriert auf ihren Weg und doch grübelnd. Der Hauptmann der Wache sagte, Mirjana hätte sehr nachdenklich gewirkt, als sie sich zur Amnestiespitze begeben hatte. Sie war kaum empfänglich gewesen für äußerliche Einwirkungen. Was mochte sie wohl erwarten?

    Ihr Herz setzte aus, obgleich sich ihre Gesichtszüge kaum veränderten. Unter den Männern machten sich schockierte Aufschreie und entsetztes Getuschel breit. Ihr Heiligtum war ein Schlachtfeld!

    Sieben ihrer Kameraden lagen hier einschließlich Gallgrim, ihrem ehrenhaften General. Doch während die Männer der einfachen Wachmannschaft teilweise stöhnten, sich vergeblich aufzuraffen versuchten oder man einfach nur die sich ständig hebende und wieder senkende Brust sah, rührte sich bei Gallgrim nichts. Die Blutlache unter ihm begann bereits zu gerinnen. Er war gefallen.

    Doch sein Anblick war es nicht, der alle Gemüter in die Schwärze stieß. Nur einige Schritte entfernt lag ein schmaler, eher zierlicher Körper im schwarzen Umhang und goldenem Haar auf dem Boden. Brust und Bauch waren aufgeschlitzt. Der Kopf war leicht zu ihnen geneigt, wodurch man die starren, leeren Augen sah.

    „Das ist nicht möglich“, raunte einer verzweifelt wie ein Kind.

    „Herrin...“, fiepte ein anderer Mann tonlos.

    Die Frau an der Spitze begann auf ihren Beinen zu wanken. Ihre Welt erschütterte in diesem Augenblick. Dort lag ihre geliebte Mutter Mirjana – tot. Sie war fort. Für immer weg. Nie wieder würde sie in ihre herrlich klaren Augen mit der Farbe der See blicken können. Nie wieder ihre zärtliche Hand spüren, die sanft ihre Wange strich. Nie wieder stolz Seite an Seite zu ihr stehen. Sie war an ihrer ewigen Aufgabe gescheitert und hatte mit dem Leben bezahlt. Tränen sammelten sich keine in ihren Augen. Irgendwie hatte sie es erahnt. Ewig wäre es niemals so weitergegangen. Irgendwann musste sich jemand gegen die getrübten Ansichten Mirjanas stellen. Doch sie hatte jeden Tag gebetet, dass es nicht geschehen würde. Hatte auf Frieden und Leben gehofft und sich in dem utopischen Glauben gewogen, dass sich alle Konflikte eines Tages auflösen würden. Bittere Enttäuschung. Schmerzvoller Verlust. Nicht mehr war das Resultat.

    „Ihr habt euch Zeit gelassen.“

    Die finstere, doch junge Stimme war nur leicht von Hohn angehaucht, klang ansonsten wie eine nüchterne Feststellung und gewann sofort jedermanns Aufmerksamkeit. Durch den erschütternden Anblick war ihnen die weibliche Gestalt gar nicht aufgefallen, die neben Mirjanas Thron stand. Sofort erspähten sie die klaffende Schnittwunde auf ihrem Rücken, den sie ihnen kehrte. Nur sichtbar, da der offensichtliche Schwertschlag einige ihrer hüftlangen Haare abgetrennt hatte. Auch ihre Hände waren völlig blutig. Mit einer griff sie nun nach einem Kelch auf dem vergoldeten Tisch. Es war der Wasserkelch, wie sich herausstellte, als sie die klare Flüssigkeit über ihr Gesicht und in den Nacken schüttete, um ihren schmutzigen Körper zu erfrischen. Das edle Gefäß ließ sie achtlos fallen. Dann griff sie nach dem Weinkelch und trank ihn in einem Zug leer. Die Leinen vor ihrem Mund waren in diesem Augenblick bis zum Kinn herunter geschoben, doch kaum war das Gefäß geleert, zog sie diese sofort wieder über ihr Gesicht. Auch dieser Kelch landete scheppernd auf dem Boden. Belanglos wischte sie sich mit dem Handrücken über ihre Wange und atmete geräuschvoll aus, während sie sich langsam umwandte. Die rubinfarbenen Augen mit ihrer Todeskälte legten sich auf die blonde Frau an der Spitze der Gruppe. Die Männer um sie herum waren Luft. Sie waren es nicht wehrt, von ihr beachtet zu werden.

    „Trägst du Schuld an diesem Gemetzel?“

    Die Stimme der Frau war monoton, fern von jeglichen Gefühlen. Sie klang leer. Das Mädchen, mit Blut beschmiert, trat provokant langsam vom Tisch weg und ging auf den Körper der toten Anführerin zu. Dies alarmierte die Mitglieder der Garde, die hastig ihre Lanzen ergriffen und ihre Schwerter zischend aus der Scheide befreiten. Davon ließ sich der Assassine jedoch nicht im Geringsten beeindrucken, geschweige denn aufhalten. Sie waren schließlich Luft.

    An Mirjanas Seite angekommen neigte sie leicht den Kopf und sah in ihre leblosen Augen. Es wäre lächerlich, einen bedeutungslosen Satz wie „sie war die Beste, gegen die ich je kämpfte“ oder dergleichen auszusprechen. Schließlich hatte sie vor ihr nur gegen die anderen Schüler ihres Dorfes sowie eben gegen Agnar und Gallgrim gekämpft und sie vermied irgendwelche Vergleiche. Sowohl der Kampf mit Agnar, als auch die heutigen waren auf ihre Weise unvergleichlich gewesen.

    „Du bist ihre Tochter, nicht wahr?“

    Die blonde Frau schluckte. Das Mädchen machte ihr Angst. Dabei war ihr nie jemand oder etwas begegnet, das ihr den Schweiß auf die Stirn getrieben oder einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Im zarten Alter von neunzehn Sommern hatte sie bereits den gefürchtetsten Kreaturen gegenübergestanden, die man auf diesem Kontinent finden konnte und nie annähernd solch Schrecken verspürt. Sie war ihr ganzes Leben lang furchtlos gewesen. Bis zum heutigen Tag. Dieses Mädchen mit ihren Augen, ihrer Ausstrahlung und dieser Stimme. Sie klang auf eine unbehagliche Weise versuchend, verlockend, dann aber auch unsagbar kalt und sie hatte das Gefühl ein Dolch mit ihrem Namen darauf wartete in ihrem Rücken, um ihr Leben zu beenden. Was verbarg sich nur hinter diesem Menschen?

    „Bin ich“, sprach sie nach langer Stille, in der die Fremde sie jedoch nicht erneut gefragt hatte. Geduldig, fast abwesend hatte sie den toten Körper begutachtet. Beinahe als würde sie dessen Schönheit bewundern.

    „Du wirst sie nicht anrühren!“

    Die für einen Mann viel zu hohe, schreiende Stimme ließ dessen Kameraden verschreckt zusammenfahren. Bei dem Assassinen bewirkte sie lediglich einen desinteressierten Seitenblick. Schon im nächsten Moment stürmte er los – die Lanze zielgenau auf den Feind gerichtet und einen erschütternden Kampfschrei auf den Lippen. Niemand machte Anstalten, den Angriff aufzuhalten. Es sollte ihr recht sein. Sie würde ihm seinen Platz zeigen.

    „Wie töricht“, hauchte sie dumpf in die Leinen vor ihrem Mund. Dann wartete sie ab und regte sich nicht von der Stelle. Nur einen Herzschlag bevor sie aufgespießt worden wäre, riss das Mädchen die Augen plötzlich weit auf, sodass sich der Wille zum Töten darin abzeichnete. Mit der linken Hand griff sie nach der Stange und wandte sich mit einer Drehung scheinbar mühelos an ihr vorbei. Ein schneller Schlag auf ihr angehobenes Knie ließ das Holz wie einen Zweig splittern. Es ging viel zu schnell. Nicht einmal konnte der Mann ihren Bewegungen folgen, die sie scheinbar so mühelos vollführte. Lediglich die abgetrennte Spitze seiner Waffe sah er kurz aufblitzen, bevor sie jene mit einer weit ausholenden Bewegung direkt aus der Drehung in seine Schulter rammte. Nur eine Sekunde hatte er Zeit um zu schreien und sich vom Gefühl des Schmerzes überwältigen zu lassen. Danach spürte er bereits einen satten Schlag auf seinem Nasenbein, den das Mädchen ihm durch einen Sprung mit ihrer Kniescheibe beibrachte. Der eigentliche Angreifer fand sich auf dem Boden wieder. Den Helm hatte er beim Sturz verloren, weshalb der Assassine ihn nun am Schopf packte und auf das Gestein schlug. Nahe der Besinnungslosigkeit nahm er seine blutende Nase ebenso noch wahr, wie das Gewicht, mit dem das Mädchen ihn zu Boden drückte und den Dolch, der ihm an die Kehle gesetzt wurde.

    „Vergeudet nicht meine Zeit und euer Leben, wenn es euch lieb ist“, zischte sie warnend. Sie hatte nun genug von den Spielchen mit diesen Narren und war nicht gewillt, sich länger mit ihnen quälen zu müssen. Sie musste den letzten Teil ihres Auftrages erfüllen. Herausfordernd sah sie zu Mirjanas Tochter. Der Dolch zeigte stramm auf sie.

    „Du.“

    Die übrigen Wachmänner an ihrer Seite ergriffen nun wieder fest ihre Waffen und stellten sich schützend vor ihrer Herrin auf. Eine undurchdringbare Wand aus Fleisch und Eisen baute sich vor dem Assassinen auf.

    „Du wirst heute niemanden mehr töten!“, rief einer heraus – nicht so überzeugt und entschlossen, wie er es gerne getan hätte. Missmutig senkte das Mädchen ihre Klinge wieder, baute sich aber warnend vor den Feinden auf. Beide Fäuste geballt und die Beine gespreizt. Der Mann am Boden wagte auch jetzt nicht, sich zu rühren.

    „Geht mir aus dem Weg.“

    Sie deutete auf die Leichen von Mirjana und Gallgrim, ohne den Blick von den Männern zu nehmen.

    „Oder ihr liegt daneben.“, warnte sie finster und furchterregend langsam. Die Männer schluckten. Schweiß rann ebenso ihre Haut hinab wie ein eisiger Angstschauer. Doch da trat die blonde Frau vor sie und bedeutete ihnen mit einer Armbewegung, dass sie zurückbleiben sollten. Als Tochter Mirjanas hatten die Männer ihr ohnehin Folge zu leisten. Mit ihrem Ableben war sie nun in der Hierarchie zur Drachenpriesterin aufgestiegen, was bedeutete, dass ihre Anweisungen nicht infrage zu stellen waren. Einige Schritte ging sie auf das Mädchen zu.

    „Was willst du von mir? Willst du mich auch töten?“

    Zunächst erhielt sie keine Antwort. Ein letztes Mal atmete die junge Attentäterin aus, bevor sie behutsam einen Finger unter die Leinen vor ihrem Gesicht schob. Sehr langsam, als wollte sie übermäßige Vorsicht walten lassen, zog sie diese herunter. Sie offenbarte ihr Gesicht. Sie zeigte sich ihrem Gegenüber in vollem Antlitz. Ihre Züge waren weich, leicht rundlich. Ein schmaler Mund mit dünnen Lippen schien fest in einer tiefen, mürrischen Position festzusitzen und die Wangen zeigten einen leicht blassen Hautton. Sie war jünger, als man wohl vermutet hätte. Die tödliche Ausstrahlung und der finstere Blick hatten ein völlig anderes Bild erwarten lassen.

    „Nein“, antwortete sie missmutig, beinahe schon gezwungen, als wäre es eigentlich ihr Wille, sie doch zu meucheln. Das Echo ihrer nun nicht mehr gedämpften Stimme erklang im Heiligtum und ließ die Männer erstarren. Selbst diese eine Silbe, ruhig und vorsichtig gesprochen, vermittelten ein einschüchterndes Gefühl der Bedrohung. Ob dies wirklich auf Wahrheit gründete, sei dahingestellt. Doch das, was sie nun tun musste, war nicht das, wofür sie ihr Leben lang trainiert hatte. Es war ihre Pflicht, ein Akt nach dem die Ehre verlangte. Ein Weg, den sie um jeden Preis gehen musste. Und niemals, unter gar keinen Umständen, nicht in hundert Zeitaltern würde sie die Ehre der Assassinen und ihres Dorfes beschmutzen.

    Mit einer flinken Bewegung aus dem Handgelenk warf sie der Frau ihren Dolch vor die Füße, sodass er mit der Klinge im Boden stecken blieb. Dann zog sie den zweiten hervor und warf ihn genau daneben.

    „Dich am Leben zu lassen ist der Tribut, den ein jeder von uns Mirjana schuldet. Schließlich verdanken wir ihr unsere Existenz.“

    Ihre lautlosen, geschmeidigen Schritte trugen sie zu der Frau, bis sie ihr direkt in die Augen sah. Das Zittern zu unterdrücken viel dieser schwer, beim Anblick dieser so furchteinflößenden Rubine. Doch die folgende Reaktion hätte sie im Leben nicht für möglich gehalten.

    Der stolze Assassine ließ sich auf beide Knie fallen, senkte das Haupt und breitete beide Arme aus.

    „Beende mein Leben mit deinen Händen.“


    Eine geschlagene Minute herrschte entsetztes Schweigen. Die Amnestiespitze wurde zum Schauplatz des unfassbar Absurden. Ein Mädchen – jung genug um die Enkelin einiger Männer in der Drachengarde zu sein – stellte all die gestandenen Ritter innerhalb der Mauern mit ihren tödlichen Fähigkeiten bloß und ermordete die Anführerin Mirjana sowie ihre Leibwache. Doch zeigte sie nicht nur kein Interesse am Drachensplitter, sondern forderte nun die Tochter eben jener nun toten Frau auf, über sie zu richten?

    „Je länger du zögerst, desto lächerlicher fühle ich mich. Ich bitte dich, schlag endlich zu.“

    Die junge Mädchenstimme klang so monoton und ernüchtert wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie klang nach einem Menschen, der sich mit einem dunklen Schicksal abgefunden hatte.

    „Wieso tust du das?“

    Die neue Herrin der Drachengarde klang erschüttert. Sie war erstarrt. Die Hände halb erhoben, wusste sie nichts mit ihnen anzufangen oder auf diese Aufforderung zu erwidern. Schreckte sie davor zurück, dieses Mädchen aufgrund ihrer Jugend hinzurichten? Obwohl ihr Familienblut an ihren Händen klebte?

    „Ich befolge die Regeln, nach denen ich mein ganzes Leben gelebt habe und die mir dieses Ende von meinem ersten Atemzug an vorherbestimmten. Ich erwarte weder, dass du sie verstehst, noch werde ich dir irgendetwas darüber erzählen. Tu es einfach und schließe den Kreis.“

    Die Regeln. Sie schmeckten bitter auf der Zunge des Assassinen. Wahrlich war ihr Leben nie leicht oder fröhlich gewesen. Mit Blut war sie gestillt und mit Stahl getrieben worden. Darauf trainiert, Schmerz und Tod nicht bloß furchtlos entgegenzutreten, sondern beides freudig zu umarmen. Wie den geliebten Gatten, den sie nie haben würde. Diese Regeln hatten sie stark gemacht, hatten sie zu etwas Mächtigem geformt. Und letztlich war der Tod ein fairer Preis für die Tat, die sie begangen hatte. Sie hatte ein wertvolles Leben genommen. Zurecht hatte sie dies, sicher – und die Ehre dieses ruhmreichen Sieges würde ihr Herz bis zu seinem letzten Schlag erfüllen. Dennoch verlangten Regeln und Recht danach, eben weil es so wertvoll war, ihren Kopf darzubieten. Doch jener Herzschlag schien sich mehr und mehr hinauszuzögern.

    „Nun mach schon“, forderte sie nun bissiger.

    „Tut es, Herrin.“

    Die Männer im Hintergrund lösten sich allmählich aus ihrer Starre und hießen die Geste der Mörderin wohl willkommen. Kein Zweifel, die waren auf Rache aus.

    „Tötet sie. Sie hat unsere Kameraden und unsere Herrin ermordet. Dieses Mädchen verdient den Tod!“

    „Schweigt!“

    Das Echo des erbosten, zornigen Schreis der schwarz gekleideten hallte durch die Amnestiespitze. Die Männer zuckten erschrocken zusammen. Noch nie hatte die sonst so ruhige und besonnene Tochter Mirjanas ihre Stimme derart erhoben. Noch nie hatten sie Wut in ihr aufkeimen sehen. Und nun in diesem so schrecklichen Moment richteten sich eben diese Emotionen gegen ihre eigenen Leute, obwohl vor ihr die Mörderin ihrer Mutter kniete?

    „Aber...“

    „Verschwindet. Geht zurück zur Festung,“ unterbrach sie die Proteste harsch, ohne die Ritter dabei anzusehen. Doch noch zögerten jene. Unklarheit, ob sie dies wirklich ernst meinte, herrschte unter ihnen.

    „Na los!“

    Nach diesem einschüchternden Schrei sahen sie ein, dass Widersprüche sinnlos waren. Sie wurden im Keim erstickt und ganz plötzlich hatte jeder Einzelne von ihnen es sehr eilig, die Höhlen zu verlassen – wenn auch widerwillig. Zwei von ihnen halfen ihrem verletzten Kameraden auf die Beine und stützten ihn auf dem Weg nach draußen, wobei sie einen weiten Bogen um das kniende Mädchen machten. Voll Hass und Abscheu sahen sie auf sie herab, doch die schien es nicht einmal zu bemerken. Diese Männer waren nach wie vor nichts als Luft für sie.

    Die darauffolgende Stille war erdrückend für den Assassinen. Wieso tat diese dumme Frau nicht, wonach sie verlangte und tötete sie einfach?

    „Hast du einen Namen?“, fragte sie das Mädchen nun im Schutz der Einsamkeit. Sie jedoch schüttelte den noch immer gesenkten Kopf.

    „Ein früher Tod ist seit jeher mein Schicksal. Ein solch kurzes Leben verdient keinen Namen. Daher habe ich ihn bereits abgelegt.“

    Nun hockte sich die Frau vor dem Körper, der mit dem Blut ihrer eigenen Mutter besudelt war. Sie wirkte fürsorglich, gutherzig. Mit ihrer Hand hob sie das Kinn des Mädchens und sah ihr in die Augen. Hatten ihr diese zuvor noch Angst bereitet, erregten sie nun Mitleid. Denn die Rubine hatten jeglichen Glanz verloren. Das Gesicht, in das sie blickte, schien bereits tot.

    „Und wenn ich dir nun sage, dass ich dein Leben verlängern will?“

    Die Worte, die eigentlich Hoffnung und Freude in ihr hätten auslösen sollen, schienen sie jedoch überhaupt nicht zu erreichen. Gar blickte sie abgeneigt, verärgert, und noch ein wenig leerer.

    „Absurd! Töte mich einfach. Ich habe dir etwas unsagbar Wertvolles genommen und schulde dir dieses Leben. Lass mich nicht mit solch einer Schuld weiter existieren.“

    Konnte oder wollte sie es nicht begreifen? Mirjana war ihrer aller Rettung gewesen, eine Heilige, die von einem gewissenlosen Assassinen ermordet worden war. Das war eines der höchsten Verbrechen, die man begehen konnte und es stand der Erbin Mirjanas zu, über sie zu richten, um ihrer Mutters Seele Genugtuung zu verschaffen.

    Wie paradox es dennoch war. Der Assassine sprach von einer solch hinreißenden Bindung von Mirjana und ihrer Tochter, als wäre diese für sie nachzuempfinden. Doch war ihre eigene Mutter für sie bereits vergessen. Gar hatte sie ihr bei ihrem letzten Zusammensein schier grundlos gedroht. Und auch jetzt fühlte sie keinerlei Wärme beim Gedanken an diese Person. Sie war einfach nur ein Mensch, der sie zur Welt gebracht hatte – nicht mehr. Dies machte sie in keiner Weise besonders.

    Sie erntete allerdings für ihre Forderung ein entschiedenes Kopfschütteln. Es erfüllte das Mädchen mit Unbehagen, dass diese Frau ihr so tief in die Augen sah, nun da sie den abschreckenden Ausdruck darin verloren hatte und nicht wiederfinden konnte. Sie fühlte sich schutz- und hilflos.

    „Kein Leben hat ein frühes Ende verdient. Jeder verdient die gleiche Chance, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Wenn du mir dein Leben schenken willst, würde dich zu töten nur bedeuten, es wegzuwerfen. Und wenn dir diese Chance nie gegeben wurde, so werde ich diese Tür für dich öffnen.“

    Spöttisch schnaubte das Mädchen nun. Diese närrische Idiotin. Hatte sie auch nur die leiseste Ahnung, was sie da sagte? Und vor allem zu wem sie es sagte? Doch aus irgendeinem Grund wollten keine harschen Worte über ihre Lippen kommen. Dabei wäre es vielleicht nicht unklug, sie zu provozieren, damit sie ihr endlich den Kopf abschlug. Doch etwas in ihrem Inneren hielt sie davon ab, diese Frau zu beleidigen. Etwas verbot es ihr und sie fühle sich nicht imstande, dieses Verbot zu brechen.

    „Warum solltest du das wollen?“, fragte sie schließlich, anstatt sie die Tochter einer verblendeten Hure zu nennen. Dabei regte sich in ihrer Stimme sogar fast ein Hauch von Demut, Respekt, aber auch unaussprechliche Hoffnungslosigkeit.

    „Ihr seid eine Gemeinschaft, die beschützen will. Ich dagegen bin zum Töten gut.“

    „Gleich welches Gesicht unsere Stärke hat, kann damit Gutes vollbracht werden. Und deine Regeln interessieren mich nicht im Geringsten. Ich lebe nach den meinen und diese verbieten mir, dein Leben hier zu beenden.“

    Nun richtete sie sich wieder auf und sah auf das Mädchen hinab. Jenes beobachtete sie nun genauestens, erwartete zeitgleich ungeduldig ihr Schicksal. Doch ihr Blick war nicht geringschätzig oder herablassend. Er versuchte ihr Zuversicht zu schenken, war voller Güte und Offenheit. Und so streckte sie ihr die offene Hand entgegen, forderte auf, sie zu ergreifen und sich zu erheben.

    „Lebe dieses Leben stattdessen an meiner Seite.“