Der Zorn des Himmels

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  • Kapitel 46: A night out


    Gerne hätte Ryan noch ein letztes Wort mit Cody gewechselt. Hätte sein durchaus respektables Ergebnis gewürdigt und ihm zum Abschied auf die Schulter geklopft. Doch nach der Bekanntgabe der Achtelfinalisten war er nicht mehr auffindbar gewesen. Ironischerweise war Ryan nun, ein paar Stunden später, gar nicht mal mehr unglücklich über diese Tatsache. Sonst würde er sich jetzt wie ein Heuchler vorkommen, da er jemanden für seinen 18. Platz gelobt hätte, während er noch vor ein paar Monaten einen zweiten Rang und viel stärkerer Konkurrenz als wertlos erachtet hatte. Und ein bisschen tat er das noch immer. Der zweite war der erste Verlierer – so hatte er selbst es stets angesehen. Vielleicht zu lange, um es nochmal zu ändern. Was er ändern konnte, geändert hatte, war die Art, wie er mit einem zweiten Platz umgehen würde.

    Ryan verzettelte sich in vielerlei Gedankengängen, sodass er sich irgendwann kaum noch erinnern konnte, wie er zu ihnen gelangt war. Gedanken über sich selbst, seine vergangenen Turniere, das momentane, seine mentale Einstellung zu verschiedenen Dingen oder auch seine Begegnungen mit anderen Trainern. Cody war da zugegebenermaßen nicht von solcher Tragweite wie Audrey oder Terry, aber dennoch trug der Blonde den Wunsch in sich, eines Tages wieder gegen ihn zu kämpfen. Wenn er die Gelegenheit hatte, Erfahrung zu sammeln und stark zu werden.

    „Du bist ziemlich still.“

    Melody stellte dies sehr leise fest, wollte eigentlich gar keinen Grund erfahren, warum Ryan das war. Sie machte sich lediglich Sorgen, dass er sich in negativen Gedanken verirrte. Sie – Ryan, Melody, Andrew und Sandra – saßen in der verqualmten Kneipe von Pete. Der hatte nicht schlecht zu tun mit seiner Besucherschaft, obwohl es nicht sonderlich viele waren. Nur viel Durst hatten sie. Und er kümmerte sich um seine Sondergäste nicht mehr oder weniger aufmerksam, als um den Rest.

    „Ich denk an morgen“, tat er die Anspielung ab. Damit log er nur ein bisschen, denn teilweise führten ihn seine Gedankengänge wirklich an den zweiten Turniertag. Oder eher an mögliche Verläufe und Gegner.

    Sie hatten sich nicht aus einem bestimmten Grund bei Pete eingefunden. Mila und Sheila waren nicht einmal hier. Es hatte die vier ganz einfach wenig gereizt, den Abend im Pokémoncenter zu verbringen. Jene unter ihren Partnern, die heute gekämpft hatten, unterzogen sich gerade einigen Routinechecks, aber mit irgendwelchen Hiobsbotschaften war eigentlich nicht zu rechnen.

    „Deine Vorgehensweise war eine andere, als noch in meiner Arena“, begann Sandra und unternahm damit einen Versuch, seiner Schweigsamkeit entgegenzuwirken. So wollte sie ihn nicht sehen müssen und er tat sich auch selbst keinen Gefallen, wenn er pausenlos grübelte. Während ihrer Trainingstage im Wald außerhalb von Graphitport hatte er doch selbst erlebt, wie man sich selbst unter mentalem Druck zugrunde richten konnte. Er sollte sich selbigem nicht auch noch hier aussetzen.

    „Ich bin´s eigentlich gewohnt, den Gegner zu steuern und auflaufen zu lassen. Das hab ich mich aber in den wenigsten Arenen getraut“, erklärte er schulterzuckend. Schon ironisch, dass gerade die Person mit der wenigsten Erfahrung von der Materie hier Ratschläge geben wollte. Und dann nicht mal besonders clevere.

    „Never change a running system, Ryan. Noch nie gehört den Spruch?“

    So einfach war´s dann nun auch wieder nicht. Es gehörte schon mehr zum Gewinnen, als ein einziges, gutes Rezept zu finden und immer zu wiederholen. Man musste sich unaufhörlich weiterentwickeln.

    „Na, na, bisschen anpassungsfähig muss man schon sein.“

    Die beiden stichelten und neckten sich fast ununterbrochen, wenn Melody ihn denn mal aus seinen geistigen Monologen zu entführen vermochte. Die waren ganz schön verknallt. Ein kurzer Augenkontakt verriet, dass sowohl Andrew als auch Sandra diesen Gedanken teilten.

    „Ich sag´s nicht allzu gerne, aber der Erfolg gibt Ryan schon Recht“, merkte Andrew an und lehnte sich zurück. Der zuckte mit den Schultern.

    „Wollte einfach nicht zu vorsichtig sein und dem Gegner das Feld überlassen, verstehst du? Gegen die meisten Trainer kann ich mir das erlauben, aber in der besten Arena Johtos kann man doch nicht so passiv auftreten.“

    Das fasste die Drachenmeisterin durchaus als Lob auf. Egal, ob Ryan es beiläufig oder sehr bewusst aussprach, diese Worte von ihm zu hören machte sie stolz. Gerade nach den letzten Tagen und Wochen schätzte sie sowohl seine Fähigkeiten als auch seinen Charakter immens. Das ließ sie ihn wissen, indem sie ihr Glas in seine Richtung erhob.

    Nach einem nicht allzu tiefen Schluck fiel ihr etwas anderes ein, das sie ihn und auch Andrew schon längst hatte fragen wollen.

    „Wenn ihr beide die Wahl hättet, gegen wen würdet ihr morgen gerne antreten?“

    „Terry.“

    Die Arenaleiterin hatte kaum ausgeredet, ehe die Antwort gefallen war. Ryan hatte nicht einmal überlegt. Es war eine unbewusste Reflexreaktion, auf solche Fragen den Namen seines Erzrivalen zu nennen. Genau wie auf die Frage, wen er am liebsten in einem See voller Garados versenken wollte.

    Andrew lachte trocken über die Antwort. Darauf hätte er sein letztes Hemd verwettet. Weniger sicher wäre die Frage nach der Wahl seiner Pokémon, sollte dieser Fall eintreffen. Stellen wollte er diese Frage aber nicht. Die Überraschung wollte er sich beibehalten.

    Worüber Ryan dann wiederum nachdachte, war die restliche Liste seiner Wunschgegner. Und diese auszusprechen, ließ ihn dann doch geradezu provokant schmunzeln.

    „Und Audrey. Und natürlich euch beide.“

    Er zählte langsam auf. Als plane er den Verlauf nach seinem Willen im Kopf. Damit stichelte er quasi gegen alle seine Freunde und potenziellen Gegner. Was ihn zum letzten Namen auf der Liste brachte, welcher den Frohsinn gleich wieder aus seiner Mimik verbannte. Gar wirkte er gleich noch ernster und energischer.

    „Und Bella.“

    Ryan wünschte noch im selben Moment, er hätte sich diesen letzten Namen verkniffen. Ihn auszusprechen war von keinem Nutzen, ließ lediglich die Stimmung ins Negative kippen. Allerdings sollte das schon Sekunden später eh hinfällig sein.

    Mit einem leisen Quietschen kündigte die aufgestoßene Eingangstür einen neuen Gast an. Leise und überlegene Schritte führten selbigen an den ersten Tischen vorbei und vor die Bar. Auf dem kurzen Weg dahin sah fast jeder Mann ihr hinterher, wollte den eleganten Hüftschwung, die schlanke Figur oder das Nachtschwarze Haar so lange wie möglich bestaunen.

    Andrew war von allen am Tisch wohl am wenigsten abergläubig, doch das hier fühlte sich wirklich so an, als habe Ryan sie heraufbeschworen.

    „Leck mich doch“, stammelte er leise und ungläubig über den Anblick. Sie hatte ihn unmöglich hören können, doch die Bernsteinfarbenen Augen huschten zur Gruppe herüber, als hätte sie es doch getan.

    Bella schenke ihnen ein verschmitztes Lächeln, aber mehr auch nicht. Sie ging nicht auf sie zu, sprach sie auch nicht an. Wenn es sich nicht um eben die Agentin des Schwarzen Lotus handeln würde, wäre keiner auf die Idee gekommen, sie würde ihnen sonderlich Beachtung schenken. Aber dass sie sich unter allen Bars in Graphitport ausgerechnet diese aussuchte, konnte kein Zufall sein.

    „Ist das…“

    Melody vollendete die Frage nicht. Die Blicke waren Antwort genug. Es war die Turnierteilehmerin, von der ihr erst vorhin erzählt worden war und die im Dienst von Team Rocket stand. Was in Arceus verfluchtem Namen wollte die hier? Diese Frage wiederum sprach keiner aus, da sie ohnehin jeder dachte. Ryan überkamen sogleich diverse böse Vermutungen. Er begann sich unter den anderen Gästen umzusehen.

    „Sind hier noch mehr…?“, überlegte er. Keiner verhielt sich auffällig. Weder erkannte der junge Trainer irgendwelche verräterischen Signale, noch schien sich jemand von ihrer Ankunft geradezu verdächtig unbeeinflusst zu stellen. Sandra war in dieser Frage schon einen Schritt weiter.

    „Sicher nicht. Die sind zu betrunken oder haben sie zu lüstern gemustert. Außer uns kennt sie keiner hier.“

    In der Tat würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Partner oder Untergebener der Agentin sich weder volllaufen lassen, noch ihr so eifrig hinterherstarren. Bella entging die sofort angestiegene Wachsamkeit der Gruppe natürlich nicht. So sie sich auch arglos und unbehelligt gab, hatt sie immer ein Auge auf sie. Doch scheren tat sie sich scheinbar auch nicht darum. Sie amüsierte sich nur einen Moment daran, ehe sie sich einen Barhocker schnappte und darauf niederließ. Ihre Augen wanderten anschließend regelrecht verträumt durch die Regale, die sich an der Wand vor ihr ausbreiteten. Schnäpse, Wodka, Rum, Sake, Weine und Liköre der besten Sorten. Selbst sie würde es wohl nicht schaffen, sich durch alle durchzuprobieren, nach denen ihr gelüstete. Hier lagerte wahrlich alles, was ihr Herz oder eher ihre Leber begehrte. Was ihr Herz anging, so würde aller Alkohol dieser Welt nicht jedes ihrer Verlangen Stillen können.

    Ein recht adretter Barkeeper schien sich fast genötigt, sie aus ihrem verträumten Zustand zu reißen, indem er keck mit ausgebreiteten Armen die Handflächen auf die Theke klopfte. Allerdings nicht zu fest oder aggressiv.

    „Was darf´s sein, Lady?“, fragte Pete charmant. Ryan war äußerst neugierig, wie er der Agentin gegenübertrat und beobachtete ihn sehr genau. Sein Pokerface war absolut tadellos. Wüsste er es nicht besser, wäre er davon ausgegangen, er habe nicht die geringste Ahnung, wen er vor sich hatte. Natürlich wusste er das allzu gut.

    „Die Auswahl ist üppig“, seufzte sie sehr zufrieden und ließ sich mit der Entscheidung Zeit. Sie musste wohl überlegt sein. Währenddessen kreiste ihr Zeigefinger verspielt auf dem Tresen.

    „Ich denke, ich fang mit einem Gin an.“

    „Ein bisschen konkreter werden sie schon sein müssen, Lady.“

    Wie von allem anderen auch hatte Pete hiervon mehr als eine Sorte auf Lager. Bella schien diese Neuigkeit sehr zu gefallen. Ihr süffisantes Lächeln hätte wohl die meisten Männerherzen zum Schmelzen gebracht. Es gab einem das Gefühl, gejagt zu werden – mit dem Unterschied, dass man nichts Böses zu befürchten hatte, wenn man erwischt wurde. Eher durfte man das Gegenteil erhoffen.

    „Dann hab ich die richtige Bar ausgesucht.“

    Er ließ sich kein bisschen aus der Ruhe bringen. Und es machte Bella durchaus Spaß, ihn bei seinem Schauspiel zuzusehen. Selbstverständlich hatte auch sie seine Visage nicht vergessen. Obwohl er in den Wäldern bei ihrem Hinterhalt nur eine Randfigur gewesen war.

    „Gib mir, was du trinken würdest, Pete.“

    Sie hatte nicht auf sein Namensschild geschaut und das war ihm auch absolut klar. Dennoch konnte er allein durch die Tatsache, dass er es ausnahmsweise mal trug, so tun, als wäre es doch der Fall und die Scharade bedenkenlos fortsetzen. Die Genugtuung würde er ihr nicht verschaffen, als der Freund ihrer Feinde aufzutreten, der er war.

    „Und nenn mich Bella“, warf sie noch ein, als Pete sich gerade umdrehen wollte. Dabei lehnte sie sich aufdringlich nach vorn, sodass er ihre Worte selbst im Flüsterton noch genau hören konnte. Nebenbei wäre hier wohl so ziemlich jedem Mitglied des männlichen Geschlechts der Blick in Richtung ihres Dekolletés entwischt. Nicht so bei Pete. Diese Schauspielkunst verdiente einen Preis.

    „Ich bin so einiges, aber sicher keine Lady.“

    Er setzte weder das charmante Lächeln auf und neigte das Haupt ein wenig, als würde er ihren Wünschen nur allzu gerne nachkommen und ihren Small Talk obendrein sehr genießen. Tatsache war, dass er ihr das gewünschte Getränk gerne in Verbindung mit einem Feuerzeug überbringen würde.

    Nur wenige Meter weiter hatte man die Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum Bella hier war, inzwischen aufgegeben. Es stand mittlerweile eine andere im Raum, die sich allerdings als ähnlicher Brocken entpuppte.

    „Was machen wir jetzt?“

    Dass ausgerechnet Ryan jene Frage aussprach, förderte nicht gerade die Zuversicht. Er war der einzige hier, der mit ihr schon einmal Kontakt gehabt hatte. Gerade Melody spürte die Nervosität in sich aufsteigen und hätte nichts lieber getan, als augenblicklich das Feld zu räumen. Doch selbst sie befand, dass dies eine schlechte Entscheidung wäre. Sie durften sich Bella gegenüber nicht so schwach und ängstlich zeigen. Schon gar nicht, wenn sie nicht einmal Drohungen vermittelte.

    Ryan hatte bei seinem kurzen Gespräch mit ihr während des Turniers nicht das Gefühl gehabt, dass sie damit ein konkretes Ziel hatte verfolgen wollen. Es hatte kein Sinn oder Anlass darin bestanden. Er schätzte, dass sie den Kontakt aus eigenem Interesse gesucht hatte. Konnte gut sein, dass ihr diese Spielchen lediglich Vergnügen bereiteten und ihr das schon reichte.

    „Ihr könnt gern weiter überlegen“, stellte Andrew unerwartet klar und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Er wünschte gerade, er hätte das Zeug nicht mit Cola gemischt. Die Verdünnung behinderte sein Ziel, sich Mut anzutrinken.

    „Aber ich geh zu ihr rüber.“

    Er eilte sich, aus der Reichweite von Sandra und Ryan zu entkommen, um nicht von ihnen aufgehalten zu werden. Mit Gewissheit würden sie das tun und wäre er an ihrer Stelle, würde er das ebenfalls. Um es klar zu sagen, Andrew hielt es selbst für eine schlechte Idee und wusste selbst nicht, warum er sich dazu entschied. Doch er hatte durch die Begegnung in den Wäldern sowie den Erzählungen von Ryan und Mila eine vage Vermutung, wie diese Frau tickte und wenn er wenigstens halbwegs richtig lag, würde sie heute Abend keinen Angriff wagen. Er vermutete stark, dass sie auf so einen nicht einmal aus war, selbst wenn sich die Gelegenheit bot. Schon gar nicht auf ihn. Wer war er denn schon in all diesem Zirkus? Verglichen mit Ryan oder Mila war er ein Niemand. Und darüber war er gar nicht mal unglücklich.

    Tatsächlich wurde nicht einmal versucht, Andrew aufzuhalten. Bis alle sichergestellt hatten, sich nicht verhört zu haben, war diese Option bereits dahin und er zog den Barhocker direkt neben Bella zu sich.

    „Ist der frei?“

    Für einen Augenblick verlor Pete sein von Ryan still gepriesenes Pokerface. Zu seinem Glück war die Agentin ebenfalls zu überrascht und abgelenkt durch den jungen Trainer. Sie zog eine Braue hoch und sah keineswegs abgeneigt, ja geradezu verspielt zu ihm hoch. Wenn es auch nur ein Seitenblick war. Ihr Glas roch bereits auf die Entfernung viel zu stark für ihn, aber er ignorierte das Stechen in seinem Geruchsorgan. Andrew blickte sehr nüchtern in ihre bernsteinfarbenen Augen. Schenkte ihr weder ein Lächeln noch einen kleinen Funken Höflichkeit – abgesehen von der Tatsache, dass er gefragt hatte, anstatt sich einfach zu setzen.

    „Jetzt nicht mehr, wie´s aussieht“, schmunzelte sie und leerte ihr Glas in einem Zug. Wie stellte sie das an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken?

    „Sehr gut. Gib uns zwei davon“, orderte sie, ohne Pete anzusehen. Vielleicht würde der Abend doch noch mehr außer Getränken zu bieten haben. Der Barkeeper zögerte eine Sekunde, befand aber, dass er Andrew nicht derart bloßstellen konnte, dies auszuschlagen. Widerwillig und mit einem scharfen, warnenden Blick in Richtung des Jungen fischte er nach einem zweiten Glas und füllte zu einem Drittel auf. Zumindest beim ersten. Das zweite, wurde ganz voll gemacht, da Bella mit der Hand nachlangte und die Flasche geneigt hielt, bis sie zufrieden war. Auch hierbei hafteten ihre Augen eisern an Andrew. Ein Teil von ihm befürchtete fast, sie würde ihm das volle Glas reichen, doch schob sie ihm jenes zu, das mit weniger giftigen Mengen gefüllt war. Die Hand, mit der sie das tat, war um den Knöchel und die Kante bandagiert. Zweifellos das Andenken an Sheilas Klinge.

    „Geht auf mich.“

    Er bedankte sich nicht. Einen Moment überlegte er sogar, ob er überhaupt trinken sollte. Er hatte genau ein Mal hochprozentigen Alkohol getrunken und war minder begeistert gewesen. Obendrein war er streng genommen noch ein paar Monate zu jung, um dies legal tun zu dürfen, doch hier und jetzt konnte das natürlich keine Rolle spielen. Hatte es beim ersten Probieren schließlich auch nicht.

    Andrew setzte sich zur Bar gerichtet und vermied es, Bella direkt anzusehen. Dass sie ihn zum Anstoßen aufforderte, war allerdings unmöglich zu ignorieren. Und dieses süffisante Lächeln, mit dem sie das tat. Es war echt zum Kotzen. Jedoch würde es wohl wenig bringen, ihr kontinuierlich die kalte Schulter zu zeigen. Im besten Fall würde ihr dieses Spiel dann im Nu langweilig und er könnte sich genauso gut wieder verziehen. Im schlimmsten Fall bereitete er ihr damit noch mehr Amüsement.

    Selber anstoßen wollte er dennoch nicht, aber er gestattete der Agentin, es bei ihm zu tun. Andrew fackelte nicht lange und stürzte den Großteil von seinem Gin flott hinunter, damit nicht der Eindruck entstand, sie genossen hier wirklich zusammen bloß ein paar Drinks. Gemeinsam… wie Freunde. Bei dem Gedanken wurde ihm übel. Bei dem Geschmack auch fast. Schmeckte sehr bitter das Zeug und es schüttelte ihn von oben bis unten. Er konnte es geradeso vermeiden, komische oder gar peinliche Laute zu machen. Bella kicherte schadenfroh.

    „Stärker als das, was du sonst trinkst?“

    Nun war er es, der ihr einen Seitenblick, aber ja nicht mehr schenkte. Und ohne Lächeln.

    „Bisschen.“

    Sie dagegen genoss das Gesöff richtig, leerte diesmal aber nur knapp die Hälfte, was ob der Füllmenge noch immer weit mehr war, als Andrew probiert hatte. Nun, da er den Geschmack kannte, bildete sich der junge Trainer ein, ihn allein durch den Anblick schon wieder im Rachen zu schmecken. Er wünschte, er hätte was zum Runterspülen.

    „Genießt du das Turnier?“, fragte Bella aus heiterem Himmel und schlug das rechte Bein über das linke, während sie mit dem Ellenbogen an der Theke lehnte. Sie wandte sich ihm ganz zu. Von außen musste es fast aussehen, als sei sie in mehreren Aspekten... stark interessiert an dem Pokémontrainer.

    „Mhm, macht Spaß“, antwortete er knapp. Seine Stirn lag in Falten. Hatte sie aus reiner Neugier gefragt? Sein Verstand sagte ihm natürlich, dass das unmöglich sein musste, doch sein Gefühl vermittelte genau diesen Eindruck. Es war keine Spitze, keine Anspielung oder verborgene Drohung zu erkennen. Der Verdacht erhärtete sich, als sie sich locker zurückfallen ließ und erheitert auflachte.

    „Nicht wahr? Ich liebe es, hin und wieder mit Amateuren zu spielen.“

    Eine sadistischere und widerwärtigere Antwort hätte man sich kaum ausdenken können. Sie machte ein Gesicht, als bemerke sie dies gerade und fasse es nicht, dass sie es laut ausgesprochen hatte. Tatsächlich ging es ihr aber um etwas Anderes.

    „Tschuldige. Dich mein ich natürlich nicht. Keinen von euch.“

    Auch hier klang sie absolut ehrlich.

    „Danke, dass du uns nicht zum Bodensatz zählst“, erwiderte Andrew bloß nüchtern. Hoffentlich ließ sie die Gelegenheit aus, ihn hier auf´s Korn zu nehmen. Schon im nächsten Moment ärgerte er sich, war geradezu fassungslos, dass er ihr solche Vorlagen gab. Er musste aufpassen, dass er sich nicht von ihrer lockeren Art – fast hätte es Ehrlichkeit genannt – aus dem Konzept bringen ließ.

    Wie sah das Konzept eigentlich aus? Oder der Plan? Der Sinn? Nichts davon hatte er vorliegen gehabt, als er sich erhoben hatte.

    „Jetzt hör aber auf. Ich freu mich total auf morgen. Hatte lange keine Herausforderung. Ich versprech mir einiges von euch.“

    Ihr Mundwerk plapperte absolut lose. Aber nicht vom Alkohol. Ungeachtet der Stärke dieses Zeugs traute er ihr das nach so kurzer Zeit nicht zu. Nein, sie war einfach unbekümmert und offen. Was kein gutes Zeichen sein konnte, denn das bedeutete, dass sie in Andrew und seinen Freunden keine Bedrohung sah. Das wäre zumindest die logische Auslegung, die man treffen sollte, wenn man auf der Hut war. Doch der junge Trainer konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie gar nicht an all das dachte. An Team Rocket, den Schwarzen Lotus, Rayquaza. Man könnte glatt meinen, sie habe vergessen, dass sie Feinde waren.

    „Ich geb mein Bestes, dich nicht zu enttäuschen“, murrte Andrew diesmal etwas zynisch und nippte an seinem eignen Getränk, womit es auch schon leer war. Schmeckte plötzlich viel schwächer. Bellas Grinsen verriet, dass sie die versteckte Kampfansage erkannte, jedoch keineswegs missmutig aufgriff. Das Versprechen gefiel ihr sogar.

    „Hast du dich deshalb vom Schwarzes Lotus anheuern lassen? Weil du die Herausforderung suchst?“

    Einige Sekunden war es still zwischen den beiden. Pete hatte aus ein paar Metern Abstand noch vage vernommen, was über Andrews Lippen gekommen war und er könnte ihm für die Dummheit sofort eine Flasche auf dem Kopf zerschmettern. Aber nun waren die Worte raus.

    Bella schien jedoch nichts aus der Ruhe bringen zu können. Lediglich ihre Heiterkeit wurde etwas gebremst. Und Andrew konnte den Grund dafür kaum fassen, als die Agentin ihn nannte.

    „Warum wollen alle, mit denen ich einen trinken gehe, ständig über meine Arbeit reden?“, seufzte sie ernüchtert. Sie dachte an Eaves zurück, machte sich aber schnell daran, diese Gedanken zu ertränken, indem sie ihren Gin schon wieder leerte. Andrews Brauen zuckten daraufhin und beinahe schüttelte es ihn allein bei dem Anblick erneut. Die war echt ein Monster am Glas.

    „Keiner will einen gemütlichen Abend lang einfach nur mein Saufpartner sein.“

    Der Grund hierfür war in diesem Fall offensichtlich und Andrew wollte ihn gerade offenlegen. Da ertappte er sich erneut bei dem Gefühl, dass Bella hier keine Spielchen spielen oder jemandem auf den Zahn fühlen wollte. Sondern, dass sie eben genau das, einen gemütlichen Abend und sonst nichts im Sinn gehabt hatte, als sie eingetreten war. Er wandte den Blick kurz ab und seufzte fast reumütig.

    „Tut mir ehrlich leid.“

    Das Wort ehrlich fügte er nicht grundlos hinzu. Später würde er sich jedoch nicht mehr beantworten können, warum er es gewählt hatte.

    „Aber in dieser Hinsicht muss ich dich enttäuschen.“

    „Mach dir keinen Kopf“, winkte sie noch beschwichtigend ab, als Andrew sich schon erhob. Dass er mit einem miesen Gefühl von dannen zog, war nicht in ihrem Interesse und sie zog auch keinen Vorteil daraus. Es gab keinen Grund für böses Blut zwischen ihnen. Nicht hier und heute Abend. Wenn es nach ihr ginge, gab es den selbst morgen nicht. Es geschah hier schließlich nichts Persönliches. Es war einfach nur ihr Geschäft.

    „Andrew.“

    Er stoppte tatsächlich, als sie ihm nachrief. Pete lugte über die Schulter und auch Andrews Freunde sahen mittlerweile alle rüber. Keiner machte sich mehr Gedanken, wie offensichtlich sie starrten oder ob die Agentin das mitbekam.

    „Ich versteh dich vollkommen, aber trotzdem hätte es ein toller Abend werden können.“

    Sie hob ihr Glas noch einmal in seine Richtung. Er sah lediglich aus dem Augenwinkel zurück, vernahm die Geste aber eindeutig und hätte sogar um ein Haar in bitterer Zustimmung genickt.

    „Ich find dich gut“, fügte Bella schmunzelnd an und schenke ihm noch ein Zwinkern. Ein paar Mal blinzelte er baff, gab sich sonst aber keine Blöße. Diesmal war er fast sicher, dass sie ihn aufzog. Eigentlich wollte er dahinter auch etwas Hämisches oder Herablassendes erkennen, woran er allerdings erneut scheiterte. Sie triezte ihn verbal, kumpelhaft. Jedoch blieb er nicht lange stehen. Was er sich von diesem so kurz ausgefallenen Gespräch erhofft hatte, wusste höchstens Arceus. Vielleicht nicht einmal der. Aber Andrew hatte wenig Zweifel daran, dass Bella heute wirklich nur hatte trinken wollen und ihr leichtsinniger, durchaus verrückter Charakter ihr keinen Grund hatte finden können, dafür nicht die Bar ihrer Feinde aufzusuchen. Vielleicht war die Tatsache, dass sie Pete gehörte, sogar einer der Gründe, warum ihre Wahl auf eben diese gefallen war.

    Bella sah wenigstens für eine Sekunde etwas frustriert hinter Andrew her. Zu schade, dass er die Umstände nicht für ein paar Stunden beiseiteschieben konnte, aber nachvollziehbar war das durchaus. Wären jene Umstände anders gewesen, hätte er sich vielleicht auf sie eingelassen und gäbe es Sheila nicht, wäre sie dem ebenfalls alles andere als abgeneigt. Eventuell auch über das Trinken hinaus. So blieb ihr leider nur das Eine.

    „Pete, deinen stärksten Rum. Hier herrscht Flüssigkeits-Defizit“, rief sie, ohne den Blick zu dem Barkeeper zu suchen. Der brauchte einen Moment, um sich aus der Starre zu lösen – und die Waffe, die er unter dem Tresen versteckt hatte, wieder aus seiner Hand zu legen. Mit einer Leiche sollte der Abend ganz gewiss nicht enden. Er wollte lediglich sichergehen, dass es für den Fall aller Fälle Bellas Leiche wäre. Sollte sie ihn jedoch nicht dazu zwingen, ließ er sich lieber seine Kasse von ihr füllen.

  • Kapitel 47: Auffällig unauffällig


    Die Atmosphäre im Prime Stadium war mit dem Vortag in keinster Weise zu vergleichen. Die Ränge waren scheinbar restlos gefüllt und Stadionsprecher Cay hatte Schwierigkeiten, gegen ihre gesammelte Stimmgewalt überhaupt Gehör zu finden.

    Auch zwischen den Teilnehmern des Achtelfinals wehte nun spürbar ein anderer Wind. Die hatten sich, wie schon bei der Eröffnung, vor der Haupttribüne aufgereiht und warteten auf die Bekanntgabe der Begegnungen, die von hier an jede Runde auf´s Neue per Zufall ausgelost und über die Videoleinwand mitgeteilt wurde. Die wenigsten strahlten Gelassenheit aus. Fast jeder schien sich gedanklich mindestens mit einem der benachbarten potentiellen Gegner zu beschäftigen. Sandra, Ryan, Terry und auch Andrew – keiner dieser vier konnte ein Wunschgegner der übrigen Trainer sein. Mit einer Ausnahme natürlich.

    „Oh yes, gleich sind wir soweit. Und sieh sich einer nur die Qualität an, die da unten auf dem Feld steht“, frönte Cay, wobei man nicht den Eindruck gewann, der mache hier bloß seinen Job und versuche die Menge mit seiner Euphorie anzustecken. Der Mann war wirklich heiß auf die kommenden Kämpfe.

    Die Qualifizierten waren von links nach rechts ihrem Rang entsprechend von Nummer 16 bis Nummer 1 aufgereiht. Was bedeutete, dass Bella sich an zweiter Stelle direkt neben Sandra als Führende und dem drittplatzierten Ryan wiederfand. Und gerade letzteren beäugte sie unentwegt mit verspielter Gier. Andrew hätte gerne einen Versuch unternommen, ihrem Blick zu trotzen, sollte er mal auf ihn fallen, aber der stand leider ein bisschen zu weit abseits. Ryan allerdings konnte ihren bernsteinfarbenen Augen nicht entkommen und es amüsierte sie, dass er stur geradeaus zu sehen versuchte. Er hielt sich wacker, war aber definitiv angesäuert.

    „Arenaleiterin Sandra aus Johto hat den Vorrunden echt ihren Stempel aufgedrückt und sich die Pole Position geholt.“

    Was dieser Rang am Ende wert sein sollte, blieb abzuwarten. Ob man sich auf diesem oder auf dem letztmöglichen qualifizierte, war fast einerlei, da im Achtelfinale theoretisch jeder auf jeden treffen konnte. Damit es aber einen Anreiz gab, wurde zumindest für´s Achtelfinale nicht mit huntertprozentigem Zufallsverfahren ausgelost. Je höher man platziert war, desto größer war die rechnerische Chance, auf einen Gegner der unteren Regionen zu treffen. Nur eine erhöhte Prozentchance. Letztendlich gab es keine Garantie.

    „Dahinter eine Newcomerin, die für richtig Wirbel gesorgt hat. Bella Déreaux steht hier bei ihrem allerersten offiziellen Turnier in der Spitzengruppe. Und das bei dieser Konkurrenz! Auf die Wunderkiste freu ich mich besonders. Ich meine, wer liebt so eine Story nicht?“

    Ryan würde hierauf zumindest in diesem speziellen Fall gerne die Hand heben.

    „Den Jungen daneben kennen da schon mehr, aber Carparso hat bislang ausschließlich auf neue Pokémon gesetzt. Kaum zu glauben, dass er seit der Silberkonferenz mehrere Neulinge soweit herantrainiert hat, um hier so eindrucksvoll mitwirken zu können. Ich bin gespannt, ob wir dennoch ein paar seiner bekannten Pokémon sehen werden.“

    In Gedanken beantwortete er das bereits, aber dann drifteten selbige für ein paar Sekunden, in denen Cay sich daran schickte, auch Trainer wie Andrew, Audrey und natürlich Terry sowie deren bisherige Duelle hervorzuheben, ein wenig ab. Grund dafür war der süße Rotschopf, der es durch stundenlanges Anstehen geschafft hatte, diesmal einen Platz in der ersten Reihe zu finden. Nun konnte Ryan sie immer finden, wenn er auf dem Feld stand und das gab ihm einen zusätzlichen Schub an Kraft und Motivation. Für sie – und zu einem geringen Teil auch für das gesamte Event an sich – hatte er wieder seine Kleidung von ihrem Rendezvous, bestehend aus Tribal Shirt und Sommerweste gewählt. Ja, er müsste schon lügen, wenn er behaupten wollte, sie hätte hier keinerlei Einfluss auf ihn.

    Einige Momente später war es endlich soweit. Sechzehn leere Felder, davon immer zwei paarweise nebeneinander, erschienen auf dem Bildschirm über ihrer aller Köpfe und selbst Bella riss ihren Blick kurzzeitig von Ryan los.

    „Jetzt alle mal kurz die Luft anhalten“, scherzte Cay, während die Felder aufblinkten und ein simuliertes Herzklopfen über die Stadionlautsprecher gespielt wurde. Zu lange spannte man sie aber nicht auf die Folter.

    Begleitet von einer lautstarken Kundgebung des Stadionsprechers erschienen die Gesichter der der Trainer in den Kästen. An den Reaktionen der meisten erkannte man aus dem Augenwinkel, wer nicht gerade ein Wunschlos gezogen hatte. Manche einer schlug die Hände über den Kopf oder eine Hand vor den Mund. Ryan und Andrew aber entschieden, die Paarungen gemeinsam mit Cay durchzugehen. Denn natürlich las er alle einzeln vor.

    „In der ersten Runde sehen wir die Feuer-Trainerin Tina Fergison und außerdem Mitch Morrow, der die komplette Quali mit seinem Sichlor bestritten hat. Danach kommt Terry Fuller. Der amtierende Johto Champion tritt gegen Helen Crowford an, die sich geradeso auf Rang 16 geschoben hat.“

    Womit bestätigt war, dass eine erhöhte Chance keine Garantie bot. Die Aussicht, dass dieses Duell stattfinden würde, war sehr gering gewesen, was die Trainerin ziemlich frustrieren dürfte. Und auch die nächste Partie war keine, mit der man unbedingt hätte rechnen können.

    „Oho, auf Runde drei freu ich mich jetzt schon. Die Spitzenreiterin Sandra bekommt es mit dem Temperament der energiegeladenen Audrey Miller zu tun!“

    Diese Kundgebung wurde gar von einem leichten, euphorischen Aufschrei der Zuschauerschaft begleitet. Und auch die beiden Akteure selbst freuten sich ungemein über das Los. Besonders Audrey grinste heiß, als wolle sie das Bild Sandras auf der Leinwand verführen. Den Blick rüber zum Original ließ sie aber bleiben. Die Drachenmeisterin gönnte sich wenigstens einen Seitenblick, begleitet von einem Schmunzeln, das schwieriger einzuordnen war.

    Die anderen beiden Trainer aus Johto mussten länger auf ihre eigenen Namen warten. Die nächsten Duelle bekleidete keine bekannten Namen, obwohl Cay besonders einen gewissen Jamie Gregory hervorhob und zudem eröffnete, dass der Typ den Spitznamen „Märtyrer“ trug. Durch seine Pokémon oder Strategien war er aber nicht weiter aufgefallen. Durchaus aber mit dem Erreichen des vierten Platzes in der Qualifikation, womit er sowohl Audrey als auch Andrew hinter sich gelassen hatte.

    Danach folgte jedoch ein weiterer, der für Hellhörigkeit sorgte. Bei einigen gewissen Teilnehmern gar noch mehr als bei der Allgemeinheit.

    „Im sechsten Durchgang muss Amy Valentine gegen die gnadenlose Bella Déreaux ran.“

    Die Lobeshymnen auf die Agentin blendete Ryan aus. Stattdessen wagte er nun doch, sie aus dem Augenwinkel anzusehen. Die junge Frau hatte nach wie vor den Bildschirm im Visier und fing – sehr bewusst – erst nach mehreren Sekunden den Blick ihres Konkurrenten und Feindes auf. Dass Pete allein durch sie letzte Nacht seinen Tagesumsatz erzielt hatte, sah man ihr kein bisschen an. Wie viel Alkohol passte in die eigentlich rein?

    Ihr Lächeln wurde ein bisschen weiter, aber eine Drohung vermochte Ryan dahinter nicht zu erkennen. Die sparte sie sich wohl für den rechten Moment, wenn sie sich einander gegenüberstanden.

    Andrew trat in der siebten Runde gegen Dan Hayes an, der sich auf Stahlpokemon spezialisierte. Es blieb abzuwarten, wen er hier ins Rennen schicken würde. Auf dem Papier hätten nämlich alle vier Pokémon, die er momentan bei sich führte, eher schlechte Karten.

    „Und den Abschluss aus den besten sechzehn machen somit Ryan Carparso und Chester Rome. Das wird ein weiteres Duell zwischen Veteran und Rookie.“

    Tatsächlich stand Rome, wie manch anderer hier, ebenfalls noch in der Frühphase seiner Karriere und hatte Rang 15 belegt. Damit hatte Ryan zumindest auf dem Papier einen ähnlich ungefährlichen Gegner gezogen, wie Terry. Aber gerade aufgrund von dessen Platzierung mahnte er sich, selbigen zu unterschätzen. Er meinte sich zu erinnern, wenigstens einen seiner Kämpfe gemeinsam mit Melody verfolgt zu haben und zur Laufkundschaft zählte er sicher nicht. Ein stärkerer Gegner wäre Ryan auch tatsächlich lieber, denn nachdem er mit Justin und Cody bereits zwei krassen Underdogs gegenübergestanden war, hatte er keinen Bock mehr auf die haushohe Favoritenrolle. Nur leider gab es bei diesem Turnier lediglich eine Handvoll Trainer, bei denen man ihm eine solche nicht sofort zusprechen würde. Ironischerweise handelte es sich dabei ausschließlich um die Wunschgegner, die er Sandra gestern Abend noch genannt hatte.

    „Die Karten liegen auf dem Tisch, Freunde“, hielt Cay fest und baute seine Ansprache für das erste Match auf.

    „Fergison und Morrow – an eure Kampfplätze, wenn ich bitten darf. Und der Rest räumt das Feld, denn auf dem knallt´s gleich!“

    Die geforderten Kontrahenten sowie der Schiedsrichter nahmen ihre Plätze ein, während sich die übrigen Trainer wieder in die Katakomben verzogen. Ryan war der letzte, der sich zum Gehen wandte. Er wollte den Blickkontakt zu Melody so lange wie möglich halten und wusste hinterher selbst nicht den Grund dafür. Vielleicht, weil er zuletzt häufiger Bellas Gesicht als ihres zumindest vor seinem inneren Auge gehabt hatte? Oder in seinen Gedanken? Er versuchte sich einzureden, dass er dies nur tat, damit er möglichst bald wieder ausschließlich an Melody denken und sie sehen konnte. Nicht dass dies gelogen wäre, aber dennoch bereitete ihm der Gedanke an die nahe Zukunft Sorgen. Schon morgen, wenn der Summer Clash zu Ende wäre, könnte wer weiß schon was passieren. Team Rocket könnte sie erneut angreifen oder gar andere Drachenpokémon sich ihm entgegenstellen. Bei dem Gedanken war Ryan heilfroh, bisher keine auf der Seite anderer Trainer gesehen zu haben. Er trug schließlich nach wie vor den Drachensplitter bei sich und sollte ein Vertreter dieser Gattung aus heiterem Himmel ihn anstatt seines unmittelbaren Gegners angreifen, stünde ihm eine Menge Ärger ins Haus.

    In seinen Gedanken versunken, bemerkte Ryan seinen Kindheitsfreund fast gar nicht, als der ihn anstieß und geradeaus, direkt auf die vorausgehende Bella deutete.

    „Hat sie was gesagt?“

    Als das verneint wurde, schürzte Andrew feindselig die Lippen. Gestern noch hatte es einen winzigen Teil in ihm gegeben, der überzeugt war, sie könnten unter anderen Umständen gut mit der Agentin auskommen, ja sogar Freunde werden. Heute könnte er sich für den Gedanken selbst eine reinhauen. Dass Bellas Augen schon den ganzen Morgen ständig an ihnen beiden hafteten, ohne einen Ton zu sprechen, zerrte zudem an Andrews Nerven.

    „Die Tussi macht mich irre. Das Mindeste was sie tun könnte, wäre versuchen, uns zu provozieren.“

    Das wäre auch Ryan zumindest lieber, als die schweigenden Blicke, die er nicht zu interpretieren wusste. Andrew hatte sehr präzise erzählt, welche Worte zwischen ihm und ihr am Vorabend gefallen waren und das Einzige, dessen sie sich gewiss sein konnten, war ihre Vorfreude auf ein paar gute Kämpfe. Es war nicht einmal völlig ausgeschlossen, dass dies allein der Grund für ihre Teilnahme war. Jedoch glaubte keiner der beiden Trainer aus Johto daran. Das wäre selbst für sie zu leichtsinnig.


    Melody hatte das Kinn auf die Unterarme gestützt, die wiederum auf der Mauer ruhten. Etwa zweieinhalb Meter darunter war schon der Sand des Kampffeldes, obgleich natürlich noch einige Meter Distanz zu den fein gezogenen Markierungen war. Ganz so dicht durften die Zuschauer eben doch nicht an das Geschehen heran. Auch aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit.

    Das Mädchen seufzte und blies nachdenklich die Backen auf. Ähnlich wie Ryan war sie so sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, dass sie die sich nähernde Frau direkt neben ihr auf der Treppe, erst wahrnahm, als sie eine Hand auf ihre Schulter legte und Melody gar etwas erschrak.

    „Angespannt?“, fragte Mila nachsichtig und schenkte ihr ein gelassenes Lächeln. Solange die Drachenpriesterin vermochte, nur an den Wettkampf, anstatt an den Krieg zu denken, musste sie es nicht einmal falsch aufsetzen. Leider waren diese Momente derzeit selten und nur von sehr kurzer Dauer.

    „Auch.“

    Melody versuchte sich an einem ähnlichen Lächeln, aber jemanden wie Mila konnte sie damit ganz sicher nicht täuschen.

    „Ich hab den ganzen Morgen über uns nachgedacht.“

    Es war schon seltsam, dass die beiden Frauen hier mitten in der Öffentlichkeit ein so persönliches Gespräch beginnen konnten, ohne sich um die Menschenmassen im Umfeld Gedanken machen zu müssen. Die waren ausnahmslos viel zu eingenommen von den Pokémon, die gerade das Kampffeld betraten. Keiner käme auf die Idee, ihnen auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zu schenken, wenn nun endlich der wahre Summer Clash startete.

    „Ich hatte Ryan versprochen, dass ich bei ihm bleibe. Und das will ich auch, aber…“

    Sie hatte Schwierigkeiten, die richtigen Worten zu finden. Ihre Gedanken rund um die Beziehung, die sie sich mit Ryan wünschte, waren noch nicht gänzlich sortiert.

    „Ihr fühlt euch ihm noch sehr fern, nicht?“, wagte Mila zu raten. In der Tat konnte Melody nicht behaupten, dass sie beide – besonders aber sie selbst – bereit waren. Aus diversen Gründen, wie man betonen musste.

    „Versteh mich nicht falsch, Mila. Ich verlange nicht von Ryan, dass er das Kämpfen aufgibt. Im Gegenteil, ich finde es toll, ihn da unten zu sehen und will ihn dabei unterstützen. Aber ich wünsche mir einfach mehr Zeit mit ihm. Unbeschwerte Zeit.“

    Mit Sicherheit wünschte Ryan sich diese ebenfalls. All das hier, die Situation, in der sie sich befanden, alles was gerade passierte, konnte nie und nimmer wünschenswert sein.

    „So sehr hab ich mich nach ihm gesehnt und jetzt sehe ich ihn fast nur von Rand des Kampfplatzes aus. Oder schlimmer, auf einem regelrechten Schlachtfeld.“

    Ihm bei seinen Matches nur aus der Ferne beobachten zu können war logisch und nicht weiter tragisch für Melody. Einen Teil von ihr erfüllte es sogar mit Glück und Stolz. Nur hatte sie immer im Hinterkopf, dass ein Feind anwesend war, der ihm wieder nach dem Leben trachten könnte. Und dieser war nicht einmal das eigentliche Problem.

    Mila sah auf das Kampffeld, als würde Ryan gerade dort stehen. Vor ihrem inneren Auge tat er das sogar. Sie wollte ihn dort sehen. Euphorisch, leidenschaftlich und hungrig auf den Sieg, weil es im Augenblick nichts anderes gab, das seine Aufmerksamkeit verdiente. Am liebsten würde die Drachenpriesterin Ruby an seiner Seite sehen, die in dieser Partnerschaft ihr Glück gefunden hatte und mit Herz und Seele gemeinsam an seiner Seite kämpfte, anstatt gegen ihn.

    Die Mehrzahl dieser Wünsche, beziehungsweise Teile davon, blieben für den Moment nichts als eben solche.

    Melody ließ sich etwas in ihre Sitzschale sinken und verschränkte die Arme.

    „Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum er überhaupt noch hier teilnimmt. Ein Plan ist da sicher nicht mehr dahinter.“

    Sicher nicht. So richtig hatte eigentlich nie einer existiert, der den Summer Clash miteinbezog. Doch solange kein triftiger Grund gegeben war, ihn abzusagen, hatte Mila den jungen Trainern das Turnier einfach nicht wegnehmen wollen. Aber existierte da nicht ein solcher Grund? In Form einer gewissen Konkurrentin?

    „Eines Mannes Glück ist neben seiner Liebe auch mit Triumph und Ehre verbunden. Beides reicht nur so weit, wie sein Ehrgeiz. Besonders gilt dies für das Glück eines Mannes, der für den Kampf lebt. Das ist sein Privileg.“

    Das verstand Melody vollkommen, auch wenn sie es in diesem speziellen Fall für unangebracht hielt. Vielleicht sogar gefährlich. Dass sie Ryan sowieso nicht hätte umstimmen können, verstand sich von selbst. Es beschäftigte sie somit nur eine Frage.

    „Aber wie soll ich damit umgehen?“

    Mila hatte selbst nie geliebt. Nicht in dieser Form. Nur Mirjana und Sheila hatte je ihre Liebe genossen – wenn auch eine andere Art davon. Daher sah sie sich weder berechtigt noch befähigt, Ratschläge diesbezüglich zu erteilen. Doch sie wollte Melodys Herz erleichtern. Und die Aussicht auf die Zukunft nicht durch weitere Wolken verdunkeln. Hell sollte sie scheinen, sodass sie dort bessere, glückliche Zeiten erblicken könne.

    „Indem du es sowohl respektierst als auch ihm vorhältst. Wenn er nicht einsieht, dass du das Recht dazu besitzt, verwehre ihm deine Lippen und er wird bald auf die Knie fallen“, erklärte sie mit einem verschmitzten Seitenblick. Der passte irgendwie nicht zu ihr. So ungewohnt.

    „Er liebt dich viel zu sehr, um sich lange von dir abzuwenden.“

    Hier machte Melodys Herz einen plötzlichen Satz. Ihr war selbst sehr bewusst, was sie für Ryan fühlte und hatte sich bislang aus reiner Berücksichtigung der Situation und dessen, was ihnen bevorstand, vermieden, darüber zu sprechen. Und das, obwohl sie unbedingt mit ihm darüber reden wollte. Es ihm sagen wollte. Ungeachtet der Tatsache, dass er es mit Sicherheit schon erkannt hatte.

    War irgendwie komisch, ausgerechnet mit Mila hierüber zu sprechen. Einerseits fühlte es sich gerade durch sie besonders an. Andererseits war es ihr unangenehm, eine so wichtige Person mit ihrer Gefühlswelt zu belästigen. Und hier stand sie und teilte ihr mit geöffneten Ohren und Herzen ihren Rat mit.

    „Vertraue stets darauf und auf das Band zwischen euch. Ein solches Band weht nicht ununterbrochen lose im Wind. Es wird auch gespannt werden und zu zerreißen drohen. Eine Partnerschaft ist ungerecht, doch sie ist es abwechselnd für beide. Freue dich auf die Zeit, in der sie dich begünstigt.“

    Vertrauen. Das ihre besaß Ryan absolut bedingungslos und unbegrenzt. Nur war es nicht Ryan selbst, der Melody Sorge bereitete. Oder doch? Lugia würde sie schließlich nicht ohne Grund vor ihm und seinen künftigen Taten warnen. Dennoch tat dieses legendäre Pokémon eben das, was Melody soeben geraten wurde. Nämlich Ryan vertrauen. Auf ihn zu vertrauen!

    Mila war bloß ein Mensch. Eine einfache Frau – in eine alles andere als einfache Pflicht hineingeboren, die ihr ganzes Leben unglaublich und geradezu fantastisch gestaltet hatte. Wenn auch nicht ganz und gar fröhlich. Überhaupt nicht. Trotzdem schätzte Melody den Rat der Drachenpriesterin fast im selben Maße, was sie dazu veranlasste, mit einem seichten Lächeln und ebenso sachtem Nicken zuzustimmen. Eine verbale Antwort ließ sie allerdings bewusst aus. Melody hatte registriert, wie sehr Mila um ihren Seelenfrieden bemüht war und befand, dass sie nebst all ihrer Probleme nicht zu einem weiteren werden sollte, dessen sie sich annehmen musste. Die Frau hatte mehr als genug Sorgen für mehrere Leben.

    Die Drachenpriesterin hätte gerne gar noch mehr für sie gesagt oder getan, sah sich hier aber machtlos und wusste auch um keinen besseren Rat. Daher erwiderte sie einfach die Geste und wand sich zum Gehen. Gerade als sie kehrt machte, um die Stufen Richtung Mundloch zu erklimmen, spürte Melody dann doch noch das Verlangen, zumindest ein bestimmtes Wort zu sagen.

    „Danke.“

    Sie hielt kurz inne und neigte den Kopf in ihre Richtung, entschied aber, dies Gespräch nicht zu verlängern. Doch ihr eigenes Lächeln war nun auf dem Weg nach oben noch etwas breiter und friedlicher geworden.


    „Wo willst du hin?“

    Ryan wollte sich eben zu Sandra und Audrey gesellen, die sich wieder auf einer gepolsterten Bank in den Katakomben niedergelassen hatten. Dass sie nun schon wieder unbehelligt miteinander tratschten, als stünde ihnen eben nicht ein direktes Aufeinandertreffen bevor, war fast etwas unheimlich, wenn man die brodelnde Kampfeslust bedachte, die noch vor zwei Minuten in ihren Augen entflammt war.

    Sein langjähriger Kumpel allerdings hatte sich auf den Weg gemacht, die Räume zu verlassen, war sogar schon fast am Flur angelangt, der zu dem allgemeinen Zuschauerbereich führte.

    „Hab Lust auf´n Smoothie.“

    Etwa so große, dass ihm die Duelle der Konkurrenz egal wurden?

    „Du schaust dir die Kämpfe nicht an?“, vergewisserte sich Ryan, der fast enttäuscht schien.

    „Vom Zusehen werd ich jetzt auch nicht stärker“, meinte Andrew bloß schulterzuckend.

    „Aber schlauer.“

    Den Einwand hatte er erwartet, doch das Beobachten lag ebenfalls nicht in seiner Natur. Das ging Ryan ganz anders, wie er wusste. Der hatte schon immer wirklich alles an Informationen aufgesogen, was er kriegen konnte. Es hatte schon Momente gegeben, in denen Andrew vermutete, dass genau dieser Punkt den Unterschied zwischen ihnen beiden machte und der Hauptgrund war, warum ihm bislang immer noch ein bisschen fehlte, um an Ryans Erfolg heranreichen zu können. In einem direkten Duell würde er sich bestimmt nicht als den Schwächeren betiteln, aber Tatsache war, dass er noch nicht eine Finalteilnahme bei einem großen Turnier vorzuweisen hatte und sein bester Freund gleich zwei. Von denen er eines gar hatte gewinnen können.

    Er war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass es nichts bringen würde, jemandes Stil zu kopieren. Auch nicht, wenn Ryan dieser Jemand war. Er hatte seinen eigenen Weg gefunden, stark und auch clever zu werden, um auf seine Weise Siege zu erringen. Wenn er diesen weiter verfolgte und hart genug arbeitete, würde dieser erhoffte Erfolg kommen. Tief in seinem Inneren wusste Andrew aber, dass ein weiterer, nicht unwesentlicher Grund der war, dass er eben nicht Ryans Beobachtungsgabe besaß. Fraglich, ob das überhaupt jemand tat.


    Sheila hielt sich nicht gerne unter Menschenmassen auf. Aber immerhin konnte sie sich in dem labyrinthischen System aus Gängen und Treppen, Fluren und Korridoren des Prime Stadiums immer in einer dunklen Ecke verstecken, anstatt sich unter die Leute zu mischen. Dabei blieb sie nicht ständig an Ort und Stelle. Vielleicht eine Minute inspizierte sie die Lage in Ryans Umfeld, verschwand dann für äußerst kurze Zeit, um Andrew ebenfalls im Auge zu behalten. So lautete zumindest Milas Befehl an sie, denn aus eigenem Entschluss hätte sie über eben diesen Trottel sicher nicht gewacht. Es würde ihren Nerven gut tun, wenn ein getarnter Rocket ihn zur Strecke brächte. Doch wie immer galt das Wort ihrer Gebieterin.

    Nachdem Sheila auch ihn für eine Minute beobachtet hatte und in seiner Nähe keine verdächtigen Personen gewesen waren, wechselte sie wieder rüber zu Ryan. Dabei ging sie immer über einen anderen Weg und niemals genau denselben wieder zurück. Ihre Bewegungsmuster sollten unvorhersehbar sein. Dazu hatte sie sich vergangene Nacht, als sich alle zu Pete begeben hatten, hier eingeschlichen und sich ein präzises Bild von nahezu jedem Teil des Stadions gemacht. Es hatte Stunden gedauert, alle Winkel und Wege in ihr Gedächtnis einzubrennen. Eine Herausforderung, an der selbst unter gestandenen Dieben, Spionen und Agenten die allermeisten kläglich gescheitert wären.

    Das war definitiv besser, als in der Masse unterzutauchen. Man konnte ohnehin nicht gerade behaupten, dass sie sich gut einfügte. Die untere Gesichtshälfte wie immer durch ihren Schal verhüllt und fast akribisch mit den rubinroten Augen die Leute zu inspizieren, ohne sich nur einmal an einen der Stände oder gar auf die Tribünen zu begeben – so wäre sie wahrlich jedem stümperhaften Handtaschendieb im Team Rocket aufgefallen.

    Selbst so jedoch hasste die Assassine es, Leibwache zu sein. Ein, zwei Mal hatte Mila ihr so etwas schon aufgetragen und natürlich hatte sie den Befehl ausgeführt. Überaus erfolgreich verstand sich. Nur war es nun mal nicht das, was sie ihr Leben lang trainiert und perfektioniert hatte. Das war nicht sie. Keine Beschützerin, sondern eine Attentäterin.

    Sei es drum. Sie gehorchte und blickte unentwegt unter den Zuschauern hin und her, in die leeren Gänge, in die dunklen Ecken. Kein noch so kleines, verräterisches Zeichen würde ihr entgehen. Sheilas Blick wandert aufmerksam und scharfsinnig durch Menge und Flure. In einem davon regte sich jemand. Gerade eben hatte er sich von der Wand, an der er so unscheinbar lehnte, lösen und vermutlich Ryan ansteuern wollen, was er quasi im Moment von Sheilas Auftauchen unterbrochen hatte. Sie war nicht entdeckt worden. Dennoch starrte er kurz weiter zu dem jungen Trainer, schielte nur mal kurz rüber zu ihr. Der Narr war lediglich ein Amateur, der sich überhastet vor dem perfekten Moment gerührt hatte, um dann zu bemerken, dass er einen besseren Zeitpunkt abwarten musste. Nun täuschte er vor, etwas auf seinem Handy nachzusehen. Gelassen und unbekümmert konnte er sich allerdings nicht geben. Schwarzer Hoodie, schwarze Jeans und eine Mütze aus dünner Wolle, tief ins Gesicht gezogen, sodass die Augen fast verdeckt wurden. Die von Sheila verengten sich sofort.


    Wie hatte er nur so leicht auffliegen können? Er hatte kaum eine Sekunde den Augenkontakt zu ihr gehalten und doch hatte er sich damit sofort zur Zielscheibe gemacht. Während der vergangenen Minuten hatte sie ihn bestimmt durch das halbe Stadion gehetzt. Dabei schien sie es gar nicht so darauf anzulegen, ihn einzuholen. Oft, wenn er über die Schulter geblickt hatte, war sie bloß gemächlich hinter ihm her gegangen. Wie der Mörder in einem Horrorstreifen. Aber das hier war kein billiger Film. Das hier war nicht gescriptet. Und doch fühlte es sich so an und sie – dieses Mädchen, das angeblich schon ein ganzes Versteck im Alleingang angeräuchert hatte –, war ganz offensichtlich Autorin dieses Skripts. Es war ihm unbegreiflich, wie sie in diesem Tempo mit ihm mithalten konnte. Als könne sie sich teleportieren oder wüsste immer eine Abkürzung.

    Gerade stolperte der Mann durch einen der oberen Flure in der Nordkurve des Stadions. Diese war lediglich durch das Sonnenlicht spärlich erhellt, das durch die Fenster schien. Diese waren eher klein und ließen diverse Ecken und Winkel unerleuchtet. Von den Zuschauern hatte sich niemand hierher verirrt, da es weder Stände noch Buden gab und der Bereich für Gäste auch sonst nichts bot. Hier oben gab es vielleicht ein paar Büros oder Technikräume. Und allesamt derzeit verlassen. Wieder wagte er, nach hinten zu spähen und seine Augen weiteten sich überrascht. Sie war weg. Hatte er sie doch endlich abgehängt? Kaum zu fassen. Da wurde er bis hierhin gejagt, an die Grenze seiner Belastbarkeit, wie der Schweiß auf seiner Stirn und das laute Keuchen bezeugten. Und plötzlich keine Spur mehr von ihr.

    Er wagte nun sogar, gänzlich zu stoppen und sich vollständig umzuwenden, lugte dabei in jeden trügerischen Gang, aus dem sie vielleicht doch noch hervorkommen könnte, um, wer wusste schon was, mit ihm zu tun. Der Mann atmete tief ein, wischte sich mit dem Ärmel ein paar Schweißperlen vom Kinn und versuchte, zu Atem zu kommen. Sein Herz schlug noch immer bis zum Hals. Es war absolut still. Selbst wenn sie ihn noch verfolgen würde, müssten ihre hallenden Schritte sie weit im Voraus verraten. Er erlaubte sich ein schwaches, erleichtertes Grinsen und setzte seinen Weg fort. Wenn er noch ein bisschen weiter rannte und eine einzelne Treppe nach unten nahm, würde er wieder auf Menschenmassen stoßen, in denen er untertauchen konnte. Dann war die Mission zwar noch immer unerledigt, aber er selbst wenigstens unversehrt. Es würde sich eine andere, eine bessere Chance auftun. Zuversichtlich beschleunigte er nochmals seine Schritte und bog um eine Ecke. Hinter ihr war es so finster, dass er lediglich die aufblitzende Klinge erkannte, die das wenige an Sonnenlicht, das bis hier hinten vordrang, reflektierte. Doch auch die bemerkte er erst, als sie ihr tödliches Werk bereits vollendet hatte. Ein Spritzer Blut landete an der Wand, zog bis auf ein paar Tropfen fast eine saubere Linie.

    Für einen Moment realisierte er gar nicht, was passiert war. Es wurde ihm erst gewahr, als die Muskeln in seinen Beinen versagten. Sonderbarerweise fing seine Mörderin ihn sogar auf. Jedoch nur, um seinen Kopf sofort in ihre Richtung zu drehen, sodass er ihr in die Augen sah.

    „Wie viele von euch sind noch hier? Sprich und ich erleichtere dir deinen Abschied.“

    Die Wunde war nicht gänzlich tödlich. Wenn er schnell genug in ein Krankenhaus käme, hätte er gar eine Chance, zu überleben. Das war allerdings nicht in Sheilas Interesse. Sie hatte ihn am Hals geschnitten, sodass es zu schmerzhaft wäre, nach Hilfe zu schreien. Sie hoffte aber, dass er wenigstens noch ein paar Worte rausbekommen möge. Ihre eigene Wunde, die durch eine Schusswaffe seiner Kameraden beigebracht worden war, zwickte widerlich hierbei, doch sie ertrug es. Selbst in den frühen Zeiten ihrer Ausbildung hatte sie schon Schlimmeres gespürt.

    Der Rocket röchelte und zitterte. Der Blutverlust ließ seinen Körper erkalten. Gleichzeitig benetzte die warme Flüssigkeit seine Haut, durchtränkte seine Kleidung, rann durch seine Hände, die er an seinen Hals presste. Er musste es stoppen, musste auf die Wunde drücken. Er durfte nicht noch mehr Blut verlieren. Seine Gedanken rasten nur um sich selbst, seinen Gesundheitszustand. Das konnte nicht das Ende sein. Nicht so, nicht jetzt.

    Erst als das Mädchen ihn am Schopf griff und so nahe an sein Gesicht kam, dass er nichts anderes als ihre Augen sah, rissen eben diese ihn fort von seinen Gedanken. Treue oder Ergebenheit waren sicher nicht die Gründe, warum der Mann die Antwort verweigerte. Er war ein Niemand in dieser Organisation. Eine wandelnde, austauschbare Uniform ohne Wert. Aber selbst so einer würde seiner Mörderin nicht einfach so, wie ein geprügeltes Hunduster Informationen geben, bloß damit sie ihn von seinem Leid erlöste. Dieses Miststück konnte ihn mal kreuzweise.

    „Fahr zur Hölle.“

    Das würde sie früh genug. Schließlich gab es keinen anderen Ort, an den eine Attentäterin gehen konnte, wenn sie mit diesem Leben fertig war. Nur würde sie keine Angst davor haben. Er hingegen – das sah sie sofort – hatte panische Furcht, vor seinen Schöpfer zu treten. Gab sich im Rahmen seiner erbärmlichen Möglichkeiten Mühe, trotzig zu wirken. Er machte sich selbst was vor.

    „Mach deine letzten Momente nicht noch jämmerlicher.“ Wenn er schon nicht antwortete, sollte er seine letzten Worte wenigstens weise wählen. Der Narr konnte noch nicht mal das.

    „Schlampe!“

    Sheila schüttelte fast mitleidig den Kopf. Er glaubte wohl, auf diese Weise dem Tod ins Gesicht zu lachen und seinen sogenannten Stolz wahren zu können. Wie töricht.

    „Du bist miserabel im Sterben.“

    Er wollte noch etwas sagen. Ihren Untergang prophezeien oder ihr wenigstens sein Blut ins Gesicht spucken. Er schaffte es nicht. Sie ließ ihn einfach fallen und es zu Ende gehen. Er wollte ihr wenigstens in die Augen sehen. So furchterregend und mörderisch sie auch waren, er musste sicherstellen, dass sein Blick sie verfolgte. Seine Wunde geheilt zu wünschen, erschien aussichtsreicher. Er sah das Mädchen nicht einmal mehr. Vor ihm verschwamm alles, wurde erst blass, dann dunkel und schließlich völlig schwarz. Und jeder dieser Schritte fühle sich wie eine Stunde. Hätte er doch einfach geantwortet. Das war sein letzter Gedanke, bevor Dunkelheit ihn umhüllte.

  • Kapitel 48: Mädchensachen


    Die Erde wurde direkt unter Machomeis Füßen aufgebrochen und ein karminroter Gavial mit tigerähnlichem Streifenmuster schnappte mit seinem länglichen Maul nach einem der vier Arme. Eigentlich vermochte er es sehr gut verkraften, diesen einen kurzweilig nicht bewegen zu können. Der Gegner begab sich für dieses Manöver nämlich in die unmittelbare Reichweite von gleich drei weiteren, die nur mit Freuden den Angriff sowie die Schmerzen quittieren würden. Nur war der Gegner, obwohl ein ganzes Stück kürzer geraten, einfach viel kräftiger als er – eines der stärksten Kampfpokemon. Rabigator riss ihn herum und schleuderte ihn über den Sand, der durch einige Einsätze von Schaufler bereits gezeichnet war. Anschließend hallte das Wort Erdbeben über das Kampffeld, welches nach einem satten Aufstampfen der Sandechse erschüttert wurde. Machomei hatte sich gerade abfangen können und versuchte sich rasch aufzurichten, da sackte sein muskulöser Körper plötzlich nach unten ab, als der Boden unter ihm einbrach. Das war mehr als nur ein simples Zittern. Spalten taten sich auf, Gruben wurden ausgehoben, während gleich daneben plötzlich mannshohe Brocken gen Himmel schlugen, wie ein Tohaido, dass die Wasseroberfläche durchstieß. Noch bevor sein Herz wieder in seine natürliche Position zurückgekehrt war, schlug ihm das Gestein plötzlich entgegen, prügelte regelrecht auf seine Beine, seinen Körper. Einen Schlag erlitt das Kampfpokémon sogar direkt gegen das Kinn, worauf es zurücktaumelte, nur um von einem weiteren Felsklumpen, der sich von Boden löste, in den Rücken gestoßen zu werden. Der Treffer presste glatt all seine Luft aus den Lungen und raubte ihm das letzte Bisschen an Gleichgewicht, dass er hatte wahren können. Schon eine Sekunde später fand er sich in einer der Felsspalten wieder. Wie ein Spielzeug des Elements, das zum Leben erweckt schien und ihn zermürben wollte. Machomei saß fest und wurde fast völlig unter Schutt und Geröll begraben. Sand wurde aufgewirbelt, aus dem Untergrund, den Rabigator vor einer Minute noch durchpflügt hatte, um diesem Angriff vorzubereiten.

    „Alter Falter, ich hab selten so ein zerstörerisches Erdbeben gesehen!“

    Cay wankte ein bisschen zwischen Bewunderung und Entsetzen. Kaum zu glauben, dass da unten, wo sich hunderte Tonnen and Gestein überschlugen wie die tosende See in einem Hurrikan, noch zwei Pokémon standen. Naja, stehen tat nach diesem gewaltigen Schauspiel nur noch eines. Machomei hatte diverse Schläge am Kopf erlitten und das Bewusstsein verloren. Bella wäre ob dieser Brutalität stolz auf den Trainer Rabigators gewesen, doch es war schließlich nicht das erste Mal, dass er derart rücksichtslos mit einem Gegner umgesprungen war. Andrew hatte dies bereits am eigenen Leib erfahren.

    „Machomei ist kampfunfähig. Der Sieg geht an Terry Fuller und Rabigator!“, ließ der Schiedsrichter verlauten, worauf das Publikum den Beifall startete. Erstaunt, beeindruckt, aber auch einen Funken verängstigt durch das Beben, welches das Stadion bis in seine Grundfesten gespürt haben musste.

    „Hab ich zu viel versprochen? Ich sag´s doch, Fuller hat ordentlich Dampf im Kessel. Helen Crowfords Machomei hat überhaupt kein Land gesehen – und das trotz Typenvorteil.“

    Terry schien fast am laufenden Band unter benachteiligten Verhältnissen zu kämpfen, doch ein unwissender hätte das niemals bemerkt. Bislang herrschte stets mehr als nur eine Klasse Unterschied zwischen ihm und seinen Gegnern. Das traf selbst auf seine jüngste Gegnerin zu, die sich immerhin in die K.O. Runden des Summer Clash geschlagen hatte und daher zumindest ein Stück weit wissen musste, was sie tat.

    Selbige gestalteten sich aus ständig wechselnden Formaten, beginnend mit einem letzten, simplen eins-gegen-eins, gefolgt von einem Kampf mit jeweils zwei Pokémon, bei dem nicht gewechselt werden durfte. Das Halbfinale sah einen Doppelkampf vor und im Finale wurde schließlich drei-gegen-drei gekämpft, jedoch würde es da erlaubt sein, die Pokémon auszutauschen.

    Während Terry beiläufig einigen Fans zuwinkte und sich mehr formell als dankbar für den Applaus erkenntlich zeigte, konnten es innerhalb der Räumlichkeiten des Prime Stadiums zwei junge Frauen kaum erwarten, die Bühne zu betreten. Audrey beschrie den Fernsehbildschirm innerlich, der Penner möge mal hinne machen. Dank der Erdbeben Attacke hatte Terry ihre Wartezeit ohnehin schon verlängert, da das Kampffeld erst einmal aufgeräumt werden musste. Zum Glück war man hier auf solche Fälle vorbereitet und konnte schnell reagieren. Sandra dachte an Kämpfe zurück, in denen ihre Arena ähnlich verwüstet worden war. Nicht selten hatte es sich dann für den Rest des Tages mit den Herausforderungen erledigt, hatte sie doch maximal zwei Angestellte dafür. Und die hatten auch noch andere Aufgaben. In einigen Arenen gab es gar niemanden für den Job und es blieb am Leiter selbst hängen, das Kampffeld aufzuräumen.

    Die beiden Frauen hielten aus reinem Wettkampfgeist etwas Abstand zueinander, wollten sich in den letzten Minuten wie Rivalen anstelle von Freundinnen begegnen. Den Raum gänzlich zu verlassen hatte niemand von ihnen in Betracht gezogen. Verfeindet waren sie schließlich nicht und würden es auch nach dem Match nicht sein. Hin und wieder wechselte mal ein Blick rüber zur Konkurrentin, der von beiden Parteien stets bemerkt und dennoch bewusst nicht erwidert wurde. Sie waren heiß. Sie wollten loslegen.

    Audrey führte sich immer wieder verschiedene Szenarien vor Augen, wie der Kampf ausgehen könnte. Natürlich sah sie sich in jedem davon siegreich. Nicht, weil sie felsenfest von ihrem Triumph überzeugt war, sondern, um überhaupt eine Chance darauf zu besitzen. Sie hatte bestimmt ein Dutzend davon im Geiste durchgespielt, ehe Cays Stimme durch die leicht kratzigen Lautsprecher des Innenraumes die nächste Runde ankündigte.

    „Das eben war schon wild, aber das bislang heißeste Achtelfinale wird reine Mädchensache, Freunde.“

    Den Jubel der Menge hörte man bereits von hier. Ganz eindeutig war sie mindestens genauso gespannt auf das kommende Duell. Und der Lärm veranlasste die beiden nun doch, sich einen Moment lang fest in die Augen zu sehen. Sie erhoben sich zeitgleich und gingen fast synchron den Flur hinunter Richtung Tunnel. Die Augen nun wieder stur geradeaus, hielten sich Gleichschritt, bis sich ihr Weg gabelte, um eine von ihnen zum Ost- und die andere zum Westeingang zu führen. Genau in diesem Moment schenkte Audrey ihrer Gegnerin noch einen lässigen Wink mit ihrer Hand. Sandra schmunzelte hierauf bloß, stellte aber fest, dass sie sich lange nicht so sehr auf einen Kampf gefreut hatte. Und das, obwohl sie diese junge Frau erst seit gestern kannte und lediglich bei ihren Kämpfen zugesehen hatte. Sie musste ja ´nen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen haben.


    „Okay, das Feld ist wieder sauber. Zumindest einigermaßen…“

    Cays Betonung ließ erahnen, dass es ihm komplett wurscht war, auf welchem Terrain dieses Match stattfinden würde. Es sollte nur schleunigst starten, da er die Anspannung nicht aushielt.

    „Wir sind somit bereit für Runde drei. Und jetzt will ich ´nen ordentlichen Willkommensgruß für diese Trainerinnen. Lasst was hören für Audrey Miller!“

    Der bislang völlig dunkle Tunnel, aus dem besagte Trainerin erwartet wurde, erhellte sich wie auf Kommando übermäßig grell mit goldenem Licht. Es strahlte die bereitstehende Audrey nur vom Rücken an, wodurch das Gegenlicht sie bloß als dunkle Silhouette erscheinen ließ, die sich gemächlichen Schrittes näherte. Und so wie sie ihn erreichte, wurde es ein weiteres Mal finster, nur um mit ihrem Heraustreten im Inneren und auch durch einige Scheinwerfer direkt über dem Ausgang ein Lichtermeer aus allerlei bunten Farben zu entzünden. Gleichzeitig ertönte eine heroische Schlachtenmusik, wie man sie tags zuvor – und natürlich in den ersten Achtelfinals – gehört hatte. Audrey spielte ein bisschen mit, posierte für die Menge. Sie schob gerade eine ihrer beiden Sonnenbrillen von der Nase hoch auf die Stirn und ließ ihre Jacke lässig an einer Schulter herunterhängen. Auf ihrem Weg zum Kampffeld forderte sie das ohnehin euphorische Publikum zu mehr und lauterem Beifall auf. Mit dem Erreichen ihrer vorgesehenen Position ließ sie die Jacke dann achtlos hinter sich herabgleiten und zu Boden fallen. Erst jetzt sah man, dass die Ärmel ihres Hemdes abgeschnitten waren und nun lediglich ein paar modische Armbänder ihre Handgelenke bekleideten. Sie zog ihre Krawatte etwas lockerer stemmte beide Hände auf die Knie, während der Tunnel direkt vor ihr ins Visier genommen wurde.

    Komm schon raus Sandra. Es war höchste Zeit. Und Audrey des Wartens überdrüssig. Sämtliche Geduld war aufgebraucht. Da ging es einem gewissen Stadionsprecher ähnlich.

    „Oh Leute, ich glaube Miller ist echt heiß. Aber ihr Gegner hat es in sich und das wissen wir nicht erst seit der Qualifikationsrunde. Und hier kommt sie: Drachenmeisterin Sandra, Arenaleiterin von Ebenholz City!“

    Diesmal schnitt die Musik gar noch in die zweite Hälfte von Cays Satz hinein, sodass er dagegen anschreien musste, was er natürlich überaus passioniert tat. Wieder dasselbe Muster beim Lichtspiel, doch wirkte Sandras Silhouette durch den Umhang deutlich weiter und statischer. Umso beeindruckender war ihr Auftreten, als sie den Innenraum erreichte und ein Windstoß eben diesen Umhang auffing, mit ihm sowie mit ihrem himmelblauen Haar spielte. Sie machte keine Show für die Massen. Das war nicht ihr Ding. Sie fokussierte sich auf das Wesentliche – Audrey und den bevorstehenden Kampf. Sie stoppte einen Moment lang, nachdem sie ins Freie getreten war und ließ den Beifall unberührt an sich abprallen. Ein ehrgeiziger und leicht gesenkter Blick suchte nach Audrey und schien erfreut, sie mit einem sehr ähnlichen Gesichtsausdruck vorzufinden. Die Schritte, mit denen sie den Weg zu ihrem Kampfplatz schließlich bewältigte, waren rasch und fest, zeugten von Eifer und Entschlossenheit. Schon komisch, wie ernst und doch tief im Inneren frei und unbehelligt sie hier auftraten, ging es doch zwischen ihnen eigentlich um nichts. Außer der Frage nach Sieg oder Ausscheiden. Demzufolge ging es um alles. Audrey richtete sich wieder auf und machte eine Geste, als wolle sie Sandra zu sich winken. Sie war das Warten Leid.

    „Komm schon, machen wir Mädchensachen.“

    Nichts lieber als das. Der Schiedsrichter vergewisserte sich der Bereitschaft beider Trainerinnen, wurde aber nicht wirklich wahrgenommen. Doch da beide bereits einen Pokéball in den Händen hielten, genügte ihm das wohl und er gab die Begegnung frei.

    Sandra setzte für diese Gegnerin auf einen sehr vertrauten Partner, für den sie und ihre Arena in der ganzen Region bekannt war. Eine blau- weiße Drachenschlange mit einer glänzenden Kristallkugel and Hals und spitzem Horn auf dem Kopf materialisierte sich aus dem grellen Licht und reizte die Zuschauer zu einem euphorischen Aufschrei. Jeder freute sich über eine Chance, ihr Dragonir in Aktion zu sehen.

    Auf der anderen Seite schwebte ein violetter Geist der ein wenig aussah, als trage er ein Hexengewand. Die voluminöse Kopfform erinnerte an einen spitzen Hut mit breiter Krempe und auf der Brust prangten drei purpurfarbene Edelsteine. Ein bisschen erinnerte die Erscheinung an eine Hexe. Wie viele seiner Artgenossen trug auch Traunmagil ein makabres Grinsen im Gesicht, das von Schalk und Hinterlist zeugte.

    „Oho, jetzt bin ich gespannt“, meldete sich Cay.

    „Sandras Dragonir kennen wir sicher alle, aber dieses Traunmagil ist für uns noch eine Wundertüte. Miller würde es jedenfalls sicher nicht auswählen, wenn es der Aufgabe nicht gewachsen wäre.“

    „Was hältst du davon?“

    Andrew fragte nicht grundlos. Ihm war nicht entgangen, dass Ryans Brauen hochgezuckt waren, als er Audreys Kämpfer erblickte hatte. Wenn sie dieses bis hierhin aufgehoben und jetzt für das Match gegen Sandra gewählt hatte, war Traunmagil sicher eines ihrer stärksten.

    „Hab nicht gewusst, dass sich ihr Traunfugil mittlerweile entwickelt hat. Ich seh die Gattung zum ersten Mal.“

    Ryan spulte in seinem Gedächtnis zu einem seiner Kämpfe gegen Audrey. In seinen Zügen war sehr deutlich abzulesen, was für ein heißer Tanz das gewesen sein musste.

    „Hat Audrey ´ne Chance?“, konkretisierte Andrew sich, woraufhin Ryan trocken auflachte.

    „Davon ausgehend, dass Traunmagil jetzt um einiges stärker ist, als vor der Entwicklung, frag ich mich eher, ob Sandra eine hat.“


    Die ersten Minuten verliefen trotz aller Kampfeslust Sandras und Audreys noch verhältnismäßig unspektakulär. Zumindest aus Sicht der erfahrenen und routinierten Trainer im Teilnehmerfeld. Beide tasteten sich ein wenig ab. Loteten den Kräfteunterschied aus, indem sie ihre Attacken immer wieder aufeinanderprallen ließen und schließlich versuchten, schnelle Nadelstiche hinterher zu setzen. Das Publikum jedoch hielt es kaum auf den Sitzen. Der heimtückische Geist sandte gerade einige Unheilböen über das gesamte Kampffeld. Sandras Cape und Haar flatterte wild, obwohl sie nur einen Bruchteil der Kraft am eigenen Leib spürte. Dessen ungeachtet stand sie fest und erhaben, als könne selbst ein Orkan sie nicht ins Wanken bringen. Und ihr Dragonir wirkte ebenso unbeeindruckt, schoss wie ein Pfeil durch den Angriff hindurch und blieb ständig in Bewegung, um nicht doch noch erfasst zu werden.

    „Geh so nah wie möglich ran und dann Drachenwut!“

    Die Drachenschlange war binnen einer Sekunde urplötzlich direkt vor Traunmagil, wozu unter diesen widrigen Umständen vermutlich kaum ein Pokémon imstande gewesen wäre. Sie spie blaue Flammen, hüllte ihren Gegner regelrecht darin ein. Dessen eigene Attacke verebbte sofort. Schlimmer noch, Traunmagil zappelte in der Luft und versuchte mit mäßigem Erfolg die Flammen loszuwerden, sodass Sandra unbehelligt nachsetzen konnte.

    „Jetzt Drachenpuls!“

    Ein blau-violetter Energiestrahl zielte nach dem Geist und nahm auf halbem Weg eine abstrakte Drachengestalt an, die gierig das Maul öffnete. Doch sie wich völlig unerwartet spielerisch aus und tänzelte in der Luft, als habe sie nur Spaß gemacht. Das feiste Grinsen Audreys war aus der Position des Beobachters recht ansteckend. Man musste sich über das kleine Theater einfach amüsieren. Sie ordnete gleich einen Psystrahl an, dem Dragonir aber in einer Spiralbewegung direkt auf Traunmagil zu, ebenfalls ausweichen konnte.

    „Die beiden sind absolut auf Augenhöhe. Verdammt, das ist das reinste Blitzgewitter da unten“, meinte Cay und lachte beinahe wie ein Schuljunge, der nur deswegen nicht wie verrückt auf und ab sprang, weil er niemals auch nur eine Sekunde des Spektakels zu verpassen durfte.

    Beide bombardierten sich regelrecht mit Angriffen. Mit gleißenden Lichtstrahlen, Blitzen und Flammen, Schattengeschossen und dunklen Energiewellen. Doch ein Erfolg gelang nur selten, verfehlte oft nur um Haaresbreite, wobei gerade Traunmagil gar den Eindruck erweckte, nicht mehr zu tun als unbedingt nötig. Geradezu typisch für Geisterpokémon genoss sie dieses waghalsige Spiel. Sie hechteten einander in der Luft hinterher, vollführten einen flotten, gefährlichen Tanz im Kreuzfeuer, bei dem nur ein einziger Fehltritt schlimmer enden würde, als mit einem verstauchten Knöchel.

    Und es schien glatt, als würde Sandra diesen Fehltritt begehen.

    „Hyperstrahl!“

    An Dragonirs Horn wuchs ein goldener Energieball heran, den es unter normalen Umständen zu fürchten galt. Doch Ryan und Andrew waren beinahe schon entsetzt über diesen groben Fehler der Drachenmeisterin. Hyperstrahl war keine Attacke, die man so willkürlich und ohne Weiteres einsetzen sollte. Wenn schon die bisherigen Versuche fehlschlugen, konnte man gegen eine Gegnerin wie Audrey nicht so übermotiviert vorgehen. So ließ sich kein Sieg erzwingen.

    Eben die bewies diese Theorie nun, indem sie Erstauner anordnete. Binnen eines Wimpernschlages war Traunmagil plötzlich nur noch eine Handbreite von Dragonirs Gesicht entfernt. Allein dies würde die meisten schon erschrecken lassen, doch sie zeigte sich gar noch in einer boshaften Illusion, in der ihre Gestalt für einen kurzen Augenblick um ein Vielfaches anwuchs und ein tiefer, bis ins Knochenmark dringender, dumpfer Schrei eine Druckwelle durch den ganzen Körper jagte. Ihr Gesicht wurde dabei zu einer dunklen Fratze, die man sich höchstens in einem Alptraum ausdenken konnte. Der Drachenschlange war für einen Moment, als drücke man ihr das Herz und den Hals zusammen und sie schnappte nach Luft. Der Energieball verpuffte wirkungslos in helle Funken.

    Erstauner war kein besonders starker Angriff, aber äußerst nützlich, um den Gegner kalt zu erwischen und eine Lücke in seine agile Verteidigung zu schlagen. Das wirkte allerdings nicht, wenn besagter Gegner ein solches Manöver bereits erwartet und sich daher auf eine schnelle Reaktion vorbereitet hatte. Sandra grinste verschmitzt.

    „Nassschweif, jetzt!“

    Und hier offenbarte sich, dass es Audrey war, die den Fehltritt begangen hatte. Sie durfte unter gar keinen Umständen so nah an Dragonir heran. Auf kurze Distanz machte die Drachenschlange kurzen Prozess mit Traunmagil. Aus den blauen Kristallkugeln am Schweifende trat rasch Wasser aus, das selbigen in einem Wirbel einhüllte und peitschenartig zuschlug. Obwohl es bei diesem Leichtgewicht eher wie eine Keule anmutete. Traunmagil wurde einfach beiseite gefegt und flog fast waagerecht in die Betonmauer. Die Zuschauer in der ersten Reihe sprangen auf und lugten hinunter, während Cay seine Stimme wiederfand, nachdem es ihm ob dieses heftigen und vor allem unerwarteten Schlages glatt für eine Sekunde die Sprache verschlagen hatte.

    „Wow, Miller war zu voreilig und Traunmagil muss übel einstecken! Clever gemacht. Ich weiß nicht, was mehr weh getan haben muss. Der Schlag mit Nassschweif oder die Kollision mit der... ey wartet, Traumagil ist putzmunter!“

    Tatsächlich löste sich der violette Geist und begab sich wieder in die Schwebe, als habe er kaum etwas gespürt. Hatte der Stadionsprecher etwa gedacht, hier einen vorentscheidenden oder gar finalen Schlag gesehen zu haben? Da kannte er Audrey aber schlecht. Diese schmunzelte keck, als sei sie sehr zufrieden mit der im wahrsten Sinne schlagfertigen Antwort der Drachenmeisterin. Sie hatte sie mit Hyperstrahl lediglich locken wollen, um dann zuzuschlagen, wenn Traunmagil sich überlegen wähnte. Hatte sie sich da von Ryan inspirieren lassen?

    Sei es drum. Wenn sie mit seinen Techniken zu gewinnen versuchte, spielte ihr das nur in die Karten. Audrey wusste gut, wie man gegen ihn antreten musste.

    „Konfustrahl.“

    Es war nicht wirklich ein Strahl, den Traunmagil vor ihrer Brust aufglimmen ließ und gen Dragonir schleuderte. Es sah eher aus wie ein Volbeat in der Nacht. Ein unscheinbares, gelbes Licht, das sich schwebend auf die Drachenschlange zubewegte. Sandra hatte selbstverständlich nicht vor, Audrey damit gewähren zu lassen.

    „Dragonir, steig hoch und dann Drachenpuls.“

    Mit dem Höhenvorteil galt es lediglich ein paar Sekunden zu gewinnen, bevor der Konfustrahl das Drachenpokémon erreichte. Selbst wenn der eigene Angriff fehlschlagen sollte, würde Traunmagil doch zumindest die Konzentration verlieren und die Attacke abbrechen müssen. Dragonir öffnete das Maul, dessen Inneres blau- violett aufleuchtete. Man konnte meinen im unmittelbaren Umfeld dieser Drachenenergie surrte die Luft ehrfürchtig vor dieser Kraft.

    „Jetzt Tiefschlag!“

    Sandra war schon wieder aufgelaufen – und diesmal nicht mit Absicht. Tiefschlag war eine wahnsinnig schnelle Technik, die man fast unmöglich zu kontern vermochte, wenn man offensiv agierte. Noch bevor Dragonir die nötige Energie gesammelt hatte, schlugen zwei dunkelviolette Geisterfäuste nach ihrem Kinn und schließlich in den Unterbauch.

    Audrey befahl nun wieder, Unheilböen einzusetzen. Allerdings mit voller Kraft. Schon da sie dies extra betonte, schwante Ryan Böses und er presste vor dem Bildschirm die Lippen aufeinander. Die geisterhaften Windschlieren schienen diesmal die Luft zum Beben zu bringen. Pfeifender Lärm und ein tiefes Surren lagen so stark darin, dass man das eigene Wort kaum verstehen konnte. Die Stimme von Cay ging trotz der Stadionlautsprecher völlig unter. Der Drachenschlange war, als zerre man von allen Seiten gleichzeitig an ihrem Körper, während sich das Gewicht eines Stahlos auf sie legte und gen Boden zu drücken versuchte. Ihr Körper wurde in den peitschenden Winden rasch taub. Das würde sie keine Minute aushalten!

    „Bo…yga…“

    Da war eine Stimme. Energisch und unverkennbar. Eine leitende Hand in der Dunkelheit. Wie konnte in diesem tosenden Sturm aus Geisterenergie überhaupt noch ein Wort zu ihr durchdringen?

    „Lo…, Bo...ygard!“

    Ein berauschendes Kribbeln löste die Taubheit in ihrem Leib ab. Dragonir riss die Augen auf und tatsächlich schimmerten sie in einem sachten, azurblauen Licht. Es übertrug sich auf den gesamten Körper und verschluckte das Rauschen, das Zerren, Reißen und Toben. Sie hüllte sich in einen Schutzschleier.

    Audrey konnte selbst kaum sehen, was in den Unheilböen vor sich ging. Normalerweise müsste die Drachenschlange so langsam, am Ende sein, wenn sie keinen Ausweg fand. Doch solange Traunmagil die Attacke aufrecht hielt, sah sie ihren Gegner noch nicht am Boden. Und hinter dem erbarmungslosen Sturm aus Schwarz und Violett erhellte sich plötzlich eine schmale, längliche Gestalt. Ihr Angriff schien dem Wesen auszuweichen wie ein Fluss einem Felsen. Hatte Sandra also doch ein Mittel gefunden. War das eben ihre Stimme, die da zu ihr durchdrang?

    Welches Wort hatte sie gerufen? …per…sahl? … strahl – Hyperstrahl!

    Audreys Augen wurden groß, als plötzlich ein goldener Energiestrahl die Böen durchschlug und zerfetzte, so wie der kräftigste Sonnenstrahl einen dünnen Wolkenteppich zerteilte. Weder ihr noch Traunmagil blieb die Zeit für eine Reaktion. Es war als habe sich das Licht der Sonne zu einem Geschoss gebündelt und mit der Geschwindigkeit von eben jenem den Geist davon gefegt. Diesmal konnte man glatt davon ausgehen, die Mauer hinter Audrey würde durchschlagen und durchlöchert werden. Und was dann mit Traunmagil geschehen würde, wollte man sich eigentlich kaum vorstellen. Die Zuschauer oberhalb des Einschlagortes waren diesmal deutlich weniger neugierig und schaulustig. Einige erschraken gar und schlugen die Arme vor´s Gesicht – und sei es nur, um die Augen von Schutt und Staub oder bloß dem Lichtschein zu schützen.

    „Ach du sch… und ich hab Sandra schon fast abgeschrieben. Das sah fast nach Schachmatt aus und dann pflügt Dragonir da einfach mal durch alles und jeden durch. Dieser Hyperstrahl war unglaublich!“, ertönte es nun wieder hörbar aus den Lautsprechern. Cay wirkte beinahe schon entsetzt ob dieser gewaltigen Kraft. Das übertraf ja sogar Terry Fullers Aufritt von vorhin.

    Ein Loch war Dragonir mit diesem Hyperstrahl zwar nicht gelungen, aber eine tiefe Mulde sowie einige lange Risse. Und im Zentrum der zerstörerischen Spuren hing ein violetter Geist, mit Schrammen und Brandwunden übersät, zitternd und jauchzend. Man konnte im Sand sogar deutlich sehen, wo genau der Hyperstrahl entlang gewütet hatte. Die Druckwelle hatte eine Schneise, so breit wie ein Wailmer, in den Staub geschlagen und in dessen Zentrum glühte tatsächlich ein schmaler Streifen Erde.

    Das Zucken, das Aufbäumen der Nerven ließ den Körper Traunamgils sich von der Mauer lösen. Er glitt sachte und langsam gen Boden, wie ein Blatt, das von einem Baum fiel. Audrey hatte den Blick gesenkt, sodass ihre Augen unter ihrem Haar verschwanden. Dem Großteil der Zuschauer stockte der Atem, während Cay bereits Luft holte, um das Urteil auszusprechen, dass die Trainerin aus Rosalia City geschlagen sei. Hätte sie von dieser Intention seinerseits gewusst, würde sie ihm dafür nach dem Kampf dermaßen eine kleben, sodass er den Rest des Tages rückwärts laufen müsste.

    Nur Zentimeter über dem Boden raffte sich Traunmagil unverhofft auf, als habe eine Windböe sie hochgewirbelt. Sie sog tief Luft ein und rief laut ihren Namen aus, was ein Raunen durch´s Publikum sandte.

    „Ich pack´s nicht, Mann. Die Kiste ist noch nicht durch!“

    Und der Stadionsprecher schien keineswegs traurig darüber. Gäbe es da nicht noch so viele andere Trainer, auf die er sich schon seit gestern freute, könnte er diesen beiden Frauen den ganzen Tag zusehen.

    Ein freches Schmunzeln zierte Audreys Visage und Sandra, die nun wieder offen vor ihr stand, spreizte die Beine etwas, als habe sie vor, selbst handfest in den Kampf einzugreifen. Sie hatte es geschafft, eine Bresche durch die Dauerangriffe Traunmagils zu schlagen, war aber daran gescheitert, das volle Potential aus der Gelegenheit zu schöpfen. Was bedeutete, nun würde sie mit dem stärksten Gegenschlag rechnen müssen, den Audrey noch zu bieten hatte, denn diesen weiter aufzuheben stand nicht länger zur Debatte. Ihr Pokémon war den Grenzen der Erschöpfung nahe und konnte in fortschreitender Zeit keinen Verbündeten mehr finden. Sie ging entweder jetzt auf´s Ganze oder warf das Handtuch. Ihr Grinsen verriet, dass sie letzteres nicht in Erwägung zog.

    „Traunmagil“, erhob sich ihre Stimme, welcher der Drachenmeisterin gespannt lauschte, und sich für verschiedene Szenarien in Gedanken bereits einen Konter zurechtlegte.

    „Leidteiler.“

    Sandra blinzelte baff. Ihr Kiefer spannte sich an. Wie um alles in der Welt sollte sie das denn auskontern?

    Eine schwarze, leicht transparente Ranke stieß aus Traunmagils Brust und verband sie rasch mit Dragonir. Es wäre sinnlos, davor zu flüchten oder eine eigene Attacke dagegen einzusetzen. Diese Energie ließ sich nicht abwehren und nach dem Hyperstrahl waren ihre Optionen zudem stark eingeschränkt. Sie schlang sich einmal um das Drachenpokémon und schon im nächsten Moment zuckten dunkelviolette Blitze um den Körper, ließen ihn erstarren, verkrampfen und entlockten markerschütternde Schmerzensschreie. Gleichfarbige Lichtpunkte wanderten indessen durch die schwarze Energie von Dragonir aus zu Traunmagil.

    Während Cay total perplex über das Ass war, welches Audrey hervorgezaubert hatte, beschäftigte Sandra etwas viel Wichtigeres. Den meisten auf den Tribünen war es vermutlich entgangen, doch die Arenaleiterin sowie Ryan, Andrew, Terry und zweifellos auch Bella, hatten genau in diesem Moment erkannt, dass Audrey von Anfang an hierauf hingearbeitet hatte. Warum den Gegner selbst in einem langen, aufreibenden Kampf zermürben, wenn der die Arbeit auch selbst machen konnte? Mit Hyperstrahl hatte Dragonir ihr schwerstes Geschütz aufgefahren. Nun war ihr Pulver weitestgehend verschossen, denn so ausgelaugt und ermattet, wie sie nun in der Luft hing und erbärmlich keuchte, würde sie diese Attacke keinesfalls noch einmal zustande bringen. Und selbst wenn, so konnte Audrey noch immer mit Tiefschlag kontern.

    Das wusste auch Sandra, weshalb sie diesen Plan sogleich verwarf.

    „Alle Achtung. Du übertriffst meine Erwartungen, Audrey“, murmelte sie nachdenklich. Sie musste etwas Anderes probieren. Musste die nötige Kraft sammeln, um es trotz Traunmagils Regeneration mit dem nächsten Schlag beenden zu können.

    „Dragonir. Drachentanz, los!“

    Das könnte ihr so passen. Sandra war sicher nicht so naiv, zu glauben, Audrey würde sie einfach so gewähren lassen. Wenn sie der Drachenschlange erlaubte, sich noch einmal zu stärken, könnte ein einziger Treffer das Match plötzlich wieder herumreißen, gar entscheiden. Mit Tiefschlag konnte sie allerdings nicht dazwischengehen, was sicher auch der Hintergedanke der Arenaleiterin war. Nur hatte sich Audrey auch noch eine Technik aufbewahrt.

    „Schattenstoß!“

    Noch so eine schnelle Attacke. Audrey hatte Traunmagil scheinbar echt alles beigebracht, was im Bereich des Möglichen war. Eine Eigenart, die zumindest in Teilen von Ryan an sie angefärbt war.

    Der Geist – nach dem Leidteiler nun deutlich munterer und flinker – machte einen Bogen in der Luft und verschwand schließlich im Boden, wo er als schwarzer Schatten zwar sicht- aber nicht greifbar blieb. Ryan erinnerte sich, dass Milas Zwirrlicht die Attacke bei ihrem Wettbewerbsauftritt ebenfalls genutzt hatte, wenn auch in etwas anderer Form.

    Binnen eines Wimpernschlages war der Schatten plötzlich direkt unter Dragonir. Sandra fiel in diesem Moment nichts Besseres ein, als ein taktischer Rückzug. Und zwar in die Höhe. Dragonir stieg gen Himmel, um der Reichweite Traunmagils zu entgehen. Gut, so dachte sich Audrey. Dann eben anders.

    „Phantomkraft!“

    Das hexenartige Pokémon tauchte aus der schwarzen Lache aus, nur um direkt darauf in einen violetten Nebel zu verschwinden, der direkt über ihr aufgetaucht und ebenso schnell wieder verschwunden war. Von Traunmagil fehlte plötzlich jede Spur.

    Phantomkraft. Der Schaufler der Geister, wie Sandra es gerne nannte. Sie wusste genau, sobald sie nun irgendeinen Befehl gab, würde der Angriff aus dem toten Winkel Dragonirs erfolgen und den Kampf vermutlich beenden. Sie musste sich irgendwie von allen Seiten schützen. Einer ihrer Mundwinkel zuckte nach oben.

    „Benutze Windhose als Schild!“

    Die Erschöpfung ließ einen Großteil der Anmut einbüßen, doch Dragonir schaffte es noch, mit einigen spiralförmigen Flugbewegungen einen Wirbelwind um sich zu erzeugen, in dessen Auge sie völlig unberührt und vor allem sicher vor Angriffen blieb. Cay hielt es kaum noch aus. Wie lange würde Sandra so noch davonkommen, ehe Audrey eine Lücke in der Verteidigung fand?

    „Jetzt wird´s spannend, Freunde. Sandra ist auf dem Rückzug, aber das hatte vorhin schon mal so ausgesehen. Kann sie jetzt nochmal zurückschlagen?“

    Eine sehr gute Frage. Die Drachenmeisterin wüsste sie selbst gern beantwortet. Doch ihr wurde nicht gerade viel Bedenkzeit geschenkt.

    „Greif von oben an, Traunmagil!“

    Alle Blicke wurden empor zu Dragonir gerissen und die tat dasselbe. Genau über ihr erschien plötzlich wieder derselbe lilafarbene Nebel. Diesmal zeichnete sich das dämonische Grinsen einer zerfurchten Teufelsfratze daraus ab, aus deren Maul Traunmagil, von violetter Geisterenergie eingehüllt, direkt auf ihren Rücken herabstürzte. Trotz ihres wendigen Körpers antwortete ihre Wirbelsäule auf den Schlag mit einem lauten Knacken und Dragonir selbst mit einem röchelnden Stöhnen. Dann wurde es kurios.

    In der Kollision war Dragonirs Schweifspitze aus dem Auge der eigenen Windhose getreten und von selbiger erfasst worden. Ihr Körper wurde herumgewirbelt wie ein Blatt im Wind und sie riss Traunmagil glatt mit sich.

    „Oha, das lief nicht nach Millers Plan, schätze ich. Die beiden Pokémon haben sich in der Luft verkeilt. Wenn das mal nicht ins Auge geht.“

    Weder Sandra noch Audrey schenkte dem überflüssigen Kommentar Gehör. Sie mussten irgendwie ihre Pokémon aus dieser gleichseitigen Bredouille bekommen und das am besten, ohne dem Gegner großartige Chancen zu eröffnen. Und Audrey entschied sich für den rustikalen Weg.

    „Spukball, jetzt!“

    Der Geist brauchte gar nicht zielen. Der Gegner war im wahrsten Sinne direkt vor ihrer Nase. Die schattenhafte Energiekugel detonierte noch direkt vor ihrer Brust und zerfetzte endlich die Windhose. Violetter Rauch hüllte die beiden ein, aus dem Traunmagil jedoch schon einen Moment später heraus tauchte. Sie hatte sich mit diesem Manöver selbst ordentlich eine verpasst, aber das war verkraftbar. Die Drachenschlange sollte so langsam genug haben. Nur noch ein gezielter Treffer und dieses Match wäre vorbei.

    Das wusste auch Sandra. Und genau das war der Punkt, der sie zu der folgenden Entscheidung führte. Es war ein riskanter Schachzug, aber von hier an gab es nicht mehr viel zu verlieren. Jetzt oder nie!

    „Nassschweif, Dragonir! Bring Traunmagil auf Abstand!“

    Der Nebel hatte sich noch nicht ganz gelichtet da wurde er von einer blau- weiß geschuppten Schwanzspitze mit zwei tiefblauen Kristallen daran durchpflügt und entzwei geteilt. Eine Peitsche aus Wasser schlug nach dem Geist-Pokémon, das sich jedoch einfach ein Stück fallen ließ und somit schon durch eine leichte Neigung des Oberkörpers ausweichen konnte. Mehr hatte die Drachenmeisterin gar nicht zu erreichen versucht.

    „Jetzt als Wasserrad!“

    Mit dem Kommando wusste weder der gemeine Zuschauer noch unter der Konkurrenz jemand etwas anzufangen. Selbst Cay blieb das Wort im Hals stecken.

    Dragonir formte mit ihrem Körper ein Rad, den Schweif nach außen abstehend und begann wie ein solches zu rotieren. Das Wasser, das weiter aus dem Schweifende austrat, legte sich somit über ihren gesamten Rücken und sie wurde zu einem schmalen, rotierenden Geschoss, das nach Traunmagil zielte. Das Tempo und die damit einhergehende Wucht waren sehr gut daran auszumachen, wie stark das Wasser vom Körper der Drachenschlange peitschte. Es gelang gar ein Treffer direkt auf Traunmagils Schädeldecke. Sie musste sich kurz schütteln. Ein kurzer Moment, der alles entscheiden könnte, bot sich an.

    „Und nun Drachenwut!“, befahl Sandra lauthals, vollführte dabei eine wegwischende Handbewegung. Dragonir sang ihren Namen so stark und so erhaben, wie es ihr gebeutelter Zustand noch erlaubte und spie wieder die bläulichen Flammen, wie vorhin schon. Sie brauchte gar keine Kraft in den Angriff zu stecken. Durch die fortwährenden Bewegungen fing ihr Körper das Drachenfeuer von selbst auf. Manch einer mochte sich wohl wundern, wie es denn ohne Weiteres mit dem Wasser in Kontakt kommen konnte, ohne zu erlöschen, doch erfahrene Trainer wussten natürlich, dass Drachenfeuer bei weitem nicht so leicht erlosch, wie gewöhnliche Flammen. Cay schien dieses Wissen entweder vorauszusetzen oder selbst nicht zu besitzen. Jedenfalls versäumte er, die Erklärung zu liefern. Vielleicht war er aber auch einfach zu gefesselt und gespannt, wie dieser, womöglich letzte Angriff dieses Matches ausgehen würde.

    „Seht euch das an! Die Drachenwut legt sich wie ein zweiter Mantel um Dragonir. Alter, was für eine Power dahinterstecken muss…!“

    Eine gewaltige. Ryan bemerkte, wie er den Atem anhielt. Er selbst hatte schon Verbindungen zwischen Wasser und Drachenfeuer beobachtet. Er hatte sogar mal solch blaue Flammen auf der Oberfläche eines Sees tanzten sehen. Aber das im Kampf so einzusetzen und diese Energien zu entfesseln – das war… beachtlich. Linde gesagt.

    Andrew sah das ganz ähnlich und zog beeindruckt beide Brauen hoch. Terry, der etwas abseits der beiden die Monitore beobachtete, beließ es bei einer. Und dann war da noch Bella, die weit im Hintergrund blieb, um unbemerkt an ihrem Flachmann zu nippen. Die schmunzelte verspielt und verschmitzt. Es gefiel ihr sehr, was ihre Feinde so aus dem Hut zaubern konnten. Selbst Audrey konnte über dieses Schauspiel nur staunen. Fast – aber wirklich nur fast – wäre es zu überwältigend, um etwas entgegenzusetzen. Das musste sie allerdings tun, wenn sie nicht verlieren wollte. Nur was?

    Schließlich was es alles zu schnell gegangen. Traunmagil hatte gar nicht erst versucht, eigens auszuweichen, da das Feuer zu weit gestreut wurde. Und egal, was sie Dragonir entgegengesetzt hätte, es wären vergebene Mühen gewesen. Mit so einer vermengten Zerstörungskraft zweier Elemente konnte sie nicht mithalten.

    Von Flammen verzehrt. Von Fluten ertränkt. Eine Naturgewalt, die lebte, atmete, verzehrte, um weiter zerstören zu können. Und eine, die Leben gleichermaßen erschuf, wie vernichtete und die Kraft besaß, Kontinente zu bewegen. In deren Angesicht war die zierliche Gestalt Traunmagils weniger als ein Kieselstein, den man unbedacht aus dem Weg trat. Dragonirs Angriff grub eine tiefe Furche in den Boden, sodass man ein Onix darin hätte vergraben können. Funken und Flammenfäuste stoben zu allen Seiten und regneten sanft auf den Sand nieder, der Sekunden später von einem zarten Sprühregen durchtränkt wurde. Im Zentrum dieses Kraters wütete dagegen blanke Zerstörung. Ein Meteor war im Prime Stadium eingeschlagen und weigerte sich, zu erlöschen, zu bremsen, sich von dem Erdball stoppen zu lassen. Sandra und Audrey wurden so stark geblendet, dass die Augen schmerzten. Sie rissen schützend die Arme hoch und stemmten sich gegen die Druckwelle, die sie hinwegzufegen drohte. Die Drachenschlange trieb ihr Rad so lange und so weit, wie es ihr nur irgendwie möglich war, in den Boden. Der Körper war längst taub. Die Muskelkraft gänzlich erloschen – im Gegensatz zur ihrer Drachenwut. Allein die Rotationsenergie, angetrieben durch eben diese sowie den Nassschweif hielt den Angriff weiter aufrecht.

    Und ganz plötzlich kapitulierte der Meteor dann doch. Die Flammen erloschen. Das Wasser versiegte. Der Lärm erstarb. Nur Dragonir erschien für einen Atemzug dort, wo eben noch das Zentrum all dieses Wütens gewesen war. Wie eine Feder sank sie völlig erschöpft gen Boden – oder eher in den von ihr geschaffenen Krater. Ein überdimensionales Grab für eine Kämpferin, die ehrenhaft gefochten, alles gegeben und am Ende gesiegt hatte…

    Sieger gingen nicht zu Boden!

    Sandra zog einmal scharf Luft ein. Als hätte ihre Partnerin es gehört, spannte sie ein letztes Mal ihre zitternden, brennenden, protestierenden Muskeln an und hielt sich geradeso über dem bewegungslosen Körper eines violetten Geistes. Keine Rufe und keine Stimme mehr. Doch hievte sie ihr stolzes Haupt hinauf zum Himmel.

    „Traunmagil ist kampfunfähig. Dragonir gewinnt“, ertönte die Stimme eines in Uniform gekleideten Mannes, den man während eines solchen Spektakels so leicht und häufig vergaß, obwohl es doch sein Urteil war, auf das stets alle warteten. Er reckte die Fahne in seiner Linken und zeigte dann in Richtung der Drachenmeisterin.

    „Das Match geht an Arenaleiterin Sandra!“

  • Hallo,


    das Kapitel war sehr unterhaltsam und du zeigst wieder einmal gut, dass dir längere und vor allem abwechslungsreiche Kämpfe perfekt liegen. Die Auseinandersetzung zwischen Dragonir und Traunmagil weiß vor allem durch die Attackenvielfalt, viele ansprechende Umschreibungen und die Darstellung der Attacken zu überzeugen. Einzig der Hyperstrahl, der auf Traunmagil funktioniert, mutet im ersten Moment seltsam an, aber wenn man bedenkt, wie viel Energie da zustande kommt, bleiben wohl auch Geister nicht vollständig davon verschont. In jedem Fall ein sehr spannender Kampf und ich freue mich darauf zu sehen, mit welchen Pokémon die zweite Runde bestritten wird.


    Wir lesen uns!

  • Grüße, Rusalka


    Ob mor die Kämpfe so sehr liegen, würde ich zumindest nicht gedankenlos unterschreiben. Auch wenn ich mit dem Endresultat in diesem sowie anderen Fällen sehr zufrieden bin, bedarf es dafür oft zermürbender Akribik und Geduld/Sturheit an der Tastatur. Das sieht der Leser natürlich nicht. 😅


    Umso mehr freut mich dein Lob. Genau das habe ich zu erreichen versucht und ich hoffe, dass ich nicht schon vor dem Finale mein Pulver verschossen haben werde. 😁

  • Kapitel 49: Überzeugung


    Ryan und Andrew hatten selten ihren Konkurrenten applaudiert. Spontan fiel den beiden nicht einmal ein konkreter Fall ein. Das machte ihren Beifall für Sandra und Audrey, die gemeinsam, Seite an Seite, in den Warteraum traten, umso aussagekräftiger. Beide hatte sich bereits die Hand geschüttelt und die Ausgeschiedene zudem aufrichtige Glückwünsche ausgesprochen. Von Enttäuschung oder Frust war keine Spur bei ihr. Sie strahlte und lachte. Warum auch nicht? Sie hatte gerade einen Mordsspaß gehabt. Auch hatte sie an Traunmagils Leistung nicht das Geringste auszusetzen, war viel mehr stolz auf sie und auch sich selbst, die stärkste Arenaleiterin Johtos auf Augenhöhe gefordert zu haben.

    „Ihr Schleimer“, kommentierte die den gar nicht mal unerwünschten Applaus der beiden Jungen keck und streckte ihnen die Zunge raus. Sie verzichteten auf eine Bekundung, dass sie die Geste absolut angebracht war – und zwar für sie beide – und klatschten wie Teamkollegen mit den Mädels ab.

    „Ganz ehrlich, ich wollte, dass ihr beide weiterkommt“, beteuerte Andrew. Er ließ, enttäuscht darüber, dass dies unmöglich war, die Schultern etwas hängen und blickte ein bisschen wehleidig. Nur das begeisterte Lächeln störte diese Haltung. Ryan würde diesen Vorschlag nicht ablehnen, wollte sich aber nach etwas Anderem erkundigen.

    „Ich hätte euch den ganzen Tag zusehen können. Wann hat sich Traunfugil denn entwickelt?“

    „Vor zwei Monaten.“

    Während sich Sandra auf die Sitzbank fallen ließ, die Beine übereinander schlug und sich lässig auf einen Arm stützte, blieb Audrey stehen und stemmte nun doch in einem leichten Anflug von Ernüchterung die Hände in die Seiten.

    „Ich bin echt stolz auf sie. Ich verlass mich mittlerweile fast so oft auf sie, wie auf Vulnona.“

    Es wäre schwer, unter Audreys Pokémon eines zu benennen, das in Kraft und Können den anderen überlegen sein sollte, aber Fakt war, dass sie mit niemandem so oft kämpfte, wie der Fuchsdame. Gegen Sandras Drachen wäre sie aber von vornherein eine schlechte Wahl gewesen. Gegen viele Gegner konnte sie trotz Typennachteil gewinnen, aber sich gegen einen von diesem Format selbst in eine benachteiligte Ausgangslage zu manövrieren, konnte sie sich niemals leisten.

    „Aber wie man sieht, haben wir noch einiges an Arbeit vor uns“, ergänzte Audrey und zog eine ihrer Sonnenbrillen auf die Nase. Ihre Jacke, die sie während des Kampfes abgelegt hatte, hing über ihrer linken Schulter.

    „Wir müssen jetzt nicht nochmal dieselben Lektionen runter rasseln, wie bei Cody, oder?“, feixte Andrew in Ryans Richtung und vergaß dabei scheinbar, dass die Trainerin zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zur Runde dazugestoßen war. Wäre trotzdem möglich, dass sie die Unterhaltung bereits mitbekommen hatte. Ryan verpasste seinem Kumpel nur einen Stoß in die Seite.

    „Andrew will sagen, dass ihr klasse wart. Und außerdem war´s ja nur ein eins-gegen-eins.“

    Solche Duelle hatten unter Trainern meist nicht sehr viel Gewicht, da niemand in der Szene weit kam, der nur einen fähigen Kämpfer trainierte. In einem Match mit drei oder gar sechs Pokémon hätte alles anders ausgehen können.

    Hätte, hätte, Fahrradkette, musste man auf der anderen Seite jedoch einwerfen. Audrey sah das auf jeden Fall so. Sie war eine knallharte Realistin. Und nebenbei noch nie auf die Worte und Meinungen anderer angewiesen gewesen. Auch nicht die von Freunden, obgleich das eigentlich viel zu zynisch für sie klang. Sie wusste, wo sie stand. Im Leben und im Können.

    Traunmagil war klasse“, korrigierte die Trainerin die Anrede und wollte das Thema zügig sein lassen. Der Kampf war vorbei, das Ergebnis eindeutig und der Shake Hand vorüber. Sie war raus. Natürlich war es schade, dass es so früh passiert war, aber diesen Preis zahlte sie gerne, da sie das Vergnügen gehabt hatte, gegen ein Idol aus ihrer Jugend zu kämpfen. Und sowohl aus neutraler Perspektive als auch ihrer eigenen war es ein erstklassiges Match gewesen. Aus dieser Tatsache würde sie schöpfen, wenn oder eher sobald sie sich in den nächsten Stunden das ein oder andere Mal wünschte, noch mitwirken zu können.


    Die Gruppe quatschte noch eine Zeit lang, verfolgten dadurch die folgenden Kämpfe nur mit begrenzter Aufmerksamkeit. Für die sechste Runde entschuldigte sich Audrey allerdings und eilte auf die Tribünen. Wie sich herausstellte, kannte sie diese Amy Valentine, die nun antrat, flüchtig und wollte ihr gerne von der Tribüne aus zusehen. Außerdem würde sie sich gern mit dieser Melody bekanntmachen.

    „Und diese Déreaux will ich mir auch nochmal genauer anschauen.“

    Sie wartete keine Reaktion der Gruppe ab. Sie wäre auch überraschend still, dafür aber mit sehr bitteren und feindseligen Minen ausgefallen. An und für sich wäre die Idee, Bella aus der Nähe zu beobachten gar nicht mal eine dumme. Aber das Risiko war zu hoch, von ihr erspäht zu werden. Damit ging natürlich keine Gefahr einher, aber die Genugtuung, diese gesonderte Aufmerksamkeit zu erhalten, die sie womöglich amüsierte, wollte ihr ganz gewiss niemand verschaffen.

    „Sie war besser.“

    Sandras Stimme ertönte unerwartet. Klang fast ein bisschen abwesend. Sie sah noch in die Richtung, in welche Audrey gerade abgezogen war und lächelte schwach, aber sehr zufrieden. Ryan und Andrew folgten ihrem Blick für einen Moment als könnten sie die Trainerin aus Rosalia dort noch vorfinden. Ohne es auszusprechen, waren ihrer beider Gedanken bereits längst bei Bella gewesen, weshalb sie eine Sekunde benötigten, um zu realisieren, dass Sandra mit den ihren noch nicht weiter geeilt war, so wie die zwei Trainer.

    „Sie war in allen Belangen besser als ich“, konkretisierte sie die Aussage und kehrte die Unterhaltung doch noch einmal um, zu ihrem anfänglichen Thema.

    „Sie hatte die bessere Strategie, die klügeren Konter, die kreativeren Angriffsmuster, hat das Tempo bestimmt…“

    Die jungen Männer sagten zunächst nichts. Fast wollten sie widersprechen, da es regelrecht erniedrigend für die Drachenmeisterin klang, dass sie in so vielen Aspekten unterlegen gewesen sein soll. Doch sie taten es nicht. Aus dem einfachen Grund, da Sandra nichts Unwahres aussprach.

    „Gewonnen ist gewonnen. Es war fair und sicher nicht geschenkt“, resümierte Ryan stattdessen. Auch dies war unumstößlich. Das waren die Fakten, die mehr als alle Nebenstatistiken zählten. Zumindest für Beobachter von außerhalb. Trainer hatten weit mehr und Wichtigeres als das Endresultat aus einem Kampf mitzunehmen.

    „Dragonir und ich haben lediglich den ein oder anderen Lucky Punch gelandet. Und die Kombination aus Nassschweif und Drachenwut haben wir noch lange nicht ausgiebig genug trainiert. Die Chancen standen höher, dass die Aktion misslingt.“

    Womit sie sagen wollte, dass Audrey es in ihren Augen mindestens genauso, wenn nicht sogar mehr verdient hätte, im Viertelfinale zu stehen. Sollte es Audrey jemals wieder nach Ebenholz verschlagen und sie zu einem Arenakampf fordern, wäre die Drachenmeisterin bei solch einem Ausgang gar gewillt, ihr trotz der Niederlage den Orden zu überreichen. Natürlich müsste man dafür einige Regelungen und Richtlinien brechen. Auf der anderen Seite konnte sie sich nicht vorstellen, dass Audrey dies akzeptieren würde.

    „Lust auf einen abgedroschenen Spruch?“, lenkte Andrew die Aufmerksamkeit auf sich. Beide Augenpaare legten sich auf ihn.

    „Man sieht sich immer zweimal im Leben.“

    Reichte das gewählte Adjektiv wirklich aus, um diesen Spruch ausreichend zu definieren?

    „Ich bin sicher, Audrey wird dich irgendwann zu einem aussagekräftigen Kampf fordern. Einem, nach dem kein Raum mehr für Zweifel und Spekulationen bleibt.“

    Davon war die Arenaleiterin ebenso überzeugt. Es wäre ein herrliches Szenario, würde Audrey um ihren Orden kämpfen – nicht, um an der Johto Liga teilzunehmen, sondern um ein Erinnerungsstück an ihr Match zu erkämpfen.

    Doch wenn sie eben diese Überzeugung hatte, so gab es auch keinen Grund, weiter zurückzublicken. Mehr sollte sie sich auf ein Wiedersehen freuen. Zu anderer Zeit, wenn kein Krieg zwischen den Menschen und einer Pokémon-Gattung auszubrechen drohte. Und allem voran sollte sie ihre Gesellschaft genießen, solange sie noch andauerte.

    Schon komisch, wie gut die beiden Frauen miteinander auskamen, obwohl sie sich noch nicht einmal zwei Tage kannten.


    Es geschah selten, dass ein Pokémon bei so einem offiziellen Kampf unmittelbar nach eben diesem von einem Ärzteteam ins – glücklicherweise direkt anliegende – Pokémoncenter transportiert werden musste. Einerseits, weil ab der inzwischen angebrochenen K.O. Phase für gewöhnlich nicht so enorme Kräfteunterschiede existierten. Und selbst wenn so ein Fall einmal eintrat, ging der Überlegene normalerweise nie so skrupellos und brutal vor.

    Bella musste ihrem Absol vor dem Match eingetrichtert haben, dass es ein Zeichen zu setzen galt. Eine Botschaft an die Konkurrenz. Speziell an einen blonden Trainer aus Johto, in dessen Fall die verbale Warnung vom Vortag nicht ausreichend schien. Vielleicht hatte sie aber auch bloß entschieden, dass es Zeit war, die Samthandschuhe abzulegen.

    In jedem Fall hatte sie dem Staraptor nicht nur die Federn gerupft, sondern vermutlich sämtliche Knochen gebrochen. Wer ihre vorherigen Matches schon für brutal gehalten hatte, wäre hier wohl in Ohnmacht gefallen. Wenn man Audreys Urteil vertraute, so war es eines der ältesten und stärksten Pokémon, das sie aufbieten konnte, doch Bella war sie mindestens zwei Klassen unterlegen. Sie waren überhaupt nicht zum Zug gekommen. Ob aus der Distanz oder im Nahkampf – Absol hatte mit seinem Gegner gemacht, was es wollte. Und war dabei überaus gnadenlos vorgegangen. Audrey und Melody – die ausgeschiedene Trainerin hatte mit viel Glück einen Platz direkt neben ihr ergattern können, da sie sich mit der Kleinen besser bekannt machen wollte – hatten das Ganze mit einer Spur Entsetzen verfolgt und stetig den Schiedsrichter beobachtet, um zu sehen, ob er ihrem unausgesprochenen Wunsch, das Match zu beenden, nachkommen würde. Viel zu spät hatte er sich dazu entschieden. Als er sich daran schickte, Bella zur Siegerin zu erklären, hatte die ihre Schattenkatze gar einmal zurückgepfiffen und davon abgehalten, das am Boden liegende Staraptor weiter zu malträtieren. Die Mehrzahl der Zuschauer und auch Stadionsprecher Cay mussten hier wohl von einem – wenn auch verspäteten – Akt der Gnade ausgegangen sein, doch die wenigen, die um Bellas wahre Identität wussten, vermuteten eher, dass sie lediglich einer Strafe durch die Turnierleitung entgehen wollte. Sie war bereits gestern einmal negativ aufgefallen, als ihr Ninjask ein Morlord übel zugerichtet und das Schlusssignal des Unparteiischen nicht gleich respektiert hatte. Da sie nun jedoch mit Fug und Recht behaupten konnte, die Gesundheit des Gegners geschützt zu haben, indem sie Absol gestoppt hatte, würde dieser brutale Kampf wohl als Unfall ausgelegt werden. So etwas konnte schließlich schon mal passieren, wenn der Kräfteunterschied zwischen zwei Kontrahenten zu groß war.

    Andrew wollte am liebsten den Gin von gestern Abend hochwürgen und ihr ins Gesicht spucken. Und mit ihr hatte er noch zusammengesessen. Hatte eine Seite an ihr gefunden, mit der er sehr gut hätte auskommen können, wenn Team Rocket und Rayquaza nicht dazwischenständen. Oder hatte das zumindest geglaubt. War das wirklich dieselbe Balla, mit der er in der Bar geredet hatte?

    „Alles klar?“

    Ryan klapste mit dem Handrücken gegen seinen Oberarm und unterbrach seine Gedankengänge. Fast hätte man seinen Zustand schon als Trance betiteln können und Andrew realisierte erst jetzt, dass er so versunken gewesen war. Es war sehr unüblich für ihn, sich minutenlang in negativen Gedanken zu verirren, war er doch grundsätzlich eine sehr positiv eingestellte Person. Klar hatte er auf seinen Reisen schon einige miese Exemplare von Trainern, oder generell Menschen, getroffen, denen er bis ans Ende seiner Tage nichts Gutes wünschen konnte. Aber das hier…

    Andrew fühlte sich verhöhnt und verarscht, da er mit Bella noch Worte gewechselt hatte, die wenn überhaupt, kaum feindseliger Natur gewesen waren. Jetzt hätte er ihr so einiges mehr, dafür weniger Nettes zu sagen. Sein Zorn vernebelte sein Urteilsvermögen glücklicherweise nicht allzu sehr, sodass er zu dem Schluss kam, dass es keine gute Idee wäre, sie tatsächlich nochmals anzusprechen. Für einen kleinen Augenblick zog er in Erwägung, ebenfalls einen sehr dominanten, aber natürlich weit weniger skrupellosen Kampf zu zeigen. Aber er befand, dass dies die falsche Botschaft sei. Einen überzeugenden Kampf wollte er stattdessen liefern, der aufzeigte, dass Bella mit solch einer Show bei ihm keinen Eindruck hinterließ und er sich nicht auf sie einlassen würde. Dass sie machen konnte, was auch immer sie wollte – es war ihm völlig egal. Dann war sie halt stark. Dessen waren sie sich schon lange bewusst. Dann war sie halt gnadenlos. Was juckte es ihn? Genau dies galt es zu vermitteln.

    „Logisch, was sollte sein?“, entgegnete er Ryan nur und zuckte mit den Achseln. Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte Andrew mit lockeren, aber zielstrebigen Schritten von dannen, obwohl Cay sein Match noch gar nicht aufgerufen hatte. Dann würde er halt eine Minute länger im Tunnel stehen und auf die Eröffnung warten. Aber er wollte schnellstens so nah wie möglich an das Kampffeld. Läge es im Rahmen des Möglichen, würde er jetzt schon draufstürmen.

    Ryan sah ihm erst etwas verdutzt hinterher. Sandra, die hinter ihm stand und von Skepsis erfüllt war, registrierte aber die Bewegung auf seinen Wangen. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.

    „Und bei dir? Auch alles klar?“, fragte sie vorsichtig, als könnte sie es mit einem Wahnsinnigen zu tun haben. Der blonde Trainer beschwichtigte sich rasch und sah über die Schulter, versicherte mit seinen Augen, dass sie sich keine Sorgen machen müsse.

    „Jetzt hat er richtig Bock.“


    „Zwei Achtenfinal-Kämpfe haben wir noch, Leute. Und ich lehne mich mal weit aus dem Fester, indem ich sage, die werden geil!“, begann Cay die nächste Ankündigung. Audrey hatte ihre Bekannte Amy auf dem Weg nach draußen nochmals sehen wollen. Oder hatte eher nach ihr sehen wollen. Natürlich gab es wenig, dass sie für das Pokémon einer anderen Trainerin tun konnte, aber sie jetzt einfach so davonziehen zu lassen, wäre in Audreys Augen nicht richtig. Selbstverständlich war sie bedacht gewesen, ihr nicht zu viel Zeit zu stehlen. Glücklicherweise hatte sie die Verletzungen Staraptors zumindest so weit mit Fassung getragen, wie man es von einem gewissenhaften Trainer erwarten durfte. Ein gebrauchter Tag war es für sie bestimmt, aber Amy Valentine war kein Mauerblümchen. Morgen würde sie wieder lächeln können und das beruhigte Audrey.

    Diese kehrte gerade wieder an ihren Sitzplatz zurück. Sie hatte mit viel Glück einen direkt neben Melody ergattern können und folgte ihrem Blick hoch zur Anzeigetafel. Die Bilder der beiden Kontrahenten waren bereits eingeblendet, aber noch verdunkelt. Mit dem Aufruf ihrer Namen würden sie in grellen Farben aufleuchten.

    Audrey war offen gesagt ein wenig erleichtert, dass der energetische Stadionsprecher die Ansagen von Runde zu Runde kürzer gestaltete. So gut er seinen Job unterm Strich auch machte und das Publikum angeheizt hielt, empfand sie es mit der Zeit auch als ermüdend, ihn immer wieder Applaus fordern zu hören.

    „…und hier ist der Mann, den man auch Eisenblut nennt. Hier ist Dan Hayes!“´

    Derselbe bekannte Ablauf. Grelles Licht, viele Farben, laute Musik. Ein Aufschrei in der Menge, die dem Auftritt des jungen Mannes entgegenfieberte. Er war von großer und kräftiger Statur, hattes das dunkle Haar kurz geschoren und trug ein graues Muskelshirt. Darüber spannten sich lederne Hosenträger, die eine schwere Arbeiterhose hielten. Sah ein bisschen aus, wie ein Bergarbeiter, allerdings in frischer Kleidung. Wäre auch unangebracht gewesen, hier verschmutzt wie ein solcher aufzuschlagen. Aber eine imposante Gestalt stellte er durchaus dar. Schwere Schuhe trugen ihn zu seinem vorgewiesenen Platz. Er beachtete die Menge gar nicht, sondern befand sich viel mehr noch immer in einem Tunnel. Einem mentalen. Hayes starrte nur geradeaus, grinste dabei aber sehr euphorisch. Er gab das Bild eines Mannes, der unbedingt überschüssige Energie loswerden wollte. Das Muskelspiel in den Schultern und Oberarmen war echt beeindruckend. Gut, dass hier die Pokémon kämpften, denn gegen den Typen wollte man lieber nicht die Fäuste auspacken müssen.

    Der Trainer auf der anderen Seite sollte eine ähnliche Aura ausstrahlen. Als das Licht im gegenüberliegenden Tunnel Andrews Silhouette preisgab, hüpfte der auf der Stelle, wie ein Boxer, der die Muskeln lockerte.

    „Sein Gegner ist dafür als der Rastlose bekannt und drüben in Johto einer der Großen. Bühne frei für Andrew Warrener!“

    Kaum war sein Name gefallen, kam besagter schon ins Freie. Er sprintete regelrecht hinaus, stoppte aber rasch ab und sah sich um, als sehe er dieses Stadion zum ersten Mal. In gewisser Weise traf das nach seiner Auffassung auch zu. Die Fans machten das Stadion aus. Die Stimmen, die Atmosphäre, das Bild tausender Menschen, die ihn mit ihrem Lärm voranpeitschten. Und der Lärm gefiel ihm.

    Er sah nach links, nach rechts. Sog die Energie der Masse auf. Dann blieben seine braunen Augen an dem Mann auf dem Kampffeld hängen, fast als sei er überrascht, ihn dort vorzufinden. Seine Mundwinkel wanderten sehr langsam nach oben. Seine Füße bewegten sich gar fast in Zeitlupe. Zumindest, während er die ersten Schritte tat, doch dann wurden sie sehr plötzlich rasch und ungeduldig. Als lenkten sie ihn mit der Intention, dem Mann einen Dampfhammer zu verpassen. Im übertragenen Sinne war das auch tatsächlich sein Plan.

    „Beide Kontrahenten bereit?“, erkundigte sich ein sehr schmächtiger Schiedsrichter und prüfte, ob jeder einen Pokéball gewählt hatte. Die Regelung, dass beide Trainer ihre ersten Kämpfer zeitgleich präsentierten, würde sich auch bis zum Finale nicht ändern.

    „Bereit geboren“, bestätigte der junge Trainer aus Johto. Hayes gefiel die Kampfeslust in seinen Augen und nickte sehr deutlich. Bedeutete ihm, dass er endlich hinne machen sollte.

    „Lass uns nicht warten, du Stift.“

    Hatte der Mann an der Seitenlinie das jetzt als Beleidigung aufzufassen? Den Typen merkte er sich mal vor. Mehr respektlose Kandidaten wie diese Bella Déreaux brauchte der Summer Clash sicher nicht. Er überging die Anspielung vorerst und gab das Zeichen zum Beginn.

    Es schien, als wollten die beiden herausfinden, wer diese Kapsel höher schleudern konnte. Die weißen Lichtblitze gaben zwei aufrecht gehende Wesen von massiger Statur und ähnlicher Körpergröße frei.


    Offensichtlich hatte Andrew einen Anruf nach Hause getätigt. Ryan wollte pfeifen. Die Lippen hatte er dafür bereits gespitzt. Jedoch unterließ er es, um vor der Konkurrenz nicht den Eindruck von Ehrfurcht zu vermitteln. Etwas in der Richtung hätte dieses Pokémon durchaus verdient, aber er hatte sein Gesicht vor dem enger werdenden Teilnehmerfeld zu wahren. Die meisten wussten zwar, dass er mit Andrew befreundet war, doch spielte das im Wettkampf keine Rolle. Hier waren sie zunächst Rivalen und erst danach Freunde.

    Aber der Anblick des echsenartigen Wesens in Beige und Kastanienbraun mit dem markanten Beutel am Bauch weckte fast etwas Mitleid für Hayes Kämpfer. Dieser stellte einen großen Maulwurf mit breiten Klingen an den Vorderpfoten sowie am Kopf dar. Er kannte nur den Typen der Spezies, und zwei oder drei Attacken, die es sicher beherrschte, kam aber ansonsten nicht einmal auf den Namen, da er mit den Pokémon aus Einall wenig vertraut war. Lediglich die von Terry kannte er in und auswendig.

    Vor den anderen Teilnehmern konnte er sich auch die Blöße, seinen Pokédex hervorzuholen, nicht geben. Aber Cay würde die gewünschten Informationen sicher noch erörtern.

    Es dauerte nur Sekunden, bis er damit anfing.

    „Da unten sehen wir Warreners Kangama. Eines seiner bekanntesten Pokémon! Oh yes, das wird ´ne heiße Nummer, ganz sicher. Hayes tritt hier mit Stalobor an. Ein sehr seltener Gast in Hoenn.“

    Ebenso wie Psiana war jedem, der die Trainerszene in Johto verfolgte, dieses Kangama wohl bekannt. Eine schuppige Abrissbirne auf zwei Beinen, wurde es während eines kleineren Turniers in Viola City einmal getauft. Unter der ledrigen Haut konnte man ein Muskelspiel beobachten, das Dan Hayes auf der anderen Seite wie ein Mogelbaum aussehen ließ. Man konnte es mit einem Reptil verwechseln, doch in Wahrheit waren Kangama Säugetiere. Dieses hier obendrein ein Weibchen, das jedoch kein Junges in seinem Beutel trug. Wenn sie das täte, wäre Andrew sicher nicht so bescheuert, sie in einen Kampf zu schicken. Obgleich diese Pokémon den Ruf hatten, fast unbesiegbar zu sein, wenn der mütterliche Beschützerinstinkt einsetzte.

    „Eines vorweg, Bursche“, wandte sich Hayes plötzlich an Andrew. Die Betitelung wollte ihm nicht gerade gefallen, obwohl der gewählte Ton kein herablassender oder geringschätziger war. Er wusste bestens, wer sein Gegner war und auch, was dieser konnte. Er unterschätzte den jüngeren Kontrahenten keineswegs.

    „Wir kämpfen mit offenem Visier von Angesicht zu Angesicht. Kein Verstecken und kein Weglaufen. Kein Grund also, sich zurückzuhalten. Gib alles, was du hast, Bursche.“

    Dazu brauchte er nun wirklich nicht seine Erlaubnis. Aber diese kühne Art und mutige Grundeinstellung gefiel ihm besonders in diesem Moment sehr gut.

    „Der Bursche wird gleich mit dir Schlitten fahren.“

    Auch er wählte keinen feindseligen Ton. Sie beide sollten diesen Kampf ohne Hohn genießen können, aber ein paar Sticheleien gehörten doch irgendwie dazu. Andrew hatte keine Zweifel, dass Hayes ehrlich gesprochen hatte und ihn nicht in falscher Sicherheit wiegen wollte. Der Kerl war einfach von der gröberen und simpleren Sorte Mensch. Und auch dies dachte er ohne jeglichen Spott.

    „Genau das wollte ich hören.“

    Womit wohl alles gesagt wäre. Der Schiedsrichter gab das Fahnensignal und Cay wie immer seinen Senf dazu.

    „Scheint alles bereit zu sein. Dann mal los, lasst es krachen!“

    Der Kampf sollte von Stalobor eröffnet werden. Und zwar mit Schlitzer. Allerdings war die Ausführung dieser normalerweise recht simplen Attacke eine ganz andere, als erwartet. Der Maulwurf hechtete nach vorn und ging mit dem ganzen Körper in eine Drehbewegung über, wie ein Bohrkopf. Mit ähnlichen Bewegungen grub er sich vermutlich auch durch den Boden, wenn er Schaufler einsetzte. Andrew war zugegebenermaßen unsicher, ob und wie er darauf reagieren sollte, da der Angriff so deutlich schwieriger zu durschauen, sprich nicht zu erahnen war, von welcher Seite der Schlag ausgehen würde. Erwartungsgemäß würde Stalobor aber auch nicht einfach stumpf geradeaus rennen. Sowie Kangama dann in Reichweite war, spreizte er die Arme plötzlich wieder von sich und holte weit aus. Andrew ließ seine Partnerin eigenmächtig reagieren, da die Zeitspanne für einen Befehl zu eng war. Die rührte sich nicht von der Stelle, beugte sich aber weit zurück und etwas zur Seite, sodass der Maulwurf glatt an ihr vorbei hechtete. Er schlitterte über den Sand und blickte über die Schulter. Kangama tat dasselbe, doch war ihr Blick deutlich schärfer, die Augen leicht verengt. Sie hatte sich entschieden, nicht als erste Maßnahme die Flucht, sprich einen Ausweichschritt zu wählen und so einen Kratzer an der Wange in Kauf genommen. Dieser Gegner war deutlich flinker, als das Äußerliche vermuten ließ.

    „Wir sind dran“, kündigte Andrew an. Das schuppige Muskelpaket teilte die Ansicht.

    „Schlag zurück mit Kometenhieb!“

    Stalobor verfügte hier nicht als einziger über ungeahnte Agilität. Von einem Kangama würde man sicher erwarten, die Distanz wie eine wütende Dampfwalze mit einigen Schritten zu überbrücken. Aus der Drehung heraus sprang sie dann unverhofft in die Luft und holte mit dem rechten Arm aus, um von oben auf den Gegner einzudreschen. Der wurde von einer gelblichen Aura eingehüllt, wie ein herabfallender Himmelskörper.

    „Metallklaue!“

    Wieder setzte Stalobor seine natürlichen Primärwaffen ein. Vermutlich würde es kaum einen Angriff ausführen, ohne diese in irgendeiner Form zu benutzen. Nicht nur sein Kampf-, sondern der ganze natürliche Lebensstil hing an diesen schaufelartigen Klauen.

    Diese blitzten grell auf, als sie nach Kangama schlugen und mit dessen verhärteten Unterarm kollidierten. Der Maulwurf spürte rasch den Erfolg, den schuppigen Panzer durchbrochen zu haben, doch im selben Moment wurde er von der schieren Kraft überwältigt und gen Boden gedrückt. Ein gnadenloser Stoß ging durch seinen Rumpf und der Sand wurde zu allen Seiten fortgewirbelt. Er brach regelrecht unter diesem Dampfhammer zusammen, obgleich der Gegner nur ledrige Haut und nicht etwa Klauen oder Ähnliches besaß – schon gar nicht aus Metall, so wie Stalobor. Selbige wart von der Metallklaue ebenfalls verletzt worden. Na und? Eine blutende Wunde dieser lächerlichen Größe brachte Kangama höchstens zum Schmunzeln.

    „Wow, den Schlag hab ich hier oben noch gespürt“, bemerkte Cay und in der Tat war die Erschütterung allgegenwärtig zu vernehmen gewesen. Das war heute zwar nicht zum ersten Mal passiert, aber zuvor nie durch einen simplen Schlag mit dem Unterarm. Trotz der stärkeren Waffen war Stalobor auf dem Rückzug. Umgangssprachlich natürlich, da Hayes versprochen hatte, einen solchen niemals anzutreten und sein Pokémon sich ohnehin bereits auf dem Rücken befand. Von dieser Kraft schien er durchaus positiv beeindruckt.

    „Sehr gut, Bursche. Weiter so.“

    Hielt sich der Typ für seinen Coach? Er würde sich noch wünschen, die Klappe gehalten zu haben.

    Andrew ordnete Feuerschlag an, um dem Stahltypen mit einer seiner natürlichen Schwächen den Zahn zu ziehen. Bevor die entflammte Faust jedoch ihr Ziel traf, hallte von der anderen Seite der Befehl „Felsgrab“ über das Kampffeld. Mannshohe Felsbrocken schossen direkt neben Stalobor aus der Erde, ummantelten ihn und blockten den Angriff. Ein wenig zumindest, da das Gestein erschüttert wurde und Sprünge bekam, schon einen Moment später gar zusammenzufallen drohte. Zumindest von den Flammen blieb Stalobor verschont.

    „Jetzt Steinhagel!“

    Das Geröll wurde wie von Geisterhand lebendig. Als würde es mit Psychokinese bewegt und in einem Wirbel emporgehoben. Hierbei ließ er sich auch von Kangamas Standhaftigkeit nicht ausbremsen und schlug ihr vehement in die Seite, traf einmal sogar die Schläfe. Hiervor wich sie dann doch zurück, womit sie genau das getan hatte, was Hayes gehofft hatte.

    „Jetzt lass sie auf Kangama regnen und setz mit Schlagbohrer nach!“

    Wieder ging der Maulwurf in diese rotierende Bewegung mit dem zusammengeführten Klauen sowie der gleichförmigen Klinge am Kopf über. Zunächst war Kangama dazu gezwungen, sich mit dem Steinhagel auseinanderzusetzen, was Andrew ihr erneut eigenständig überließ. Sein Eingreifen brauchte es hierzu tatsächlich nicht. Sie ballte die Fäuste und zertrümmerte jeden einzelnen Brocken mit bloßen Händen.

    Das kam für Hayes nicht unerwartet, doch das primäre Ziel war es ohnehin gewesen, den Gegner abzulenken und mit Schlagbohrer zu treffen.

    „Stemm dich dagegen!“

    Hatte er diesen Warrener da gerade richtig verstanden? Dagegenstemmen? Ohne eine eigene Attacke zu wählen? Und wie er das hatte. Die Arme wurden vor der Brust gekreuzt und der Einschlag ohne weitere Gegenmaßnahme erwartet. Das Geräusch dieses eisernen Bohrkopfes, der die Krallen und die lederne Panzerung malträtierte, sandte einem einen Schauer über den Rücken.

    „Warrener reagiert bislang ziemlich passiv auf Stalobors Angriffe. Das geht sicher nicht lange gut aus“, merkte Cay an und damit hatte er nicht ganz Unrecht. Dieser Maulwurf war durchaus erfahren und kampferprobt, wie das routinierte Auge schnell erkannte. Die Wucht, mit der er herangerauscht kam, hielt seinen Körper sekundenlang in der Luft…, obwohl er keinen Zentimeter vorankam. Am Handrücken war die Haut Kangamas mitunter am dicksten und die Muskelpartien darunter machten ein Durchdringen überaus schwierig. Zu behaupten, es sei nahezu unmöglich, wäre dann zu viel des Guten. Stalobor allerdings schien an der Aufgabe zu scheitern. Sein Trainer staunte, wollte zunächst nicht glauben, dass der Gegner wirklich robust genug war, den Schlagbohrer auszuharren. Doch gleichzeitig lächelte er mit weit aufgerissenen Augen. Der Junge gefiel ihm mehr und mehr.

    „Jetzt nicht nachlassen, gib alles!“

    Er wollte wohl die körperliche sowie die Willenskraft und den Ehrgeiz beider Pokémon auf die Goldwaage legen. Wollte sich gern selbst beweisen, dass sein Partner der Überlegene war. Aber nach weiteren Sekunden, in denen es kein Vorankommen gab, verlangsamten sich die Drehbewegungen schließlich und Stalobor musste sich mit den Füßen wieder auf den Boden begeben. Genau auf diesen Augenblick hatte Andrew gewartet.

    „Vorwärts, Risikotackle!“

    Die schmalen Hinterläufe hatten den Boden noch nicht ganz berührt, da preschte Kangama plötzlich wie eine Wahnsinnige voran, rammte die Schädeldecke in Stalobors Torso und riss ihn gnadenlos mit sich. Ein wenig sah das aus wie Ryans Despotar im Übungskampf gegen Sandra und Shardrago. Stalobor konnte sich nicht losreißen und selbst wenn, würde dies bedeuten, vom massigeren Gegner zertrampelt zu werden. Um diese Möglichkeit völlig auszuschließen, schlossen sich die Arme Kangamas um seinen Rumpf, während sie, eine wüste Staubwolke hinter sich herziehend, immer weiter geradeaus hielt. Für Hayes fühlte es sich wie eine ganze Minute an – es waren tatsächlich nur wenige Sekunden gewesen – bis Kangama ihren Gegner in die Betonmauer rammte. Dabei nahm sie keine Rücksicht auf die eigene Gesundheit, ging mit maximalem Körpereinsatz in die Vollen. Die Wand bebte. Ein paar Sprünge und risse zogen sich rasch durch die Oberfläche und kleinere Brocken lösten sich gar. Nicht ganz der Impact, den man von Sandra und Dragonir noch hatte beobachten können, aber doch im wahrsten Sinne erschütternd, wie ein gewisser Stadionsprecher befand.

    „Boah, die versuchen heute echt das Stadion einzureißen! Das sah aus als wäre Stalobor von einem Zug erfasst wurden!“

    Und besagter Zug war mitten in Beton gerauscht. Nur wollte Andrew es keineswegs hierbei belassen.

    „Wutanfall!“

    Für einen kurzen Moment ließ Kangama von ihrem Gegner ab. Der sah schon fast geschlagen aus, krümmte sich zusammen und zitterte vor Schmerz. Das Zurückweichen der Furie erlaubte ihm einen wohltuenden Atemzug. Dann aber glimmte der Körper eben dieser in Orange und Gelb auf. Fast schien er zu glühen und zu dampfen. Gleichfarbige, kaum sichtbare Energiewellen, die wie Flammen flackerten, gingen von ihr aus und sorgten für schwimmende Luftspiegelungen, wie die Hitze in einer Wüste. Und als Stalobor zäh ein Auge auf mühte, war in denen von Kangama plötzlich keine Iris mehr zu sehen. Sie leuchtete orange-rot.

    Die folgenden Sekunden fühlten sich für Stalobor an, als würde nicht ein einzelnes, sondern mindestens fünf Kangama auf ihn einprügeln. Die Fäuste regneten so fest und so schnell auf ihn nieder, dass der Schmerz noch gar nicht eingesetzt hatte, ehe der nächste Schlag ihn traf. Weiteres Geröll löste sich aus dem Beton und Staub wurde aufgeschlagen, der bald den Zuschauern die Sicht verdeckte – und der ein oder andere war dafür fast dankbar. Dann packte das wütende Säugetier den Maulwurf unverhofft am Hinterlauf und schleuderte ihn quer über den Sand, fast in die Mitte des Kampffeldes zurück. Er war noch nicht zum Stillstand gekommen, da war Kangama bereits wieder bei ihm, stampfte ihn nieder, schlug weiter mit Schweif und Fäusten. Zum Schluss gruben eben diese sich unter Stalobor und wuchteten es in die Luft, wobei ein finaler Stoß der leuchtenden Energie von ihrem Körper ausging, der ihm einen Freiflug bis vor die Füße seines Trainers bescherte.

    „Au weia, Kangama ist echt nicht zu bremsen. Die vermöbelt Stalobor als habe es sein Kind geschlagen.“

    Cays Umschreibung war unzureichend, wie Andrew wusste. Dieser wilde Angriff hatte nichts mit dem Charakter oder der Natur seiner Partnerin zu tun. Ein Angriff auf ein Jungtier dagegen würde ausschließlich durch solche Emotionen befeuert und daher viel herber ausfallen.

    Sie wütete sogar noch ein wenig herum, obwohl sie Stalobor selbst außer Reichweite befördert hatte. Allerdings wurden die Bewegungen nun schwerer und langsamer. Gleiches galt für ihrem Atem, der bald zu einem müden Keuchen wurde.

    Wutanfall versetzte den Anwender in einen regelrechten Rausch, den selbst das Wort des eigenen Trainers nicht zu bremsen vermochte. Diese Rage hielt an, bis das Pokémon erschöpft war oder sich gar selbst verletzte. Letzteres war diesmal ausgeblieben, doch für Andrews Strategie war das gar nicht mal als Glücksfall einzustufen. Die stumpfen Abwehrmethoden vom Anfang, der Risikotackle mitten in die Mauer, den Kangama sicherlich mehr gespürt hatte, als alles, was Stalobor ihr entgegengeworfen – alles kalkulierte, nein, bewusst herbeigeführte Kollateralschäden.

    Mit denen auf der Gegenseite waren die allerdings nicht zu vergleichen. Zugegeben, die Fäuste und Unterarme sahen aus, als habe sie stundenlang auf scharfkantigen Granit eingeschlagen. Stalobor wirkte dagegen, als wäre er genauso lang unter ihm begraben gewesen.

    Hayes war fast zu einem verstummten Trainer verkommen, der seine Niederlage bereits akzeptiert hatte. Tatsache war, dass er mit Kämpfen dieser hohen Intensität kaum Erfahrung hatte und seine Pokémon aus solch einer Bredouille einfach nicht zu befreien wusste. Dennoch wirkte er weder deprimiert, noch konsterniert. Ihm tat es nur um Stalobor leid, der seinen Mangel an Ideen ausbaden musste. Das hatte er nun aber lange genug getan.

    Der Schiedsrichter runzelte skeptisch die Stirn, während er Hayes Pokémon beobachtete. Konnte dieses sich noch einmal aufraffen? Und selbst wenn, sollte er das Fortführen des Matches überhaupt erlauben? Es schien eindeutig, wer hier der Stärkere war. Von hier an konnte es sich fast nur noch ernsthaft verletzen.

    Als habe er diese Gedanken erahnt, pflichtete Cay dem über die Lautsprecher bei.

    „Stalobor sieht total fertig aus. Geht da noch was? Ich trau mich nicht, hier optimistisch zu sein.“

    Ob das überhaupt einer wagen würde? Selbst sein Trainer wollte nicht darauf wetten. Seine Verantwortung lag allerdings auch woanders. Sie lag darin, das Handtuch zu werfen, wenn der Kampf aussichtslos war.

    Stalobor fauchte, als weise er eine dumme Idee zurück. Als fühle er sich durch sie gekränkt. Und unter starkem Zittern und Zucken stemmte er dann eine Klaue in den Boden, um sich ein letztes Mal aufzukämpfen und seinen Trainer aus scharfen Augen mahnend anzufunkeln. Der hob das Kinn etwas, wägte ab, ob er sich hier von seinem Pokémon übergehen lassen wollte. Stalobor war zäh und unvernünftig, aber auch stolz und unbeugsam.

    Der Maulwurf wankte, taumelte. Aber er hielt sich aufrecht. Mit erhobenem Haupt wollte er diesen Kampf beenden. Nicht am Boden winselnd, während sein Trainer kapitulierte.

    Ryan rümpfte die Nase, als er dies über die Monitore beobachtete. Aber gleichzeitig schmunzelte er auch. Fast könnte man meinen, Dan Hayes war in Wahrheit Cody aus der Zukunft.

    „Ich hab nichts gesagt, Leute. Stalobor steht echt wieder“, hielt Cay beeindruckt fest. Selbiges wandte sich um und fokussierte wieder Kangama. Die wartete geduldig ab, hatte keine Eile, den Kampf zum Ende zu führen. Ihr Gegner sollte alles aufbieten, was er hatte.

    Sie selbst war nicht mehr das, was man unversehrt nennen konnte. Andrew schätzte dennoch, dass es reichte, um seine Trumpfkarte auszuspielen, die Stalobor mit dem nächsten Schlag K.O. setzen würde.

    „Letzte Chance, Danny. Wenn du noch was im Ärmel hast, wird´s Zeit es rauszuschütteln“, spottete Andrew dezent und winkte ihn zu sich heran, forderte ihn zur Offensive. Der überging diese leichte Verunglimpfung seines Vornamens und grinste wieder breit. Fest entschlossen, mit diesem letzten Zug, den er ausspielen konnte, alles zu geben und auf sein Glück sowie den Kampfgeist seines Partners zu vertrauen. Wenn beides es gut mit ihm meinte, so konnte er das Ding noch herumreißen.

    „Kannst du haben, Bursche.“

    Etwas hatte er tatsächlich noch im Ärmel. Und ja, es war ein Ass. Aber eines mit hohem Risiko.

    „Stalobor, Hornbohrer!“

    Das eiserne Haupt des Maulwurfs glänzte erneut auf, das Silber schimmerte sogar und begann, sich zu verformen. Zu vergrößern. Die Klinge wuchs in die Länge, während Stalobor sich in eine Position, ähnlich der eines Sprinters beim Start begab.

    Andrew atmete einmal rasch und tief durch. Damit hatte Hayes wahrlich noch einen echten Trumpf. Doch er würde das packen. Kangama würde das packen.

    „Mach dich bereit.“

    Sicher wusste sie, was er vorhatte. Sie war nicht zum ersten Mal so halsbrecherisch von ihm dirigiert worden und meist endete diese Strategie mit demselben Manöver. Sie spreizte ihre Beine, streckte einen Arm voraus, während der andere mit geballter Faust an die Seite geführt wurde. Bereit, binnen eines Augenblickes zuzuschlagen.

    Beide Kontrahenten hielten inne. Es trat eine Atmosphäre ein, die an das Duell in einem Western erinnerte und wie in einem solchen, blies der Wind den Sand über das Kampffeld. Es fühlte sich an, als stoppte der Atem eines jeden im Prime Stadium, ausgenommen natürlich Stadionsprecher. Doch selbst an Cay ging dieser Moment nicht gänzlich vorbei.

    „Oh, oh. Es ist zwölf Uhr, Freunde. Beide wollen jetzt auf´s Ganze gehen. Alles oder nichts.“

    Stalobor verharrte in seiner Position, hatte die Augen verengt und hielt die Konzentration so gut es nur irgendwie ging. Die Muskeln pochten, ebenso wie seine Brust und sein Schädel. Er ignorierte es. Alles ausblenden. Alles vergessen. Nur noch auf dieses einen Angriff konzentrieren.

    Dagegen war Kangama völlig ruhig. Selbst ein Tornado vermochte nicht, ihre Haltung ins Wanken zu bringen oder ihren Fokus zu stören.

    Es zwar zwölf Uhr. Zeit für die Entscheidung. Und Hayes zog zuerst.

    Gib´s ihm, Stalobor!“, brüllte er aus voller Lunge. Erwartungsgemäß besaß er eine sehr starke und voluminöse. Sprich der Schrei war überwältigend. Der seines Kämpfers konnte da nicht mehr mithalten, was jedoch nicht an mangelnder Entschlossenheit lag. Die war so hart, wie der Stahl an seinen Klauen. Diese schaufelten sich mit jedem Schritt in die Erde, während er voran stürmte und katapultierten ihn so stark und so rasch nach vorn, wie möglich.

    Auf der anderen Seite des Kampffeldes rührte sich nichts. Die Atmung von Trainer und Pokémon war ruhig. Nicht gelassen, sondern kontrolliert. Muskeln und Körperhaltung nicht angespannt, sondern stramm und bedacht. Ein tiefer Atemzug, den sie beide wie aus einer Brust machten.

    „Gegenschlag“, lautete der Befehl – wie erwartet. Um Kangama herum entstand ein dumpfer Luftwirbel und man meinte, ein kleines, aber sehr helles Licht in seiner Körpermitte aufleuchten zu sehen. In den nächsten Sekunden würde sich keiner mehr so sicher sein, ob es jemals so ein Licht gegeben oder man es sich nur eingebildet hat.

    Es erlosch. Stalobor war in Schlagdistanz, sprang vom Boden ab und zielte auf Kangamas Hals. Die Arme diesmal an die Seiten gelegt, als der ganze Körper in die Drehbewegung ging. Die Faust im Anschlag zeigte Andrews Partnerin doch eine unerwartete Reaktion. Die rechte Körperhälfte wurde nach vorn gewuchtet, aber kein Schlag ausgeführt. Stattdessen drehte sie sich aus der Bahn Stalobors, sodass dieser ins Leere rauschte. Nein, er kollidierte sehr wohl mit Kangama. Korrekt wäre wohl, dass er von ihrem linken Arm, den sie mit aller Kraft nachzog und aus einer tiefen Position heraus direkt auf sein Kinn platzierte, getroffen wurde.

    Stalobors Bewegung stoppte augenblicklich. Es war als wäre man in vollem Sprint gegen einen unnachgiebigen Ast eines hundert Jahre alten Baumes gerannt. Ein muskulöser Baum, der dem Versuch des Widersachers mit aller Gewalt und Präzision Einhalt gebot. Stalobor überschlug sich in rückwärtiger Bewegung noch in der Luft, ehe es über den staubigen Boden rollte. Die Ohnmacht hatte da bereits eingesetzt.

    Cay war der Allererste, der zu sprechen wagte, brauchte dafür nicht einmal lange. Genau in dem Moment, als Hayes Pokémon unterlegen und geschlagen zu Halt kam, frönte er in sein Mikrofon.

    „Und das war´s! Andrew Warrener und Kangama gewinnen!“

    Sogar dem Schiedsrichter war er diesmal zuvorgekommen, der genau dies jedoch gleich offiziell bestätigte. Andrew stand im Viertelfinale.


    „Au“, rutschte es dem siegreichen Trainer heraus, als der kräftige Hüne, der eben noch sein Gegner gewesen war, ihm fast schon stolz auf den Rücken schlug. Als lobe er seinen Schüler, der ihn endlich übertroffen hatte.

    „Sehr gut, Junge. Genau so hab ich das von einem wie dir erwartet.“

    Andrew dehnte die Schulter ein bisschen, mühte sich aber, den Schmerz runter zu schlucken. Was fraß der Typ eigentlich? Der war ja noch viel kräftiger, als er aussah.

    „Danke, Mann“, murrte er ehrlich. Ein bisschen musste er sich schon zu der Höflichkeit zwingen. Junge gefiel Andrew an sich nur geringfügig besser als Bursche. Aber sei´s drum. Er fühlte sich irgendwie anders betrachtet als vor und während des Matches. Auch, da Hayes die neue Anrede anders, respektvoller betonte. Dennoch überließ er das Reden fast ausschließlich ihm.

    „Du hast Kangama bewusst mit den eigenen Attacken geschunden, um mit Gegenschlag alles klar zu machen, was? Mutig, Junge. Und Kühn. Das gefällt mir.“

    Das hatte er richtig erkannt. Gegenschlag wurde wirksamer, je geschwächter der Anwender war und eine Technik der Kampf-Typen war gegen ein Stahlpokémon zudem immer eine gute Wahl. Das Potential hatte er sicher nicht in Gänze ausgeschöpft, aber es hatte gereicht, um einen eindrucksvollen und überzeugenden Kampf zu liefern. Einen, der allen voran Kangamas Stärke, aber auch ihre Willenskraft, ihr Geschick und ihr Gespür für den Kampf offen gezeigt hatte. Der es Dan Hayes, den übrigen Teilnehmern, dem Publikum und vor allem Bella gezeigt hatte. Genau das hatte er angestrebt. Und er hoffte wirklich, dass Bella gut aufgepasst hatte.

  • Hallo,


    die Interaktion der Charaktere zu Beginn zeigt das angenehme Verhältnis zueinander. Vor allem ist es gut zu sehen, dass Audrey die Niederlage recht gelassen nimmt und eher der Tatsache ins Auge blickt, dass sie einen Kampf gegen ihr Idol Sandra austragen konnte. Letztlich sind es die kleinen Dinge, die meist die größte Freude bereiten!

    Auch der Kampf in diesem Kapitel war wieder besonders anschaulich. Der eher defensive Stil mit Kangama hat zu Beginn durchaus für Spannung gesorgt und zum Schluss hin auch für Abwechslung, wie gefährlich es in einer direkten Auseinandersetzung werden kann. Hat mir gefallen.


    Wir lesen uns!

  • Kapitel 50: Wild Eyes


    Andrew überlegte auf dem Rückweg durch den Tunnel noch, ob es nicht dumm und ungerecht gegenüber Kangama gewesen war, sie so brachial kämpfen zu lassen. Quasi dazu hinzuleiten. So leichtsinnig ihre Gesundheit als Rohstoff für seine Strategie zu verwenden. Das war eigentlich nie seine Art gewesen.

    Ja, der Gegenschlag hatte ihm das Match gewonnen, aber hätte es diesen und vor allem die Methoden, um ihn möglichst wirksam zu machen, unbedingt gebraucht? Sicher nicht. Und dieser Bella eine Botschaft zu senden, war nun wirklich kein plausibler Grund für solche Vorgehensweisen.

    Andrew merkte, dass er seine Gedanken von ihr fernhalten musste. Sie sorgte bei ihm unweigerlich für schlechte Laune und verleitete zu für ihn untypischen Entscheidungen. Umso mehr wollte er den gestrigen Abend ungeschehen machen. Nur war dies weder in diesem Fall möglich, noch war es das hinsichtlich des gerade gewonnenen Kampfes. Alles, was ihm blieb, war ein Versprechen an die Zukunft. Nämlich, sich nicht mehr von einer käuflichen Agentin, die für eine kriminelle Organisation ihn und seine Freunde bedrohte, beeinflussen zu lassen. Von niemandem sollte er das, aber besonders von ihr nicht.

    Schritte hallten ihm entgegen. Irrsinniger Weise vermutete Andrew sofort Bella als deren Quelle und schwor sich, entgegen seines eben beendeten Monologes, ihr eine zu verpassen. Vielleicht würde es sie gar so sehr überraschen, dass sie weder dem Schlag ausweichen noch ihn vergelten würde.

    Hätte er nur einen Moment aufmerksam nachgedacht, wäre Andrew gleich klar gewesen, dass diese Schritte nicht zu ihr gehören konnten. Es gab schließlich eine viel naheliegendere Möglichkeit. Ryan hatte beide behandschuhten Fäuste in den Hosentaschen und einige seiner blonden Haare direkt im Gesicht hängen, sodass die marineblauen Augen kaum herausstachen. Sein Anblick, seine Körperhaltung, sein starr geradeaus gerichteter Fokus ließen Andrew schmunzeln. Er hatte schon immer etwas an sich gehabt, wenn er motiviert war. Etwas Packendes, Mitreißendes, dem man sich nicht entziehen konnte.

    Ohne ein Wort zu sprechen und die Blicke direkt zu kreuzen, passierten die beiden Trainer einander. Nur ein kommentarloses Abklopfen mit dem Faustrücken wurde dem Vorbeigehenden gewidmet.

    Draußen wurde einmal mehr die Menge heiß gemacht und euphorisiert.

    „Seid ihr bereit für das letzte Achtelfinal-Match, meine Freunde? Seid ihr bereit für Ryan Carparso?“

    Cay war es definitiv, seiner Stimme nach zu urteilen. Und das Publikum schloss sich dem einstimmig an. Sowie mit Jubel und Applaus geantwortet wurde, ertönte die Musik und das Lichtspiel im Tunnel begann. Ryans Silhouette marschierte geradewegs, wie schon eben, als der Andrew abgelöst hatte und als hätte er den Zeitpunkt bewusst angepasst, trat er mit dem Höhepunkt der Lightshow ins Freie. Er breitete befreit die Arme aus, präsentierte sich. Er war bereit. Und sie alle sollten bereit für ihn sein, wie Cay es so treffend formuliert hatte. Ryan Carparso stand in den Startlöchern, lud sie ein, sich von ihm begeistern und berauschen zu lassen und tat für sich genau dasselbe. Über ihm skandierten einige Menschen frenetisch seinen Namen, was ihn dazu veranlasste, sich zu drehen und der Gruppe einen dankenden Wink zukommen zu lassen. Er ballte eine Faust in die Höhe und ging bereits einige Schritt rückwärts, trat den Weg an seinen Kampfplatz an. Weiter posierte er nicht für die Massen. Die paar Sekunden mussten genügen. Für sie und auch für ihn.

    Ryan schämte sich nicht dafür, diese Art der Aufmerksamkeit zu genießen. All diese Menschen bezeugten, dass er nicht irgendjemand war. Er war Ryan Carparso und dass hatte etwas zu bedeuten. Darauf wollte er immer stolz sein können. Das hatte er nebst ein paar anderen Dingen kürzlich auch seinem Vater versprochen. Wie sehr er doch daran glauben wollte, dass er ihm an solchen Tagen zusah. Es würde ihn nicht minder beflügeln als das Beisein Melodys und gewissermaßen auch all seiner Rivalen.

    Er hatte seine angestrebte Position gerade erreicht, als Cay bereits seinen Gegner ankündigte. Dieser verließ den Tunnel, ohne irgendwie für die Leute zu posieren. Er schüttelte und lockerte die Arme ein wenig und dehnte den Hals, was sein halblanges, moosgrün gefärbtes Haar erst nach links, dann nach recht fallen ließ. Sein schwarz-weiß kariertes Shirt war so weit, dass ein Windstoß es sicher genauso sehr flattern lassen würde, wie Sandras Cape. Wirkte für Ryans Geschmack außerdem sehr unpassend mit den Slim Jeans und Chucks an den Füßen. Eine markante Erscheinung stellte er auf jeden Fall dar.

    Ryan hatte einen Fuß vorgesetzt und den Körper halb zur Seite geneigt, als wolle er selbst kämpfen. Er machte mit dieser Haltung deutlich, dass er nicht nur bereit, sondern kaum zu zügeln war. An seinem Platz angekommen, schüttelte Chester Rome auch die dünnen Beine noch etwas, ehe er wortlos nach einem Pokéball griff. Passte Ryan ganz gut in den Kram. Er hatte selbst nichts zu sagen und förderte daher ebenfalls stumm eine Kapsel zutage. Lediglich Stadionsprecher und Schiedsrichter erhoben die Stimmen, um das Match zu eröffnen.

    Melody lehnte sich euphorisch nach vorn wie ein aufgeregtes Kind. Just bevor Ryan seinen ausgewählten Kämpfer befreite, schenkte er ihr einen letzten Seitenblick, begleitet von einem Zwinkern, ehe er sich endgültig auf den Kampf fokussierte und vor dessen Ende keine Ablenkung mehr zulassen würde. Sie schmunzelte fast verträumt und Audrey wurde neben ihr zu einer Ähnlichen Reaktion verleitet. Ryan hatte wirklich Glück mit der Kleinen.

    Ein weißer Lichtblitz entließ daraufhin Sumpex auf das Kampffeld, während Rome mit einer offen gesagt ziemlich hässlichen Vogel-Dame antrat. Die gesamte Körperhaltung war gekrümmt und das Federkleid mit verschiedenen Tönen aus braun und grau nicht mit anderen Flugpokémon wie Andrews Schwalboss vergleichbar. Selbst das Washakwil von Terry machte da einen ordentlicheren Eindruck. Der Kopf war zudem komplett federlos und besaß einen fiesen, gekrümmten Schnabel.

    „Das Duell lautet Sumpex gegen Grypheldis. Chester Rome wird sich in erster Linie vor Eishieb in Acht nehmen müssen, hat aber den Vorteil des Fliegens“, legte Cay ungewohnt analytisch die Fakten dar. Mit Sicherheit würde Grypheldis bevorzugt aus der Ferne angreifen. Der Nahkampf sah den Geier eindeutig im Nachteil.

    Dieses Pokémon gehörte zwar den Flug-, aber auch den Unlicht-Typen an, was sogar Hammerarm wieder attraktiv aussehen ließe. Dafür musste Sumpex allerdings einen Weg finden, die Distanz zum Gegner zu überbrücken, bevor dieser in die Höhe flüchtete. Oder aber, er machte es anders herum und lockte Grypheldis heran. Ryans marineblauen Augen huschten ein paar Mal zwischen den Pokémon hin und her. Der Blick verschärfte sich, in seinen grauen Zellen ratterten tüchtig die Zahnräder. Sein Matchplan stand mit dem Fahnensignal von der Seitenlinie aus fest.

    „Grypheldis, fang an mit Luftschnitt!“

    Es war das erste Mal seit seiner Ankunft, dass Chester Rome etwas von sich gab. Seine Stimme klang jünger, als die Erscheinung hatte vermuten lassen. Er musste in etwa in Ryans Alter sein, reichte akustisch jedoch näher an Cody, als an ihn selbst.

    Der Greifvogel schwang sich mit strammen Flügelschlägen senkrecht in die Luft, wie ein Kletterer, der Leitersprossen hinauf hechtete. Dann wurden die übermäßig breiten Schwingen nach vorn geworfen und entsandten Windklingen in Sumpex´ Richtung.

    „Schutzschild.“

    Das Amphibium stemmte die Vorderläufe auf den Boden und erschuf eine smaragdgrüne, halbtransparente Lichtkugel um den eigenen Körper. Der Luftschnitt prallte daran ab, wie Zweige, die auf Gestein geschlagen wurden.

    Ryan befahl dann sofort, den Gegner mit Aquahaubitze vom Himmel zu holen. Es war der einzige Angriff, mit dem er Grypheldis in dieser Höhe würde erreichen können. Aquawelle war dagegen ein Flächenangriff, dem der Geier leicht entgehen konnte.

    Allerdings gelang auch mit Sumpex´ stärkster Attacke kein Treffer. Sie benötigte einige Sekunden der Konzentration, die dem Flugpokémon absolut genügten, um sich entsprechend vorzubereiten und im passenden Moment auszuweichen.

    „Wie erwartet hat Carparso Schwierigkeiten mit dem Höhenvorteil von Grypheldis“, hielt Cay fest, den Ryan ab hier zu ignorieren, nach Möglichkeit sogar auszublenden versuchte. Wenn er wirklich so viel Ahnung von den hier teilnehmenden Trainern sowie deren Taktiken hatte, sollte er eigentlich wissen, dass Ryan nicht so naiv war, sich von diesen halbgaren Angriffen einen Erfolg zu versprechen. Er arbeitete auf etwas hin.

    Rome hatte nun zwei seiner Schlüssel Techniken beobachten können. Ab hier konnte Ryan ihn mit etwas Glück manipulieren. Der war seinerseits aber nicht dumm und nutzte den Moment, den das Wasserpokémon auf der anderen Seite zum Verschnaufen brauchte – in dieser Hinsicht glich Aquahaubitze Attacken wie Hypertrahl oder Gigastoß – clever aus. Nicht um einen Treffer zu landen, sondern um Grypheldis zu stärken. Er befahl Ränkeschmied.

    Die Taktik war offensichtlich. Sumpex waren hart im Nehmen, aber vergleichsweise langsam in Reaktion und Bewegung. Auf das Geduldsspiel, es immer wieder aus der Ferne mit Nadelstichen zu bombardieren, hatte Rome jedoch keine Lust. Er konnte weiter die sichere Distanz wahren und den Gegner gleichzeitig deutlich schwerer treffen. Den nächsten würde er sicher nochmal mit Schutzschild blocken, doch der hielt nicht ewig. Genaugenommen konnte diese Technik überhaupt kein zweites Mal in kurzen Abständen funktionieren.

    „Nochmal Luftschnitt, los!“

    Der Ablauf glich, wie erwartet, dem ersten Zug dieses Matches. Die Attacke des Geiers prallte an einer schimmernden Lichtkugel ab und hinterließ ein verwundbares Sumpex.

    „Jetzt Finsteraura!“

    Dunkelviolette Energieranken schlangen sich um das triste Federkleid, hüllten Grypheldis fast bis zur vollkommenen Schwärze ein. Mit einem nach vorne werfen des kahlen Kopfes und einem schrillen Kreischen wurde jene Energie abgestoßen und fegte fast über das gesamte Kampffeld. Das Amphibium am Boden hatte keine Möglichkeit zur Flucht und auch nicht zur Abwehr. Jetzt schon wieder Schutzschild anzuordnen, wäre ein sinnloses Unterfangen.

    Ryan ließ die Attacke über Sumpex ergehen. Der senkte den Kopf und brummte verbissen. Diesen Angriff spürte er und das nicht zu knapp. Die verstärkte Finsteraura fühlte sich an, wie iene eiskalte Faust, die seine Lungen in sich einschloss und gleichzeitig seine Haut mit Gefrierbrand überzog. Sie konnte ihn gar fast in die Knie zwingen. Aber nur fast.

    Er hielt energisch dagegen, hütete sich zudem davor, Grypheldis aus den Augen zu lassen. Wenigstens eines hielt er stur offen. Die dunkle Energie, die ihn malträtierte, verhinderte eine klare Sicht, doch konnte er die Gestalt an Himmel dank des hellen Sonnenscheins am heutigen Tag deutlich ausmachen.

    „Nochmal Aquahaubitze!“, vernahm er Ryans Stimme. Ob es diesmal gelingen konnte, wenn Sumpex selbst für den Gegner kaum sichtbar war? Den Versuch war es bestimmt wert. Und was bliebe sonst schon für eine Alternative? Sumpex wusste jedenfalls keine, doch er dachte auch nicht allzu angestrengt darüber nach. Dafür fehlte es an Zeit und Notwendigkeit. Er überließ das seinem Trainer und vertraute seinem Urteil. Wenn Ryan befand, dass Aquahaubitze hier die richtige Antwort war, so war sie es auch.

    Den Kopf anzuheben und nach Grypheldis zu zielen war dann aber unter dieser Pein doch schwerer, als erwartet. Die blaue Kugel vor seinem geöffneten Maul hatte die erforderliche Größe erst erreicht, als die unnatürlich lange wütende Finsteraura endlich zu versiegen begann und sein azurblauer Körper zumindest teilweise wieder sichtbar wurde.

    Bei Chester Rome zuckten die Mundwinkel nach oben. Carparso schien nicht dazuzulernen. Versuchte so krampfhaft, seine stärkste Attacke auszuspielen, obwohl der erste Versuch bereits gescheitert war. Wobei er verstehen konnte, wenn sie seine einzige Option war. Naja, ihm sollte es recht sein. Dadurch konnte er seinen Trumpf gar früher als gedacht ausspielen. So er vermutlich nicht ausreichen würde, um einen schnellen Sieg zu erzwingen, würde er das Match sehr weit in seine Richtung lenken, sodass der Rest vergleichsweise einfach zu handeln sein sollte.

    „Grypheldis, Sturzflug!“

    Nun war es Ryan, dessen Mundwinkel nach oben zuckte.

    „Warte noch.“

    Warten? Worauf warten? Nein, halt. Das war der falsche Gedankengang. Nicht hinterfragen, einfach vertrauen. Zweifel oder übereifrige Eigeninitiative würden Sumpex das Match kosten. Und das kam überhaupt nicht in Frage. Er wollte siegen und dazu musste er vertrauen! Seine eigenen, orangefarbenen Augen mit den winzigen Pupillen zielten fest konzentriert auf Grypheldis. Es war exakt derselbe Ausdruck darin zu lesen, wie bei seinem Trainer. So verbissen er auch standzuhalten versuchte, funkelte darin eine unerschütterliche Konzentration auf, als stecke unter dieser dicken, azurblauen Haut kein Fleisch und Blut, sondern eine Maschine. Könnte man Sumpex nun aus der Nähe beobachten, würde man vermutlich meinen, er sei von Sinnen.

    Der Geier ging in einen weitläufigen Looping über, um an Schwung zu gewinnen. Grypheldis funkelte bereits mit einem unheilvollen Grinsen auf das Amphibium herab. Ebenso wie seinem Trainer war auch ihm klar, dass sie einem weiteren Geschoss dieser Sorte ohne Weiteres würden ausweichen können. Zurückbleiben würde ein Sumpex in seinem aller verwundbarsten Zustand, ohne jegliche Möglichkeit, ihrer stärksten Attacke zu entgehen.

    Als der Looping langsam endete und sich Grypheldis in eine tiefe Flugbahn begab, glimmte ihr Körper in einen äußerst dünnen Schleier aus himmelblauem Licht auf. Schon in der nächsten Sekunde entflammte es und schuf die Illusion eines brennenden Phönix, der sich auf sein Opfer stürzte. Das blaue Licht folgte nun als Schliere nach dem zum Geschoss umgewandelten Greifvogel, der auf seinen Gegner zuhielt und nur noch den Moment abpassen musste, in dem er mit einer Rolle auszuweichen hatte.

    Ryan konnte sich das Grinsen kaum verkneifen. Das lief ja fast zu glatt.

    „Geh über zu Aquawelle!“

    Sumpex teilte das Gefühl nach dieser Anordnung. Das Blitzen in seinen Augen entflammte wie ein Funke, der auf vertrocknetem Gras landete. Und er setzte etwas in ihm frei.

    Die Wasserkugel wurde nicht abgefeuert, sondern auf den Boden geschmettert, worauf sich unnatürlich gewaltige Wassermassen daraus auftürmten und als Welle das Halbe Kampffeld überrollten. Die Hälfte vor Sumpex, wohl gemerkt. Und Grypheldis konnte in seinem Tempo nicht mal im Ansatz schnell genug reagieren und wieder nach oben ziehen, um dem zu entgehen. Rome wollte noch den Befehl genau hierzu geben, doch da war seine Partnerin schon von dem Blau verschlungen und fortgespült worden.

    „Oooohhh, Carparso hat Rome komplett hops genommen und den Spieß umgedreht!“, drang es von weiter oben dann doch an Ryans Ohr. Das Publikum johlte nicht minder überrascht und begeistert auf. Die Wende hatte wirklich keiner auf den Tribünen kommen sehen. Mit Ausnahme von Audrey vielleicht. In den Katakomben gab es zudem ein paar, welche die Taktik bereits zumindest im Groben erahnt hatten. Ryan hatte früh gezeigt, dass er sich mit Schutzschild verteidigen konnte und zudem simuliert, dass er fast gezwungen war, zur Aquahaubitze zu greifen. So hatte er Rome zu einem forschen Angriff verleitet, der bitterböse bestraft wurde. Ein bisschen hatte Ryan hier durchaus gepokert, aber es war Gemeinwissen, dass die meisten voll entwickelten Flugpokémon Sturzflug oder Himmelsfeger ihren Trumpf nannten. Und mit dem Einsatz von jenem hätte Chester Rome in diesem Fall unbedingt noch warten müssen, bis er weniger riskant ausgeführt werden konnte.

    Die Lehre würde ihm für´s nächste Mal nützen, aber heute nicht mehr. Ryan ordnete nun den von Grypheldis zu fürchtenden Eishieb an. Sumpex pflügte schneller durch das seichte Wasser, das noch vor ihm lag, als man erwarten würde. Der Geier hatte gerade erst wieder festen Boden unter sich gespürt und die Chance gesehen, sich aufzuraffen, da wurde schon ein Amphibium-großer Schatten über sie geworfen und eine Faust, an dessen Knöchel sich bereits Eiskristalle bildeten auf ihren Torso geschmettert. Das seichte Wasser wurde aufgeschlagen, als sei ein Wailmer gesprungen. Gleich darauf schien Arktos über das Kampffeld zu fliegen. Blinzelte man zufällig genau in diesem Moment, so war mit dem Öffnen der Augen plötzlich alles davon bis zum letzten Tropfen gefroren. In der Luft tanzten einige Schneeflocken Von oben erinnerte das Gebilde an eine Blume, die eben noch sommerlich erblüht und nun von einem eisigen Wintermantel umschlossen war. Im Zentrum hiervon stand Sumpex über Grypheldis, musste seinen Arm sowie seine Beine gar mit einem Ruck aus dem Eis befreien. Der Greifvogel kreischte panisch, würde das aus eigener Kraft nimmer schaffen.

    „Und Hammerarm!“

    Die riesigen Fäuste wurden über dem Kopf gefaltet. Nun gab es bloß ein einziges Wort, mit dem man die orangefarbenen Augen Sumpex' beschreiben konnte. Und zwar Entfesslung. Ein Biest war erwacht. Und es wollte, es musste zerstören. Rome vermochte ab hier nichts mehr zu tun. Das Geräusch des so rasch wieder zertrümmerten Eises war sicher noch außerhalb des Stadions zu hören. Das gesamte Gebilde aus gefrorenem Wasser erzitterte bis in die äußersten Spitzen und fiel in sich zusammen. So in etwa musste es aussehen, wenn sich ganze Klippen von Eisbergen lösten und ins Meer stürzten. Und Grypheldis hatte nun auch eine ungefähre Ahnung, wie es war, unter solchen begraben zu werden.


    Während alle anderen Zuschauer ausnahmslos ihre Begeisterung mittels Jubel, Pfeifen und Klatschen bekundeten, wollte Melody alles auf einmal tun. Tatsächlich tat sie aber nichts von alldem. Augen und Mund standen weit offen und sie machte fast den Eindruck, in einer Schockstarre festzusitzen. Audrey stimmte in den Applaus mit ein – wenn auch nicht so ausgefallen wie die Leute um sie herum, da sie keinen anderen Ausgang erwartet hatte – und gluckste amüsiert, als der Blick auf ihre Sitznachbarin fiel. Die fing ihn auf und suchte nach den richtigen Worten für ihre Verblüffung, als seien sie kaum zu finden. Dabei waren es doch sehr einfache.

    „Was war das denn?“, wählte sie letztendlich und schien noch nicht ganz verarbeitet zu haben, was Ryan und Sumpex gerade dargeboten hatten.

    „War da eben was Unbegreifliches dabei?“, neckte Audrey mit einem Achselzucken. Eigentlich hatte Ryan nicht wirklich anders gekämpft als am Vortag. Sie fasste dennoch zusammen, was genau gerade passiert war, da sie sich denken konnte, wie dieses Match auf jemanden, der mit Pokémonkämpfen wenig bis gar nicht vertraut war, gewirkt haben mochte.

    „Er hat seinen Gegner manipuliert und gelenkt, um einen verwundbaren Moment zu kreieren. Dann hat er durchschaut, wie er angreifen würde und – wortwörtlich – eiskalt gekontert. So einfach ist das.“

    Melodys Stirn runzelte sich, als habe Audrey in einer anderen Sprache erklärt.

    „Er hat nach so kurzer Zeit schon gewusst, was sein Gegner vorhat und ihn so einfach geködert?“

    Ihre Augen wanderten auf den siegreichen Trainer, der an Sumpex herangetreten war und zweifellos Lob aussprach. Ihm war klar, dass seinem Partner ob der zunächst stumpfsinnig wirkenden Befehle Zweifel gekommen sein mussten. Dennoch hatte er gehorcht und perfekt geschaltet, genau das umgesetzt, was er für sie beide vorgesehen hatte.

    „Was für eine Auffassungsgabe“, hielt Melody schließlich fest. Es war nicht nur dieser allein, aber doch primär ihr zu verdanken, dass er den Kampf so rasch für sich hatte entscheiden können. Natürlich war ihr diese schon gestern aufgefallen, als er die Schwächen und Lücken von Pandagro und Digdri erspäht und genutzt hatte. Aber in keinem dieser vorangegangenen Kämpfe hatten die Verhältnisse und Voraussetzungen so schlecht für ihn gestanden. Und dennoch hatte er gerade den kürzesten Kampf aller Achtelfinals bestritten. Ein Zeichen, dass er erst jetzt ernst machte?

    „In Johto kennt sie wirklich jeder, der was mit Pokémon am Hut hat.“

    Sie war auch Hintergrund des Spitznamens, unter dem Ryan vorwiegend in seiner Heimatregion bekannt war und passenderweise erläuterte Cay diesen sogleich, damit auch jeder in Graphitport und vielleicht bald schon ganz Hoenn, ihn ebenfalls erfuhr.

    „Das hab ich so echt nicht kommen sehen, aber dieser Typ sieht einfach Möglichkeiten, wo die meisten nur eine Wand sehen. Genau deshalb nennt man ihn auch Ryan mit dem göttlichen Auge.“

    Ganz offen gesagt war das kein Spitzname, der Ryan sonderlich gefiel. Er war zu lang, zu aufbauschend und ging nicht so flott von der Zunge, wie Eisenblut, Märtyrer oder der Rastlose – um mal die zu nennen, die er in diesem Turnier aufgeschnappt hatte. Aber letztendlich sorgte ein solcher Titel immer für Publizität und bekanntlich war die in jeder Form gut.

    „Mit dem göttlichen Auge“, wiederholte Melody murmelnd und begann dann breit zu lächeln.

    „Eigentlich ganz passend.“

    Streng genommen waren es beide Augen und nicht nur eines, das er von Lugia erhalten hatte. Sei es drum. Sie erhob sich nun endlich ebenfalls und stimmte mit Audreys Applaus ein. Ließ sogar ein lautes Pfeifen ertönen, indem sie zwei Finger in den Mund steckte.

    Ryan und Sumpex winkten nochmals rasch in alle Richtungen. In die von Audrey und Melody ganz zum Schluss, als habe er ihren Pfiff vernommen. Sie hielt kurz inne. Ihr Herz machte einen Satz, als er hier, in diesem Augenblick noch sie allein suchte – und fand. Und diese von Lugia geschenkten Augen waren hier und jetzt so stürmisch und leidenschaftlich. In ihnen lag die See. Sie wurde lebendig und schien motiviert, alle Landmassen des Planeten neu zu sortieren. Solch eine Kraft...

    Ihr Lächeln wurde noch einmal breiter. Dann hauchte sie ihm mit der Hand einen Kuss zu. Er machte eine Geste, als würde er ihn auffangen und erwiderte das Lächeln.


    Inzwischen war der Wartebereich des Stadions erheblich menschenleerer geworden. Fühlte sich jedes Mal komisch an, wenn es so plötzlich so viel mehr Platz gab. Es sorgte immer für noch mehr Anspannung und Knistern in der Luft. Spreu und Weizen waren getrennt und die potenziellen Gegner keine Unbekannten mehr. Jeder hatte mindestens ein paar Karten, wenn nicht sogar die ganze Hand auf dem Tisch. Und nur jene, die noch nicht alles gezeigt hatten, würden auch den Weg ins Halbfinale schaffen.

    Ryan wurde bei seiner Rückkehr in die Katakomben wenig überraschend von zwei strahlenden Gesichtern erwartet. Nebst jenen und seinem eigenen gab es nur noch fünf weitere, wobei er das von Bella glücklicherweise nirgends zu entdecken vermochte. Oder war das nicht eher ein schlechtes Omen? Wer wusste schon was sie in diesem Augenblick trieb? Solange sie hier war, wusste er darum wenigstens Bescheid.

    Sandra vertrieb die düsteren Gedanken und beteuerte rasch ihre Verblüffung. Auf dem Papier hatte wahrlich fast alles gegen ihn gesprochen, sodass dieser Sieg an sich schon beeindruckend war. Hinzu kam die Art und Weise, wie Ryan ihn erlangt hatte. Die Drachenmeisterin wirkte geradezu hingerissen. Andere Trainer – in diesem Fall Ryan und Andrew – im Kampf aufblühen zu sehen, hatte sie schon damals erheitert, als sie beide in ihrer Arena angetreten waren. Und die Jungen wiederum faszinierte es, wie sie sich am Erfolg anderer so erfreuen konnte. Das traf tatsächlich auf die Mehrzahl der Arenaleiter zu. Ryan zuckte nur mit den Achseln und lächelte, als wäre es töricht gewesen, etwas Anderes zu erwarten. Nicht einmal die Hände nahm er aus den Hosentaschen.

    Andrew sparte sich die Worte. Sie brauchten keine. Momente wie diese hatte sie mehrfach zuvor erlebt und er wollte sie auch nicht aussprechen, solange sie beide noch im Rennen waren – sprich, schon in der nächsten Runde gegeneinander antreten könnten.

    Eben auf die Bekanntgabe dieser und der drei anderen Paarungen wurde nun gewartet. Zuvor wurde den Zuschauern eine 30-minütige Pause gegönnt, um den Vorrat an Speisen und Getränken aufzustocken oder abzuwerfen. Gleichzeitig wurden die vorher nur sporadisch behobenen Schäden am Kampffeld so gründlich bereinigt, wie es in dieser Zeitspanne möglich war. Einige Matches hatten ihre Spuren definitiv zu weitreichend hinterlassen.

    Während der andauernden Pause hatte Ryan einen Abstecher zu Melody und Audrey erwägt. Doch selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie ihre Plätze nicht verlassen hatte, entschied er sich dagegen. Er wollte nicht den Anschein erwecken, ständig Gesellschaft zu suchen, als habe er nichts, worauf er sich konzentrieren müsse. Stattdessen suchten er und Andrew einen Raum auf, der im Volksmund als Rival-Check bekannt war. Während großer Turniere und natürlich auch den regionalen Ligen wurden diverse, für Trainer zugängliche Terminals errichtet, mit denen man auf die Datenbank der PTG sowie auf einen Teleporter zugreifen konnte. Ein Pokémon auszuwechseln war jedoch nicht das Anliegen der beiden Johtonesen. Stattdessen würden sie in der Datenbank nach Informationen zu ihren Konkurrenten suchen.

    In prestigeträchtigen Wettbewerben, zu denen selbst kleinere als der Summer Clash noch gehörten, wurden stets alle Trainer, deren Pokémon, Kampfresultate und haufenweise Statistiken erhoben und festgehalten, die an solchen Terminals eingesehen werden konnten. Auch Arenakämpfe flossen hier mit ein. Der Raum war fast leer. Nur ein strubbeliger Kurzhaarschopf ragte über einen der Bildschirme hinaus. Konnte eigentlich nur dieser Morrow sein. Schon verwunderlich, dass sich sonst keiner die Zeit nahm. Jetzt, da das Teilnehmerfeld so übersichtlich geworden war, machte es durchaus Sinn, die Pausenzeit hierfür zu nutzen. Ryan und Andrew schenkten ihm allerdings keine Beachtung, sondern nahmen selbst Platz und begannen zu tippen. Keine offensichtliche zumindest, doch Ryan beschwor sich, aufmerksam für jeden Laut und jede Bewegung aus seiner Richtung zu sein. Diese Vorsicht war ihm mittlerweile fast in Fleisch und Blut übergegangen. Ungeachtet der blauhaarigen Attentäterin mit rubinroten Augen, die sich ein Stück weit entfernt an einer Ecke den Flur runter positioniert und ihn stets im Blick hatte.

    Jamie Gregory war der erste Name, der eingetippt wurde. Dieser hatte immerhin Andrew und Audrey in der Qualifikation hinter sich gelassen. Den sollte man auf dem Zettel haben.

    Unter einem Bild des Gesuchten wurden alle Teilnahmen bei Turnieren verzeichnet, die selbst einen Rival-Check boten. Zwei Liga-Teilnahmen in Hoenn, eine in Sinnoh. Jedes Mal mindestens unter die besten Sechzehn gekommen. Bei bestimmt zehn kleineren Turnieren angetreten, von denen er eines hatte gewinnen können und ansonsten fast immer bis ins Halbfinale vorgedrungen war. Spezialist für Pokémon, die Explosion, Finale oder Abgangsbund beherrschten, las man. So, so. Erklärte zumindest den Spitznamen ein Stück weit. Was wohl die Strategie dahinter sein mochte? Bestimmt sprengte der nicht einfach stumpfsinnig seine eigenen Pokémon in die Luft, um das des Gegners mit ins K.O. zu reißen. Zumindest ein einziges Mal musste er klar siegen, um am Ende triumphieren zu können. Wenn es bei einem offiziellen Kampf durch Explosion oder Finale zu einem Unentschieden kam, verlor der Trainer, der die Attacke angeordnet hatte, nämlich automatisch.

    Neben dieser Liste fand sich ein Dropdown-Menü der Pokémon, mit denen er angetreten war. Durch einen Klick auf das entsprechende wurden präzisere Daten mitgeteilt, wie das Geschlecht, die Anzahl offizieller Kämpfe, sowie die der gewonnenen und verlorenen. Zudem das Datum, an welchem das Pokémon zum ersten Mal an seiner Seite registriert wurde und eine Netzgrafik, die Schätzwerte zu Schnelligkeit, Ausdauer, Offensiv- und Defensivwerten zeigte.

    So wurden nach und nach die Konkurrenten durchgegangen und das neue Wissen mit dem aus den eigenen Beobachtungen zusammengeworfen. In Ryans Fall häufte sich da erheblich mehr an. Beim Rival-Check galt es allerdings immer zu beachten, dass Daten wie die Stärke der Pokémon keine sichere Handfestigkeit besaßen. Es handelte sich lediglich um Einschätzungen der Statistiker. Und Andrew betonte gerne, dass er keiner Statistik blind vertraute, die er nicht selbst gefälscht hatte. Zudem konnte es immer neue Pokémon im Team eines Trainers geben, die noch nicht erfasst waren. Für Ryan, der bislang ausschließlich mit Sumpex und Kirlia angetreten war, die hier ihre ersten offiziellen Matches bestritten, traf das schließlich selbst zu.

    Andrew erkundigte sich nach einiger Zeit, als die Liste der einzusehenden Trainer zuneige ging, ob Ryan denn Terrys Daten aufrufen wolle. Das verneinte der Blondschopf jedoch. Es war nicht vonnöten, kannte er dessen Pokémon doch in und auswendig. Er hatte öfter gegen Terry gekämpft als gegen Andrew und somit jeden anderen Pokémontrainer, der ihm einfiel. Und er wechselte sie niemals. Er besaß nur genau diese sechs. Hatte sie schon bei ihrem ersten Treffen mit sich geführt. Damals waren lediglich noch nicht alle voll entwickelt gewesen. Und um ihre Stärke wusste Ryan definitiv besser Bescheid als irgend so ein verbohrter Zahlenfanatiker.

    Aus einem Impuls heraus tippte er stattdessen Bella Déreaux ins Suchfeld ein. Keine Treffer. Was Anderes hatte man wohl nicht erwarten dürfen.


    Gerade lehnte sich Ryan etwas nachdenklich in seinem Stuhl zurück, da ertönte über die Stadionlautsprecher eine bekannte Schlachtenmusik, zu welcher sich die Stimme Cays dazugesellte.

    „So, da sind wir wieder, Freunde. Bitte Plätze wieder einnehmen und anschnallen. Wir starten in wenigen Minuten Richtung Viertelfinale durch!“

    Ryan und Andrew tauschten nur einen kurzen Blick und verließen die Rechner wortlos. Die andere Person von vorhin war bereits kurz nach ihrer Ankunft wieder gegangen.

    Die jungen Trainer fanden Sandra bei ihrer Rückkehr im Gespräch mit Audrey, die ihren Platz kurzweilig verlassen hatte. Was bedeutete, dass Mila ich gerade in ihrer Nähe aufhielt, damit sie auch ja nicht das Ziel eines Agenten werden konnte. Das hoffte Ryan zumindest. Eine andere, spezielle Agentin war nach wie vor hier im Wartebereich zugegen. Saß in der hintersten Ecke, lässig, geradezu träge und hielt sich unauffällig. Vielleicht nur, damit sie niemand erspähte, wenn sie an ihrem Flachmann nippte.

    „Wunschgegner ausgesucht?“, flachste sie mit einem schelmischen, stichelnden Blick. Ryan erinnerte gern an den gestrigen Abend zurück, an dem er bereits alle genannt hatte. Andrews Liste sah deutlich kürzer aus, bestand sie doch nur noch aus Bella. Zum gestrigen Zeitpunkt hatte das noch anders ausgesehen.

    „Das Leben ist kein Wunschkonzert. Ein Turnier schon gar nicht“, entgegnete er allerdings nur, um keine Verbissenheit auszustrahlen, die der Gruppe oder anderen Konkurrenten auffallen könnte.

    „Nun wieder so ernst?“

    Sandras Frage unterlag durchaus ein gewisser Tonfall, der etwas anzudeuten versuchte. Und der Gefragte verstand gleich. Er hatte sich kurz vor dem Summer Clash offen ihr gegenüber zu diesem Thema geäußert. Angesichts der Tatsache, dass es hier längst nicht mehr nur um Sieg und Niederlage oder gar den Spaß ging, sollte sie eigentlich selbst verstehen, warum in seinen Augen die Zeit für Scherze allmählich vorbei war. Er antwortete jedoch zwar mit demselben Unterton, aber nicht so offensichtlich, dass Audrey stutzig werden könnte. Sie sollte von allem hier am besten gar nichts erfahren. Es würde sie nur in Gefahr bringen.

    „So und nicht anders geh ich ein Match an.“

    Er schaffte sogar ein engagiertes Grinsen. Sollte er das Los gegen Bella ziehen, würde es sich von einem Ohr zum anderen strecken. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem er ihr gegenüberstand.

    Cay lenkte schließlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die großen Bildschirme, die sogleich die Paarungen für das Viertelfinale anzeigen sollten. Der Turnierbaum und die entsprechenden Kästchen waren bereits eingeblendet. Nur wartete man nur noch darauf, dass die Gesichter der Teilnehmer in ihnen erschienen.

    Eben das passierte nur Sekunden später.

    „Mitch Morrow eröffnet diese Runde erneut. Und das ausgerechnet gegen den Champ von Johto, Terry Fuller. Anschließend folgen Ann Trevors und Ryan Carparso“, erörterte der Stadionsprecher. Diesmal war Ryan also früh dran. Und wieder war sein Gegner niemand Vertrautes. Seit einigen Minuten aber zumindest niemand völlig Fremdes mehr. Diese Ann hatte nicht nur hier in Hoenn, sondern auch in Kanto und Johto Orden gesammelt, war aber offensichtlich nicht an Sandra vorbeigekommen. Zwei Mal hatte sie in der Arena von Ebenholz verloren und somit nie an der Silberkonferenz teilnehmen können. Auf dem Indigo Plateau hatte sie immerhin das Achtelfinale erreicht. In der Hoenn Liga würde sie erst später in diesem Jahr das erste Mal antreten.

    „Es folgen Andrew Warrener und Jamie Gregory.“

    Andrew bekam es also mit diesem Märtyrer zu tun. Er würde es eher so formulieren, dass der es mit ihm zu tun bekommen würde. Wichtiger jedoch war, was das Ausschlussverfahren für das letzte Match offenließ.

    „Und zum Abschluss gibt´s noch einmal Frauenpower vom höchsten Kaliber. Drachenmeisterin Sandra trifft auf Bella Déreaux.“

    Alle Blicke richteten sich auf die Arenaleiterin, die nach wie vor den Bildschirm fixierte, als ginge die Auslosung noch weiter. Sie registrierte keinen von ihnen. Wüsste ohnehin nichts mit den unterschiedlichen Ausdrücken, die darin lagen, anzufangen. Auch außerhalb der Vierergruppe suchte ein Augenpaar nach ihr. Eines von der Farbe polierter Bernsteine. Dieses Los gefiel Bella sehr wohl. Obendrein durfte sie sich gute Chancen ausrechnen, in der nächsten Runde auf Ryan oder Andrew zu treffen. Dass die beiden das Halbfinale erreichen würden, war in ihren Augen nur eine Formsache. Dieser Fuller stand für sie ebenfalls schon als Sieger des kommenden Matches fest, war aber als Einziger für sie nicht von Interesse.

    Sie merkte, wie sich Sandras Kopf ein wenig senkte. Fast als seufze sie, erschlagen von ihrem Pech, welches sie in diesem Augenblick verfluchte. Gegen sie antreten zu müssen war scheinbar das Allerletzte gewesen, was sie wollte.

    Ein Trugschluss, wie sich herausstellte. Plötzlich und ruckartig wandte sie sich um, sodass Haar und Cape weit flatterten und blickte sie aus funkelnden Augen an. Sie waren zu Saphiren geworden – das Äquivalent zu Sheilas Rubinen. Und gar waren sie annähernd so kalt und wild, als wollten sie ihr Duell hier und jetzt beginnen. Als habe sie ihre Verstand zugunsten von Stärke geopfert und alles Andere aus ihrer Welt verbannt. Um sie herum war nur noch Schwarz. Und sie beide nicht mehr als Schatten, die in der Leere umeinander kreisten, um sie mit Kampfgebrüll zu zerfetzen. Saphir und Bernstein, verkörpert als zwei kollidierende Himmelskörper. Einer von Licht umhüllt, während der andere die Nacht beschwor. Sandra wollte jeden Schatten vertreiben, um Bellas wahres Ich vor der Welt offenzulegen, bevor sie sie zerstören würde.

  • Hallo,


    auch dieses Mal wusste der Kampf sehr zu überzeugen. Sumpex' eingeschränkte Beweglichkeit gegenüber einem Flug-Pokémon hast du gut zu seinem Vorteil genutzt, indem die anfängliche Annäherung zu waghalsigen Angriffen beim Gegner führten. Mit dem Wasser der Aquawelle konnte es schließlich selbst in seinem Element sein und die Stärke zeigen, die es ausmacht. Der fast schon bedingungslose Gehorsam vor der Wende zeigt in jedem Fall das erfolgreiche Training und ein großes Vertrauen in Ryan, das wohl kaum erschüttert werden kann. Ich freue mich daher schon auf die nächsten Kämpfe im Viertelfinale, die jetzt schon viel Spannung versprechen.


    Wir lesen uns!

  • Kapitel 51: Battle dance


    „Das war´s schon. Terry Fuller hat´s wieder kurz und schmerzlos gemacht. Wobei Sichlor und Kokowei das bestimmt anders sehen.“

    Nicht Cays bester Scherz. Aber Unwahrheiten hatte er das ganze Turnier über noch nicht erzählt. Allein Terrys Flampivian hatte problemlos ausgereicht, um beide von Mitch Morrows Pokémon zu schlagen. Man musste sich schon fragen, warum Morrow sich bewusst in eine benachteiligte Ausgangslage gebracht und nach Kokowei auch noch Sichlor gegen ein Feuerpokémon gewählt hatte. Ryan fiel lediglich die Option ein, dass es sich bei jenem um seinen stärksten Kämpfer handelte und er lieber anhand dessen anstatt des Typenverhältnisses entschieden hatte. Letztendlich war seine Wahl aber nicht von Bedeutung gewesen. Terry Fuller spielte einfach in einer anderen Liga. Egal, wen Morrow gegen ihn geschickt hätte, der Ausgang wäre derselbe gewesen.

    Für Ryan stand nun Ann Trevors auf dem Programm. Seine Recherchen hatten ergeben, dass sie von fast jedem Pokémontypen mindestens einen Vertreter besaß und keinen wirklich zu bevorzugen schien. Solch eine Vielseitigkeit hatte er beim Summer Clash selten beobachtet. Ein Großteil der Trainer und teilnehmenden Züchter hatte sich auf einen Typen spezialisiert. Vielleicht ein Zeichen, dass diese Trevors kein Fallobst war?

    „Alles gut?“

    Andrew lächelte recht zuversichtlich. Ryan war momentan echt gut drauf, wenn´s ums Kämpfen ging. Jener Umstand war gerade zum rechten Zeitpunkt eingetreten. Gar nicht mehr vergleichbar zu ihrer Ankunft in Hoenn oder den ersten Tagen danach, als er mit einem völlig blockierten Hydropi dagestanden hatte. Und dies wäre nur einer der Gründe, warum die Teilnahme hier zu diesem Zeitpunkt noch undenkbar für ihn gewesen war. Kaum zu glauben, wenn man ihn und Sumpex heute ansah. Der Blondschopf sah ihn nur kurz aus dem Augenwinkel an und rümpfte – allerdings mit einem ähnlichen Lächeln – die Nase.

    „Deine Sorge ist rührend“, spaßte er mit einem Klaps auf Andrews Schulter, ehe er sich auf den Weg machte.

    „Dauert nicht lange.“

    Diese Geste, obwohl etwas gespielt arrogant, war eigentlich nichts Besonderes. Als Ryan dann aber im Gang Richtung Tunnel verschwand, runzelte sich dennoch Andrews Stirn. Sandra vermutete eine böse Vorahnung.

    „Bei dir auch alles gut?“

    Für sie ging das schon als Witz durch. Oder zumindest eine Spitze. Sie wurde einfach übergangen.

    „Der wird jetzt direkt Terry in die Arme laufen.“

    Hierauf schürzte auch die Drachenmeisterin die Lippen. Hatte Ryan das einfach nur nicht bedacht oder hatte er es gar beabsichtigt? Konnte es denn irgendetwas geben, dass er seinen verhassten Rivalen unbedingt jetzt sagen musste? Spontan fiel keinem von beiden etwas ein.

    „Meinst du, die fetzen sich da hinten gleich?“

    Diesmal biss sie auf die Unterlippe. Nachdenklich und abwägend.

    „Wir werden´s wissen, sobald Feuer und Rauch aus dem Tunnel kommen.“

    Das war nun definitiv ein Witz gewesen. Nur etwas zu nah an der Realität für Andrews Geschmack.


    Wie in der vorherigen Runde schon hatte Ryan die Fäuste in den Taschen vergraben. Seine Schritte waren rasch, aber gleichmäßig. Zielstrebig, doch nicht hastig. Fast erklangen sie im gleichen Rhythmus wie drei metallene Handgelenkringe, deren Schellen und Klackern ihm Terry Fuller ankündigten. Der zuckte kaum mit der Wimper, musste für dieses Maß an Beherrschung jedoch alles aufbieten, was er hatte. So viel musste er Ryan zusprechen – er war immer für Überraschungen gut. Nur eben keine der angenehmen Art. Das sagte er sich zumindest, doch insgeheim musste er gestehen, dass seine bisherigen Auftritte durchaus Eindruck hinterlassen hatten. Was nicht bedeutete, dass er ihn als eine Gefahr einstufte. Im direkten Duell wäre Terry garantiert der Stärkere.

    Seine Augen verengte sich, als sie einander näherten. Erst hatte sich der Trainer aus Einall noch einige kurze Worte zurechtlegen wollen, verwarf aber schnell den Plan, es selbst zu ergreifen. Sollte Ryan allerdings wieder mal was Dummes zu sagen haben, würde er nicht imstande sehen, es unkommentiert zu lassen. Terry fixierte ihn mit kalter Mine. Seine Körpersprache war energisch und selbstbewusst. Er hatte keinen Grund, ihm gegenüber in irgendeiner anderen Form aufzutreten.

    Er... Ryan sah ihn gar nicht an. Würdigte ihn keines Blickes. Seine marineblauen Augen waren zielstrebig nach vorn gerichtet. Geradewegs an Terry vorbei. Wollte der ihn provozieren? Für wen hielt sich der Kerl? Ihn hier zu überrumpeln und dann einfach ignorieren? Der Champ könnte spucken und schreien vor Wut. Doch ihm blieb gar keine Zeit, Ryan zu bremsen und ihm diese Wut mitzuteilen. Schon passierten sie einander und just in diesem Moment war sich Terry Fuller absolut sicher, dass er doch hämisch aus dem Augenwinkel fixiert wurde. Nicht, dass Ryan ihn bewusst hatte ignorieren oder gar aufziehen wollen. Es fühlte sich eher an, als lenke er seinen Blick in allerletzter Sekunde doch zu Terry, um zu beobachten, wie er damit klar kam, nicht der Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu sein. Genaugenommen befand er sich so weit am Rand, dass er ihn fast nicht registriert hätte. Und auch dies war keinesfalls aufgesetzt, sondern Fakt.

    Terry stoppte. Sein Atem tat es für einige Herzschläge ebenfalls. Er drehte sich auf dem Absatz und sah Ryan Carparso hinterher. Schon jetzt hatte er arge Zweifel, ob der ihm wirklich einen Blick hatte zukommen hatten. Kam ihm vor, als habe er das geträumt. Ein Tagtraum? Aber wieso fühlte es sich dann so nah, so real an? Was war mit ihm los? Oder wichtiger – was war mit Ryan geschehen? Terry überkam eine willkürliche Skepsis, dass dies wirklich der Rivale war, den er nun so lange kannte und hasste.


    Ryan machte diesmal überhaupt keine Show für das Publikum. Das würde sich durch den kurzen Abstand zu seinem letzten Kampf schlich blödsinnig anfühlen. Stattdessen rollte er ein wenig die Schultern, schüttelte seine Arme aus, um die Muskeln zu lockern. Fast als habe er gleich vor, einen Marathon zu starten. Selbst den in manchen Situationen so anstrengenden Stadionsprecher blendete er – zudem völlig unbewusst – gänzlich aus. Ihm wurde mit einem Mal deutlich klar, wie es Sandra mit der Presse und den Paparazzi ging.

    Cays Stimme drang erst wieder zu Ryan durch, als er seine Position erreicht und den Blick erneut geradeaus, in die Richtung, aus der seine Gegnerin gerade erschien, richtete.

    „Bühne frei, Ann Trevors. Das ist deine große Chance, dir einen Namen zu machen.“

    Es näherte sich eine Frau um die zwanzig und somit älter als Ryan. Dank der Informationen vom Rival-Check wusste er, dass sie auch länger als er selbst im Trainergeschäft tätig, allerdings nicht mit demselben Talent gesegnet war.

    Zehn Prozent Talent. Neunzig Prozent harte Arbeit. Dies hatte er Kirlia und Moorabbel vor einiger Zeit gepredigt. Und er rief es sich in solchen Augenblicken immer wieder ins Gedächtnis. Das redete er sich bloß nicht ein. Er hatte einen Erheblichen Teil der Nächte in seinem Trainerleben schlaflos verbracht. Hatte keine Uhrzeit mehr gekannt, wenn der Eifer, sich selbst, seine Strategien und natürlich allen voran seine Pokémon zu verbessern, die Oberhand über die Vernunft gewonnen hatte. Es war eine harte Zeit gewesen. Dass der Erfolg so früh in seiner Karriere gekommen war, bedeutete nicht, dass er kein Lehrgeld gezahlt hatte. Doch all dies hatte ihn innerhalb von gerade mal zwei Jahren zu einem der ganz Großen gemacht. Und seine Partner hatten jüngst ebenfalls hart geschuftet. Hier und heute begutachteten sie alle die Früchte ihrer Arbeit.

    Trevors war eine sehr sportliche Erscheinung. Ein hautenges Shirt in perlweiß schmiegte sich an einen äußerst schlanken und trainierten Oberkörper. Man würde nicht ein Gramm Fett daran vermuten. Das Haar im krassen Kontrast war ein halblanger Stufenschnitt in Pechschwarz, wies aber im Licht der warmen Mittagssonne einen gewissen Glanz auf. Trotz eben dieser sommerlichen Temperatur trug sie einen dünnen Schal um ihren Hals, ähnlich wie Sheila. Nur war ihrer ebenfalls schwarz, genau wie die engen Halbhandschuhe. Ein schwarzer Gürtel hielt graue Slim Jeans, die über eleganten Schuhen mit Absatz endeten.

    „Ich habe eine Bitte.“

    Sie hatte ihren Kampfplatz noch nicht einmal erreicht. Scheinbar hatte sie es eilig, jene vorzutragen. Folglich musste sie sehr wichtig sein.

    „Schone mich nicht, wie diesen Biggs.“

    Ryan hob das Kinn und sog Luft ein, während sich seine Augen etwas verengten. Sie hatte es also erkannt. Dabei war er sicher gewesen, nebst den Zuschauern auch die meisten Trainer erfolgreich getäuscht zu haben. Scharfsinnig war sie also schon mal.

    Er antwortete nicht. Weder stimmte er zu, noch wies er das Anliegen zurück. Er verdeutlichte seine Intention auf anderem Wege. Seine Hand fuhr äußerst langsam an die Pokéballtasche an seinem Gürtel, öffnete diese jedoch sehr schnell und ruckartig. Kaum hatte er eine ballförmige Kapsel herausgefischt, war sie bereits vergrößert und er setzte, wie zuvor gegen Chester Rome einen Fuß vor. Ann Trevors schmunzelte motiviert und nickte kaum merklich.

    „Danke“, flüsterte sie, sodass nicht einmal Carparso es hörte. Sie würde wie ein echter Gegner behandelt werden. Genau wie gewünscht. Nun musste sie sich dieses Gefallens aber auch würdig erweisen.


    Verglichen mit den meisten Achtenfinal-Matches oder auch dem vorangegangenen zwischen Terry Fuller und Mitch Morrow war der Tanz zwischen Kirlia und Knogga, der bereits länger andauerte als eben der jüngst beendete Kampf, spürbar von anderer Natur. Keine kräftigen Schwergewichte, keine blitzschnellen Nadelstiche, kein Knallen und Krachen und keine Explosionen. Und dennoch hielt es die Leute auf den Rängen ausnahmslos in Atem. Das Knogga von Ann Trevors war mit seiner natürlichen Waffe so geschickt, wie ein Samurai mit einem Kampfstab. Er wirbelte den Knochen pausenlos umher, ging in schnelle und präzise Schlagkombinationen, oder warf ihn wie einen Bumerang. Für die Psychodame auf der anderen Seite war das Wort Tanz gar wortwörtlich gemeint. Die vielen Übungen, die sie mit Ryan und auch zu großen Teilen allein aus Eigeninitiative investiert hatte, zahlten sich nun aus. Elegante Schritte und Drehungen, Wechsel des Standbeines, Gleichgewicht und Körperbeherrschung bewahrten sie ein ums andere Mal vor einem Treffer. Melody gefiel diese Darbietung besonders, während Audrey die Arme verschränkt hielt und nur fassungslos den Kopf schütteln konnte. Kaum zu glauben, was die Kleine da abzog. Aber kreativ und anschaulich war es auf jeden Fall. Sie konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. Es war Kirlias eigener Stil, aber Ryan hatte gar nicht erst daran gedacht, ihr einen Riegel vorzuschieben. Er war sogar überzeugt, damit so machen Gegner kalt erwischen und überfordern zu können. Diese Vermutung bestätigte sich gerade.

    „Sondersensor!“, wies Ryan an, als das maskierte Pokémon auf der Gegenseite seinen Knochen erneut auf Kirlia schleuderte. Die brauchte keine Anweisung, um dem auszuweichen. Das tat sie schon die ganze Zeit über mit ihrem Tanz von selbst. Sie drehte sich mehrfach auf einem Absatz, ging dabei in die Knie, wie eine Eiskunstläuferin und beugte sich in die Tiefe. Dadurch duckte sie sich unter dem Knochmerang hinweg, der jedoch sofort aus dem toten Winkel umkehrte und erneut nach ihr zielte. Aber das war schon zuvor misslungen. Wie üblich zielte der zweite Versuch auf die Beine, weshalb sie mit einem eleganten Sprung drüber hüpfte. Sie staunte selbst, welche Wunder es bewirkte, wenn man, wie von Ryan erdacht, den Gegner beobachtete, seinen Kampf las und war gleichzeitig beeindruckt über dessen Stumpfsinn, immer wieder dasselbe zu versuchen. Kein Wunder, dass ihr Trainer so große Stücke auf diese Tugend legte. Noch in der Luft änderte sich Kirlias gesamte Körpersprache. Ihre Gestalt glimmte weiß und purpurfarben auf, transferierte die Energie rasch zwischen ihre dünnen Ärmchen und erschuf eine kleine Lichtkugel. Als diese Zielgenau Richtung Knogga, das gerade seine Waffe aufzufangen gedachte, geworfen wurde, surrte und vibrierte die Luft hinter der Druckwelle, sodass sie eine verschwommene Schneise hinterließ. Obwohl nicht greifbar, fühlte sich der Einschlag an, wie der von einem physischen Körper. Es wäre sicher weniger schmerzhaft, von einem Tauros gerammt zu werden. Knogga war ein Leichtgewicht und wurde von dem Energiestoß hilflos durch die Luft geschleudert. Der Aufprall sah für das unerfahrene Auge sicher übel aus, doch die Trainer und auch Cay wussten, dass Trevors und ihr Partner gar Glück gehabt hatten, dass selbiger mit dem Schädel aufgeschlagen war. Der schützte nämlich vor solchen Krafteinwirkungen noch viel mehr, als man ohnehin vermuten würde.

    „Trevors und Knogga müssen sich langsam was einfallen lassen. Das Kirlia spielt unten quasi nur mit ihnen.“

    Sah das wirklich so aus? Wusste er das Psychopokémon wahrlich nur so halbgar zu honorieren? Hatte der Typ eigentlich eine Ahnung, wie hart es war und wie viel Konzentration es jeden Augenblick benötigte, diese Bewegungen so anwenden zu können? Und einen Kampf sinnlos in die Länge zu ziehen, nur um den Gegner bloßzustellen war beileibe auch nicht Ryans Ding. Wo bliebe denn da der Respekt für selbigen? Solch eine Arroganz verabscheute er.

    Besagter Gegner rappelte sich dennoch mühsam auf, suchte als allererstes nach seinem Knochen. Ohne diesen war er doch nur ein halbes Knogga. Er stemmte sich auf seine Waffe, um wieder auf die Beine zu kommen. Dieses Kirlia besaß deutlich mehr Kraft, als man vermuten konnte. Aber das war nicht untypisch für Psychopokémon. Bei denen trog der Schein noch viel häufiger als bei den meisten anderen Arten. Sie hatte ihn gar nicht mal oft erwischt. Das eben war erst der zweite Treffer gewesen, den er so richtig gespürt hatte. Dafür hatte er bislang nur Fehlversuche zu verbuchen.

    Trevors war weit weniger überrascht hiervon. Das war es schließlich, was die Datenbanken zu Ryan Caraprso gesagt und auch was sie selbst beobachtet hatte. Ihn und ein paar weitere – von denen ironischerweise noch alle im Turnier kämpften – hatte sie bereits gestern im Rival-Check nachgeschlagen. Carparsos Strategie war für gewöhnlich das Bollwerk. Zunächst Absichern und dann plötzlich Ausfallen, sobald der Gegner ungestüm wurde, Schwachstellen offenbarte. Bollwerk war in Kirlias Fall vielleicht nicht der passendste Begriff, aber stimmte seine Strategie auch mit ihr unterm Strich mit den Informationen überein. Was er jedoch nicht berücksichtigte, so hoffte sie zumindest, war die eine Attacke, die bei eigenem Misserfolg gar noch stärker wurde. Gern hätte sie noch etwas damit gewartet, aber der nächste Schlag könnte für Knogga schon der letzte sein.

    „Wir gehen jetzt auf´s Ganze!“, kündigte sie ihrem Kampfer an, was den von Ryan und auch ihn selbst in Alarmbereitschaft versetzte. Mal sehen, was sie sich ausgedacht hatte.

    „Los, Fruststampfer!“

    Scheiße.

    Das kleine Boden-Pokémon griff seinen Knochen wie eine Hellebarde und schlug das untere Ende auf den Sand. Es ging eine Erschütterung durch den Boden, die fast einem Erdbeben gleich kam. Das erreichte man mit Fruststampfer nur dann, wenn das volle Potential ausgeschöpft wurde. Kirlia verlor nicht nur das Gleichgewicht und ging gänzlich zu Boden, sie war an Ort und Stelle paralysiert. Unfähig, sich zu erheben oder vom Fleck zu bewegen. Die Vibrationen waren so stark, dass ihre Muskeln davon schmerzten und sie eine immense Last auf sich zu spüren glaubte, die sie gen Boden drückte.

    Die Erschütterungen hielt glücklicherweise nicht sehr lange an und als sie nachließ, gedachte Ryan Knogga mit Spukball auf Distanz zu halten, doch der antwortete schon mit Knochmerang. Den Arm hatte sie bereits ausgestreckt, doch wurde sie am Kopf getroffen, bevor sie die Energie hatte sammeln können. Melody schlug bei dem Anblick die Hände vor den Mund. Das hatte echt böse ausgesehen. Ein Mensch würde nach so einem Schlag mindestens eine mittelschwere Gehirnerschütterung davontragen. Für einen Moment war Kirlia hilf- und orientierungslos und ihr Gegner schon im Ansturm auf sie. Wenn er sie im Nahkampf erwischte, dann war sie erledigt.

    „Zauberschein, Kirlia!“

    Das grazile Geschöpf priorisierte den Angriff über das Aufstehen. Sie durfte keine Sekunde verlieren und mit dieser Technik reichte eine ungefähre Richtung. Über ihr blitzten winzige, weiße Sterne auf, die wie Diamanten in der Sonne funkelten. Binnen einer Sekunde stieß ihr Körper gleichfarbiges Licht ab und entsandte die Sternchen als scharfkantige Geschosse in Richtung Knogga. Dieses jedoch ließ seinen Knochen vor seinem Gesicht rotieren wie einen Propeller, um sich zu schützen. Zauberschein prallte tatsächlich zum Großteil ab. Einige Geschosse verfehlten das Ziel auch gänzlich, aber zumindest die Beine wurden getroffen sowie die Augen geblendet, was den Ansturm deutlich verlangsamte. Genug, sodass sie wieder aufstehen konnte. Ihre Haltung war deutlich schwerer und wackliger als zuvor.

    „Knogga ist nicht zu bremsen. Woher zum Geier kommt eigentlich dieser plötzliche Kraftschub?“, fragte sich Cay und ausnahmsweise stufte Ryan seine Frage als berechtigt ein. Er selbst würde jedoch nicht vor dem Ende des Kampfes darüber spekulieren.

    „Seher!“

    Die Augen der Psychodame leuchteten blau auf. So hell, dass sowohl die Pupillen als auch das Weiß gänzlich davon verschluckt wurden. Über ihr flimmerte die Luft für wenige Sekunden in einem schwachen, gleichfarbigen Schein. Weiter geschah nichts. Ab jetzt tickte die Uhr für Ann Trevors. Der Attacke Seher konnte man fast unmöglich entgehen und zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde sie vermutlich genügen, um ihren erschöpften Partner zwei Mal auf die Matte zu schicken. Sie musste die erste Runde zügig beenden.

    „Vorwärts, Knochenhatz!“

    „Gedankengut.“

    Gerade begann das Licht zu schwinden, da schlossen sich Kirlias Augen in aller Seelenruhe. Ihre Körpersprache zeugte ebenfalls von einer solchen, als stünde sie friedlich an einem entlegenen Küstenstrand, anstatt auf einem Schlachtfeld, um der Melodie von Wind und Meer zu lauschen. Irgendwo in ihrem Geiste fiel ein Tropfen auf einen See. So sanft und im Einklang, dass er nicht einmal Wellen schlug.

    Knogga setzte zum Sprung an und holte aus. Ein Schlag auf die Schädeldecke würde sie sofort in die Ohnmacht schicken. Der Erfolg blieb aus. Kirlia tänzelte auf Zehenspitzen zur Seite. Jede Bewegung plötzlich wieder so ruhig, so gekonnt und anmutig, dass jede Ballerina vor Neid erblassen würde.

    „Seh ich da richtig?“, fragte Cay nun. War diesmal vermutlich rhetorisch gemeint.

    „Kirlia weicht mit geschlossenen Augen aus, als könne sie noch immer sehen. Ich pack´s nicht, die Kleine steckt voller Überraschungen!“

    Weitestgehend meinte man, Jubel und Begeisterungsschreie haben für den Moment einer fassungslosen Ruhe Platz gemacht, die nur vereinzelt von verzücktem Raunen durchbrochen wurde. Aus der Zuschauerperspektive kam es einem vor, als wüsste Kirlia bereits im Voraus, wohin Knogga mit seiner Waffe zielte. Er schwang sie so schnell, wild und dennoch kontrolliert, dass es absurd erschien. Aber einen anderen Schluss ließ das, was man dort unten beobachtete, nicht zu. Er wuchtete den Knochen auf ihr Standbein, welches jedoch verlagert und außer Reichweite gezogen wurde. Die Arme sorgten für Balance, während der Kopf in den Nacken fiel. Knogga drehte sich, wirbelte sein Instrument, zu dessen Musik seine Gegnerin tanzte, um den eigenen Torso, um die Schulter, wechselte die Schlaghand, indem er es über den schmalen Nacken rollen ließ. Er sprang fast im Sekundentakt auf sie zu und über sie, machte Ausfallschritte, griff nie zwei Mal aus derselben Richtung an. Diese Technik sowie Körper- und Waffenbeherrschung hatte etwas Akrobatisches, doch dieser Ausdruck wurde dem Geschick Knoggas bei Weitem nicht gerecht. Allein, es fruchtete nicht. Kein Treffer wollte gelingen.

    Mitten in einer Drehung machte Kirlia ein unnatürliches Hohlkreuz, sodass der Knochen ins Leere sauste. Sie spreizte die Beine auseinander und duckte sich unter dem nächsten Schlag, zu dem das Boden-Pokémon gar gesprungen war, streckte sich wieder gerade und wandte dann sowohl Kopf als auch Unterleib in schnellen Bewegungen hin und her, um einem Hagel aus stoßartigen Angriffen zu entgehen. Jeder davon wurde mit einem Schritt beantwortet, der die entsprechende Körperausrichtung erlaubte, sowie von schnellen Atemstößen begleitet.

    „Ki-, Ki-, Ki-“, stieß sie bei jedem Ausweichschritt aus. Die Arme in rascher Folge mal vor der Brust angelegt, mal über den Kopf oder von sich gestreckt. Ryan hatte beim Training einmal gesagt, dass sie ihre Gegner regelrecht an der Nase herumführen könnte. Nun beherrschte sie dies sogar ohne einen eigenen Angriff. Dann fand Knogga jedoch eine absolut unerwartete Lücke. Er huschte einmal durch ihre Beine, befand sich urplötzlich hinter Kirlia und setzte zum Sprung an. Der Schlag auf den Hinterkopf schien unausweichlich.

    „Schutzschild!“

    Genau wie schon Sumpex in der vorherigen Runde, wurde sie rechtzeitig von einer grünen Lichtkuppen umschlossen, an welcher der Knochenhatz abprallte, als sei es ein Gummischläger. Erst jetzt wandte sich Kirlia wieder zu ihrem Gegner – die Augen erneut mit bläulichem Licht gefüllt. Das Match war entschieden.

    Trevors unternahm einen letzten Versuch. Zu einem früheren Zeitpunkt hätte sie damit eine Wende erreichen können, doch nun war es zu spät. Auch wenn sie es noch nicht wusste.

    „Zerschlag den Schild mit Durchbruch!“

    Aus der unüberwindbaren Wand war auf einmal zerbrechliches Glas geworden. Es splitterte in tausend Teile und Knogga landete direkt vor Kirlia, die nun jeglichen Schutz verloren hatte. Sie benötigte keinen mehr. Gut, dass Ryan bis zur letzten Sekunde gewartet hatte, um diese Karte auszuspielen.

    Die Blicke beider Kämpfer trafen sich. Noch ehe eine weitere Knochenhatz folgen konnte, knisterten plötzlich kleine, hellblaue Blitze um und über Kirlia, die eine Pirouette vollführte. Nur einen Wimpernschlag später, mit dem ihre Augen ein mythisches Licht ausstrahlten, zuckte ein gewaltiger Blitz am wolkenlosen Himmel, umspielte eine gleichfarbige Lichtsäule, die über Knogga hereinbrach. Begleitet von weiteren Leuchtgeschossen regnete der Seher auf ihn nieder, und schlug tiefe Löcher in den Boden, wirbelte Staub auf, als würde er unter einem Steinhagel begraben. Ein solcher wäre ein vergleichsweise glimpfliches Aus gewesen. Seher war es nicht.

    „Der Seher ist rechtzeitig eingetroffen! Knogga hat die volle Breitseite von einer der tückischsten Attacken der Psychopokémon kassiert!“

    Die zudem mit Gedankengut verstärkt worden war. Es gab wohl kaum jemanden, dem nicht bewusst war, was das für den Ausgang bedeutete. Falls doch, wurde mit dem Lichten der Staubsäule jegliche Zweifel beseitigt. In dem Krater zuckten noch einige kinetische Blitze, ebenso wie um einen ermatteten, sandfarbenen Körper, der von einem knöchernen Schädel gekrönt wurde. Seine Trainerin seufzte geschlagen.

    „Knogga ist kampfunfähig. Runde eins geht an Kirlia!“, ließ der Schiedsrichter verlauten, worauf nun endlich der Beifall, den bislang keiner zu spenden gewagt hatte, eintrat. Melody sprang einmal auf und ballte beide Fäuste, ließ sich aber gleich wieder in den Sitz sinken. Ihr fiel wahrlich ein Stein vom Herzen. Audrey konnte über ihr eifriges Mitfiebern nur schmunzeln, aber es gefiel ihr absolut. Auch sie applaudierte Ryan und Kirlia.


    Ann Trevors wirkte durchaus etwas niedergeschlagen, doch zweifelte Ryan nicht an der immensen Dankbarkeit, die sie Knogga für seinen Einsatz zollte. Beinahe war ihnen noch die Wende gelungen, mit der wirklich niemand mehr gerechnet hätte. Immerhin hatte Kirlia trotz ihres Sieges ordentlich einstecken müssen, hatte auch durch ihre eigenen Attacken an Kraft eingebüßt und war nun beinahe am Ende. Jetzt musste sie einen raschen Sieg erzwingen, um gegen Carparsos zweites Pokémon ausgeglichene Verhältnisse zu schaffen. Die Vermutung lag nahe, dass er wieder Sumpex wählen würde. Da empfahl sich ein gewisses Pokémon ganz besonders.

    „Gib alles, meine Liebe“, hauchte sie ihrem Pokéball zu und warf ihn hoch in die Luft. Aus dem Lichtblitz materialisierte sich ein Wesen, das Ähnlichkeiten zu Meganie aufwies. Schwerer Körper mit vier kurzen Beinen, ein langer Hals mit kleinem Kopf und ganz offensichtlich ein Planzenpokémon, wie die riesigen Bananenblätter am Rücken verrieten. Die muteten etwas wie Flügel an und tatsächlich gehörte Tropius auch den Flug-Typen an.

    Gegen diesen Gegner hatte Kirlia gar eine Geheimwaffe in der Hinterhand, an der sie beide vor dem Turnier eifrig gearbeitet hatten. Sie hatte beim Training mit Sandras Drachen nämlich ein gewisses Interesse am Element des Feuers entwickelt, das ihr Trainer nur allzu gerne unterstützt hatte.

    Die Frage war nur, ob sie überhaupt noch in der Lage war, diesen Kampf zu bestreiten. Unmittelbar nachdem ihr Sieg über Knogga offiziell gemacht worden war, hatte sie sich auf die Knie sinken lassen und stützte den Oberkörper noch mit einem Arm, während der andere gegen die Schläfe gedrückt wurde. Beide zitterten vor Erschöpfung. Ihre Gattung war nun bestimmt nicht dafür gebaut, viele Treffer wegstecken zu können, weshalb die Schlussoffensive fast ihre Reserven aufgebraucht hatte. Sie keuchte schwer und hielt nur mit Mühe ein Auge geöffnet.

    „Trevors schickt Tropius ins Rennen. Fragt sich nur noch, ob es gegen Kirlia antritt oder Carparso ein anderes Pokémon an den Start schickt“, kommentierte Cay die Lage. Vernünftig wäre wohl letzteres, auch wenn dies ein 1 zu 1 bedeuteten würde. In diesem Zustand konnte das grazile Psychopokémon bestenfalls wenig ausrichten. Ein schneller K.O. würde zudem den Gegner neu motivieren und die entscheidende Runde gar erschweren.

    Sie sah über die Schulter, suchte den Blick ihres Trainers. In einer Minute würde sie sich schon gar nicht mehr erinnern, was sie darin gelesen hatte. Ihre Gedanken wurden jedoch in eine präzise Richtung gelenkt. Ob er es war, der besagte Richtung vorgab oder sie es unbewusst ganz allein tat, würde sie ebenfalls nicht mehr bestimmen können.

    Sie könnte hier und jetzt das Handtuch werfen. Könnte sich verdiente Ruhe gönnen und würde trotzdem für ihren Sieg und die erbrachte Leistung gelobt und respektiert werden – während der dusslige Lehmhüpfer, der bereits seine letzte Evolutionsstufe erreicht hatte, ihr den Rest abnahm.

    Was für ein erniedrigender Gedanke.

    Sie beugte sich vor, drückte sich nach oben und sammelte alle Kraft in ihren zittrigen Beinen. Sie klapperten wie dünne Äste im Wind und man vermutete, sie würden wie genau solche brechen. Sie bewies ihnen allen das Gegenteil. Einmal aufrecht, nahm sie aller Müdigkeit und dem Schwindel zum Trotz wieder ihre tänzerische Kampfposition ein und sang ihren Namen. Dann begann ihr ganzer Körper grell zu leuchten.


    „Seht ihr das, was ich sehe?!“, frönte es aus den Stadionlautsprechern. Einem anfänglichen, ehrfürchtigen Raunen folgte Jubel und Euphorie. Es geschah nur selten, dass sich ein Pokémon während eines Turnierkampfes weiterentwickelte. Bestimmt gab es einige unter den Zuschauern, die solch ein Schauspiel noch nie mit eigenen Augen gesehen hatten.

    Ryan grinste und breitete die Arme aus. Was ihm während seiner Vorbereitung nicht gelungen war, glückte noch während des laufenden Wettbewerbes. Spät, aber nicht zu spät. Das Potential zur Entwicklung hatte Kirlia schon in ihren ersten gemeinsamen Trainingseinheiten gezeigt. Und nun war sie endlich über ihren eigenen Schatten gesprungen, hatte den Willen gefasst, ihre eigenen Grenzen zu verschieben und hier und jetzt stärker zu sein, als sie je von sich selbst erwartet hätte. Ihre Gestalt blieb schmal und grazil, wuchs aber in die Höhe und die Beinchen schienen zu verschwinden. Dafür wurde die untere Körperhälfte etwas weiter. Schließlich wurde der Lichtschleier abgestoßen, und offenbarte das frisch entwickelte Psychopokémon.

    „Guardevoir“, säuselte es mit damenhafter Stimme.

    „Wie geil ist das bitte? Carparsos Kirlia hat sich vor unseren Augen zu Guardevoir entwickelt!“

    Cay hielt es kaum aus. Und auch die Mehrzahl im Publikum kam aus dem Staunen nicht heraus.

    Von der Größe abgesehen hatte sie sich äußerlich gar nicht mal stark verändert. Die Frisur war nun an der Seite getrimmt, hing ihr aber noch immer tief ins Gesicht. Ihre Augen lugten geradeso darunter hervor, leuchtend orange, wie auch der stumpfe Dorn in ihrer Brust. War außerdem üblicherweise blattgrün, doch in ihren besonderen Fall ozeanblau, genau wie die federleichten Arme, die sanft im Wind wogen. Der schneeweiße Körper war nun länger und mutete wie ein edles, langes Kleid an. Man übersah leicht, dass sie tatsächlich hauchdünn über dem Boden schwebte. Sie drehte sich einmal anmutig und hob mit beiden Händen den Schleier an ihrem Unterleib etwas an, vollführte einen hoheitlichen Hofknicks. Als Begrüßung für sie alle hier, deren Aufmerksamkeit ihr in diesem Augenblick galt.

    Ryan zückte schnell und möglichst unauffällig seinen Pokédex, der ihm das Bild in den natürlichen Farben der Spezies zeigte. Allgemeine Informationen zu Guardevoir brauchte er hier und jetzt allerdings keine. Er scannte nach ihren Attacken – und wurde angenehm überrascht.

    „Das Duell lautet Tropius gegen Guardevoir“, verkündete der Schiedsrichter nun und hob seine beiden Fahnen.

    „Beginnt!“

    Trevors ließ sich das nicht zweimal sagen und ergriff die Initiative. Auf ihren Befehl warf das Pflanzenpokémon die Schwingen nach vorn, wodurch sich je ein Luftschnitt aus jeder davon löste und auf Guardevoir zuhielt. Ryan gab keine Anweisung, also tat sie, was sich bereits bewährt hatte. Sie faltete die Arme über den Kopf und drehte sich aus der Flugbahn der ersten Luftklinge. Dann deutete sie eine Verbeugung an, um sich vor einer anderen zu ducken und ging über in eine rasche Folge aus zwei, drei Schritten, sodass auch die restlichen an ihr vorbeirauschten und feine Schneisen in den Boden schlugen. Cay sprach aus, was auch Ryan gerade dachte. Nämlich, dass ihre Bewegungen gar noch präziser, schneller und routinierter aussahen als zuvor. Der Gegenseite passte das natürlich gar nicht in den Kram. Dann musste sie eben mehr aufbieten.

    „Jetzt Blättersturm!“

    „Lichtschild.“

    Sie hob lediglich einen Arm, um die goldene Energiewand zu erschaffen, bewahrte aber eine tänzerische Pose. Es war, als versuche man mit einem Skalpell einen Felsen zu zerteilen. Die abertausenden Blattklingen prasselten unbarmherzig auf Guardevoir nieder, doch der Schild erlitt nicht mal einen Kratzer. Dabei waren sie so scharf, dass jedes einzelne, dass sie verfehlte, gar hochkant im Boden stecken blieb.

    Ann musste den Druck aufrecht erhalten, bis der Schutzschild raus war. Vorher bot Guardevoir wenig Angriffsfläche. Mit Samenbomben sollte es eigentlich funktionieren. Dieser Attacke konnte selbst diese Tänzerin nicht ausweichen. Die braunen und grünen Kügelchen, die Tropius ausspuckte, konnte man wirklich nur mit dem Wort Sperrfeuer beschreiben und Ryan war sich ziemlich sicher, mehr als das sollten sie auch gar nicht darstellen. Das Dauerfeuer, so hatte er nachgelesen, war Trevors bevorzugte Strategie. Es gab wohl kein treffenderes Wort. Und nun, da er das wusste, warum ihr nicht geben, was sie wollte?

    „Jetzt Schutzschild.“

    Ein wenig wünschte sich Guardevoir schon, ihre neuen Kräfte endlich testen zu können. Sie übte sich in Geduld. Ryan wusste am besten, wann der rechte Zeitpunkt gekommen war. So hüllte sie sich erneut in die grüne Energiekuppel und saß den Beschuss unbeschadet aus.

    War das der Moment, auf den Trevors gewartet hatte? Es machte den Anschein. Sie dirigierte Tropius direkt über Guardevoir und stürzte sich auf sie herab. Der Blick nach oben schmerzte der Psychodame in den Augen, als der Schild zusammenfiel. Sie sah direkt in die Sonne, wurde völlig geblendet und konnte unmöglich einen Gegner ausmachen. Jetzt bot sich die Chance auf einen Überraschungsangriff.

    „Los Tropius, Aero-Ass!“

    Dass ein so großes und schweres Pokémon diese Technik erlernt hatte, verdiente durchaus Respekt. Die Idee hinter der Angriffskette ebenfalls. Eine halbe Schraube wurde vollführt, ehe Tropius urplötzlich verschwand und nahe über dem Boden aus einer anderen Richtung auf das Ziel zuschoss. Aero-Ass war zu schnell zum Ausweichen und Guardevoir ohnehin geblendet. Außerdem konnte sie sich gerade mit keinem ihrer Schilde davor schützen. Musste sie allerdings auch nicht.

    „Zeit für Donnerblitz!“

    Trevors blieb das Wort im Hals stecken. Wieso Donnerblitz? Würde sie die Frage aussprechen, so könnte Ryan erklären, dass Kirlia schon bei ihrer ersten Begegnung imstande gewesen war, Ladestrahl einzusetzen. Beim Weiterentwickeln veränderten sich manchmal die natürlichen Instinkte einiger Gattungen, sodass sie eine Technik vergaßen, die dafür durch eine andere ersetzt wurde. Nicht selten eine stärkere. Wenn sich Dragonir beispielsweise zu Dragoran entwickelte, wurde aus Drachenwut mit einem Mal Flammenwurf und so ziemlich jedes Wasserpokémon vergaß Aquaknarre zugunsten von Hydropumpe. Guardevoirs Fall war aber zugegebenermaßen ein sehr glücklicher. Die Blendung veranlasste sie – so wie es geplant und trainiert worden war – eigenständig dazu, den Angriff so weit und großflächig anzuwenden, wie nur irgend möglich. So musste sie gar nicht genau zielen. Die Blitze zuckten und schlugen in alle erdenklichen Richtungen zwischen ihr und Trevors. Nur einer davon traf sein Ziel, was jedoch vollkommen ausreichte, um für einen schmerzhaften Absturz zu sorgen. Man hätte befürchten können, der Stromschlag würde ein Loch in ihrem Blattflügeln hinterlassen. Das war nicht eingetreten, aber war die getroffene Stelle schwarz angeschmort und rauchte, was im Aufgewirbelten Sand rasch unterging.

    „Woah, Carparso hat mal wieder was aus seinem Hut gezaubert und kaltschnäuzig zurückgeschossen“, hielt Cay aufgedreht fest. Der massige Körper rumpelte über das Kampffeld direkt auf das grazile Psychopokémon zu. Ein perfekter Moment für die zweite Geheimwaffe.


    Mach dich vorsichtig damit vertraut. Wenn du soweit bist, atme tief durch und konzentriere dich.“

    Ryan kniete neben dem von Hundemon rasch entzündeten Lagerfeuer. Er streckte Kirlia eine einladende, nicht auffordernde Hand entgegen. Dieses Element war nicht das ihre. Kein Instinkt würde sie bei der Handhabung der Flamme unterstützen. Das hier musste sie aus eigenem Willen und eigenem Geschick bewältigen. Beides war glücklicherweise in Massen vorhanden. Sie zögerte nicht einen Moment. Nahm sogar Ryans Hand fest an. Der hatte Mühe, die Verblüffung zurückzuhalten, sich selbst und somit auch sie nicht von der Aufgabe abzulenken. Das war die zutraulichste Geste, die er bislang von ihr empfangen hatte.

    Kirlia hockte sich nahe ran, stützte sich mit den Armen und beugte sich weit nach vorn. Sie wollte die Wärme auf ihrer Haut spüren. Das Knistern sollte tief in ihre Ohren vordringen können. Der verkohlte Geruch von ihren Nüstern aufgenommen werden. Sie ging so nahe, bis die Hitze auf der Haut brannte und rührte sich so lange nicht weiter, bis sie sich daran gewöhnt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, die schmalen Ärmchen ausgestreckt und sachte vom Körper gespreizt. Sie versuchte die Energie dieser Naturgewalt vorsichtig an sich heranzuführen, bis sie greifbar würde. Vielleicht würde es ähnlich funktionieren, wie bei Spukball. Diese dunklen Energien waren für sie weitaus leichter wahrzunehmen und zu steuern. Aber auch das Feuer..., ja, sie fühlte es. Nicht nur auf der Haut, sondern in ihrem Geiste. Es wärmte ihre Gedanken, befeuerte ihre Sinne. Die Augen wurden langsam geöffnet. Das Licht der Flamme spiegelte sich hell in ihnen. Aber nebst diesem erkannte Ryan noch etwas darin.

    Feuer zerstört, aber es ist nicht böse. Es ist unersättlich, aber nicht unaufhaltsam. Es lässt sich zähmen und bändigen.“

    Offen gesagt wusste er nicht, ob diese Worte auch nur im Geringsten hilfreich waren. Er fühlte lediglich, dass er aktiv zusehen sollte. Dass er für Kirlia da sein, dies hier mit ihr gemeinsam angehen und sie dies auch spürte lassen musste. Ihr Blick ließ nicht einen Moment von der Flamme ab. Gar ging sie noch ein Stück näher, sodass man befürchten musste, ihr Haar würde gleich Feuer fangen. Die Arme wurden vorsichtig, aber weder zaghaft noch zögerlich ausgebreitet und umfassten die Flamme schließlich von beiden Seiten, als wolle das Psychopokémon sie abschirmen. Nein, das war das falsche Wort. Die unsagbar langsame Annäherung verhieß eher, dass Kirlia sie in ihre Hände schöpfen wollte, wie Wasser aus einem Brunnen. Sie griffen in das offene Feuer. Ryan stand der Schweiß auf der Stirn. Er hatte den Atem angehalten. Seine Partnerin dagegen atmete völlig ruhig. Sie zitterte oder zuckte kein bisschen. Jede Bewegung war sanft und ruhig. Geführt von einem ausgeglichenen Geist in perfekter Balance. Sie sah sich im Dunkeln vor einer Quelle aus Licht. Orange und Rot luden sie ein. Sie streckte ihre Hand aus. Das Licht wurde heller, blendete, verscheuchte ganz plötzlich jeden Schatten. Es fühlte sich warm an. Kirlia blinzelte.

    Ki-Kirlia?“

    Sie sah sich um, als wüsste sie nicht, wo sie sich befinde. Noch ehe sie sich erinnerte, bemerkte sie, wie ihr Trainer zufrieden lächelte. Es war absurd, dass sie als letzte bemerkte, wie das Feuer über ihren ausgestreckten Händen tanzte.


    „Und jetzt Magieflamme!“, rief Ryan, wobei er eine Hand in die Höhe hievte. Guardevoir drehte sich einmal um die eigene Achse und beschrieb mit ihren Armen weite Kreise in der Luft. Ihnen folgten wie von Zauberhand erschienene Funken, sie sich vor ihrer Brust zu einer kleinen Flamme bündelten. Sie war unscheinbar und wenig beeindruckend. Die Feuerbrust, die sich mit einer simplen Bewegung des Handgelenks daraus entlud, schien absurd und niemals dieser Streichholzflamme entspringen zu können. Magie eben – wie sich nebst der natürlichen, gewohnten Farbe auch an dem schwachen Violett-Schimmer erahnen ließ. Magieflamme fegte Tropius geradewegs in die andere Richtung. Das Laubgefieder fing sofort Feuer und ließ Klagelaute folgen.

    Ryan befahl, dem mit Sondersensor ein Ende zu setzen. Zunächst war es dasselbe Spiel wie vorhin. Ein Aufglimmen des gesamten, schmalen Körpers in Weiß und Purpur. Dann ein Lichtpunkt in der Handfläche. Die daraus resultierende Energiewelle war allerdings mit dem Vorgänger nicht vergleichbar. Die verzerrte Luftströmung war nun höchstens für einen Blinden nicht mehr deutlich und war zudem im gleichen Maße mächtiger. Ein unsichtbares Rihornior schien über das Kampffeld zu wüten und den Boden vor sich umzugraben. Eine wüste Schneise arbeitete sich schnell und unaufhaltsam Richtung Tropius voran. Ann Trevors wusste das nicht zu stoppen, noch dem zu entrinnen. Der Sondersensor beförderte ihren Partner in einer perfekten horizontalen Flugbahn bis in die Begrenzungsmauer. Eine weitere Stelle, die heute von Rissen und Schlaglöchern gezeichnet wurde. Ihr Verursacher regte sich nicht weiter. Der uniformierte Mann an der Seitenlinie eilte heran, um das Resultat zu bestätigen, das ein jeder längst vermutete.

    „Tropius ist kampfunfähig, Guardevoir gewinnt. Ryan Carparso zieht in die nächste Runde!“

    „Das war das Aus für Tropius und Ann Trevors. Caraprso steht im Halbfinale!“

    Das siegreiche Pokémon ließ den Jubel diesmal fast gänzlich an sich abprallen. Sie starrte einen nicht existenten Punkt in der Ferne an, während sich vor ihrem inneren Auge das wiederholte, was gerade geschehen war. Und konnte kaum fassen, dass sie es gewesen war, die es vollbracht hatte. Dieses Gefühl, diese Kraft, diese Kontrolle, das Gleichgewicht. Was sie vor einigen Wochen noch höchstens zu träumen gewagt hatte, war nun Realität. Und es fühlte sich so simpel an. Als habe sie es schon tausendfach geübt. Tag für Tag, den ganzen Tag. Ein Instinkt war in ihr erwacht, der ihren Geist befreite, ihn klärte und zu einer Waffe machte.

    Sie blickte in ihre Handfläche. Das klang viel zu radikal und gewalttätig für diese Kraft. Sie vermochte zwar zu verwüsten, doch das war nicht ihr Zweck, nicht ihre Natur. So wollte Guardevoir sie auch nicht einsetzen. Wie sie es nun nennen wollte, konnte sie hier und jetzt nicht entscheiden, doch das war nicht tragisch. Sie hatte keine Eile damit. Dafür wusste sie sehr wohl, bei wem sie sich zu bedanken hatte.

    Schritte erklangen hinter ihr. Sie ließ die Hand sinken und atmete einmal tief aus, bevor sie sich zu ihrem Trainer wandte, zu dem sie plötzlich nicht mehr hochsehen musste. Wie viel Stolz konnte ein einziger Blick denn vermitteln? Hätte sie je eine Familie gehabt, so hätte sie gewünscht, von ihrem Vater so angesehen zu werden.

    Was dachte sie denn da? Sie hatte doch eine Familie. Ihr wichtigster Teil, ihre ganze Welt stand gerade hier vor ihr. Ryan straffte unerwartet die Haltung und streckte die Brust aus. Der eine Arm wurde auf den Rücken gelegt, der andere ihr mit einer weit ausholenden Bewegung angeboten, um die Hand zu ergreifen. Als fordere ein Edelmann eine Dame zum Tanz. So adrett und anmutig wie Guardevoir würde er niemals auftreten können, aber Ryan hoffte dennoch, dass die Geste ihr gefallen möge.

    Für einen kurzen Augenblick meinte er, noch ein letztes Mal Kirlia vor sich zu sehen, wie sie ihr mädchenhaftes Kichern hinter einer Hand noch zu verstecken versuchte und sich für den Misserfolg ein winziges Bisschen schämte, wie der Rotschimmer auf den Wangen verriet. Das Lächeln erwiderte sie jedoch offenherzig. Sie vollführte ein weiteres Mal einen edlen Knicks und legte ihre Hand in seine. Er leitete sie ein paar Schritte weit und hob dann ihren Arm zum Himmel. Der darauffolgende Applaus entsprang nicht nur allein der Begeisterung. Er zeugte von Hochachtung. Vor ihrem Können, vor allem aber ihrem Charakter und ihrer Persönlichkeit.

  • Hallo,


    von den bisherigen Kämpfen war dieser hier einer der beeindruckendsten. Die Performance von Knogga und Kirlia hatte tatsächlich etwas Tänzerisches an sich, wo sich zwei Kontrahenten quasi gegenseitig führten und in ihren jeweiligen Professionen nichts schenkten. Es war ungemein spannend zu beobachten, welche Wendungen noch folgen würden und der Ausgang mitsamt Entwicklung war verdient. Tropius war hinterher im Vergleich nur die Kür und viel interessanter empfand ich die kurze Rückblende zum Lagerfeuer, als Kirlia Magieflamme erlernt hatte. Man merkt, dass sie in Ryan nun endlich einen guten Partner gefunden hat und dass sie aufeinander bauen können.


    Wir lesen uns!

  • Kapitel 52: Der Märtyrer


    Andrew wusste nicht so recht, wie er Ryans jüngste, persönliche Erfolge einstufen sollte. Neidisch war er definitiv, dass sich in so kurzer Zeit gleich zwei seiner Pokémon entwickelt hatten. Missgunst verspürte er aber keine. Wieso denn auch? Weil sie schon in der nächsten Runde seine Gegner sein könnten? Dieser Grund wäre lächerlich. Er hatte schon immer den Kampf gegen starke Widersacher gesucht. Von den Schwächeren lernte man nichts und er verspürte auch ganz einfach keinen Spaß. Andrew mochte Herausforderungen und noch lieber meisterte er sie. Psiana und Kangama hatten zudem weit mehr Erfahrung vorzuweisen, weswegen es keinen Grund gab, sich vor Guardevoir und Sumpex in die Hose zu machen.

    Was also nagte bezüglich seines Kumpels an ihm? Wäre es arg vermessen, wenn er das Gefühl hätte, Ryan würde ihm hier die Show stehlen? Ihm den Rang ablaufen? Das wäre eine Möglichkeit, die er sowohl seinem Wettkampfeifer als auch seinem Ego durchaus zutrauen würde. Und wenn das der Fall war, gab es glücklicherweise einen ganz einfachen Weg, das gerade zu rücken.

    Sein Gegner war diesmal zuerst aufgerufen worden und erwartete Andrew bereits, als er den Weg zu seinem vorgewiesenen Platz zurücklegte. Das tat er, Jamie Gregory, nicht gerade mit einem freundlichen Gesichtsausdruck. Klar waren sie Konkurrenten, aber bei Arceus, der sah ihn an, als wolle er nicht gegen seine Pokémon kämpfen, sondern sie klauen. Er war abermals eine kräftige Gestalt, allerdings nicht so, wie Dan Hayes. Der war gebaut gewesen, wie ein Fitness Coach. Gregory dagegen wie jemand, der einen solchen ganz gut brauchen könnte. Traurigerweise musste er hierauf an einen der beiden Blindgänger denken, die auf ihrer Überfahrt nach Hoenn Zoff mit ihm und Ryan angefangen hatten. Ein wenig Unrecht tat er seinem Gegner damit dann doch, denn der strahlte unbestreitbar Konzentration und Scharfsinn aus und sein im Rival-Check eingesehenes Portfolio ließ vermuten, dass er wenigstens ein bisschen was von seinem Handwerk verstand. Er rückte eine knallrote Mütze aus dünner Wolle auf seinem Kopf zurecht, unter der einige dunkle Dreadlocks hervorlugten, während eine Brise den Saum seines grauen Sweatshirts auffing. Dieses zeigte eine Ansammlung verschiedener, recht böse dreinblickender Pokémon im Graffiti Design. An dunklen und sehr weiten Jeans hingen mehrere Ketten herab.

    „Wenn du schlau bist, drehst du dich wieder um“, hieß er Andrew willkommen und machte einen entschlossenen Schritt nach vorn, worauf jene Ketten mit einem Klimpern einstimmten. Erinnerte etwas an die Ringe, die Terry am Handgelenk trug. Das förderte die Sympathie genauso wenig, wie es seine Worte taten.

    „Sicher, dass du das willst? Du würdest mein charmantes Gesicht verpassen“, konterte Andrew und platzierte sich lässig in seiner auf dem Kampffeld markierten Zone. Gregory schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf. Auf ein verbales Gefecht schien er sich allerdings nicht einlassen zu wollen. In dem Fall musste man sich fragen, was er denn mit diesem Satz hatte bezwecken wollen. Hatte er echt gedacht, Andrew damit einschüchtern oder verunsichern zu können?

    „Hat´s dir schon die Sprache verschlagen?“

    Während Andrew seinerseits etwas stichelte – das tat er ohne böse Absichten oder ihn ernsthaft Schmähen zu wollen – holte sein Gegenüber bereits einen Pokéball hervor. Dabei spuckte er abfällig auf den Boden.

    „Ha-llo-o, hast du was an den Ohren?“, erkundigte sich Andrew weiter, der keine große Eile hatte, sich kampfbereit zu machen. Der gejagte, mürrische Blick von Gregory sowie dessen nette Begrüßung hatten den Wunsch geweckt, ihn etwas zu provozieren.

    „Oder liegt die Problemzone eher dazwischen?“

    Damit schien er ihn am Haken zu haben.

    „Du quatscht wirklich so viel und so dumm, wie die Leute behaupten.“

    Ganz klar, der Typ kannte Andrew bereits und war ihm nicht wohlgesonnen. Für seinen Geschmack nahm er das hier jetzt schon etwas zu ernst und verbissen. Welch Ironie hinter diesem Gedanken seitens Andrew steckte, für den es doch bei diesem Turnier um weit mehr ging als für die meisten anderen Teilnehmer. Gregory würde im Schlimmsten Fall eine Niederlage gegen einen der Toptrainer Johtos, der nie etwas getan hatte, das diese Abneigung rechtfertigte, zu verkraften haben. Es gab bestimmt frustrierende Möglichkeiten. Er selbst dagegen stünde womöglich noch einem erbitterten Rivalen oder sogar einer regelrecht verhassten Feindin einer kriminellen Organisation gegenüber. Und selbst unter diesen Umständen fand Andrew noch einen Weg, das Ereignis ein bisschen zu genießen. Tja, manche hatten Probleme...

    „Gleich geht´s los und ich kann euch sagen, ich bin angespannt wie ein Tauros. Gregory oder Warrener, wer gesellt sich unter die besten vier?“, gab Cay zum Besten, als Andrew endlich einen Pokéball aus seiner Umhängetasche fischte. Selbige wurde dann zu seiner Rechten einfach gen Boden fallen gelassen, da er den zweiten in verkleinerter Form bereits jetzt ganz unauffällig in die Jackentasche schob. Musste keiner wissen, dass die Wahl für beide Pokémon seinerseits schon feststand. Das Grinsen auf Andrews Wangen war von vorfreudiger Natur. Jetzt stand für ihn nämlich erst einmal eine weitere Prämiere bei diesem Turnier an.

    „Auf geht´s, Scherox!“

    Ryans Aufmerksamkeit erhöhte sich, als der Lichtblitz des Pokéballs ein insektenartiges, aufrechtstehendes Wesen preisgab, dessen gesamter Körper mit einer blutroten Metallpanzerung überzogen war. Vier große Käferflügel, schmale Gliedmaßen, die in wuchtigen Scheren endeten, für welche die Spezies weitreichend bekannt war. Ein durchstechender Blick zeugte von Kampfeslust und einer gewissen Skrupellosigkeit. Natürlich war Andrews Scherox nicht völlig brutal oder gnadenlos, aber es gab keinen Grund, den Gegner nicht in diesem Glauben zu lassen.

    Gregorys Pokémon war ein großer Geist von betongrauer Farbe. Auf dem Bauch zeichnete eine gelbe Musterung eine fiese Fratze. Der Kopf war unnatürlich schmal, kaum mehr als ein Docht auf dem ansonsten sehr massigen und breiten Geisterkörper. Dieser besaß, wie bei vielen Vertretern dieses Typs, keine Beine, sondern nur einen Geisterzipfel. Aus einer finsteren Höhle starrte ihn ein einzelnes, rot leuchtendes Auge an.

    „Zwirr-finst“, raunte das Wesen unheilvoll.

    Cay schien die Paarung sehr zu gefallen. Wie überraschend. Der würde vermutlich sogar einem Kampf zwischen Mirapla und Dummisel mit Euphorie entgegenfiebern.

    „Gregory tritt mit einem Zwirrfinst an. So eins hab ich schon lange nicht mehr gesehen. Warrener schickt Scherox an den Start. Heißt, kein Typenvorteil, aber jede Menge Kampfkraft.“

    Wohl nicht das treffendste Wort. Beide konnten ordentlich austeilen, das stimmte, aber während Scherox mehr auf handfeste Gewalt setzte, würde sein Gegner den direkten Kontakt nicht allzu häufig suchen. Geister kämpften bevorzugt anders. Hinterlistiger und verwegener. Sicher stellte Zwirrfinst keine Ausnahme dar.

    „Beide Trainer bereit? Der Kampf beginnt.!“, eröffnete der Schiedsrichter und Gregory fackelte nicht lange, den ersten Zug zu machen.

    „Fang an mit Irrlicht.“

    Über den riesigen Händen entflammten drei blaue Fackeln, die Zwirrfinst zu umkreisen begannen. Dieses schien zu einem Wurf auszuholen. War diese Bewegung wirklich nötig?

    „Antworte mit Agilität.“

    Tatsächlich sausten die Flammenkugeln erst auf den Metallkäfer zu, als Zwirrfinst die Hände in dessen Richtung streckte. Genauso gut hätte Gregory versuchen können, eine Sternschnuppe zu treffen. Scherox war eine Sekunde lang für das menschliche Auge komplett verschwunden und tauchte in einigen Metern Entfernung wieder auf. Um den Gegner zu verwirren, ließ Andrew dies einige Male wiederholen, um bloß keine Angriffsfläche zu bieten. Sollten sie dennoch angreifen, würde der Poltergeist niemals imstande sein, als erster seinen Schlag auszuführen.

    „Jetzt Fluch!“, befahl Gregory dann plötzlich, was Andrews Theorie nichtig machte. Mit diesem Angriff konnte Zwirrfinst nicht verfehlen und er ihm auch nicht dazwischenfunken. Er richtete sich nämlich gegen den Anwender selbst. Aus dem Boden stieg ein dunkelvioletter Ring empor, der schwarzen Nebel absonderte und mit einigen kryptischen Runensymbol gezeichnet war. Zwirrfinst war direkt im Zentrum dieses Kreises. Und sogleich entluden sich mehrere Schattenblitze aus diesem Konstrukt direkt auf das Geistpokémon.

    „Oh, das ist fies. Falls ihr es nicht wusstet, das ist einer der Gründe, warum man den Burschen Märtyrer nennt. Der nimmt keine Rücksicht auf Verluste und Scherox wurde gleich zu Beginn mit einem Fluch belegt. Klingt verrückt, ist aber so.“

    Besten Dank für die Analyse, Cay. Andrew würde den Kampf nun unter Zeitdruck austragen. Sein Gegner hat sich durch den Einsatz von Fluch zwar selbst geschwächt, aber je länger Scherox nun kämpfte, desto mehr würden dafür seine Kräfte schwinden. Fragte sich, ob man einen Geist-Typen denn so flott ausnocken konnte. Hätte er mal Magnayen gewählt. Mit seiner erhöhten Geschwindigkeit würde er jedoch im Vorteil sein und auch die Schlagkraft dieser Gattung war nahezu unerreicht. Er musste nur ein einziges Mal nahe an Zwirrfinst herankommen.

    „Mach Tempo, Scherox und dann Metallklaue!“

    Noch einmal demonstrierte das Käfer- und Stahlpokémon seine Schnelligkeit, hastete von links nach rechts, hinter seinen Gegner und gar direkt vor dessen Nase, nur um den Abstand nach einem Wimpernschlag wieder zu vergrößern. Das Surren der Insektenflügel hörte man trotz des ständigen Verschwindens unablässig, ließ jedoch unmöglich den genauen Standort erahnen. Jamie Gregory zeigte sich wenig beeindruckt.

    „Wir bleiben ruhig. Doppelteam.“

    Just in dem Moment, als Scherox eine silbern aufblitzende Schere in seine Seite hatte schlagen wollen, duplizierte sich Zwirrfinst um ein Vielfaches. Das Trugbild verschwand, bestimmt zehn weitere verblieben und umzingelten Scherox.

    „Jetzt wieder Irrlicht!“

    Diesmal gab es kein Entrinnen. Andrew konnte nicht riskieren, den Kreis aus den Ebenbildern des Geistes einfach blind zu durchbrechen. Er würde Tür und Tor für einen weiteren, verheerenderen Angriff öffnen. Die blaue Flamme traf direkt auf die gepanzerte Brust. Für eine Sekunde ging sie auf den ganzen Körper über und brannte mit höllischer Erbarmungslosigkeit. Als wäre das nicht genug, erschien urplötzlich ein Ring um Scherox, der einen schwarzen Nebel absonderte und den Effekt von Fluch verdeutlichte. Violette Blitze schlugen in seinen Leib, ließen die Nerven unkontrolliert zucken und zerrten Scherox mit einer unsichtbaren Kraft gen Boden. Nur mit Mühe konnte er sich auf den dünnen Beinen halten. Es fühlte sich an, als würden seine Muskeln und Organe gequetscht und er zudem gleich ersticken. Nur in den schlimmsten Alpträumen würde man dieses Gefühl nachvollziehen können. Gnädiger Weise hielt es nur für einen Atemzug an, obwohl Scherox Wahrnehmung ihm etwas Anderes erzählte.

    Cay erläuterte Andrews missliche Lage für die weniger kundigen Zuschauer, während er nach einem Ausweg suchte. Natürlich wartete Gregory nicht geduldig ab, bis sich ein solcher fand und befahl Finsterfaust. Das kam nicht unerwartet. Fast jedes Pokémon des Typs Geist konnte diese Attacke erlernen und sie war äußerst zuverlässig. Man konnte ihr im Grunde unmöglich ausweichen, sie höchstens abblocken. Na, was ein Zufall, dass Stahlpokémon hierfür etwas in der Hinterhand besaßen.

    „Eisenabwehr!“

    Ein metallischer Glanz legte sich über das eigentlich matte Rot von Scherox Körper, während die wuchtigen Scheren vor der Brust gekreuzt wurden. Zwirrfinst hätte genauso gut auf einen Amboss einschlagen können. Die Schattenfäuste, sie sich von seinen eigenen lösten hatten nicht das Geringste bewirkt. Und für den Angriff hatte Gregory die Deckung durch Doppelteam aufgeben müssen. Der bemerkte nun seinen Fehler und schluckte.

    „Metallklaue, gib´s ihm!“, rief Andrew aufgepeitscht. Es fühlte sich immer befriedigend an, einen wendigen und tückischen Gegner endlich eins reindrücken zu können. Der erste Schlag wurde mittig auf dem Körper platziert, ehe die zweite Schere mit einem Sprung gegen die Schläfe geschmettert wurde. Zwirrfinst polterte über den sandigen Boden, während Scherox geschickt wie ein Athlet landete. Die beeindruckende Pose wurde jäh unterbrochen, als sein Körper ein weiteres Mal von einer blauen Flamme entzündet wurde und den Chitinpanzer ansengte. Der Schrei konnte diesmal unterdrückt werden, doch der Käfer sank auf ein Knie und keuchte ein paar Male schwer. Es war noch zu früh für eine Pause. Er musste den Schmerz ertragen, durfte nicht zulassen, dass er ihn lähmte. Ein violetter, runenverzierter Ring erschien urplötzlich, kaum dass Scherox sich unter Zähneknirschen aufgerichtet hatte und malträtierte ihn mit Schattenblitzen.

    „Warrener schlägt zurück und das mit Schmackes. Aber Irrlicht und Fluch zehren an Scherox. Er muss das hier schnell über die Bühne bringen, wenn er Runde eins gewinnen will.“

    Überflüssig, aber korrekt festgehalten. Andrew brauchte eine satte Schlagkombo, mit der er Zwirrfinst sofort Matt setzen konnte, oder er durfte bald einem Rückstand hinterherlaufen. So sicher er auch war, das Ding selbst in diesem Fall noch rumreißen zu können, würde er natürlich einen Teufel tun, sich so einfach kleinkriegen zu lassen. Wurde Zeit, dass Gregory lernte, was für ein Sturkopf ihm gegenüberstand.

    „Schwerttanz, los!“

    Scherox konnte schon im Normalzustand böse austeilen. Mit der Stärkung durch Schwerttanz wurde das Pokémon zu einem Abrisskommando. Erneut wurden die Scheren vor dem Körper gekreuzt und ein Kreis aus Lichtpunkten zeichnete sich sogleich auf dem Boden ab. Mehrere leuchtende Schwerter erhoben sich daraus und umkreisten ihn in zunehmendem Tempo. Der nächste Angriff musste nun verheerend für Zwirrfinst enden. Dieses schüttelte sich kurz und begab sich rasch wieder in die Schwebe.

    „Jetzt steig hoch.“

    Auf der Gegenseite wurden die Augen skeptisch verengt. Warrener musste doch klar sein, dass mit dem nächsten Effekt von Irrlicht und Fluch Scherox sicher abstürzen würde. Gerade letzterer bewirkte mit jedem Mal größere Schmerzen und in Bälde dürften sie gar für eine Ohnmacht sorgen. Er wollte wohl auf´s Ganze gehen und die erste Runde mit diesem Angriff entscheiden. Sollte er nur. Eben noch war Gregory zu unbeholfen gewesen, war zu überhastet in die Offensive gewechselt, ohne die Abwehrmechanismen des Gegners in Betracht zu ziehen. Jetzt aber musste er selbst nicht mal einen starken Treffer landen. Allein Scherox für ein paar Sekunden länger zu bedrängen, bis die Zeit die restliche Arbeit erledigte, wäre genug.

    „Zwirrfinst, nimm Schattenstoß!“

    Auch damit war zu rechnen gewesen. An sich war diese Pokémon Gattung nicht gerade schnell, doch Schattenstoß glich die natürliche Schwäche aus. Audrey hatte auf denselben Trumpf gesetzt, um Sandra in die Parade zu fahren. Der graue Geisterkörper versank im Boden, wo nur noch ein schwarzer Schatten die Position verriet. Diesen anzugreifen würde sich genauso aussichtsreich gestalten, wie den Wind einzufangen. Obwohl sich Scherox in der Höhe befand, würde einer schnellen Attacke wie dieser nicht zu entrinnen sein. Nur war es nicht in Andrew Sinne, wegzulaufen oder auszuweichen.

    Der Schatten löste sich vom Boden. Schneller als das Auge folgen konnte war er direkt vor Scherox und blähte sich zu der massigen Gestalt von Zwirrfinst auf, eine geballte Faust bereits im Anschlag.

    „Patronenhieb!“

    Scherox dagegen brauchte gar nicht erst ausholen. Seine natürlichen Primärwaffen verschwammen für das menschliche Auge fast völlig in diesem überwältigenden Hagel aus Schlägen, von denen sich jeder wie mit einem Morgenstern anfühlte. Zwirrfinst war überrumpelt worden. Patronenhieb war ebenfalls eine Technik, die blitzschnell angewandt werden konnte. Addiert mit der ohnehin wahnsinnigen Geschwindigkeit des Metallkäfers war dieser noch um eine Vielfaches schneller als sein Gegner, selbst wenn der Schattenstoß anwandte.

    „Geh über zu Metallklaue!“, schrie Andrew in den Himmel. Es musste aus dem Momentum alles rausholen, was ging. Jede Sekunde konnte Fluch ihn ausbremsen und Zwirrfinst eine Angriffschance bieten, was vermutlich gleichbedeutend mit Scherox´ K.O. wäre. Immer und immer wieder sauste er an dem zunehmend hilflosen Zwirrfinst vorbei und hieb mit seinen riesigen Scheren in die Seiten. Gregory versuchte Anweisungen zu geben, aber die schienen gar nicht anzukommen. Kein Ausweichmanöver, kein Gegenangriff. Es folgte ein gewaltiger Hieb direkt auf den dünnen Schädel, der das Geistpokémon gen Boden schmetterte. Von den Tribünen aus konnte man das mit bloßem Auge nicht bestätigen, aber der Klang ließ erahnen, dass der Einschlag einige Spalte in das Kampffeld gerissen hatte. Das war die perfekte Position. Andrew battle die Faust und deutete an, sie eigens auf Zwirrfinst niedergehen zu lassen.

    „Jetzt machen wir den Laden dicht. Kreuzschere!“

    Die tödlichen Klauen von Scherox kreuzten sich vor der Brust, doch dann entflammte der Körper auf einmal wieder mit hellblauem Feuer. Ein kurzer Aufschrei, dann war der Schmerz schon wieder vorbei. Aber Scherox taumelte bedenklich in der Luft, konnte sich kaum noch oben halten.

    „Oh, ganz bitter. Das hätte der entscheidende Schlag werden können, aber Irrlicht funkt Warrener dazwischen.“, beobachtete Cay aufmerksam. Ja, Irrlicht hatte Gregory einen Moment Luft verschafft. Nur reichte ihm dieser nicht ansatzweise aus, um den Kampf herumzureißen. Der nächste Effekt von Fluch ließ noch auf sich warten. So eine Scheiße.

    Zwirrfinst hörte zudem seine Kommandos kaum noch und konnte sich anscheinend nicht mehr in der Schwebe halten. Der wuchtige Körper zitterte noch immer am Boden und kam nicht hoch. Dann blieb ihm nur eine Option. Und mit dieser musste er sich sputen, denn Scherox war trotz der jüngsten Schwächung durch Irrlicht weiter im Anflug! Mit einem energischen Krampfgebrüll sowie einem anspornenden Ruf seines Trainers begleitet schickte sich das Insekt daran, die angeordnete Kreuzschere auszuführen.

    „Abgangsbund!“

    Zwirrfinst öffnete doch noch einmal das Auge, schlug die Hände ineinander und streckte sie mit einer weit ausholenden Bewegung von sich. An seiner Brust glimmte ein violetter Lichtpunkt auf und fast im selben Augenblick erschien ein zweiter direkt auf Scherox´ Körper. Wie ein flimmerndes Fernsehbild erschien eine Kette aus schwarzem Nebel, die beide miteinander verband. Später würde Andrew überlegen, ob es in diesem Moment besser gewesen wäre, abzubrechen, aber die Entscheidung war hinfällig, da der Einschlag erfolgte, noch ehe er hierfür Luft geholt hatte. Diesmal konnte man sicher sein, dass Zwirrfinst im wahrsten Sinne in den Boden gestampft worden war. Bis der gemeine Zuschauer sich dessen vergewissern konnte, musste man sich jedoch gedulden, bis die Wand aus dickem Staub sich legte. Cay hielt das Warten kaum aus. Er schwärmte von der Kraft dieser Kreuzschere sowie dem eisernen Durchsetzungsvermögen und sprang vermutlich in seiner Kabine auf und ab. Ein weiteres Mal zehrte der Effekt von Fluch an Scherox Kräften und ließ ihn mit einem Knie gar auf den Boden sinken. Er weigerte sich aber unbeugsam, hier zu fallen.

    Gregory stieß einen tiefen Atemzug aus und rümpfte die Nase. Er wusste selbst, wie das Resultat aussah.

    Zwirrfinst war tatsächlich in einen Spalt hinein geprügelt worden, der sich unter ihm aufgetan hatte. Die Arme und ein Stück vom Unterleib ragten noch daraus empor – allerdings regungslos, genau wie der restliche Körper. Als der Schiedsrichter dann gerade eine Fahne erhob, wurde urplötzlich das Nebelband wieder sichtbar, das Zwirrfinst eben noch mit Scherox verbunden hatte. Der Käfer sah verdutzt an sich herab.

    Für den Beobachter schien weiter gar nichts zu geschehen. Das Pokémon aber stieß einen fürchterlich erstickten Laut aus und warf den Kopf in den Nacken, als wolle es schreien. Die Arme verkrampften kurz, wurden dann sogleich taub und hingen lasch herunter. In den sonst so kühlen, scharfen Augen stand plötzlich ein Grad an Erschöpfung geschrieben, dem eigentlich nur noch die sofortige Ohnmacht oder gar Schlimmeres folgen konnte, da man längst alle Grenzen des Körpers und der Vernunft weit hinter sich gelassen hatte. Schließlich kippte Scherox zur Seite und blieb liegen, als sei sein Leben ausgehaucht. Kein Zucken, Kämpfen, Klagen oder Jammern. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man Scherox glatt für tot halten.

    So melodramatisch es auch aussah, so einfach war der Ausgang jedoch erklärt. Eben den machte der Unparteiische nun offiziell.

    „Zwirrfinst und Scherox können beide nicht mehr weiterkämpfen!“, rief er mit einem Wink beider Fahnen.

    „Wir haben ein doppeltes K.O.!“

    Damit hatte Cay, der die Situation für alle weniger Bewanderten im Publikum sogleich genauer erörterte, nur in Teilen Recht. Gregorys Pokémon war definitiv zuerst kampfunfähig gewesen. Abgangsbund nahm jedoch den Gegner gnadenlos mit sich, wenn der Anwender unmittelbar danach das Bewusstsein verlor. Wären dies die beiden letzten Pokémon gewesen, die den Trainern zur Verfügung standen, so würde Andrew nun als Sieger ausgerufen werden. So weit war man aber in diesem Match noch nicht.

    Andrew schnaufte mitgenommen und strich sie die Haare zurück, ehe er beide Hände in die Seite stemmte. Eigentlich hätte er auch damit rechnen sollen. Nach allem, was er im Rival-Check über Jamie Gregory gelesen hatte, war ob seiner Entscheidung, mit einem Geistpokémon anzutreten, der Einsatz von Abgangsbund von Anfang an nur eine Frage der Zeit gewesen. Eben bis zu dem Moment, als Scherox mit Kreuzschere angegriffen hatte. Das Blatt zu wenden hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt und somit hatte er sich entschieden, wenigstens ein Unentschieden rauszuholen. Taktisch clever. Aber offen gesagt stieß diese Taktik bei Andrew auf eine enorme Portion Missachtung. Klar lernten seine Pokémon Attacken wie diese oder auch Explosion und Finale von selbst und waren somit fester Bestandteil ihrer Natur. Aber unter Vorsatz darauf zu spielen, sie gezielt einzusetzen, sie zum Dreh- und Angelpunkt seiner Strategie zu machen, war ihnen gegenüber einfach bloß ungerecht und respektlos.

    Apropos Respekt – für seinen aufopferungsvollen Einsatz erhielt Zwirrfinst kein Wort des Lobes oder Dankes. An der Art, wie Gregory die Lippen schürzte, vermutete Andrew eher, dass er sich ein paar tadelnde Worte verkniff, als er seinen Partner zurückrief. Wohl, um sich vor seinem Gegner keine Blöße zu geben. Idiot. Für seinen lächerlichen Stolz sollte sich kein Trainer jemals zu schade sein, die Leistung seiner Pokémon angemessen zu würdigen. Andrew versuchte jedoch, sich nicht allzu lange mit Gregory zu beschäftigen. Seine Gedanken mussten klar und fokussiert bleiben.

    „Ein guter Kampf, Scherox. Gönn dir die Pause.“

    Er war mit dem, was er beobachtet hatte, sehr zufrieden. Größere Bedenken, Scherox könne dem Niveau des Summer Clash nicht gewachsen sein, hatte er zwar nicht gehabt, aber sein Anruf in die Heimat war doch arg kurzfristig gekommen. Nur eine kurze Einheit hatte er gestern mit Scherox trainieren können, um den Rost abzuschütteln. Von Null auf Hundert, sozusagen. Aber so eine kämpferische Natur lag selbst abseits seines Trainers nicht bloß auf der faulen Eisenhaut. Scherox konnte sehr wohl eigenständig trainieren und besaß zudem den ebenso eisernen Willen, sich stetig zu verbessern. Er hatte seinen Job hier gut gemacht. Den Rest konnte er Psiana überlassen. Sein Blick senkte sich in heißblütigem Tatendrang und Eifer. Auch in dieser Runde wollte er eine Kampansage an Bella senden.

    Andrew wartete nicht länger, die Prinzessin auf´s Kampffeld zu rufen. Dabei hätte er laut Regelwerk durchaus warten können, bis auch sein Gegner wieder einen Ball in den Händen hielt. So aber lud er diesen ein, eine möglichst vorteilhafte Wahl zu treffen.

    „Oho, ist das Selbstverstrauen, oder hat Warrener jetzt gepennt? Er hat sich sehr schnell für Psiana als zweites Pokémon entschieden.“

    Wenn hier gleich einer einpennt, dann du, Cay – so antwortete der Johtonese in Gedanken und stellte sich vor, wie er ihm sein Mikro auf den Kopf schlug. Gregory sollte mal hinne machen. In solchen Unterbrechungen war es schwieriger, den Stadionsprecher zu ignorieren.

    Dieser schmunzelte hämisch, als bedaure er den Idioten, der sich gerade ins eigene Fleisch geschnitten hatte. Er holte seinen nächsten Pokéball nur äußerst langsam hervor.

    „Bist ein ganz schöner Angeber, Warrener. Du weißt was, man über Hochmut sagt?“

    Wollte der jetzt mitten in ihrem Duell wieder ein verbales Gefecht beginnen? Oh, für sowas war Andrew wirklich jederzeit bereit.

    „Tu nicht so, als könnte jemand wie du mich belehren. Du weißt ja vermutlich nicht mal, wie man Wasser aufkocht.“

    Diese arrogante Antwort nahm Gregory als Bestätigung war.

    „Genau das meine ich.“

    Schade, dass sie beide sich nicht schon in den Katakomben über den Weg gelaufen waren. Hätte sicher Spaß gemacht.

    „Wenn´s dir nicht passt, dann mach was dagegen“, spottete Andrew und winkte ihn zu sich heran. Psiana schloss sich der Geste an und ging in eine tiefe Lauerstellung, die allerdings mehr Spieltrieb als Kampfeslust verdeutlichte. Eine eindeutige Geste, dass sie den Gegner nicht ernst nahm. Dass sie sich bestenfalls Unterhaltung von ihm erhoffte.

    „Der Fall wird für dich umso härter, je mehr du quatschst“, betonte Gregory noch, als er seinen Ball vergrößerte. Eine wütend herausspringende Ader an seinem Hals schenkte nun wiederum Andrew süße Bestätigung.

    „Bronzong, mach dich bereit!“

    Das Pokémon, das Jamie Gregory gewählt hatte, mutete wie eine große Glocke in verschiedenen Blautönen an. Es schwebte über dem Boden und ließ jedem Ton, jedem Ruf seines Namens einen langen Schall folgen, genau wie eine echte Glocke, wenn man sie läutete. Zwei Verlängerungen an den Seiten der Oberkante kam den Eindruck von Armen nahe und reichten hinab bis zu den leuchtend roten Augen.

    „Gregory schickt Bronzong ins Rennen. Dieses Viertelfinale wird also zwischen zwei Psychopokémon entschieden.“

    War dies also das Pokémon, das sich der Märtyrer stets bis zum Schluss aufhob, um eine Reihe an Unentschieden in einen Sieg zu lenken? Entsprach irgendwie nicht dem, was Andrew erwartet hatte. Aber er musste gestehen, dass die Wahl keineswegs eine schlechte war. Bronzong waren unglaublich zäh, wie fast alle Stahlpokémon und konnten sehr viel einstecken, besaßen aber auf der anderen Seite auch selbst eine enorme Feuerkraft. Hätte er jedoch einen Unlicht-Typen gegen Psiana in der Hinterhand gehabt, wäre seine überdeutliche Zuversicht weit nachvollziehbarer gewesen. Bronzongs Ausdauer war weit überlegen, während Psiana den Vorteil der Schnelligkeit besaß. Somit herrschten hier sehr ausgeglichene Grundverhältnisse, sodass Gregorys feistes Lächeln eine mahnende Skepsis hervorrief, die zur Vorsicht riet.

    Andrew biss sich entschlossen und voller Vorfreude leicht auf die Unterlippe. Vorsicht gewann keine Titel.

    „Bereit, meine Süße? Dem Typen ziehen wir die Locken glatt“, meinte er noch rasch, ehe die zweite Runde dieses Matches eröffnet wurde.

    „Bronzong, fang an mit Lichtkanone!“

    Es war etwas verwunderlich, dass Gregory mit einem primär defensiv orientierten Kämpfer die Initiative übernahm. Soweit Andrew das beurteilen konnte, hatte er während des bisherigen Turniers bevorzugt den Gegner zuerst kommen lassen. Die Schwerfälligkeit und das Gewicht – Bronzong wogen sicher an die 200 Kilo – sah man dem Pokémon in der Schwebe keineswegs an. In einer geradezu unnötig überschwänglichen, fließenden Bewegung hievte es den Körper hoch und rotierte einmal flott, richtete dann die Öffnung am unteren Ende direkt auf die Psychokatze. Das Schwarz darinnen wurde plötzlich mit weiß- silbrigem Licht erhellt und ein Energiestrahl abgefeuert, der die Zuschauer in den ersten Reihen blendete. Andrew wies an, einfach auszuweichen. Solch unkreative Angriffe wären ein Klacks für die flinke Prinzessin. Die erwartete den Einschlag in aller Gelassenheit, saß ruhig und entspannt an Ort und Stelle und ließ den Doppelschweif sanft hin und her peitschen. Erst im allerletzten Moment spreizte sie alle Pfoten und sprang geschickt über den Energiestrahl hinweg. Bronzong hielt ihn ein paar Sekunden Aufrecht und schwenkte zur Seite, doch Psiana entging einem Treffer spielend ein zweites und auch ein drittes Mal.

    „Der kleine Fellball ist echt auf Zack. Andrews Psiana hat keine Mühe, Bronzongs Lichtkanone auszuweichen“, beobachtete Cay, wies aber gleich darauf hin, dass Andrew auch mal selbst angreifen musste. Was ein Genie.

    „Brems Psiana aus. Erdanziehung!“, befahl Gregory dann und deutete mit einer flachen Hand gen Boden. Über Bronzong knisterte plötzlich eine lila Energiemasse, wie ein Kugelblitz, der nach wenigen Sekunden verebbte. Mit seinem Verschwinden wurde Psianas feliner Körper auf einmal schwer. Es war, als sog der Boden sie an, wie ein Magnet ein Stück Metall. Sie konnte kaum noch die Füße anheben.

    Andrews Augen verengte sich etwas. Manche Trainer setzten Erdanziehung gerne ein, um schwebende oder fliegende Pokémon auf den Boden zu zwingen, wo sie leichter zu schlagen waren. So leichtfüßige Geschöpfe wie Psiana wurden in ihrer Geschwindigkeit arg eingeschränkt, wodurch Bronzong einen natürlichen Nachteil ausgleichen konnte. Das Glocken-Pokémon wurde zwar ebenfalls gen Boden gesogen, schwebte nur noch sehr knapp über diesem, doch das brauchte Gregory wenig bis gar nicht zu kümmern. So lange keine wirksame Boden-Attacke zu erwarten war, gewann er durch den Einsatz von Erdanziehung deutlich mehr, als er einzubüßen hatte.

    „Jetzt Gyroball!“

    Bronzong begann, um die eigene Achse zu wirbeln. Die Arme wurden ausgestreckt und zeichneten einen Lichtring in die Luft. Eben mit diesem wurde nun nach Psiana gezielt, während es auf sie zuschoss. Durch Erdanziehung konnte es sich nur seicht vom Boden abheben, doch der blaue Stahlkörper pflügte unaufhaltsam durch den Sand, wiebelte ihn auf, riss Schlaglöcher in die Erde, wo die Unterkante sie streifte, ohne an Tempo zu verlieren. Von einem rollenden Felsen zerdrückt zu werden wäre vermutlich ein milderes Übel, als Bronzongs Gyroball zu spüren. Andrew hätte einfach mit Teleport das Weite suchen können, doch der Einsatz dieser Technik bedurfte jedes Mal viel Energie und einmal in Fahrt konnte so eine Gyroball-Attacke fast ununterbrochen fortgeführt werden. Weglaufen stellte also keine Option dar, mit der er einen Vorteil erreichen konnte. Naja, dann ging er eben gleich in die Offensive.

    „Psychokinese, los!“

    Die klugen Augen leuchteten bläulich auf, ehe eine gleichfarbige Auge Bronzong einhüllte. Gregory rümpfte spöttisch die Nase. Was dachte sich der Idiot denn dabei? Natürlich war Psychokinese in den meisten Fällen eine sehr starke Attacke, doch abgesehen von Unlichtpokémon, an denen sie überhaupt keinen Effekt zeigte, war sie gegen nichts so ineffizient, wie Stahlpokémon und eben anderen des Typs Psycho. Bronzong sollte von der Energie nicht einmal erfasst und fortgeschleudert werden und selbst wenn, würde sein robuster Körper das spielend wegstecken können. Tatsächlich geschah überhaupt nichts. Das eiserne Geschoss in Glockenform hielt unbeeindruckt auf Psiana zu und würde sie in wenigen Augenblicken aus dem Weg fegen, wie ein Tornado das gefallene Herbstlaub.

    „Jetzt!“, rief Andrew dann plötzlich, worauf die Prinzessin mit einem scharfen „Psi-“ antwortete. Bronzong neigte sich unerwartet zur Seite und geriet außer Kontrolle. Seine Balance ging vollkommen verloren, sodass der nächste Kontakt mit dem Boden es zunächst straucheln ließ, bevor es sich dann unmittelbar vor Psiana wild überschlug. Die vermochte trotz der erhöhten Schwerkraft einen raschen Schritt zur Seite zu machen und einer schwerwiegenden Kollision zu entgehen, während Bronzong unkontrolliert über das Kampffeld polterte, wie ein sich überschlagender PKW. Der dumpfe Lärm des Metallkörpers ließ einen bei jedem Aufschlag zusammenzucken. Oben in einer verglasten Kabine schlug ein gewisser Stadionsprecher gar eine Hand vor das Gesicht und wagte kaum, den Crash mit anzusehen.

    „Ooooh nein, das ging voll nach hinten los. Bronzong hat Psiana verfehlt und ist gestürzt.“

    „Was?“

    Gregory wirkte ungläubig und weigerte sich, die Realität zu akzeptieren. Psycho-Attacken waren fast wirkungslos gegen Bronzog. Wie stark war bitte dieses Psiana, dass ihre Psychokinese es dennoch aus der Bahn werfen konnte? Wenn er seinen Grips mal anstrengen würde, so war sich Andrew sicher, würde selbst er auf die Antwort kommen. Fakt war, dass die Psychokatze kaum einen Effekt hatte erreichen können, doch während des Einsatzes von Gyroball war es völlig ausreichend gewesen, Bronzongs Bewegung nur leicht anzuzwicken. Einen Sprinter in vollem Lauf brauchte man nicht mit einem wuchtigen Schulterstoß zu Fall zu bringen. Es genügte schon ein leichter Schubser oder das Stellen eines Beines. In so einer rasanten Bewegung war man einfach extrem anfällig für solche Nadelstiche.

    So böse der Sturz auch ausgesehen und vor allem geklungen hatte, konnte das Glocken-Pokémon solche Einschläge über den halben Tag verkraften. Gregory versuchte durchzuatmen, seinen Verstand zu klären und die Konzentration wiederzufinden. Alles war okay, es war praktisch nichts passiert und nichts verloren. Er war doch gar nicht gezwungen, proaktiv zu handeln. Es genügte, den Kampf in die Länge zu ziehen und Psiana ein einziges Mal kritisch zu treffen, sobald sie müde und langsam wurde. Auch das war eine Taktik des Märtyrers. Bronzong war ausdauernd genug. Psiana konnte von ihm aus den ganzen Tag drauf feuern.

    Eben Bronzong hob nun wieder vom Boden ab, aber nur für einen Moment, da die eigene Erdanziehung noch aktiv war. Die würde auch verhindern, dass Psiana die Distanz für einen schnellen zweiten Angriff aus nächster Nähe rechtzeitig überbrücken konnte. Einen solchen würde es schon brauchen, um mehr als nur Kratzer anzurichten. Zu Fuß brauchte Andrew es gar nicht erst versuchen. Hatte er aber auch nicht nötig.

    „Jetzt Teleport, geh direkt unter Bronzong“, ordnete er an. Er klang hämisch und aufgeregt, freute sich jetzt bereits diebisch auf das, was gleich passieren würde. Der blaue Stahlkörper senkte sich gerade wieder herab, sodass die Gestalt der lavendelfarbenen Katze nur für einen Moment unter ihm erschien, ehe sie bis auf die Beine gänzlich darunter verschwand. Bronzong merkte das zu spät. Ebenso wie Gregory Andrews Plan erkannte.

    „Spukball!“, schrie er mit geballter Faust. Unter Bronzong knisterte es bereits und Staub wurde aufgewirbelt. Als sich die von Psiana erschaffene Energiekugel gänzlich entlud, konnte man meinen, eine Landmine wäre hochgegangen. Das eigentlich so schwergewichtige Pokémon – 200 Kilo! – wurde in die Luft geschleudert, als sein es ein Pappbecher. Aus der unteren Öffnung rauchte es schwarz und violett. Zum zweiten Mal wirbelte Bronzong herum, überschlug sich, flog in einem hohen und weiten Bogen durch den halben Luftraum des Prime Stadiums.

    „Au Mann, oh Mann, was war denn das? Psiana hat die verwundbarste Stelle getroffen und Bronzong nen Freiflug beschert!“ johlte es aus den Stadionlautsprechern, wurde von überwältigten Aufschreien aus der Menge begleitet. Manch einer sah fast mit einem Hauch Entsetzen, was diese kleine Katze mit ihrem Gegner angestellt hatte. Gregory zählte definitiv zu ihnen. Augen und Mund waren weit aufgerissen und aus letzterem drang lediglich ein fassungsloses Jauchzen. Das sollte ein Spukball gewesen sein? Vielleicht von Darkrai, aber doch nicht von einem Psiana. Auch Cay schloss sich der Meinung an, dass diese Kraft ans Lächerliche grenzte. Nebenbei bemerkte er, dass dieser Verlauf eher an ein Match von Ryan Carparso erinnerte. Ein, zwei Mal geschickt ausgewichen, den Gegner aus dem Konzept gebracht, seinen Angriff abgelenkt und mit einer einzigen verheerenden Attacke genau dort getroffen, wo es richtig weh tat. Ja, das erinnerte mehr als nur ein bisschen an den Kampfstil seines besten Kumpels. Hoffentlich ritt der später nicht drauf rum.

    Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Bronzong endlich wieder mit dem Boden vereint war. Der Aufschlag war an jedem Ort des Stadions nicht nur deutlich zu hören, sondern auch zu spüren. Sein Trainer drehte sich, da es weit hinter ihm landete und zuckte fest zusammen, als habe er einen Stromschlag erlitten. Seine Beine zitterten. In seinem Kopf vibrierte alles. Ein dröhnender Gong lag in seinen Ohren und würde glatt seine eigenen Worte unhörbar machen. Die Arme wurde ob der aufgeschlagenen Erde schützend erhoben, wogen aber plötzlich dreimal so viel. Alle Fans, die Bronzongs Einschlagsort am nächsten waren, drücken rasch beide Hände auf die Hörorgane, aber das Schütteln und Vibrieren, dass diese Wellen noch selbst dahinter sowie in der Brust auslösten, mussten sie alle kompromisslos ertragen. Himmel, selbst die

    Technik protestierte empört mit einem hohen Fiepen und Ächzen, als habe Cay sein Mikrofon einfach fallen gelassen. Von all diesen Auswirkungen war selbst in den Katakomben noch etwas zu merken. Während Ryan und Sandra sie allerdings an sich abprallen ließen und gespannt das Resultat dieser Attacke erwarteten, war Terry zum ersten Mal baff über Andrews Fähigkeiten. Und diese Tatsache machte ihn fast sauer. Was hätte dieses Psiana bei ihrem ersten Treffen wohl mit seinem Maxax anrichten können, hätte er sie nur ein einziges Mal richtig zum Angriff kommen lassen? Was wäre geschehen, wenn Andrew ihn durch ihren raschen Sieg über Washakwil nicht unterschätzt hätte? Abseits dieser drei regierte Bella auf diese Kraft gar mit einem zufriedenen Grinsen und nahm wieder mal einen genüsslichen Schluck. Von beidem wollte sie mehr.

    Die Sicht wurde langsam wieder klar und das quälende Dröhnen ließ endlich nach. Der Einschlag hatte einen Krater in das Kampffeld geschmettert, in welchem sein Trainer sitzend komplett verbuddelt werden könnte. Sand war allerdings nachgelaufen, wodurch Bronzong tatsächlich diagonal mit dem oberen Körperviertel fest im Boden steckte. Der Schiedsrichter zögerte noch einige Sekunden und versuchte die Nachwirkungen in seinem Körper abzuschütteln, eilte sich dann aber schleunigst, Gregorys Pokémon für kampfunfähig zu erklären.

    „K.O. nach nur einer Attacke! Un-glaub-lich!“ grölte Cay überwältigt, fast ungläubig, kaum dass das Resultat verkündet worden war. Streng genommen war es ihr zweiter Angriff gewesen, aber so kleinlich musste man jetzt nicht sein. Der Lärm, der von den Rängen ertönte, war primär ehrfürchtigen und fassungslosen Ursprungs. Sie alle hatten heute bereits viele Attacken, Manöver und Spektakel beobachten können, denen das Wort beeindruckend noch nicht gerecht wurde. Doch ein solcher Knaller von so einem kleinen, unschuldig dreinblickende Geschöpf…

    Es war schwer, ein angemessenes Adjektiv auszuwählen. Aber Manche Dinge brauchten keine detaillierte Analyse. Hier brauchte es nur Beifall – in Massen.

    Andrew drehte sich einmal, forderte vom Publikum zunächst die Aufmerksamkeit und Anschließen den Applaus. Beides, so gestikulierte er deutlich, sollte in aller Großzügigkeit seinem Psiana gespendet werden, die sich entspannt die Pfote leckte. Er wusste allerdings ganz genau, dass ihr der Jubel gefiel, doch eine Prinzessin musste schließlich die Etikette wahren.

  • Kapitel 53: Pulverfass


    Melody ließ sich seufzend in ihren Sitz fallen, als sei es das erste Mal am heutigen Tage, dass sie ihre Beine entlasten konnte. Das mit dem breiten Grinsen gepaarte Schnaufen kam einem Sprinter gleich, der stolz auf seine eben erbrachte Leistung war. Stolz durfte man auf Ryan und Andrew allemal sein, aber Audrey erachtete die augenscheinliche Erleichterung als überflüssig. Beide hatten ihren Viertelfinalkampf weitestgehend sehr souverän über die Bühne gebracht und sich keine erkennbaren Fehler geleistet. Wobei man anmerken musste, dass ihre Gegner auch nicht wirklich viele Fehler erzwungen hatten.

    „Schon aus der Puste?“

    Sie hatte viel gejubelt, aber nicht so viel, dass es tatsächliche Erschöpfung rechtfertigte. Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr Zopf zappelte und die Strähne über der Stirn in ihr Gesicht fiel. Letztere musste sogleich wieder hochgestrichen werden.

    „Im Gegenteil. Ich könnte den ganzen Tag hier sitzen.“

    Na, den Eindruck machte sie nicht gerade. Die Kämpfe, die Atmosphäre, dieses ganze Event schien sie wirklich über alle Maßen zu begeistern und mitzureißen, um es mit einem letzten Hauch Vorsicht auszudrücken. Diese Art der Begeisterung konnte in extremen Fällen gar Schwindel verursachen. Da vergaß man schon einmal das Atmen.

    Audrey schmunzelte. Wenn das so war, sollte sie besser niemals ohne medizinische Betreuung eine nationale Liga besuchen, wo die Stadien die doppelte oder gar dreifache Größe besaßen und Trainer von Ryans und Andrews Kaliber zu dutzenden antraten.

    „Ich versteh inzwischen vollkommen, warum so viele Menschen Pokémontrainer werden wollen. Der Wettbewerb letztens war schon spitze, aber das hier…“, schwärmte sie weiter und sah sich weitläufig im Stadion um. Man blickte ausnahmslos in strahlende Gesichter. Jeder genoss die Zeit. Und natürlich die Kämpfe.

    „Ich hab noch nie so was Berauschendes miterlebt“

    Audrey lächelte amüsiert. Melody war sehr begeisterungsfähig und das wirkte durchaus charmant. Sie hatte keine präzise Aussage erhalten, als sie nach ihrem Verhältnis zu Ryan gefragt hatte. Wenn er allerdings nur ähnlich fühlte, wie sie es für ihn tat, sah die Sache absolut klar aus. Zu behaupten, sie habe ein Auge auf in geworfen, wäre eine freche Untertreibung. Das erkannte selbst ein Blinder.

    „Dann ist das dein erstes größeres Turnier?“, erkundigte sich Audrey und legte die Arme hinter den Kopf, um sich etwas zu strecken. Je weiter besagtes Turnier fortschritt, desto mehr wurmte sie es, nicht mehr mitmischen zu können. Dafür sollte sie sich bei Sandra unbedingt revanchieren. Vielleicht, indem sie ihr ihren Orden abknöpfte?

    „Das, was bei uns als groß gilt, ist im Vergleich hierzu eine verschlafene Krabbelgruppe“, scherzte Melody und winkte ab. Das traf sowohl auf die Größe der Veranstaltung als auch das Niveau der Kämpfe zu. Sie mochte ihre Heimat, aber für solche Spektakel war man dort an der falschen Adresse. Dafür gab es dort andere Annehmlichkeiten und Zeitvertreibe, die man an den meisten Orten verpasste.

    „Dann geht´s bei dir daheim wohl etwas ruhiger zu?“

    Viel ruhiger, wenn man es genau nahm. Das war in solch verhältnismäßig abgelegenen Teilen der Welt nicht unüblich. Selbst die nördlichste der Orange Inseln war noch recht weit ab vom Schuss.

    „Ich komme von einer Inselgruppe im Süden. Ist nicht allzu viel los da, wenn´s um Pokémonkämpfe geht. Vom Festland zieht es nicht sehr viele dorthin.“

    Audrey zog ihre Sonnenbrille ein Stück tiefer – die andere saß mal wieder in ihrem wilden Haar –, sodass ihre Augen darunter hervorblitzten.

    „Und so ein verschlafenes Tropenparadies bringt jemanden wie dich hervor?“

    Sie unterstrich die Spitze, indem sie eine Braue anhob. Auch die Mundwinkel zuckten nach oben. Melody gluckste nur und wischte sich in einem leichten Anflug von Bekenntnis unter der Nase. Wenn Audrey erst wüsste, wie sie vor ein, zwei Jahren noch drauf gewesen war. Damals war sie von den Traditionen und Gebräuchen ihrer eigenen Kultur bestenfalls gelangweilt gewesen. Aber die meisten Teenies hatten wohl derlei Phasen. Heute war sie zwar noch immer mindestens doppelt so lebhaft und weltoffen wie jeder x-beliebige ihrer Landsleute, wurde aber nicht länger als das schwarze Schaf der Familie bezeichnet. Das genügte wohl.

    „Was ist mit dir? Sind in Rosalia City auch alle so taff und rebellisch?“

    „Bin ich das?“, tat Audrey plötzlich ganz unschuldig. Das konnte sie allerdings nicht länger als zwei Sekunden aufrecht halten und grinste sodann kopfschüttelnd.

    „Nein, ich pass da optisch auch nicht so richtig rein. Man sollte meinen so ein idyllisches Fleckchen Erde wär viel zu still für jemanden wie mich. Die meisten jungen Menschen zieht es von dort weg, weil sie Aufregung und Abwechslung suchen. Und reisende Trainer wollen nur weiter zur Arena von Viola City. Bei uns lohnt der Aufenthalt für sie nicht.“

    Die Sonnenbrille wurde wieder gerichtet. Bei dem was sie gleich sagen würde, sollte sie direkten Augenkontakt besser vermeiden. Sonst sah man ihr noch deutlicher die Sentimentalität an.

    „Komischerweise gefällt es mir aber dort, so wie es ist. Die Leute sind nett. Man kennt seine Nachbarn, ständig laden sich alle gegenseitig ein. Und obwohl ich wie eine totale Außenseiterin aussehe, ist nie jemand unfreundlich zu mir gewesen.“

    Ihr Blick verlor sich etwas und sie wandte sich bewusst ein bisschen ab. Sie sollte nicht zu lange von zu Hause sprechen, sonst traf sie das Heimweh noch.

    „Aber trotzdem bist du in der Weltgeschichte unterwegs, genau wie all die Trainer“, stellte Melody dann fest, womit sie subtil nach einem Grund für ihre Abwesenheit fragte. Audrey rümpfte darauf die Nase und schmunzelte.

    „Weil ich Pokémon und das Kämpfen eben liebe. Noch etwas mehr als meine Heimat sogar.“

    Sie legte den Kopf in den Nacken und beobachtete abwesend die wandernden Wolken. So könnte Melody doch von der Seite einen Blick in ihre glänzenden Augen erhaschen. Sie verzichtete jedoch darauf, sie zu bedrängend anzustarren.

    „So simpel ist das. Mehr steckt nicht dahinter.“

    Manchmal wünschte sie sich in solchen Momenten, in denen sie von zu Hause plauderte, sie hätte etwas Spannenderes zu erzählen. Etwas mit Dramatik und einer unerwarteten Wendung. Das Leben schrieb ja die besten Geschichten, so sagte man doch. Aber ihre war so einfach wie schnell erzählt. War im Grunde genauso langweilig wie ihre Heimatstadt.

    „Irgendwann, wenn ich vom Reisen müde bin und genug Erfahrung gesammelt habe, will ich in Rosalia meine eigene Arena aufmachen. Ich will, dass wir wahrgenommen werden. Dass wir als Stadt jemand sind, der in der Welt bekannt ist.“

    Dann würde sie und all ihren Freunden und Bekannten daheim die Herausforderung erwarten, ihre idyllische Heimat beizubehalten und zu verhindern, dass die Stadt zu rasch wuchs und ihre Seele verlor. Aber darum machte sich die Trainerin keine Gedanken. Es war ja nicht so, als habe sie eine Art Plan ausgearbeitet.

    Audrey war keine Person, die für einen Traum lebte. Für ein ultimatives Ziel, mit dessen Erreichen ihrem Leben plötzlich die Richtung verloren ging. Sie lebte einfach nur. Man könnte sagen, für den Augenblick.

    Wie jedoch sollte man dieses Ziel, Arenaleiterin zu werden, sonst betiteln? Darüber machte sich Audrey öfters Gedanken, war aber auf der Suche nach einer Antwort noch nicht fündig geworden. Einen Traum verfolgte man ehrgeiziger, zielstrebiger. Sie jedoch ließ sich alle Zeit der Welt mit ihren Reisen und Kämpfen, ließ alles auf sich zukommen. Sie jagte dem Ziel nicht eifrig nach, sondern ließ sich treiben, um irgendwann, wo auch immer sie dann landen würde, einen neuen Kurs zu setzten, wenn ihr danach war. Sie wartete auf den richtigen Moment, ohne zu wissen, wie dieser aussehen oder woran sie ihn erkennen sollte.

    „Dann wirst du in ein paar Jahren wohl mit Sandra um den Titel der stärksten Arenaleiterin von Johto

    kämpfen.“

    Audreys Blick wurde wieder Richtung Melody gelenkt. Wie die Kleine sie ansah…

    Fast wie eine stolze Mutter ihre Tochter. Sie veralberte die Trainerin nicht und versuchte auch nicht, sich einzuschmeicheln. So glaubte Audrey zunächst, sie interpretierte zu viel in ihren Plan hinein. Überschätzte sie vielleicht sogar. Doch diese funkelnden Augen sprachen – mehr noch als ihre Worte – hier und jetzt eine Weissagung aus. Ein unumstößliches Schicksal, bereits jetzt in Stein gemeißelt, dass Audrey und Sandra als die beiden besten Arenaleiter erneut miteinander kämpfen würden. Und egal wer siegreich daraus hervorging, so würden ihre Namen von Anemonia City bis zum Indigo Plateau in aller Munde sein.

    Audrey musste gestehen, das klang mindestens doppelt so reizvoll, wie ein Match um den Drachenorden. Sie wusste zwar nicht warum, aber sie bremste die aufkommende Euphorie dennoch eiskalt aus. Löschte sie fast. Es würde noch viel zu tun und zu erleben geben, ehe sie überhaupt daran denken konnte, den Antrag für eine Arena zu stellen. So etwas konnte nicht jeder Trainer einfach so machen. Ein Arenaleiter musste neben einem Mindestmaß an Stärke noch viele andere Qualitäten mit sich bringen. Die Herausforderer sollten in mehreren Aspekten und Kriterien gefordert werden. Man kämpfte nicht einfach nur, um zu gewinnen, sondern musste verschiedene Drucksituationen erzeugen und die Strategie sowie auch die Nerven der Trainer auf die Probe stellen. Das Ziel war es schließlich, dass man durch die Kämpfe in den Arenen an sich selbst wuchs. Das verlangte schon nach einer weiterführenden Bildung. Und bevor man sich darüber Gedanken machte, würde Audrey erst einmal an das Geld und die Genehmigung kommen müssen, um ein Grundstück zu erwerben und die Arena überhaupt erst bauen zu lassen.

    Bedenken hatte Audrey viele. Zweifel, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen würde, allerdings keine. Und wenn es eines Tages soweit war, so würde sie Sandra wieder herausfordern. Nicht, damit ganz Johto Gewissheit erlangte, wer von ihnen besser war. Sondern, damit sie selbst es wusste.

    Audrey lehnte sich zurück und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf´s Kampffeld. Der Schiedsrichter hatte erneut Position bezogen, was bedeutete, dass der letzte Viertelfinalkampf nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte. Nur mit sehr viel Mühe konnte sie ein breites, hungriges Grinsen zurückkämpfen. Ein Schmunzeln blieb dennoch.

    „Klingt nach ´nem super Plan“, meinte sie nach einer langen Pause sehr leise. Die gesenkte Lautstärke vermochte jedoch nicht, ihre Entschlossenheit, ihn in die Tat umzusetzen, zu verbergen. Melody gefiel dieses Feuer. Der Eifer, den sie ganz plötzlich ausstrahlte. Erinnerte etwas an Ryan, wenn ihn der Ehrgeiz packte. Ansonsten gab sie sich gerne cool und versteckte sich hinter ein paar flotten Sprüchen, ähnlich wie Andrew. Sie hatte also ein bisschen was von beiden. Und nicht nur das. Vielleicht hatte sie hiermit dann doch so etwas wie ihren Traum gefunden.


    Es sah Sandra nicht ähnlich, vor einem Kampf die Einsamkeit zu suchen. Sie war es eigentlich anders gewohnt. Sie hatte in den letzten Jahren selten an einem anderen Ort als in ihrer Arena gekämpft. Wenn sie dort auftrat, war sie für den Gegner die letzte, die ultimative Hürde, die es zu überwinden galt. Der Primus, der Endgegner – wie auch immer man es nennen wollte –, den alle Trainer, die das Ticket für die Johto-Liga lösen wollten, überwinden mussten. Jeder hatte Respekt vor ihr, manch einer sogar Ehrfurcht. Und genauso trat sie dann auch auf. Wie der Drache, in dessen Höhle sich der Gegner gerade gewagt hatte. Dies war ihr Kampffeld, ihre Arena. Das war ihr Reich.

    Sie war lange nicht mehr so weit von ihrem Reich entfernt gewesen. Lampenfieber oder mangelndes Selbstvertrauen würde sie sich nicht vorwerfen lassen, doch spürte sie, dass etwas anders war. Daher war sie bereits vorgegangen, um sich die Blöße vor Ryan und Andrew nicht geben zu müssen. Die Leiterin hatte den Tunnel zum Innenraum noch nicht erreicht, sondern vor der Weggabelung gehalten, an der sich die Pfade der beiden Teilnehmer trennten und einer das Stadion in westlicher Richtung zu einem Viertel umrundete, um das Kampffeld zu erreichen, während der andere es in östlicher Richtung tat. Sie lehnte an der Wand, stützt einen Fuß dagegen und hatte die Arme verschränkt. Der Kopf war leicht gesenkt und die Augen geschlossen. Der ruhige und regelmäßige Rhythmus ihres Atems täuschte über die Anspannung hinweg, die wie ein eingesperrter Bibor Schwarm in ihrem Inneren tobte.

    Der Ort, so schlussfolgerte Sandra nach einigen stillen Minuten, war nicht die Ursache für diese innere Unruhe. Doch nebst diesem gab es ja noch einen weiteren Faktor, der heute anders war. Wenn ein Herausforderer ihre Arena betrat, war er ein Fremder. Ein Name, ein Gesicht, ein Anwärter, der ihren Orden wollte. Sie verband keine Erfahrungen, Befürchtungen, Ahnungen oder Pokémon mit ihm. Mit der Gegnerin, der sie gleich gegenüberstehen würde, verband sie hingegen so einiges. Und nichts davon war gut.

    Bella war eine fantastische Trainerin, so viel hatte sie beobachten müssen. Aber sie war auch skrupellos, hinterhältig und sadistisch. Hatte ihre Gegner nicht nur besiegt, sondern vernichtet.

    Pff, Gegner...

    Opfer waren sie für Bella gewesen, allesamt. Sie hätte jedes Pokémon, das sich ihr gestellt hatte, ohne Weiteres umbringen können, wenn sie gewollt hätte. Dass dies nicht geschehen war, wollte Sandra auch im Hinblick auf ihre eigenen Partner gerne einem kleinen Rest Anstand und Menschlichkeit in ihr zuschreiben, schloss aber nicht aus, dass sie es nur unterlassen hatte, um nicht disqualifiziert zu werden.

    Sanfte Schritte erklangen im Flur. Sandra atmete scharf ein – fokussiert und kampfbereit und nicht schreckhaft oder eingeschüchtert. Sie war nicht irgendein Trainer. Sie war die Drachenmeisterin von Ebenholz City. Sie hoffte nicht auf Gnade, sondern stürzte ihre Widersacher. Zwang jene, sich ihr zu beugen und beanspruchte für sich, was das Recht des Stärkeren ihr zusprach. So machten es Drachen.

    Sandras Blick neigte sich nur sehr leicht zur Quelle der Schritte. Das halbe Gesicht wurde noch von ihrem Haar verdeckt und die Strähne in ihrem Gesicht legte einen Schatten über eines der Augen.

    Bella marschierte zielstrebig, aber keineswegs hastig auf sie zu. Sie lächelte süffisant, erfreut, sie hier noch einmal zu sehen, bevor man sich – so hoffte sie – mit aller Macht, ohne Zurückhaltung und ohne Gnade bekämpfte. Der Blick der Arenaleiterin gefiel ihr. Hatte nicht ganz das, was zuvor bei der Bekanntgabe dieses Matches darin geschrieben war, aber dennoch sehr vielversprechend. Dieses bitterböse Funkeln während ihr das Haar ins Gesicht fiel, erinnerte an einen jagendes Pokémon, das Hunger und Blutdurst nur mit Mühe zurückhalten konnte. Haargenau so wollte sie die Drachenmeisterin sehen.

    Dennoch veranlasste sie dieses angenehm überraschende Aufeinandertreffen nicht dazu, stehen zu bleiben. Bella hatte ihr nichts zu sagen und wollte den Spaß auch nicht weiter hinauszögern. Sie war kein geduldiger Mensch und für einen solchen musste sie bereits viel zu lange auf heißersehnte Begegnungen und Duelle warten. Die Wunde an ihrer Handkante brannte ein wenig, als sie an ihre Favoritin innerhalb dieser Kategorie dachte.

    Unverhofft kam die Agentin dann doch zum Stillstand. Sandra hatte sich von der Wand gestoßen und direkt vor ihr aufgebaut, versperrte ihr den Weg. Sie war etwas größer als Bella und reckte das Kinn ein wenig, sodass sie herabsehen musste.

    War das ein Einschüchterungsversuch? Oho, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Ebenso wie dieses gesamte Treffen war es jedoch alles andere als unerfreulich für die Agentin. Ihre bernsteinfarbenen Augen verengten sich, traktierten Sandra mit herausfordernden Blicken. Beide ließen die Arme hängen, hatten aber die Fäuste geballt. Lange blieb es bei einem stummen Duell. Bella wartete einfach ab. Sandra dagegen wägte ab. Und gelangte zu einem Entschluss. Darüber, ob sie ihr noch etwas zu sagen hatte und auch was das sein sollte.

    „Was jüngst geschehen ist, werde ich niemals verzeihen. Weder dir noch den anderen beiden“, tat sie harsch kund und ob der Schärfe in ihrer Stimme würde wohl niemand den Ernst dahinter anfechten. Ähnlich wie Mila war die Drachenmeisterin auf die Gesundheit ihrer Mitmenschen mindestens so sehr bedacht, wie auf ihre eigene. Vermutlich sogar mehr. Sie hatte schon auf dem Flug nach Hoenn ihren Frieden mit der Tatsache gemacht, dass sie für das Erreichen des großen Ziels würde bluten müssen. Dass sie Leid und Trauer sehen und vermutlich auch am eigenen Leib erfahren würde. Und selbstverständlich auch Schmerz. Doch das hielt sie zu keiner Sekunde auf. Sie hatte keine Angst vor Schmerz. Fürchtete keine Trauer und kein Leid. Und sie sollte verdammt sein, wenn sie Bella fürchtete.

    Die sah einige Sekunden einfach nur zu ihr hoch, hatte auf diese Kundgebung lediglich den Kopf leicht geneigt. Sie prüfte die Entschlossenheit hinter dieser Aussage und schätzte die Kraft ab, die sie aufbringen konnte, um sie Wirklichkeit werden zu lassen.

    „Ah“, nahm sie schließlich nüchtern zur Kenntnis und nickte. Eine knappere Antwort gab es wirklich nicht, doch war sie deutlich und leicht verständlich. Bella zweifelte Sandras Worte nicht an, sehr wohl aber ihre Stärke. Die würde nicht ausreichen, um sie vor vergleichbaren oder gar schwerwiegenderen Taten abzuhalten. Geschweige denn den Schwarzen Lotus. Eben dies teilte sie auf diesem Weg ebenfalls mit.

    Dass sich die Agentin nicht würde beeindrucken lassen, war zu erwarten gewesen. Dennoch hatte Sandra es ihr dieses eine Mal ins Gesicht sagen wollen. Hatte sie warnen wollen, sich nochmals an der Gesundheit ihrer Freunde zu vergreifen.

    Nun, da dies getan war, wandte sie sich ab, machte dabei in einem weiten Bogen kehrt und ließ ihren wilden Blick so lange wie möglich an Bella haften. Ihre einsilbige Antwort hatte keinen Spielraum gelassen, das letzte Wort für sich zu beanspruchen, weshalb sie sich immerhin die letzte Geste sicherte. Ihr Umhang flatterte, als sie schließlich den Rücken kehrte und um die Ecke bog. Die zurückgelassene Agentin schürzte nochmals nachdenklich die Lippen, welche sich aber gleich wieder in ein breites und erwartungsvolles Lächeln formten. Nun sollte Sandra diesen Tönen auch gerecht werden.


    Pete machte sich selten Sorgen um jemanden. Mila mal außen vorgenommen. Auf die wartete er hier allerdings auch nicht, sondern auf einen simplen Informanten. Entgegen seiner ersten Befürchtung hatte sich noch eine Chance ergeben, die Aussagen des jungen Ex-Rockets, an den er vor einigen Tagen geraten war, zu überprüfen. Zu verifizieren, dass es sich bei dem Laden wirklich um Bellas häufigsten Aufenthaltsort und nicht bloß irgendeine billige Diskothek handelte. Zudem musste Pete, oder konkreter gesagt der Informant, den er bezahlte, sich vergewissern, dass die von Eaves verratene Methode für den Einlass in die Lokalität korrekt war. Ohne diesen Kniff würde man nämlich schon an der Tür scheitern, so hatte er versichert.

    Pete ging in der verwahrlosten Nebenstraße ungeduldig auf und ab. Hier waren lediglich Hintertüren zu einigen, überwiegend leerstehenden Läden sowie Seiteneingänge zu halb zerfallenen Häusern, durch die unerwartet ein Passant treten könnte. Aus offensichtlichen Gründen würde da aber höchstens ein Rattfratz rausgeschlichen kommen. Das hier war mit Abstand das verwahrloseste Viertel von ganz Graphitport. Auf den Straßen war nur Lumpen- und Gangsterpack unterwegs, die Luft stank nach dem Smog des angrenzenden Industriegebietes und die Hälfte aller Gebäude sah nicht besser aus als die, zwischen denen der Barbesitzer wie auf heißen Kohlen wartete. Trotz der sommerlichen Temperaturen hatte er eine schäbige Jacke übergezogen und gar die Kapuze aufgesetzt. Einerseits, um sein Gesicht ein wenig zu verbergen. Andererseits, um durch seine ansonsten adrette Garderobe nicht aus der Masse herauszustechen. Sonst hatte er nebst Team Rocket noch die Straßengauner zu fürchten. Bestimmt zum zehnten Mal in der letzten Viertelstunde sah er auf die Uhr. Pünktlichkeit gehörte normalerweise nicht zu den Tugenden zwielichtiger Laufburschen und Tagelöhner, wie Devon einer war – ebenfalls ein Deckname, wie bei Eaves. Er war allerdings eine Ausnahme, kam für gewöhnlich immer auf die Minute. Noch nie hatte er sich so verspätet. Pete kannte Leute wie ihn in nahezu jeder Großstadt der Hoenn Region, aber hier in Graphitport war er mit Abstand der routinierteste und zuverlässigste. Wieso also brauchte er für so einen simplen Job so lange? Mit jeder Minute erhärtete sich die Befürchtung, dass was schiefgelaufen sein musste. Nur was? Konnte Devon aufgeflogen sein? Wie denn? Es würde keinen Anhaltspunkt geben, dass er für Team Rockets Feinde arbeitete und solange er die aufgetragenen Vorkehrungen getroffen hatte, sollte es auch keine Probleme geben, in den Laden reinzukommen. Es sei denn, Eaves hätte sich geirrt. Oder schlimmer noch, er hätte Pete angelogen. Egal wie oft er jedoch darüber nachdachte, er konnte es sich nicht vorstellen. Es erschien ihm unmöglich, angesichts des flehenden Häufchen Elends, das der Ex-Rocket direkt vor seinen Augen abgegeben hatte.

    Aus einer Gasse hallte auf einmal hektisches Getrampel. Eine einzelne Person, definitiv. Pete sah sich schnell in allen anderen Richtungen um, ging sicher, allein zu sein und marschierte dann schnurstracks dem Lärm entgegen. Keuchende Atemstöße drangen an sein Ohr ebenso wie ein erschöpftes Stöhnen. Als sei die offenkundig männliche Person seit Stunden auf der Flucht. Pete hatte die Ecke gerade erreicht, da stolperte plötzlich Devon direkt in seine Arme. Er wirkte gejagt, gehetzt, außer Puste und orientierungslos. Fast taumelte er zu Boden, sodass Pete ihn an seinem verfilzten schwarzen Hoodie halten musste. Der feste Griff um seinen Oberarm bewirkte aber bloß wachsenden Widerstand bei dem Informanten, als wolle er einen Angreifer abschütteln.

    „Hey, hey. Alles gut, ich bin´s.“

    Devon erstarrte von einer Sekunde auf die nächste und besah sich seines Klienten. Insgeheim nannten sie beide sich ganz gerne Freunde, auch wenn sie ihren Kontakt nicht gerade regelmäßig pflegten. Aber immerhin tat man sich hier und da mal einen Gefallen, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen. Für Männer ihres Schlages genügte das als Freundschaftssiegel.

    „In was für ´ne Scheiße hast du mich da geritten?“, stieß Devon allerdings wenig wohlgesonnen zwischen den Zähnen hervor und befreite sich nun doch. Obwohl fix und fertig, vermochte er nicht eine Sekunde stillstehen, geschweige denn ruhig zu bleiben. Seine Hände verkrampften sich in die verschwitzte, blonde Frisur mit Sidecut, während er zahneknirschend auf und ab ging.

    „Finde raus, ob Bella wirklich dort einkehrt, hast du gesagt. Prüfe, ob der Code zum Einlass funktioniert, hast du gesagt.“

    Seine Stimme wurde lauter, als er direkt vor Pete trat und wütend auf ihn deutete, es aber aus irgendeinem Grund vermied, ihm den Finger direkt auf die Brust zu setzen. Dabei würde er es gerne mit der ganzen Faust tun.

    „Aber was für Gestalten da drinnen warten, das hast du mit keinem Wort erwähnt!“

    „Hey, hey, Devon“, mahnte der Angeklagte sofort mit unterdrückter Stimme und bedeutete seinerseits mit einem Finger, er solle die Lautstärke senken. Selbst wenn Team Rocket ihm nicht auf den Versen war, so brauchte er in diesem Teil der Stadt wirklich niemandes Aufmerksamkeit.

    „Was ist passiert? Bist du aufgeflogen?“

    „Das kannst du glauben!“, spie er ihm sofort entgegen und machte wieder ein paar Schritte zurück, sah sich in den runtergekommenen Straßen um.

    „Die haben mich mit mehr als zehn Leuten bis zu meinem Apartment verfolgt und die Tür aufgebrochen. Bin grade so über die Feuertreppe rausgekommen. Jetzt bin ich seit Stunden auf der Flucht. Ich steh beim ganzen Team Rocket auf der Abschussliste wegen deinem scheiß Job.“

    Wieder wurden die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, verkrampften beinahe. Es hätte Pete nicht schockiert, wenn er sich gleich ein paar Haare ausgerissen hätte. Dass er an einen ganzen Haufen Rockets geraten war, kam allerdings unerwartet. Laut Eaves waren bei dessen Besuch in dem Schuppen vielleicht eine Handvoll Leute, die wirklich zum Team Rocket gehörten. Die Übrigen hatten mit Sicherheit auch keine weißen Westen, seien aber keine Mitglieder gewesen, sondern lediglich mit der angeheuerten Agentin bekannt.

    „Wer verfolgt dich? Bella?“

    Die konnte es eigentlich nicht sein. Zwar war Pete seit heute Morgen nicht mehr mit Mila in Kontakt gewesen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich laut der Drachenpriesterin bereits am Prime Stadium aufgehalten. Und letzte Nacht, als Devon seinen Auftrag begonnen hatte, war sie bei ihm in der Bar gesessen. Das verschwieg er Devon aber besser.

    „Hast du mir nicht zugehört, ich muss verschwinden, und zwar gleich!“

    Mit diesen Worten schickte sich der Informant zum Gehen, wurde jedoch erneut am Arm ergriffen. Was in aller Welt war mit ihm passiert? So hatte Pete ihn wahrlich noch nie erlebt.

    „Warte, ich brauch diese Information.“

    „Leck mich“, fauchte Devon nur und riss sich los, stolperte und ging fast zu Boden. Doch wenigstens hielt er inne und verschob seinen Abgang. Dafür traktierte er seinen Auftraggeber mit verachtenden Blicken. Als sei er derjenige, der ihn verfolgte.

    „Bitte“, war alles, was Pete noch einfiel, um ihn noch zum Einlenken zu bewegen. Er zeigte seine leeren Handflächen und verdeutlichte, dass er seine einzige Chance war. Dass er ansonsten aufgeschmissen war. Er hatte Devon keine Details über seine Klienten verraten. Das tat man prinzipiell nicht. Jedoch erkannte er anhand dieser Geste genau, dass es für ihn um weit mehr, als um Bezahlung ging. Das hier musste wichtig sein.

    Besser war es so. Devon würde glatt den Verstand verlieren, wenn er diesen Dreck für nichts als Taschengeld mitgemacht hätte. Schlimm genug, dass es sich für ihn nicht gelohnt hatte. Eigentlich sollte er hier und jetzt einen höheren Preis verlangen, doch so lief das in diesem Business nicht. Und seine heile Haut war ihm sowieso viel mehr wert als Pete ihm bezahlen konnte. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Hoodies über den Mund und holte tief Luft. Zu keiner Zeit unterbrach er den wütenden Blickkontakt.

    „Der Code stimmt. Ob Ausweis oder irgendein Pass, das ist egal. Es muss nur das Zeichen draufstehen. Der Türsteher kontrolliert mit Schwarzlicht.“

    Hatte Eaves also doch nicht gelogen. Das deckte sich exakt mit dem, was er gesagt hatte.

    „Und Bella?“

    Dieser Pete sollte bloß die Füße stillhalten. Wenn er ihn jetzt noch weiter hetzte, würde er ihm hier und jetzt das Gesicht umgestalten.

    „War sie da?“, hakte er weiter nach. Er reizte es wirklich aus.

    „Nein“, verriet er bissig und brachte Pete rasch zum Schweigen. Er wollte nicht mehr von ihm hören. Kein Wort. Wollte bei Arceus einfach nur weg.

    „Aber alle anderen.“

    Pete legte die Stirn in Falten und hoffte, dass er das missverstanden hatte. So naiv war er lange nicht mehr gewesen, wie Devon gleich deutlich bestätigte.

    „Von ihr abgesehen haben die sich alle dort versammelt. All ihre Leute, alle Handlanger… und sogar der Schwarze Lotus.“

    Pete klappte glatt die Kinnlade runter. Er blinzelte ungläubig, wollte dieser Nachricht eigentlich misstrauen. Doch sie würde Devons Verhalten nicht bloß erklären, sondern absolut plausibel machen.

    „Bist du sicher?“

    Ein bitteres Nicken. Es war unübersehbar, dass der Mann Angst vor dieser Frau hatte. Und nach allem, was der Barbesitzer inzwischen über sie wusste, konnte er das nicht verurteilen. Sollte wirklich alles stimmen, was er so über sie gehört hatte, würde er sich dem glatt anschließen.

    „Wieso? Wieso jetzt?“

    Ihm brannten noch diverse W-Fragen auf der Zunge, doch Devon ließ keine weiteren zu. Das Maß war voll bei ihm. Auf den Job und auf Pete bezogen.

    „Die Rücken aus, die haben was vor. Pete, ich muss verschwinden, am besten gestern!“

    „Mann, reiß dich zusammen.“

    So wütend er auch auf ihn war, dafür, dass er ihn auf diesen Job angesetzt hatte, klang er gerade jedoch fast flehend, endlich in Ruhe gelassen zu werden. Was auch immer Pete für Probleme erwarteten, sie waren nichts im Vergleich dazu, womit Devon zu rechnen hätte, wenn er eingeholt würde. Nur zu einer letzten Information ließ er sich dank dessen penetranter Sturheit noch hinreißen.

    „Ich weiß nicht, was sie planen. Irgendwas Großes, in aller Öffentlichkeit. Es hieß man zeige sich Hoenn nun unverhüllt. Vermutlich heute Nacht.“

    Petes Brauen zogen sich zusammen und er ging erneut einen Schritt auf ihn zu und griff nach seinem Kragen.

    Vermutlich?“

    Es klang als wolle er ihn verarschen. Als sei das ein Witz. Mit so einer vagen Info konnte er nun wirklich nicht arbeiten. Wenn man sich auf solche verließ, lief man höchstes Risiko, geradewegs ins offene Messer zu rennen. Und das konnten sich Mila und ihre Leute beim besten Willen nicht leisten.

    „Mehr war nicht rauszukriegen, ohne sich das Fell abziehen zu lassen“, stellte Devon klar und riss sich rüde los. Pete sollte inzwischen längst kapiert haben, dass seine Probleme ihm mittlerweile echt egal waren. Er hatte jetzt genug eigene, dass es für das ganze Jahr reichte.

    „Worauf du dich genauso einstellen kannst, wenn die dich mit mir finden.“

    Womit für ihn der Schlusspunkt gesetzt war. Sein Auftraggeber setzt noch zu einer Erwiderung an, wollte eine Hand nach ihm strecken, sah die Aussichtslosigkeit aber unter Verbitterung und Frust ein. Die Chance war verstrichen. Mehr war nicht rauszuholen. Devon ging ein paar Schritte rückwärts, beobachtete, ob ein weiterer Versuch unternommen würde, ihn aufzuhalten. Pete ließ es jedoch bleiben.

    „Ich verschwinde aus der Stadt. Solange Team Rocket nicht endgültig von der verdammten Insel verjagt wurde, ist Devon ein Geist. Und Hoenn ist die Welt, die er verlassen hat.“

    Er drehte sich und eilte so schnell ihn seine müden Beine noch trugen, auf die Hauptstraße. In den Menschenmassen dort würde er leichter untertauchen und schwieriger angegriffen werden können. So schwer Pete heute auch von Begriff schien, so hatte er – hoffentlich – verstanden, dass sein Alias und somit sein Job als Informant hiermit der Vergangenheit angehörten. Zumindest in dieser Gegend. Er konnte jederzeit unter einem neuen Decknamen woanders anfangen. Team Rocket operierte nicht in Sinnoh, Kalos oder Einall. Doch ehe er nicht den Boden von einem dieser Kontinente unter seinen Füßen spürte, würde er keine ruhige Minute haben. Und Pete konnte bleiben, wo der Pfeffer wuchs.

    Eben der sah Devon lange hinterher. Dieser Missmut, den er von ihm empfangen hatte, war mit nichts vergleichbar, was er jemals von irgendeinem Informanten geerntet hatte. Er vergab nur selten gefährliche Jobs und selbst wenn, war alles immer verhältnismäßig glimpflich ausgegangen. Aber das hier…

    Devon war seit vielen Jahren im Geschäft. Wenn ihn das, was und vor allem wen er gesehen und gehört hatte, so aus der Fassung brachte, waren sie, also Mila und die anderen, eindeutig zu wenige. Und er selbst nun vermutlich um einen Freund ärmer. Wenn Team Rocket selbst das Rampenlicht der Öffentlichkeit nicht länger scheutr, so würde die ganze Stadt zu einem Pulverfass, das lediglich auf ein entzündendes Streichholz wartete. Und selbst das wäre in Ordnung, würde es hier nur um die schwarz gekleideten Gangster gehen. Doch Latios und Latias waren nun ebenfalls in relativer Nähe. Was zur Folge hätte, dass die Explosion dieses Pulverfasses niemand geringeren als ihren Vater auf den Plan rufen könnte.

  • Hallo,


    die aktuellen Kämpfe sind wirklich spannend zu verfolgen. Mit einer Taktik, die sich auf Statusveränderungen und trickreiche Geist-Angriffe konzentriert, war der Ausgang dieses Kampfes nicht immer so klar, wie es den Anschein hatte. Auf diese Weise fiel es umso leichter, mitzufiebern und dem Geschehen zu folgen.

    Die Handlung abseits des Turniers scheint sich ebenfalls weiter zuzuspitzen. Hier fällt es mir tatsächlich etwas schwer, der Handlung zu folgen, da sie eher selten aufgegriffen wird. Nach der zunehmenden Gefahr durch Team Rocket nehme ich aber an, dass die neuen Erkenntnisse auch bald ihren Weg zur Hauptgruppe finden wird.


    Wir lesen uns!

  • Hi Rusalka,


    schön, dass die Kämpfe noch immer gefallen. Es ist bei so vielen aufeinanderfolgenden Matches gar nicht leicht, sie immer spannend und abwechslungsreich zu halten. Vor allem, da die heißesten noch kommen werden und ich mich ja bis zum Finale stetig steigern will.


    Der Plot um Team Rocket sollte mit der zweiten Hälfte dieses Kapitels quasi nochmals ins Gedächtnis gerufen werden. Die Charaktere haben die potenzielle Gefahr ständig im Hinterkopf, aber ich wollte sie mal wieder präsenter für den Leser machen. Aber vorher gibt es noch einige Kämpfe auszutragen.


    LG

  • Kapitel 54: Katz und Maus Drache


    „Es ist eigentlich schade, dass wir dieses Wahnsinns-Duell schon jetzt im Viertelfinale sehen werden. Schaut man sich den Turnierverlauf an, könnten die zwei Ladys da unten genauso gut das Finale austragen.“

    Bella schnaubte etwas abfällig, aber mit etwas Belustigung angehaucht. Vermutlich war es das erste Mal, dass Cays Kommentare ihr überhaupt eine Reaktion entlockten. Es war aber auch zu komisch. Erst am Vorabend hatte sie Pete in der Bar dasselbe gesagt, was sie nun in Richtung des Stadionsprechers dachte. Sie war vieles, aber sicher keine Lady.

    Eine ungewöhnlich starke Windböe fing ihr Haar auf, das sie sodann ein wenig zügeln musste. Auf der anderen Seite des Kampffeldes schlug dagegen ein himmelblauer Zopf ungebändigt um sich und ein dunkler Umhang schloss sich mit einem wilden Flattern an. Die Besitzerin zuckte im Gegensatz zu Bella jedoch nicht einmal mit der Wimper. Auch während sie die Agentin, ihre Gegnerin, ihre Feindin herausfordernd musterte, blinzelte sie nicht ein Mal. Sie befand sich in einem mentalen Tunnel. Alles um sie herum war schwarz und still. Nur der Wind pfiff in ihren Ohren und peitschte den Sand vom Kampffeld auf. Selbst über und unter ihnen – nichts als schwarz. Nur die Linien des Kampffeldes ließen erahnen, dass sich fester Boden unter ihren Füßen befand. In diesem abgeschotteten Raum verlief alles langsamer als in der realen Welt. Die Stimmen der Leute aus selbiger drangen bestenfalls gedämmt wie durch eine dicke Glaswand zu ihr durch. Wenn überhaupt. Dagegen kam ihr der tiefe Atemzug, den sie gerade einsog, so laut vor, als könne sie einen Sturm entfesseln, sobald die Luft wieder ausgestoßen wurde.

    Nur sehr langsam wich dieser tranceartige Zustand und Sandra kehrte zurück in die Wirklichkeit. Der Lärm der Zuschauer wurde lauter, die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut wärmer. Schließlich hörte sie auch wieder die Stimme des aufgedrehten Stadionsprechers im Normaltempo. Der lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Schiedsrichter, welcher sich der Bereitschaft beider Trainerinnen versicherte. Bella nickte mit einem süffisanten Zwinkern. Die Arenaleiterin schenkte dem Unparteiischen dagegen gar keine Beachtung und griff nach dem ersten Pokéball. Er wurde regelrecht unter ihrem Umhang hervor gewuchtet, als sei er aus Blei. Vermutlich würde sie ihn hier und jetzt sogar noch Bella an den Kopf schmettern können, so groß war ihre Motivation, diesen Kampf zu gewinnen.

    „Shardrago, los geht´s!“, rief sie dermaßen entschlossen, als ginge es um Leben und Tod. Ganz so dramatisch war dieses Match zwar nicht, aber für sie ging es hier noch immer um ihre Ehre als Arenaleiterin und Drachenmeisterin. Und diese junge Frau dort hatte sich zur Feindin der Drachen erklärt.

    „Absol, Zeit zum Spielen.“

    Sie ging eindeutig mit einem anderen Ernst an die Sache heran. Um nicht zu sagen mit gar keinem. Meinte sie etwa, das hier sei ein Spiel? Dass Sandra nur ihrer Belustigung diente? Eben die mahnte sich, ihren Emotionen ungezügelten Lauf zu lassen, obwohl ihr Ehrgeiz durch diese respektlose Dreistigkeit nochmals gesteigert wurde. Bella würde bestimmt versuchen, sie zu provozieren, ihre Konzentration zu stören und vom Kampf abzulenken. Aber sie war keine Anfängerin. Sie war die stärkste Arenaleiterin Johtos. Die Drachenmeisterin von Ebenholz City.

    Tatsache war allerdings – entgegen Sandras Empfinden –, dass Bella nicht das geringste Interesse daran hatte, ihre Gegner mit Psychospielchen zu sabotieren. Zumindest nicht in einem Pokémonkampf. Bei der Arbeit war dies schon um einiges amüsanter und lohnender. Sie genoss es wirklich, endlich einem starken Gegner gegenüberzustehen und würde ihren Zwist mit Sandra in vollen Zügen genießen, da war sich Andrew sicher. Sie war keine von der Niederträchtigen Sorte. Naja, zumindest nicht von dieser Art Niederträchtigkeit. Außerdem hatte sie das gar nicht nötig.

    Das Auftreten der beiden Pokémon war genauso unterschiedlich, wie die Ausstrahlung ihrer Trainer. Während Shardrago offenkundig Mühe hatte, nicht sofort loszustürmen und seinen Gegner zu zerreißen, stand die schneeweiße Raubkatze gelassen und erhaben da. Fast als wüsste sie, dass das Drachenpokémon sich schon in wenigen Momenten unterwerfen würde. Natürlich war diese Annahme absolut lächerlich. Willentlich würde er sich nur seinem Vater und vielleicht noch den Zwillingsdrachen unterordnen. Niemandem sonst. Gezwungenermaßen musste er jedoch noch Ruby als die Überlegene von ihnen beiden anerkennen.

    „Die erste Runde lautet Absol gegen Shardrago. Beginnt!“

    Und wie Sandra beginnen würde. Stürmisch und entschlossen, wie es sich für einen Drachen gehörte.

    „Vorwärts, Drachenstoß!“

    Aber mit Vergnügen. Der kobaltblaue Körper wurde von einer hellen Energie in ähnlicher Farbe umhüllt. Wie eine blaue Rakete schoss Shardrago absolut waagerecht voraus und wirbelte Unmengen an Staub an seinem Ausgangspunkt auf. Seine Trainerin ignorierte es völlig, dass sie förmlich damit zugeschüttet wurde. Während des kurzen Fluges nahm die Drachenenergie markantere Formen an, sodass sich Flügel, Schweif und gar ein massiger Drachenkopf abbildeten, der sein gewaltiges Maul vor Absol öffnete.

    „Doppelteam.“

    Bella klang sehr nüchtern, lächelte aber voller Schalk und Heimtücke. Drachenstoß blitzte auf wie ein Wetterleuchten, als die Gestalt Absols erfasst wurde. In haargenau demselben Moment war jene Gestalt jedoch verschwunden. Shardrago riss eine tiefe Furche, nicht nur in den Sand, sondern auch den festen Boden darunter. Dreck, Lehm und Geröll wurden gewaltsam ausgegraben und durch die Luft gewirbelt, wo einige Klumpen jedoch von dieser wahnsinnigen Kraft zu Pulver zermahlen wurden. Während der Höhlendrache die Füße in die Erde grub und den Angriff beendete, erschienen über ein Dutzend Kopien des Absol-Weibchens wie aus dem Nichts über das gesamte Kampffeld verteilt.

    „Wow, Sandra beginnt sehr stürmisch, aber Bella ist nicht leicht zu überrumpeln, wie wir inzwischen wissen…“, begann Cay und verwies auf die bisherigen Matches der Agentin im Verlauf dieses Turniers. Seine Erklärungen brauchte es nun wirklich nicht, um Bellas Stärke zu begreifen.

    „Jetzt Schwerttanz.“

    Das Unlicht Wesen senkte zunächst den Kopf etwas, was bewirkte, dass die Trugbilder zum Original zurückkehrten und rief dann ihren Namen laut zum Himmel empor. Wie schon zuvor bei Scherox formten sich aus diversen Lichtpunkten leuchtende Schwerter. Diesmal geschah jedoch noch mehr. Selbst die Luftströmungen schienen Absol zu umkreisen und schlossen sie fast in einer Windhose ein. Sogar auf den Rängen war diese Kraft spürbar.

    Bella machte also doch ernst. Sonst würde sie es nicht für nötig halten, ihr Pokémon zu stärken. Absol besaßen schon von Natur aus eine immense Zerstörungskraft, die man auf den ersten Blick nicht erwarten würde. Dank Schwerttanz würden sich die schwarzen Krallen nun vermutlich selbst durch Granit ihren Weg bahnen können.

    Und wenn schon. Sandra ließ sich nicht leicht beeindrucken. Sie ordnete Steinhagel an, woraufhin Shardrago mit seinen Dornenbesetzten Schweif durch die Furche im Boden pflügte und Gesteinsbrocken in der Größe von Medizinbällen hervorbrachen.

    „Unsere Lieblings Drachenmeisterin dreht richtig auf – und nimmt dabei das halbe Kampffeld auseinander. Scheint sie wenig zu interessieren, dass da später auch noch andere kämpfen müssen.“

    Wie ein Meteoritenschauer regnete die Attacke auf Absol. Diese Spezies war zwar flott auf den Beinen, doch hier bräuchte es schon die Schnelligkeit ihres Ninjask, um ihnen ausweichen zu können. Und sie zu zertrümmern, konnte ob dieser Menge ebenfalls nur misslingen.

    Die Trainerin schmunzelte allerdings nur und rümpfte fast spöttisch die Nase. Ein Befehl war nicht nötig. Absol kämpfte schon sehr lange unter Bellas Führung und wusste, was sie in diesem Fall zu tun hatte. Sie ging erst in eine tiefe Stellung und hastete vorwärts, um unter den ersten Felsen hindurch zu hechten. Dann richtete sie sich jedoch in einer fließenden und anmutigen Bewegung wieder auf und sprang auf einen der Brocken, wobei sie einen weiß- silbrigen Lichtschweif hinter sich herzog.

    „Seh ich da richtig?“, fragte sich Cay bestimmt nicht als einziger, als sich das Katzenwesen in Windeseile von mehreren Felsen nacheinander abstieß und weiter in die Luft beförderte. Tatsächlich verschwamm ihr Abbild durch das enorme Tempo und den Lichtblitz stark, sodass man kaum ein Pokémon erkennen konnte. Zumindest für circa zwei Sekunden. Mit Ablauf jener stand Absol nämlich einen Moment lang über den Felsbrocken in der Luft. Audrey schaute fasziniert zu und lehnte sich nach vorn. Sich mit Ruckzuckhieb aus diesem Bombardement herauszuwinden war eine clevere Idee gewesen, doch so gewitzt sie auch war, bedurfte es dennoch immensen Könnens seitens des Pokémon. Absol waren durchaus flink, aber das war eine andere Hausnummer. Diese Faszination wurde ironischerweise sofort erlöschen, hätte sie nur eine Ahnung, wer Bella wirklich war. Melody, die von all den spektakulären Kämpfen und Pokémon mindestens doppelt so begeistert gewesen war, schloss sich diesmal der Verblüffung nicht an. Wobei sie selbst mit dem Wissen um Bellas Identität gestehen musste, dass sie von ihr und ihrem Absol äußerst beeindruckt war. Selbst die Trainerin aus Rosalia staunte nicht schlecht über dieses Geschick und das sollte aussagekräftig genug sein. Das war weit jenseits dessen, was man dieser Pokémongattung ohnehin schon großzügig zutraute.

    Letztlich blitzten dann auch die Krallen auf und zerschmetterten einen der Brocken, verarbeiteten ihn zu grobem Kies. Die Klauen eines Absol, so wusste Audrey, waren trotz der Schärfe keine Präzisionswaffen. Sie besaßen kaum Krümmung und waren im Ansatz sehr dick. Daher wurde Hindernisse selten sauber durchtrennt, sondern gewaltsam vernichtet. Ganz ähnlich also wie bei Shardrago.

    Absol befand sich noch in der Luft, als dann wie aufs Stichwort plötzlich ein gewaltiger Schädel mit rauem Schuppenmuster von blutroter Farbe vor ihr erschien. Shardrago hatte nicht bloß begeistert zugesehen, sondern war ihr mit kräftigen Schlägen seiner Flügel entgegengekommen und hatte dabei den eigenen Steinhagel als Deckung genutzt. Ryan war sich der unnatürlichen Agilität des Höhlendrachen durch das Training längst bewusst. Bella sollte hiermit sicher auf falschen Fuß ertappt worden sein.

    „Drachenklaue!“

    „Psychoklinge.“

    Während die Krallen des Drachen hellblau leuchteten, glimmte das schwarze, geschwungene Horn an Absols Schläfe in einem kräftigen Violett. Beide holten weit aus, als würden ihre natürlichen Waffen eine Tonne wiegen und begleiteten die Bewegung mit einem energischen Kampfschrei. Die Lichtklinge löste sich gerade noch von dem Horn, ehe sie auf Shardragos Klaue traf, womit Absol einem Schlag auf die Schädeldecke um Haaresbreite entgangen war. Als die Energien kollidierten, blitze es so hell auf, dass die Zuschauer bis in die hinteren Reihen für eine Sekunde geblendet wurden. Als würde man ganz unerwartet direkt in einen Fotoblitz schauen. Jeder musste einige Sekunden blinzeln. Nur die beiden Trainerinnen widerstanden dem Impuls, obwohl es den Augen sicher schmerzte. Noch bevor der leichte Anflug von temporärer Blindheit abgeklungen war, hallte ein wehklagender Schrei durch das Stadion. Es erklang der Schmerzensschrei Absols.

    Die weiße Raubkatze hatte eine böse Wunde in dem buschigen Brustfell davongetragen und war geradewegs bis vor die Füße ihrer Trainerin geschleudert worden. Shardrago landete dagegen fest und sicher auf beiden Füßen, stemmte dazu eine Faust in den Sand und grollte sodann triumphierend. Hatte dieser Flohzirkus ernsthaft geglaubt, einen direkten Kräftevergleich für sich entscheiden zu können? Lachhaft.

    Absol kämpfte sich zittrig wieder auf die Pfoten. Sie senkte den Kopf und röchelte, als müsse sie Blut husten. Dieser Ausgang, dieser fast schon fatale Schlag löste fast schon Entsetzen bei einigen aus.

    „Die Drachenklaue hat voll gesessen!“ stellte Cay fest und klang nicht weniger überrascht. Bellas Absol hatte über das gesamte Turnier quasi noch keinen Schlag einstecken müssen. Daran tat man auch gut, wenn man mit diesem Pokémom kämpfte, da sie zwar sehr gut austeilen, dafür aber kaum einstecken konnten.

    „Shardrago scheint Absol in Sachen Stärke eindeutig überlegen zu sein, trotz des Einsatzes von Schwerttanz. Bella muss sich wohl zur Abwechslung mal was einfallen lassen.“

    So eindeutig, wie der Kräfteunterschied ausgesehen hatte, war er leider nicht. Das erkannten aber lediglich die Kontrahenten. Nicht einmal Ryan, Terry oder Audrey hatten bemerkt, wie lädiert die linke Klaue des Drachenpokémons war. Shardrago besah sich eben dieser und versuchte prüfend, eine Faust zu ballen. Es war fast unmöglich. In der Handfläche lag ein heißer Schnitt. Die dicke, raue Haut war tief gespalten. Fast glühte die Wunde noch und machte seine Linke fast unbrauchbar.

    Ein durchstechender Blick fixierte das Absol Weibchen. Und wenn schon. Er konnte sie ebenso mit der rechten treffen. Und sollte dies ebenfalls unmöglich werden, griff er eben mit seinem brutalen Maul an. Würden die Zähne stumpf, schlug er eben mit seinem dornenbesetzten Schweif. Versagte dessen Kraft erst einmal, nutzte er seinen ganzen Körper. Wie oft würde sie ihm überhaupt noch trotzen können, so jämmerlich, wie sie sich gerade noch aufzubauen schaffte?

    Sandra traute dem Scheinerfolg keine Sekunde. So überzeugt sie doch war, diesen Kampf zu gewinnen, würde es niemals so einfach sein können, Bella Déreaux zu schlagen. Klar brauchte es nicht sonderlich viel, um ein Absol zu fällen. Dennoch würde sie nicht eher nachlassen, ehe ein K.O. verkündet würde. Solch eine Naivität hatte sie seit Jahren abgelegt.

    Hinzu kam Bella selbst. Die strahlte Gelassenheit und Gleichgültigkeit aus, als kämpfe sie noch immer gegen unbeteiligte Anfänger. Allerdings lächelte sie breit und hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt. Ihre bernsteinfarbenen Augen suchten den Blickkontakt zur Arenaleiterin und verengten sich etwas.

    „Nicht schlecht“, schnurrte sie. Oh, diese Füchsin. Sandra und Shardrago fingen gerade erst an.

    „Absol steht wieder. Und ich sag euch was Freunde, diese Bella schreibt man besser niemals ab.“

    Da gab Cay ausnahmsweise mal etwas Weises zum Besten. Nur ließ sich mit Vorsicht ein Gegner dieses Kalibers nicht besiegen, sondern nur durch entschlossenes Handeln. Sandra streckte die flache Hand voraus.

    „Shardrago, Kraftkoloss!“

    Nun wurden beide Klauen des Höhlendrachen robust in die Erde gestampft und der Kopf sank tief zwischen die angewinkelten Arme. Fast sah es so aus als hindere eine unsichtbare Kraft Shardrago daran, auf seinen Gegner loszustürmen und alles auf seinem Weg zu verwüsten. Der rau geschuppte Körper zuckte und pulsierte, während ein geradezu lächerliches Muskelspiel unter der Haut sichtbar wurde. Und dann gab diese unsichtbare Kraft plötzlich auf, entfesselte Shardragos ungezügelte Zerstörungswut. Mit allen Vieren sowie seinen Flügeln katapultierte er sich in einem Tempo vorwärts, das man wohl kaum einem Drachenpokémon zugetraut hätte. Er zog gar eine Staubwolke hinter sich her. Cay kommentierte den Ansturm nur mit einem perplexem „Wow“. Bellas Mundwinkel zuckten,

    „Scanner, meine Süße.“

    Nur ein kurzes Aufblitzen in Absols Augen. Dann bewegte sich die Welt für sie wie in Zeitlupe. Mit einer weit ausholenden Bewegung zielte Shardrago auf ihre Schläfe, doch er konnte noch so schnell, noch so rasend sein – gegen Scanner würde ihm der Treffer verwehrt bleiben. Für den Höhlendrachen sowie die Zuschauer musste die Reaktion übernatürlich aussehen. Sicher tat es das, denn genau dies war der Fall. Die Ausweichbewegung ging dem Schlag des Angreifers gar voraus. Sprich, die Raubkatze reagierte noch bevor ihr Gegenüber agierte. Nicht nur bei diesem Schlag, sondern auch beim nächsten und übernächsten. Shardrago wütete und fuchtelte wild mit Armen und Schweif, aber dennoch nicht unbedacht auf Absol ein. Die betrieb stets nur den Minimalaufwand, um den Schlägen zu entgehen, duckte sich sprang hoch oder hechtete aus der Reichweite ihres wütenden Gegners. Lange konnte Bella das jedoch nicht so weiterspielen. Scanner würde nach zu häufiger Anwendung wirkungslos.

    Glücklicherweise eröffnete das Drachenpokémon ihr gerade ein Fenster, um in die Offensive zu wechseln. Schon im Ansatz erkannte die Agentin, dass der kommende Schlag der letzte dieser Angriffswelle sein würde. Shardrago holte viel weiter aus und sammelte deutlich sichtbar alle Energie, die er mit Kraftkoloss noch aufbringen konnte. So konnte sie bedenkenlos einen Sprung nach hinten anordnen, ohne befürchten zu müssen, dass der Gegner doch erneut nachsetzte. Shardrago wuchtete seine geballte, unverletzte Faust über den eigenen Kopf als hielte er einen Morgenstern. Wie ein solcher Schlug er dann ein – leider nur in den Boden. Wieder daneben. Die Erde zitterte ehrfürchtig vor seiner Kraft, Sand wurde aufgeschlagen und im darunterliegenden Festboden taten sich Risse auf.

    „Nochmal Psychoklinge!“, hallte es von der anderen Seite über das Schlachtfeld. Gerade gab der Sand die Sicht auf eine schneeweiße Gestalt wieder frei, die nach ihrem Sprung noch nicht einmal gelandet war. Dennoch konnte sie in eine fließende Bewegung übergehen und ihren Kopf für den Angriff nach vorne werfen. Im gleichen Atemzug stellte sich heraus, dass Bella sich zum ersten Mal geirrt hatte. Da Shardrago das Fellknäul langsam einschätzen konnte, war noch nicht einmal ein Befehl von Sandra nötig. Er grub eine Klaue tief in den bröckeligen Boden zu seinen Füßen. Mit nur einer Hand brach er einen Felsbrocken heraus, der noch größer als Absol, ach was, als er selbst war und wuchtete ihr diesen ohne viel Federlesen entgegen. Selbst nach all ihren Trainingsstunden hatte Ryan nicht gewusst, dass Shardrago Stärke beherrschte.

    Auf halbem Weg traf das Gestein dann mit einer lilafarbenen Energieklinge zusammen. Die Drachenmeisterin musste weiter proaktiv bleiben. Absol war bereits schwach und würde ihren Attacken nicht mehr lange entgehen können. Sie schaffte es geradeso, ihres Tatendrangs und der Verlockung der Gelegenheit zum Trotz, nicht kopflos zu werden und zu forsch zu agieren. Ihr Partner hatte für diesen kurzen Moment den Vorteil des festen Standes und konnte somit schneller agieren. Wenn sie jetzt…

    Eine lilafarbener Lichtblitz blendete Sandras Augen und beendete ihr Taktieren. Nach einem Blinzeln erkannte sie auf einmal zwei Felsen in der Luft. Nein, das war falsch. Jener, den Shardrago noch auf Absol geschleudert hatte, war einfach in der Mitte zerteilt worden. Sauber und ohne Risse. Und nach dem nächsten Blinzeln bohrte sich die verursachende Klinge in Shardragos Torso. Der beugte den massigen Schädel nach vorn und röchelte einen wütenden, aber gleichzeitig erbärmlichen Schmerzensschrei. Er war an seiner empfindlichsten Stelle getroffen worden. Psychoklinge hatte in die weichen Bauchschuppen geschnitten und ihre Energie sich tief in das darunterliegende Fleisch sowie die Organe entladen. Die daraus resultierende Pein war grausam, kam einem glühenden Messer gleich, das den Körper öffnete. Dem Einschlag folgte zudem eine dichte Rauschschwade und Sandra entwich ein entsetztes Keuchen.

    „Meine Fresse, was geht da ab? Die Ladys eskalieren ja komplett! Und Absol gewinnt mehr und mehr an Boden!“

    Das Aufschreien der Menge pflichtete dem Stadionsprecher bei. Wie die da wüteten, konnte einem ja Angst machen. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, da unten lief nicht länger ein Wettkampf, sondern eine persönliche Fehde. Tja, in der Tat besser wusste das nur eine Handvoll im Stadion.

    „Ich hab´s ja gesagt – niemals Bella abschreiben!“, erinnerte Cay mit einen merklichen Maß an Genugtuung. Shardrago hielt sich die getroffene Stelle, umklammerte den eigenen Torso regelrecht, um den Schmerz niederzukämpfen, während Absol zwar mit stark eingebüßter Anmut, dafür aber unbeschadet direkt vor ihrer Trainerin landete.

    „Die Arenaleiterin hat auf die Entscheidung geprescht und ist bitterböse bestraft worden. Ist das hier die Wende?“

    Selbige knirschte mit den Zähnen. War sie letztlich doch zu forsch gewesen? Hatte ihr Urteilsvermögen sie im Stich gelassen?

    Bella wirkte sehr zufrieden, aber von Erleichterung, neu gewonnener Euphorie oder wachsender Zuversicht – irgendetwas, das vermuten ließe, sie habe sich nicht all die Zeit in Sicherheit gewogen, suchte man vergeblich in ihren bernsteinfarbenen Augen. Ihr Absol, wirkte allerdings weniger souverän. Sie war definitiv angeschlagen, doch lange nicht besiegt. Der Spieß war umgedreht. Nun würde sie ihn in Sandras Brust stoßen.

    „Machen wir weiter mit Klingensturm“, befahl Bella mit einem Fingerschnippen. Wieder wurde das schwarze Horn geschwungen. Diesmal allerdings umspielte eine Windböe den felinen Körper der Unlichtkatze. Sie schloss sich den diesmal in Perlweiß erstrahlenden Lichtklingen an als sie gen Shardrago gesandt wurden. Sandra biss sich auf die Unterlippe. Auf einmal wart sie hier in die Defensive forciert und musste einen Weg finden, Absols Angriffe zu unterbinden. Die Kräftigung durch Schwerttanz war von dauerhafter Natur und würde die ohnehin starken Attacken unerbittlich machen. Noch einen weiteren Treffer des Kalibers von gerade eben musste sie unbedingt vermeiden. Ruhig bleiben. Erstmal galt es Zeit zu gewinnen. Nicht zu weit vorausdenken. Der nächste Zug, immer nur der nächste und vielleicht übernächste Angriff – mehr zählte gegenwärtig nicht.

    „Abwehren mit Drachenklaue!“

    Zu ein Ausweichmanöver war der kobaltblaue Drache gerade nicht imstande, aber seine Krallen konnte er immer einsetzen, sofern er noch in der Lage war, aufrecht zu stehen. Wenn auch die linke nur sehr bedingt. Sei es drum, dann wehrte er eben ein paar der Klingen mit dem Handrücken ab. Mit einem energischen Grollen ließ Shardrago seine Primärwaffen von einer blauen Energie ummanteln und spreizte die Beine rasch. Klingensturm überwand die Distanz schnell. Aber etwas war noch schneller.

    „Mit Ruckzuckhieb auf das Standbein.“

    Inmitten des Wirbels, der auf Shardrago zuhielt, preschte auf einmal Absol voran, hechtete durch den eigenen Klingensturm hindurch und zog dabei einen Schleier hinter sich. Das menschliche Auge konnte kaum folgen. Geschweige denn, dass Sandra darauf zu reagieren vermochte. Bella hatte sie kalt erwischt. Ein Schlag auf das Knie ließ selbiges einknicken, sodass es zu Boden ging, während Absol an ihm vorbei hastete. Shardrago wollte sich gern umdrehen und den Schmerz vergelten. Ihr am liebsten das Fell abziehen! Dazu gab es keine Gelegenheit, denn schon einen Herzschlag später prasselten gleißende Lichtklingen auf ihn nieder. Er wurde unbarmherzig malträtiert, als schlugen fünf Feinde gleichzeitig auf ihn ein. Klingensturm war allerdings nicht stark genug, um seine dicke Haut zu durchdringen. Stattdessen detonierte jede einzelne von ihnen auf seinem Schädel, seinen Gliedmaßen, den Flügeln und vor allem auf dem verwundeten Torso. Vor dieser Zerstörungskraft gab es kein Entkommen, kein Verstecken und keine Zuflucht. Mit jedem Schlag, den Shardrago einstecken musste, wich er einen Schritt zurück und hasste sich für jeden davon selbst ein bisschen mehr. Aber er konnte diesem Klingenhagel einfach nicht standhalten.

    „Was sind Bella und Absol für zwei Schlitzohren? Der Abwehrversuch von Shardrago wurde gekonnt durchbrochen und jetzt kassiert er die volle Breitseite!“

    Einige im Publikum jubelten, anderen raunten erstaunt und verblüfft und wieder andere schlugen fast entsetzt eine Hand vor den Mund. Cay übersah in seiner Begeisterung selbst die tragische, zu brechen drohende Willenskraft des Höhlendrachen, der sich verzweifelt auf den Beinen zu halten versuchte. Die meisten Pokémon wären längst wie ein Blatt im Wind davon gefegt und einer gnädigen Ohnmacht übergeben worden. Aber er war nicht wie die meisten. Er war besser, stärker. Und doch nicht stark genug.

    Sandra rief nach ihm, tat ihr Möglichstes, dass er ihre Anwesenheit, ihren Beistand spürte, damit er an Sicherheit zurückgewann. Nur was würde es nützen, stand Absol doch im toten Winkel ihres Drachenpartners, der in diesem Moment als Schild gegen ihre eigene Attacke diente und obendrein seine ungeschützte Rückseite entblößte. Bella schmunzelte und ließ sich zum ersten Mal in diesem Turnier zu einer euphorischen Geste hinreißen. Sie hob einen Arm und warf eine flache Hand mit gespreizten Fingern nach vorn, als wolle sie einen Schlag mit Absols Pranke imitieren. Genau in diesem Moment traf die letzte Klinge direkt auf Shardragos Kinn. Er taumelte ein weiteres Mal. Doch nun fand er mit seinen Beinen keine Balance mehr. Er fiel.

    „Nachthieb!“, raunte die Agentin unheilvoll, als habe sie nur darauf gewartet, dies anordnen zu können. Ihre Partnerin machte einen kurzen Satz und sprang anschließend im hohen Bogen über Shardrago. Eine Klaue wurde von reiner Dunkelheit umhüllt. Ein Hauch, ein Flüstern, so glaubte der ein oder andere, lag in der Luft. Es mochte Einbildung sein oder doch real – niemand wusste es zu beantworten. Niemand außer Shardrago. Der vernahm das unheilvolle Versprechen einer finsteren Macht, dessen er sich später nicht mehr erinnern würde, dass er leiden würde. Er befand sich bereits in Rücklage, als Absol die Pranke auf seinem Schädel platzierte. Das Drachenpokémon wurde mit solcher Gewalt gen Boden geschmettert, dass er nach dem Aufprall zusammen mit aufgeschlagenem Sand nochmals durch die Luft wirbelte, wie eine Sprungfeder. Viele waren sich in diesem Augenblick sicher, das Brechen von Knochen vernommen zu haben. Shardragos Augen rollten in den Kopf, sodass nur noch Weiß darin zu erkennen war. Der Kiefer hing weit offen, als ob er schreien wollte, doch die Ohnmacht kehrte zu schnell ein, sodass er stumm blieb. Als der kobaltblaue und blutrote Körper schließlich im Sand liegen blieb, rührte sich wahrlich nichts mehr. Kein Zucken, Zittern, Grollen oder Jammern. Er war besiegt. Zum ersten Mal, seit er seinen Weg mit Sandra teilte. Das Resultat wurde offiziell gemacht und Cay hielt es lautstark fest.

    „Shardrago ist K.O., Absol gewinnt! Was war das für ein Comeback von Bella Déreaux!?“


    Ryan schürzte die Lippen und quittierte das Ergebnis mit einem Stoßseufzer. Weder er noch irgendjemand sonst im Stadion hatte diese Wende zu irgendeinem Zeitpunkt kommen sehen, obwohl gerade gegen jemanden wie Bella immer mit der Gefahr gerechnet werden musste. Dass sie nach einem so schweren Erstschlag nicht nur in das Match zurückfinden, sondern es so dominieren konnte, ohne einen weiteren Treffer einzustecken, hätte er ihr nicht zugetraut.

    „Bitter“, kommentierte Andrew bloß ernüchtert. Es hatte nicht viel gefehlt. Nur ein weiterer, vergleichbarer Treffer wie zu Beginn hätte wohl seinerseits Absol auf die Matte geschickt. Doch Bella hatte das überlegene Geschick ihres Pokémons clever ausgespielt und offengelegt, dass es Shardragos Kraft doch nicht so unterlegen war, wie man anfangs beim Aufeinanderprallen von Drachenklaue und Psychoklinge hatte vermuten dürfen. Ob Bella sie alle bewusst getäuscht hatte?

    „Alles gut, sie packt das“, beschwor Ryan sogleich und verschränkte die Arme. Das Ergebnis ward zur Kenntnis genommen und musste hiermit unverzüglich abgehakt, hinter sich gelassen werden. Zu hadern würde Sandra nur schaden statt helfen. Sie musste sich darauf besinnen, was sie bis hierhin erreicht, beobachtet und gelernt hatte. Hoffentlich befand sich unter diesen Dingen auch der Schlüssel zum Sieg über dieses verdammte Absol.

    Sein Blick war jedoch nur begrenzt zuversichtlich. Eher lag darin eine Konzentration, als ob er selbst kämpfen würde. Dies war natürlich nicht der Fall, aber war das Match für ihn dennoch unsagbar wertvoll. Entgegen seiner eigenen Worte wusste Ryan nämlich ganz genau um die Möglichkeit, dass er ihr selbst ebenfalls noch gegenüberstehen könnte. Auch nach dem Turnier! Für diesen Fall wollte er so viel von wie möglich von ihr gesehen haben. Von ihren bisherigen Kämpfen hatte man lediglich lernen können, dass sie immens stark und skrupellos war. Mindestens eines davon hatte jeder von ihnen ohnehin voraussetzen sollen.

    So er am Vorabend zwar noch den Wunsch nach genau diesem Kampf geäußert hatte, hoffte er nun dennoch, nein, vertraute darauf, dass Sandra ihrerseits dieses letzte Viertelfinale nochmals herumreißen würde.


    In den ersten Momenten nach Shardragos Niederlage dachte die Drachenmeisterin nicht eine Sekunde an den weiteren Verlauf des Matches. Auch wie sie weiterkämpfen sollte oder wie ihre Chancen ab hier standen waren absolut irrelevante Fragen. Um ein Haar hätte sie dem Impuls nachgegeben, auf das Kampffeld zu treten, um nach Shardrago zu sehen. Jedoch hielt sie sich zurück, noch bevor sie überhaupt einen Fuß erhoben hatte. Sie wusste selbstverständlich, dass bei solchen Turnieren das Verlassen ihrer Trainerzone unweigerlich in Disqualifikation mündete. Eine unnötige wie gefühllose Regelung, wie tatsächlich nicht wenige in der Szene befanden – sie selbst eingeschlossen. Ihr Drachenpartner hatte sehr aufopferungsvoll gekämpft und verdiente höchste Anerkennung. Mehr als diese auszusprechen, wollte Sandra jedoch um Vergebung bitten.

    Es war ihr Versagen. Ihres allein. Sie hätten Absol besiegen können. Alle Vorteile hatten sich bei der Arenaleiterin befunden. Es hatte in ihrer Hand gelegen. Doch ihr Urteil war getrübt, ihre Strategie fehlerhaft und ihre Entscheidungen schlicht und einfach falsch gewesen. Der erste Kräftevergleich hatte sie in dem Glauben gewogen, Absol jederzeit überwältigen zu können und somit zu einer Frontal-Taktik verleitet. Aber die Schattenkatze war einfach flinker und geschickter und Bella zudem cleverer gewesen. Sie hatte ihre Fehler gnadenlos bestraft. Dass Shardrago die Quittung dafür erhielt, war alles andere als gerecht, doch dafür würde sie sich erst später entschuldigen können. In den Klauen der Ohnmacht wären die Worte fehlplatziert. Sandra sprach sie dennoch zumindest in Gedanken und rief das geschlagene Pokémon zurück. Einmal eingesogen verstärkte sich ihr Griff und den Ball, verkrampfte beinahe. Sie hatte alle Karten in der Hand gehabt und war am Ende dennoch unterlegen. Aber Shardragos Arbeit würde nicht umsonst gewesen sein. Sie würde sich nicht entmutigen lassen, sondern aus seinem Opfer Kraft schöpfen. Genug Kraft, um Bella zehn Mal zu schlagen.

    „Bella Déreaux kann selbst mit Johtos stärkster Arenaleiterin mithalten und liegt nun sogar vorn. Für die ist das natürlich ein gewaltiger Dämpfer, nachdem sie den Kampf zunächst diktiert hatte. Die Frage ist, mit welchem Pokémon will sie das jetzt nochmal rumreißen?“

    Überflüssig war diese Frage. Da gab es für sie nur eine Wahl. Der Pokéball wurde durch einen anderen ersetzt. Sandra bewegte sich so kraft- und schwungvoll, dass ihr Umhang aufschlug und den Wind einfing. In ihrer Arena hatte sie niemals und ihre Herausforderer nur höchst selten mit so viel Energie ein Pokéemon befreit. Eine längliche Gestalt entsprang dem grellen Lichtschein und schraubte sich wie von einer Windböe getragen in die Höhe. Als das blau- weiße Schuppenkleid präsentiert wurde, sang sie ihren Namen, als habe sie seit Ewigkeiten keine frische Luft mehr geatmet und streckte sich anmutig im Sonnenlicht.

    „Dra-go-nir“, echote es durch das ganze Stadion, wie vom Klang einer Triangel begleitet.

    „Sandra hat sich für ihr bekanntestes Pokémon entschieden. Das will ich sehen, wie Absol in seinem Zustand noch so einen Gegner kleinkriegen will“, kommentierte Cay und lehnte sich so weit vor, dass er fast auf die Sitzränge unter ihm zu stürzen drohte. Der Schiedsrichter warf einen prüfenden Blick in Richtung der Schattenkatze. Er war in Momenten der Unvernunft seitens der Trainer bemächtigt, ein Pokémon für kampfuntauglich zu erklären und den Trainer zu zwingen, es zu ersetzen. Eine radikale Regel, die bei falscher Anwendung den Ausgang eines Matches weitreichend beeinflussen konnte. Daher war man äußerst vorsichtig mit diesem Urteil und zeigte diese Konsequenz sehr selten.

    Absol war schwach und geschunden, stand aber auf sicheren Beinen und hatte keine offenen Wunden zu beklagen. Daher entschied der Unparteiische auch in diesem Fall, von dieser Regel keinen Gebrauch zu machen und eröffnete die zweite Runde.

    „Absol, noch einmal Schwerttanz!“

    Sandras Brauen waren sicher nicht die einzigen im Stadion, die sich skeptisch und alarmiert zusammenzogen. Bella wollte wohl den Druck erhöhen und mit einer Einschüchterung verhindern, dass die Drachenmeisterin Tempo machte. Unter Berücksichtigung von Absols Zustand war dieser Zug mehr als vertretbar. Allerdings war Dragonir nicht darauf angewiesen, in den Nahkampf zu gehen. Genaugenommen würde sie ihn sogar meiden. Selbst ohne eine weitere Stärkung von Schwerttanz könnte bereits ein Angriff desselben Kalibers wie dieser Nachthieb von gerade eben ausreichen, um Sandra aus dem Turnier zu werfen. Ließ sie Bella gewähren, so war dies ganz sicher. Es gab keinen Grund, das zuzulassen.

    „Unterbrich Absol mit Drachenpuls!“

    Mehr als das erhoffte sie gar nicht zu erreichen. Die Agentin hatte mit Sicherheit eine Kontertaktik zurechtgelegt. So entblößt und ungeschützt würde sie niemals einfach so Schwerttanz befehlen.

    Vor Dragonirs Maul wuchs ein Energieball von blau- violetter Farbe heran. Man konnte meinen ein von Blauflammen verziertes, alptraumhaftes Abbild seiner selbst materialisierte sich daraus und raste mit weit geöffnetem Schlund auf die Raubkatze zu. Gerade hatten sich die Lichtschwerter um diese gebildet, doch die Kräftigung hatte noch nicht eingesetzt. Bella musste abbrechen. Das tat sie allerdings schmunzelnd, statt zähneknirschend.

    „Kraftreserve.“

    Die Schwerter zerstreuten sich in feinen Lichtstaub. Gleich darauf sammelte sich jedoch eine andere Energie um das Absol. Faustgroße Energiekugeln lösten sich aus ihrem schneeweißen Fell, begannen um sie herum zu tanzen und glimmten dabei in einem eisigen Blauton. Sandra ahnte Böses.

    In rotierender Ringformation wurde die Kraftreserve dem Strahl aus Drachenenergie entgegengeschleudert. Dieser wirkte sporadisch um ein Vielfaches zerstörerischer. Umso größer war die allgemeine Verblüffung als die Lichtkugeln einen Stoß durch das gesamte drachenartige Gebilde sandten, der es binnen weniger Sekunden vom Kopf beginnend bis zu seinem Ursprung von diversen dumpfen Knallern zerfetzt wurde. Mehrere Löcher wurden in den „Körper“ gesprengt, die den Drachenpuls buchstäblich in Stücke rissen und die Überreste einfach verpuffen ließ, wie ein erstickendes Feuer, das ein letztes Mal aufflackerte.

    „Was ist denn da los?“; fragte Cay völlig baff. Der ahnte ganz offensichtlich nicht, was Sandra ahnte.

    „Drachenpuls wurde im Keim erstickt. Das ist doch nicht normal.“

    Nein, das war es sicher nicht. Es sei denn…

    Sandra rümpfte die Nase und besah sich der äußerst zufrieden wirkenden Bella.

    „Die Kraftreserve war vom Typ Eis, richtig?“, erkundigte sie sich fast gänzlich nüchtern. Nur ein winziger Hauch Frust war darin erkennbar. Die Agentin zuckte bloß schmunzelnd mit dem Schultern. Das reichte ihr als Antwort. Kraftreserve war nicht unbedingt das, was man schweres Kaliber nannte. Allerdings konnte die Energie, welche diese Attacke ausstrahlte von wirklich jedem Pokémon-Typen sein. Ganz gleich, welchem der Anwender angehörte. Da Drachenpuls derart zerstreut wurde, musste es sich in Absols Fall um eine Eis-Kraftreserve handeln.

    Bella hatte sie sehr bewusst als Konter zu Dragonirs Angriff gewählt, obwohl sie damit gerechnet haben musste, dass sie zwar genügen würde, um eben diesen zu negieren, aber auch nicht mehr. Um selbst einen Treffer zu landen, musste dann doch schon mehr her. Dennoch stellte diese Demonstration Sandra vor neue Probleme. Drachenpuls war nach Hyperstrahl die stärkste Attacke, die Dragonir aufbieten konnte. Letzteren konnte sie nicht einfach so ohne Weiteres anordnen, da Bella jederzeit mithilfe von Scanner entkommen und obendrein einen absolut verwundbaren Gegner vorfinden würde. Zudem wurde Sandra das Gefühl nicht los, dass sie gar noch mehr als Scanner zu überwinden hatte. Dass Drachenpuls nun ebenfalls ganz einfach ausgehebelt werden konnte, schränkte die Arenaleiterin in sehr unangenehmem Maße ein. Das schien auch Cay zu realisieren.

    „Sandra muss sich schleunigst was einfallen lassen. Absol aus sicherer Distanz zu beschießen scheint schon mal nicht der Weg zu sein. Aber ob´s so schlau wäre, in den Nahkampf zu gehen?“

    Ganz bestimmt nicht. Diese brutalen Klauen könnten mit ein paar Versuchen Dragonirs Körper in der Mitte durchtrennen, wenn die Raubkatze es darauf anlegte. Allerdings schien Bella nicht vorzuhaben, weiter passiv zu bleiben, bis die zündende Idee gekommen war. Sie machte eine elegante Geste, die sie glatt von Ryans Guardevoir abgeschaut haben könnte und warf einen Arm nach vorne.

    „Absol Schätzchen, Klingensturm los!“

    Ein scharfer Wind pfiff den Trainerinnen sowie den Zuschauern in den vorderen Reihen um die Ohren. Er hatte das geschwungene Horn des Unlichtpokémons zu seinem Zentrum gemacht. Mit einer Schwungvollen Kopfbewegung formte der Wind sich zu mehreren Klingen, die auf Dragonir hagelten. Nun war es Sandra, die verschmitzt grinste.

    „Schnell, hüll dich in Windhose!“

    Auch die Drachenschlange wuchtete den Kopf erst zur Seite und anschließend in die Höhe. Wie schon gegen Audrey umgab sie sich schützend mit der eigenen Attacke. Doch im Angesicht von Absols Kraft würde sie hier mehr Feingefühl benötigen.

    „Jetzt vorwärts, stoß direkt dazwischen!“

    Bei diesem Befehl schlug Sandras Herz bis zum Hals. Das war noch gewagter als die Kombination aus Drachenwut und Nassschweif. Wenn sich Dragonir hier nur um Zentimeter verschätzte, würde das böse enden. Vielleicht sogar mit dem endgültigen Aus. Aber sie würde diesen Zug nicht anordnen, wenn sie ihr den Erfolg nicht zutrauen würde. Sie vertraute sogar fest darauf.

    Bellas Augen wurden schmaler und sie entschied diesmal, abzuwarten. Absol war nicht mehr in dem Zustand, in dem sie dem Gegner ganz nach Belieben in die Parade fahren konnte. Außerdem war sie neugierig, was die Drachenmeisterin vorhatte.

    Die Windhose schlängelte sich gerade rechtzeitig in eine horizontale Position, folgte jeder feinen Muskelbewegung Dragonirs überaus präzise. Die Klingen zischten scharf an ihr vorbei, verfingen sich ein Stück weit in dem Wirbel und änderten ihre Richtung. Eine wurde geradewegs gen Himmel geschossen, während die nächsten beiden fast senkrecht in den Boden einschlugen. Die nächsten drei, vier Stück jedoch nahm Dragonir noch enger, noch riskanter, neigte zudem den Körper etwas weiter in eine höhere Flugbahn. Und so fing Windhose den Klingensturm gänzlich auf, ließ ihn in einem Wahnsinns Tempo um ihren Körper rotieren.

    „Jetzt seht euch das an!“, riet Cay sehr laut und wie immer äußerst begeistert. Bei den Kunststückchen, die diese zwei Trainerinnen hier aus dem Hut zauberten, war das aber absolut nachvollziehbar.

    „Dragonir hat den Klingensturm aufgefangen hält ihn unter Kontrolle! Wie krass ist das denn?“

    Zur Hälfte richtig. Sandra erkannte jedoch rasch, dass die Klingen nicht wirklich von der Drächin beherrscht wurden, sondern sich diese ganz einfach im Wind verfangen hatten. Sie könnten jeden Moment wieder entgleiten und zu gefährlichen Querschlägern werden. Tatsächlich blieb es nicht beim Konjunktiv – die Ausrichtung, die ihre Freundin mit ihrem länglichen Körper gewählt hatte, sorgten für einen gefährlichen Beschuss direkt in Absols Richtung. Die würde es ebenso wenig eingestehen, wie ihre Trainerin, aber beide erschraken fast, als die Luftklingen plötzlich auf sie zu schossen. Dennoch war dieser Zufallsangriff – mindestens zur Hälfte war es einer – zu unpräzise und das Unlichtpokémon konnte ohne größere Schwierigkeiten ausweichen. So würde das nichts werden. Also entschied Sandra sich für den direkten Weg.

    „Jetzt Drachenrute!“

    Der schlangenartige Körper streckte sich gerade, um ja nicht unbedacht weitere Luftklingen von sich zu stoßen. Ihre ungezügelte Kraft war gerade viel zu wertvoll. Dragonir schoss auf die weiße Raubkatze zu und ließ bereits ihren Schweif blau aufglimmen. Trotz der geradlinigen Flugbahn lösten sich weitere Klingen und schossen unberechenbar über das Kampffeld – zwei davon zufällig gefährlich präzise in Absols Richtung. Bella befahl einen Ausweichsprung, wollte Scanner hierfür noch nicht verwenden. Es gelang gerade so. Der aufgeschlagene Dreck schlug ihr noch entgegen und der Beschuss ließ ihr nicht allzu viel Bewegungsfreiheit. Das ließ der Agentin nur eine Option.

    „Schlag zurück mit Nachthieb!“

    Schattenenergie waberte wie ein Nebel um die tödlichen Klauen. Ein Schlag wie zuvor gegen Shardrago würde garantiert nicht gelingen, aber zumindest dagegenhalten konnte sie hoffentlich. Sie war niemals von so einer Attacke getroffen worden – vermutlich war das noch nie irgendjemand – und konnte daher die Kraft dahinter nur schwer einschätzen.

    Dragonir vollführte einer Rolle, ähnlich wie bei der Wasserrad Variante ihres Nassschweifes. Die beiden Kristallkugeln am Schwanzende gingen auf Absol nieder wie eine Peitsche. Die Schattenkatze wuchtete ihre Pranke empor und schlug direkt dagegen, während Luftklingen, die sie vor wenigen Momenten noch eigens auf Dragonir geschleudert hatte, haarscharf an ihr vorbeizischten. Der Aufprall bot ein Lichtgewitter aus Blau und Schwarz. Obwohl der aufgefangene Klingensturm verfehlt hatte, bekam Absol die Druckwelle unter sich zu spüren. Jede einzelne sandte einen Stoß durch den ungeschützten Bauch und malträtierte die Organe. Ihre Klaue brannte. Die Gelenke protestierten mit höllischen Schmerzen gegen den Kraftakt, mit dem sie sich gegen an Angreifer stemmte. Dragonir fühlte sich unterdessen, als habe sie in einen Scheiterhaufen geschlagen und jaulte gepeinigt. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Luft und trennte die Kontrahenten voneinander. Das Drachenpokémon konnte sich in der Luft ohne Weiteres neu ausrichten, doch brannten ihre Muskeln auf einmal enorm. Absol wurde wild durch die Luft geschleudert, landete aber dank seiner ausgezeichneten Instinkte fest auf den Pfoten. Der linke Hinterlauf knickte jedoch ein und sie jammerte gequält. Der Körper hatte seiner Grenzen fast erreicht.

    „Durchhalten, meine Süße“, wisperte Bella gerade laut genug für ihre und auch nur ihre Ohren. Das gesamte Becken zitterte und fühlte sich an als könnte es gleich zerbrechen wie Glas. Doch bislang war es nur gesprungen, nicht zersplittert. Zusammenreißen, konzentrieren. Wo war Dragonir? Um sie herum nur Rauch und aufgewirbelter Staub. Die Sichtweite war fast Null.

    „Drachenwut!“, hallte es aus der Ferne und mitten aus der Rauchwand tauchte plötzlich ein blauer Kopf mit einem spitzen Horn aus, um blaue Flammen auf sie zu speien. Absol sprang aus eigenem Reflex, versuchte dem zu entgehen. Sie konnte ihre eigene Trainerin nicht finden und diese folglich auch den Gegner nicht sehen. In solchen Momenten musste sie eigenmächtig reagieren und das wusste sie genau. Die Drachenwut streifte ihre Flanke nur ein wenig, doch direkt darauf folgte eine flotte Drehung, dank der eine weitere Drachenrute genau auf diese Stelle platziert werden konnte. Dem Unlichtwesen wurde die Luft aus dem Körper gestoßen und sie selbst über den Sand gefegt. Das hätte ebenso ein rollendes Geowaz gewesen sein können, dessen Bahn sie unvorsichtigerweise gekreuzt hatte. Es war mehr einer Portion Glück als ihrer Zähigkeit zu verdanken, dass sie auf den Pfoten landete und rasch den Gegner erneut fixieren konnte. Wenn sie Dragonir nochmal aus den Augen verlor, wäre das ihr Ende.

    Wobei jenes nicht unbedingt daran geknüpft sein musste. Die Drachenschlange war bereits wieder direkt vor ihr und ließ einen Wasserschwall um ihre Schweifspitze peitschen. Im Normalfall wäre es aus Sandras Sicht unklug, den Nahkampf zu suchen, aber hier bot sich die Gunst der Stunde. Absol würde den Schlägen Dragonirs nicht lange standhalten können und das musste auch Bella klar sein. Folglich war sie zu eben jenem Befehl, den sie nun erteilte, geradezu gezwungen.

    „Scanner!“

    Ohne den Einfluss dieser Technik wäre die Schattenkatze nie im Leben noch zu diesen Bewegungen fähig. Sie duckte sich grazil unter dem Schweif, der erneut auf die Flanke zielte, hinweg und setzte in einer fließenden Bewegung zu einem Sprung an, um einem nachgezogenen Wasserschwall, der wütend nach ihr schlug, auszuweichen.

    Immer wieder kreischten mal vereinzelte Zuschauer und mal die große Masse auf, wenn die befürchteten, dass jetzt der entscheidende Schlag zwischen diesen beiden Pokémon fiel. Aber diese Entscheidung wurde weiter und weiter hinausgezögert und irgendetwas sagte Sandra, dass Scanner hier nicht einmal als Rettungsanker hätte herhalten müssen. Sie musste das übervorsichtige Denken unterbinden. Sie hatte die Zügel in der Hand. Und sie war es, die hier auf die Entscheidung, der man hier so entgegenfieberte, preschte. Wenn sie so weiter alles zerdachte, geriet sie nur ins Zögern, wenn Mut gefragt war. So etwas nannte man im Volksmund gerne Angst vor dem Gewinnen. Nur hatte Sandra die noch nie zuvor gefühlt. Die Spannung könnte der Grund sein. Die war für den gemeinen Zuschauer mittlerweile gar nicht mehr auszuhalten. Besonders für Stadionsprecher Cay nicht.

    „Déreaux ist gewaltig unter Druck. Absol kann nur noch ausweichen, aber wo ist die Lücke, um nochmal zurückzuschlagen?“

    Die würde Bella vergeblich suchen. Stattdessen sah nun die Drachenmeisterin auf der Gegenseite ihre Chance, jetzt, da Scanner aufgebraucht war und für kurze Zeit nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Wann wenn nicht jetzt sollte sie ihr schwerstes Geschütz auffahren? Die ballte die Faust und schien damit geradewegs auf Bella eindreschen zu wollen.

    „Dragonir, Hyperstrahl!“

    Nur ein klein wenig ließ sie sich zurückfallen, um einem möglichen Angriff Absols zu entgehen. Noch während sie Abstand gewann, wuchs ein goldener Energieball an der Hornspitze. Es dauerte nur wenige Sekunden bis er die nötige Größe erreicht hatte, woraufhin Dragonir in der Luft einen Looping vollführte, um sich wieder zum Gegner auszurichten. Die Kraft hinter ihrem Hyperstrahl ward bereits mehrfach beobachtet und bestaunt worden und dennoch verblüffte er die Menge noch wie beim ersten Mal. Die Lichtstrahlen der Sonne hatten sich gebündelt und brannten entlang ihres Weges alles und jeden nieder, der unglücklich genug war, im Weg zu sein. Wer direkt hineinsah, drohte zu erblinden. Zumindest fühlte es sich so an. Selbst von den Rängen aus.

    Eben dem sah sich Absol nun gegenüber. Und was konnte sie schon tun, um dieser Gewalt zu entrinnen? Scanner war in diesem Augenblick keine Option und ein Ausweichmanöver wäre jetzt so aussichtsreich, wie der Versuch, den Hyperstrahl fortzuwünschen.

    Und dennoch konnte und wollte sich Sandra keine Sekunde sicher fühlen. Das durfte man gegen Bella einfach nicht. Und im selben Moment, in dem der Befehl ertönte, erinnerte sie sich endlich.

    „Doppelteam!“

    Wie hatte die Arenaleiterin das vergessen können? Zu Beginn dieses Matches hatte Absol bereits einmal Doppelteam genutzt, um Shardrago auszuweichen. Dessen hätte sie sich erinnern, hätte es berücksichtigen müssen. Wann war ihr zuletzt ein solcher Fehler unterlaufen? Aber vielleicht…

    In Sandra keimte noch die Hoffnung auf, dass es bereits zu spät war, dem Hyperstrahl zu entkommen. Dass Absol zu erschöpft war und die Konzentration versagte. Einen Herzschlag lang glaubte sie ihre Vermutung sogar bestätigt, als die schneeweiße Gestalt in einem gewaltsamen Strom aus Licht verschwand. Doch dann tauchten plötzlich Ebenbilder dieser Gestalt auf. Zu ihrer Linken, dann zur Rechten. Manche standen in der Luft als habe man in einem Sprung die Zeit angehalten. Der Abstand zu Dragonir wurde verkürzt.

    „Bella Déraux hat ihren Kopf nochmal aus der Schlinge gezogen. Kommt jetzt der Gegenangriff?“, fragte sich Cay und schien fast darauf zu hoffen. Die Zähigkeit, die sie hier unter Beweis stellte, hätte ihr vermutlich niemand zugetraut. Doch, dass sie nebst der bisher gezeigten Dominanz auch einem ebenbürtigen Gegner so vehement Kontra zu geben vermochte, schien Sympathien zu wecken. Und das nicht nur bei Cay. Auch im Publikum schien es nicht wenige zu geben, die Absol anfeuerten, ihr Kraft zuriefen.

    Hyperstrahl erstarb. Er ließ ein keuchendes, fast bewegungsunfähiges Dragonir zurück. Bella könnte sich die Lippen lecken, so sehr freute sie sich hierauf.

    „Los, Nachthieb“, hauchte sie diesmal, wie ein flüsternder Geist, der sein Opfer verfluchte. Sandra war zum hilflosen Zusehen verdammt. Ihre Verteidigung lag nun völlig brach. Die Trugbilder Absols setzten sich allesamt in Bewegung und preschten auf die Drachenschlange zu. Die hielt sich jetzt schon müde und schwach gerade so über dem Boden und verengte die Augen scharf. Das würde nun sehr wehtun.

    Sowie die zahlreichen Absol zum Sprung ansetzten, schienen die falschen Exemplare zu verschwimmen und lösten sich gänzlich in Luft auf. Dafür hüllte eine schwarze, rauchige Energiemasse die Pranken des Originals ein.

    „Oh, ja, er kommt wirklich. Das ist Bellas große Chance. Achtung, hier kommt Absol!“, grölte es durch die Lautsprecher. Die eine Hälfte der Zuschauer befeuerte dies mit lauten Rufen, während die andere gar nicht hinsehen wollte. Melody schlug glatt eine Hand vor den Mund und auch Audrey neben ihr verzog mitfühlend die Miene als täte schon das Zusehen weh.

    Die Schattenkatze machte sich nicht die Mühe, auf den Kopf zu zielen. Die Energie wendete sie lieber dafür auf, diesen Schlag so stark und brutal wie möglich zu gestalten. Dragonir wurde in der Körpermitte getroffen und hinweggefegt, als habe ein unsichtbarer Zug sie erfasst, an dem sie noch einige Sekunden hing.

    „Dragonir!“, rief Sandra schockiert und besorgt. Ihre Freundin wurde über die Kreidemarkierung des Kampffeldes hinausgeschleudert, sodass die Drachenmeisterin sich nach ihr drehen musste. Sie zitterte jämmerlich und an der getroffenen Stelle klaffte gar eine Fleischwunde. Glücklicherweise schien die bei sporadischer Betrachtung nicht sehr tief. Die Strapazen hatten Absol anscheinend zu viel Kraft gekostet. Dennoch zog sich bei dem Anblick in der Magengegend etwas zusammen.

    „Au, das sah böse aus. Dragonir hat gewaltig eins abgekriegt.“

    Selbst Cay fuhr sich nach dieser Aktion und vor allem ihrem Resultat mit einer verkrampften Hand durch die Haare. Natürlich gehörte so etwas irgendwie dazu oder war zumindest eine Möglichkeit, mit der man rechnen musste. Ebenso selbstverständlich war es dennoch, dass keiner solche Wunden gerne sah.

    „Langsam wird das hier zum erbittertsten Match im bisherigen Summer Clash, aber von den beiden will einfach keiner nachgeben.“

    Da sagte er was. Auch jetzt wollte das niemand. Dragonir hatte den Kopf wieder erhoben und behielt Absol genau im Auge, während sie ihre verbliebenen Kräfte sammelte. Noch einmal. Nur noch einmal aufraffen. Der nächste Versuch würde gelingen und dann… dann würde Bellas zweites Pokémon auf sie warten.

    Daran verschwendete sie jedoch nicht einen Gedanken. Die unmittelbare Aufgabe stand noch vor ihr. Genaugenommen rannte sie. Geradewegs auf sie zu. Bella wollte sie gar nicht erst zu Atem kommen lassen und endlich das Ende erzwingen. Denn ihr eigenes Pokémon würde selbst nicht mehr lange durchhalten. Es war mehr als beachtlich, dass es überhaupt so lange gelungen war. Allerdings verleitete dieser Übereifer nicht selten zu Fehlern. Vielleicht war eben das wiederum Sandras Chance, Absol endlich zu schlagen.

    „Schnell, Nassschweif!“

    Dragonir war zwar noch am Boden, hatte lediglich das vordere Körperdrittel aufrichten können, schaffte es aber dennoch, den Schweif herum zu wuchten und mit einer Wasserpeitsche zuzuschlagen. Das Unlichtwesen war gezwungen, darüber hinweg zu springen. Der Kampf nahm nochmal Tempo auf. Es war der Schlussspurt, wie jedem mittlerweile klar war.

    Bella realisierte rasch, dass ihre Partnerin in der Luft überaus anfällig für Drachenwut oder gar Drachenpuls war und wollte zu diesem Zeitpunkt nicht den Konter mit Kraftreserve riskieren. Bei Absols derzeitigem Erschöpfungsgrad war die Gefahr eines Misserfolges zu hoch, weshalb sie sich für einen proaktiven Einsatz von Doppelteam entschied. Das Drachenpokémon war binnen weniger Sekunden vollständig von den Kopien umstellt.

    „Schraub dich hoch und nimm Drachenwut!“, wies Sandra an und hievte die Hand empor, als wolle sie Dragonir dirigieren. Die Wortwahl war keinesfalls willkürlich gewesen. Tatsächlich erhob sich der geschuppte Körper in Blau und Weiß in einer Spirale, sodass blaue Flammen sie ummantelten und einen Ring um sie herum auf dem Sand bildeten, als sie herabregneten. Gut die Hälfte der Trugbilder wurde davon verschlungen und verschwand im Nichts. War das echte Absol tatsächlich auf Abstand geblieben?

    „Und jetzt Drachenrute auf den Boden!“

    Dragonir verstand die Intention sofort. Sie überschlug sich mehrere Male in der Luft, deutete im Ansatz die Körperhaltung des Wasserrades an, das sie zuvor mithilfe von Nassschweif gezeigt hatte. Dabei musste sie ihren Körper so vehement zwingen, dass sie beide Augen zusammenpresste. Er war so schwer. Die Schwebe allein fühlte sich an, als hing ein Stahlos an ihr. Die Schweifspitze wurde von Drachenenergie umhüllt, flackerte für einen Moment aber bedenklich. Erst als die sonst so gesangsgleiche Stimme für einen bis ins Mark vordringenden Kampfschrei erhoben wurde, leuchteten die beiden Kristallkugeln in einem kräftigen Licht und wurden schließlich ins Zentrum des Flammenrings geschmettert. Das Ergebnis war eine Eruption in Blau. Das Feuer schlug in alle Richtungen, wurde zu einer vernichtenden Flammenwalze, die fast das gesamte Kampffeld überrollte. Sandra wandte den Blick ab und schützte die Augen mit dem Unterarm. Bella erhob sogar beide.

    „Sandra packt nochmal in ihre Trickkiste und schlägt fulminant zurück! War´s das jetzt?“

    Einige Klumpen Drachenfeuer flogen durch die Luft und regneten sanft auf den Sand des Kampffeldes. Die Abbilder Absols waren allesamt verpufft. Alle? Das war nicht richtig. Da stimmte was nicht. Dragonir und Sandra sahen sich gleichermaßen verwirrt um. Es fehlte jede Spur.

    Dann schob sich plötzlich etwas vor sie Sonne. Die Arenaleiterin blinzelte und sog scharf Luft ein, richtete ihren Blick aufgeschreckt nach oben. Da!

    „Über dir!“

    Auf der anderen Seite nur ein unheilvolles Grinsen.

    „Psychoklinge“, befahl Bella seelenruhig. Dragonir sah auf. Im Licht der Sonne erkannte sie nur die Silhouette einer sich herabstürzenden Raubkatze. Sie überschlug sich mehrfach, doch wirkte es keinesfalls panisch oder unkontrolliert. Sie sammelte lediglich so viel Kraft, wie sie aus dem Sturz mitnehmen konnte. Das Horn blitzte lilafarben auf. Die bekannte, schwungvolle Bewegung wurde diesmal nicht nur mit dem Kopf, sondern dem gesamten Körper vollzogen. Die Drächin schrie auf, bis eine sichelartige Klinge in die Luft gezeichnet wurde und sie auf der Brust traf. Da versagte ihre Stimme. Absols Landung erzeugte eine Druckwelle, die sämtliche verbliebenen Flammen um sie herum aufflackern oder gar erlöschen ließ. Doch nun brach auch sie zusammen. Die schmalen Beine knickten einfach weg und sie polterte über den schwarz verbrannten Boden. Der Lichtblitz schien sich in Dragonirs Schuppen zu brennen und zog einen heißen Knall nach sich.

    „Dragonir ist getroffen. Absol ist der Kombination aus Drachenwut und Drachenrute entkommen und Bella hat sogar noch die Lücke für den Angriff gefunden!“, hielt Cay fast schreiend fest. Schreien musste er auch, da nun wirklich jeder auf den Rängen seiner Stimme laut erhob. Ganz gleich, wer hier wem die Daumen drückte, diese Angriffsketten und kreativen Konter waren einfach spektakulär. Nur war das Zittern und Bangen – vor allem für Ryan und Andrew – noch immer nicht beendet. Der letzte Impact hatte eine Rauchwolke erzeugt, die nun beide Pokémon gänzlich einhüllte.

    „Oh Mann, oh Mann. Freunde mein Puls ist so hoch, ich brauch hier oben gleich ´nen Arzt und bitte schickt ihn rechtzeitig, bevor wir wieder was sehen können!“, scherzte Cay nur bedingt. Man hörte sehr deutlich, dass er mit den Nerven fast am Ende war. Es würde kaum verwundern, wenn er hier mehr schwitzte als die beiden Trainerinnen.

    Eben die sahen ironischerweise aus, als würde sie das Geschehen auf dem Kampffeld mit am wenigsten tangieren. Scharfe Blicke versuchten durch den dichten Rauch hindurch zu spähen, während die Atmung flach, aber rhythmisch blieb. Bella ging in diesem Moment jedes mögliche Szenario, jeden denkbaren Ausgang im Kopf durch, während Sandra dagegen an der Überzeugung festhielt, dass Dragonir wohlauf und Absol letztlich doch der Erschöpfung erlegen war. Die Schattenkatze hatte so viel einstecken müssen und sich dann obendrein noch zu diesem Kraftakt gequält. Es war kaum vorstellbar, dass sie jetzt noch…

    „Dragnonir ist kampfunfähig. Absol gewinnt!“, verkündete plötzlich der Schiedsrichter. Der war an der Seitenlinie dem Geschehen am nächsten und dennoch wollte die Drachenmeisterin ihm nicht glauben. Er musste sich irren, musste ein voreiliges Urteil gefällt haben.

    Die Sicht wurde klarer. Ein länglicher Körper in königsblauem und perlweißem Schuppenkleid stach heraus. Er lag völlig entkräftet am Boden und rührte sich nicht mehr. Daneben stand Absol mit zerzaustem Fell auf zittrigen Beinen und schwerer Atmung. Aber sie stand.

    „Somit geht das Match an Bella Déreaux!“

    Die eine Hälfte der Zuschauer jubelte frenetisch. Die andere blieb weitestgehend stumm, applaudierte aber für beide Parteien – für Bella und ihr unermüdliches Absol sowie für den Kampfgeist und die atemberaubende Show von Dragonir und der Drachenmeisterin. Der geschlagenen Drachenmeisterin.

  • Hallo,


    bei der Zusammenstellung des Viertelfinales war es schon abzusehen, dass der Kampf wieder sehr unterhaltsam wird. Und tatsächlich hast du es dieses Mal nicht nur geschafft, echte Bedrängnis auf Seiten der Guten zu zeigen, sondern die Spannung so hoch zu steigern, dass ich mich mehrmals fragen musste, ob Sandra überhaupt noch siegreich hervortreten wird. Die abwechslungsreichen Strategien der Pokémon sorgten hierbei ebenfalls für Hochgenuss und es war überraschend, dass weder das kraftvolle Shardrago noch das wendige Dragonir Absol etwas entgegensetzen konnten. Spricht auf jeden Fall für Bellas Pokémon. Ich freue mich schon auf die nächste Auseinandersetzung.


    Wir lesen uns!

  • Kapitel 55: Verwundeter Stolz


    „Es ist aus. Bella hat das Ding echt mit 2 zu 0 gewonnen und Johtos stärkste Arenaleiterin eliminiert!“

    Das Absol Weibchen ließ sich daraufhin regelrecht erlöst in den Sand fallen. Es war vorbei. Es war geschafft. Sie hatte gesiegt. Dafür hatte sie seit Jahren nicht so sehr quälen müssen. Aber auf genau einen solchen Kampf war sie von ihrer Trainerin eingeschworen worden. War von ihr ausdrücklich gewarnt und entsprechend vorbereitet worden. Selbst die Möglichkeit einer Niederlage sollte sie in Betracht ziehen, so wart ihr noch geraten. Dies hatte das Unlichtwesen jedoch abgelehnt, obgleich ein Sieg über sie ohnehin noch lange keinen Sieg über Bella bedeutet hätte.

    Eben deren Schatten legte sich grade über Absol. Im Gegenlicht der Sonne konnte sie nicht gleich feststellen, ob sie zufrieden war. Sie war zwar keines der Pokémon, die nur kämpften, um das Lob ihrer Trainer zu erlangen oder gar einzig dafür lebten, ihnen zu gefallen. Dennoch befand sie, dass sie für diese Leistung Anerkennung verdiente. Sie allein hatte zwei Pokémon der sogenannten Drachenmeisterin geschlagen und selbige aus dem Turnier geworfen. Ohne Auswechslungen und ohne fremde Hilfe. Es spielte keine Rolle, dass noch jemand anders für sie in die Bresche hätte springen können. Sie kämpfte, um zu siegen! Und sie war siegreich.

    Eine Hand legte sich sachte auf ihr Haupt und strich vorsichtig darüber. Die Berührung war fast wie die eines zaghaften Kindes, das dem Geschöpf, welchem es gerade gegenüberstand, noch nicht gänzlich traute, sich vielleicht sogar etwas fürchtete und es dennoch fühlen wollte.

    „Du Ärmste. Sieh dich an“, wisperte Bella schließlich. Und nun erkannte Absol traurige Augen, sowie ein mitfühlendes Lächeln, das immensen Stolz verriet.

    „Meine süße Kleine. Was hast du dich quälen müssen.“

    Sie strich weiter durch das schneeweiße Fell. Es war verklebt und verklumpt von Schweiß und Dreck und an einigen Stellen von Drachenfeuer versengt worden. Absol hatte für diesen Triumph ihre ganze Anmut eingebüßt. Da stellte sich durchaus die Frage, ob es das wert gewesen war.

    „Nur keine Sorge. Du wirst bald wieder strahlen und glänzen, wie eine Lady.“

    Das Absol schnaubte. Eine Lady? Das war sie ganz sicher nicht und auf Bella traf das nebenbei genauso wenig zu. Nicht selten hatte sie diese Bezeichnung mit Nachdruck abgelehnt. Die beiden waren ganz und gar aus demselben Holz geschnitzt. Sie waren Schönheiten, das stimmte. Zierden ihrer jeweiligen Art, die stets Blicke auf sich zogen. Und doch würde man kaum wagen, ihnen auch nur nahe zu kommen. Es sei denn, der Überlebensinstinkt versagte beim Gegenüber. Denn in erster Linie waren sie Kämpfer. Räuber. Und Überlebenskünstler.

    Trotz dieses Schnaubens schmunzelte Absol jedoch. Ihr Wohlergehen und ihre erhabene Erscheinung waren in den Augen ihrer Trainerin tatsächlich wichtiger als das Resultat dieses Matches. Überwogen den Kampf, vermutlich gar das gesamte Turnier. Manchmal war sie wirklich einfältig. Aber man musste sie für derlei Eigenarten einfach lieben.

    Bella kraulte sie unter dem Kinn und deutete einen sanften Kuss auf ihrem Kopf an, ehe sie erschöpfte Schritte neben sich registrierte. Sandra sah sie nicht einmal an. Sie hockte sich zu ihrem Dragonir und nahm ihren Kopf in beide Hände, damit sie sie ansah. War sie wütend? Bestimmt war sie das. Als einer der großen Titelkandidaten im Viertelfinale auszuscheiden, ohne auch nur ein gegnerisches Pokémon schlagen zu können, grenzte an Majestätsbeleidigung. Fast zumindest. Immerhin gab es hier mehrere Trainer, die alle schon einmal bewiesen hatten, dass sie gar noch stärker waren als sie. Und wie eine Königin reagierte sie auch nicht. Eher, wie eine untröstliche Untergebene einer solchen.

    „Verzeih mir“, so bat sie schließlich ihre Partnerin. Das Drachenpokémon schreckte fast auf und wollte sehr offensichtlich protestieren, wollte mindestens eine Teilschuld auf sich nehmen. Wenn sie gewannen, gewannen sie gemeinsam. Heute hatten sie gemeinsam verloren und Dragonir trug zu beidem stets einen Teil bei. Ganz gleich, wie das Ergebnis auch lautete. Schon das leichte Aufbäumen ließ jedoch einen stechenden Schmerz in der Brust aufflammen, der stattdessen ein Husten und Zittern forcierte. Dies reizte nur noch mehr verwundete Stellen ihres Körpers.

    „Sshhh, ruhig. Ruhig“, hauchte sie äußerst zart und beschwichtigend.

    „Gräme dich nicht. Der Vorwurf liegt allein bei mir.“

    Erneut wollte Dragonir widersprechen, was diesmal aber von Sandra unterbunden wurde. Selbst dabei war sie zartfühlend und vorsichtig.

    „Hör auf. Denk nun an dich. Ruh dich aus“, meinte sie nur und obwohl es nicht danach klang, war es mehr Befehl als Ratschlag oder gar Erlaubnis. Das erkannte die Drachenschlange daran, dass sie direkt im Anschluss an diese Worte in ihren Pokéball zurückgerufen wurde. Dabei hätte sie ihr noch so gern zu verstehen gegeben, dass keine Vorwürfe im Raum standen.


    Cay beendete gerade seine überschwängliche Begeisterungsrede zu diesem Kampf und richtete gleich den Blick voraus ins Halbfinale. Bei diesem Stichwort begann Sandra ihren Abgang. In diesem hatte sie nun nichts mehr verloren. Sie war raus. Das war an und für sich okay. Wenn sie das Match ehrlich beurteilte, so hatte unbestreitbar die Bessere gewonnen. Aber bei dem Gedanken, um wen es sich dabei handelte, kam ihr glatt die Galle hoch.

    „Hey, Sandra.“

    Und nun von ihr noch aufgehalten, vielleicht sogar verhöhnt zu werden, machte es nun wirklich nicht besser. Setzte ihrer Schmach eher noch die Krone auf. Dennoch hielt sie an und blickte über die Schulter. Allerdings machte Bella nicht den Eindruck, sie verspotten oder ihren Sieg weiter auskosten zu wollen. Genaugenommen beschlich Sandra rasch der Verdacht, dass sie gar nichts zu sagen gedachte. Dass sie sich lediglich über den sofortigen und vor allem wortlosen Abgang wunderte. Nur, warum sollte Sandra etwas Anderes tun? Hatte sie Bella denn etwas zu sagen? Sie selbst hatte die Agentin zuvor noch herausgefordert und war nun die Unterlegene. Was für eine Scheiße. In so einer Position schwieg man besser.

    Nicht in Verbitterung versinken. Nicht zu lange mit Vergangenem aufhalten. Es war vorüber, das Ergebnis niedergeschrieben und die Tinte getrocknet. Aber… eine Sache gab es da noch zu erledigen. Nicht seitens Bella, sondern von Sandra.

    „Gut gekämpft. Ich gratuliere.“

    Während Absol die Brauen zusammenzog, hob ihre Trainerin eine an. Logisch klang die Drachenmeisterin angesäuert und frustriert, was ganz natürlich und keinesfalls verwerflich war. Bella selbst würde nun sehr ähnlich aussehen, wenn sie verloren hätte.

    „Ihr beide“, fügte sie dann noch hinzu, wobei sie ihnen nur noch einen Seitenblick aus dem Augenwinkel schenkte. Damit war dem Anstand aber auch genüge getan und Sandra marschierte endgültig von dannen. Sie ließ eine zufrieden schmunzelnde Bella zurück. Ihr Kopfnicken deutete im Ansatz fast schon eine leichte Verbeugung an. Wohl wissend, dass ihr Respekt der Arenaleiterin keinen Pfifferling wert war.

    Der Weg zurück in den Tunnel war viel zu lang. Und obwohl sie verloren hatte, spürte Sandra doch eine Vielzahl, gar die Mehrzahl aller Augen auf sich ruhen. Der letzte Gang, ein letzter Blick auf eine große Persönlichkeit in der Szene, die an jemandem gescheitert war, den gestern noch kein Mensch hier gekannt hatte. Aber sie wurde nicht angesehen, wie eine Verliererin. Vereinzelt applaudierten die Leute ihr sogar. Und Cay schien sich gleich dazu berufen, diese Geste auszuweiten.

    „Ladys and Gentleman, ich darf um einen letzten Applaus bitten. Wie gut hat euch Sandra heute gefallen? Na los, was ist?“

    Die Massen legten ihre Schüchternheit ab und spendeten ihr Beifall als sei sie die Siegerin. Begeisterte Pfiffe und sogar Sprechchöre, die ihren Namen skandierten, ertönten vereinzelt. Und sie? Sie blickte nur geradeaus. Nicht stur oder verbissen, sondern als würde sie die Menschen um sich herum gar nicht hören. Zumindest ein bisschen zwang sie sich dazu, verbot sich eine dankende Geste oder irgendeine Form von Abschied. Sie ging einfach weiter. Und war dann schließlich weg. Im Tunnel verschwunden und würde dieses Kampffeld nicht mehr betreten.

    „Über achtzig Trainer und Trainerinnen sind gestern Vormittag hier angetreten und wir kennen jetzt die vier besten unter ihnen: Terry Fuller, Ryan Caraprso, Andrew Warrener und Bella Déraux. Und ehrlich gesagt trau ich mich nicht, einen Tipp abzugeben. Die könnten hier alle das Ding gewinnen“, fasste der Stadionsprecher die Ausgangslage zusammen. Ja, wenn man diese Namen vorlas, blieben wenig Wünsche offen. Zumindest für den neutralen Zuschauer, der Bellas Identität nicht kannte und sich allein von ihrem Können hatte begeistern lassen. Das war allerdings auch absolut vertretbar.

    „Wir machen nun eine weitere Pause. Das Kampffeld wird erneut gerichtet und dann sehen wir uns in genau einer Stunde wieder zur Auslosung der Halbfinals.“

    Wie schon zwischen den letzten beiden Runden wurde den Zuschauern etwas Freilauf gestattet, was diese dankend annahmen. So packend die Kämpfe auch waren, musste man hin und wieder mal weg von seinem Sitz. Audrey und Melody gehörten jedoch zu den wenigen, die sich keinen Zentimeter von den ihren wegbewegten. Während sich die Rothaarige noch immer vorgebeugt hatte, als würde der Kampf noch laufen – wobei der Blick sowie die vor den Mund geschlagene Hände ihre Enttäuschung verrieten –, hatte Audrey sich sprachlos in die Lehne fallen lassen und wirkte ganz simpel formuliert geplättet. Sandra hatte so gut gekämpft, so tapfer Paroli geboten und so brillante Attacken gezeigt. Am Ende hatte es nicht einmal für Bellas erstes Pokémon gereicht. So sehr man sich gegen die Möglichkeit, dass sie hier auch verlieren könnte, gesträubt und sie zu verdrängen versucht hatte, war sie immer da gewesen. Aber selbst dann hätte keine von ihnen jemals ein eindeutiges Ergebnis erwartet. Es war unter den gegebenen Umständen und ihrer Leistung sowie der von Shardrago und Dragonir zum Trotz nicht gerade leicht, das Wort „Demütigung“ zu umgehen. Aber davon würde sie sich nicht unterkriegen lassen. Sie war nicht irgendwer und das hatten die Menschen auf den Rängen ihr bestätigt. Sie war fantastisch gewesen. Eine würdige Vertreterin für die Johto-Region und alle Drachentrainer.


    Die Stimmen der Menschen hallten von Innenraum aus noch immer in den Tunnel. Oder erklang ihr Echo nur in Sandras Kopf? Was riefen sie noch gleich? Sandra… Sandra…

    Sie war gerade weit genug, sodass niemand mehr von draußen sie sehen konnte. Und ungesehen wollte sie in diesem Moment auch sein. So wie jetzt hatte sie bestimmt nie irgendjemand in diesem Stadion erblickt. Mit angezogenen Schultern und hängendem Kopf, die Fäuste vor Wut geballt, sodass sie zitterten. Der Stoff ihrer Handschuhe protestierte und drohte zu reißen. Schließlich machte sie ihrem Ärger Luft, indem sie gegen die Mauer schlug. Ihre Handkante pochte vor Schmerz und sie keuchte als habe sie einen Sprint hingelegt. Ein Schweißtropfen rann ihre Schläfe hinab und sie lugte unter verschwitztem Haar hervor, das ihr wild ins Gesicht fiel, ohne wirklich etwas anzusehen.

    Welch eine Schande. Wäre die Agentin lediglich ihre – Sandras – Feindin, so könnte sie diese Schmach ertragen. Aber gegen eine Trainerin verloren zu haben, die auf der Seite jener kämpfte, welche den Krieg der Drachen zu entfachen drohten…, das verhöhnte nicht nur sie, sondern alle Drachentrainer. Ihre Ahnen würden sich in ihren Gräbern umdrehen und die Priester daheim in Ebenholz sich vermutlich in den Teich der Drachenhöhle stürzen, wenn sie davon wüssten. Gar spürte Sandra das Verlangen, genau dasselbe zu tun. Aber das durfte sie nicht. Drachen gaben sich nicht geschlagen. Sie kehrten zurück, um ihren verlorenen Besitz, ihr Territorium, ihren Schatz und allen voran ihre Ehre zurückzugewinnen. Niemals konnte sie das auf sich beruhen lassen. Jede ihrer Zellen schrie nach Vergeltung. Und bei Rayquaza, sie würde sie bekommen.


    Eine Stunde galt es die Ungewissheit, wie die Paarungen im Halbfinale aussehen würde, zu ertragen. Ein unübliches Gefühl. In den meisten Wettkämpfen wurde mit Beginn der K.O. Phase ein Turnierbaum erstellt, sodass der nächste Gegner immer sofort feststand. Beim Summer Clash schätze man anscheinend einfach die Überraschung. Und aus Gründen der Sportlichkeit war es gar nicht mal so verkehrt, die Hürde erst dann zu kennen, unmittelbar bevor sie sich vor einem aufbaute.

    Ryan und Andrew dachten noch kein bisschen an die nächste Runde. Obwohl jeder erfahrene Trainer – und auch sie selbst – in diesem Augenblick raten würden, unnützen Gedanken an beendete Kämpfe keine Aufmerksamkeit zu schenken. Schon gar nicht, wenn sie nicht einmal selbst gekämpft hatten. Aber ebenso würde jeder, wenn er jetzt in ihrer Haut stecken würde, es dennoch nachvollziehen können. Würde verstehen, dass es unmöglich war, so rasch wieder nach vorn zu sehen und das Match zwischen Sandra und Bella einfach zu vergessen. Schon allein seiner Brisanz und seiner Spannung wegen. Und beides wurde noch weit in den Schatten gestellt von der Bedeutung dieses Kampfes. Abseits des Stadions verstand sich. Bella hatte mit ihrem Sieg eine Kampfansage an Milas Gemeinschaft gesandt. Hatte eines ihrer Mitglieder geschlagen und offengelegt, dass die Drachenmeisterin nicht in der Lage war, sie und Team Rocket aufzuhalten.

    Dies ließ sich durchaus so interpretieren, aber Ryan hielt die Agentin eigentlich nicht für so naiv und blasiert. Wann, wo und unter welchen Umständen auch immer sie in Zukunft miteinander kämpfen mochten, würden die Gegebenheiten in keiner Weise vergleichbar sein. Und unter anderen Voraussetzungen wäre Sandra sicher auch imstande, sie zu schlagen. Ohnehin war es noch sehr verfrüht für Überheblichkeit. Hier standen noch zwei Trainer aus der Gemeinschaft, die Sandra ebenfalls schon geschlagen hatten und in der Szene definitiv als die Stärkeren galten. Bevor sie nicht auch diese beiden ausgeschaltet hatte, blies sie besser nicht zu stark ins Horn.

    Andrew gewann Ryans Aufmerksamkeit, indem er lasch mit dem Handrücken gegen seinen Oberarm schlug und lenkte sie dann gleich den Flur runter. Sandra erschien genauso vor ihnen, wie sie den Innenraum verlassen hatte. Mit geraden, gleichmäßigen Schritten setzte sie ihren Weg fort. Nichts ließ ihren Frustausbruch von gerade eben erahnen, doch zeugte ihr Blick durchaus von Niedergeschlagenheit. Enormer Niedergeschlagenheit, musste man betonen. Und Verbissenheit, als wolle sie sofort eine Revanche, um ihren verwundeten Stolz zu pflegen. Sie schien gar nicht zu realisieren, was sich vor ihr befand oder wohin genau ihre Füße sie überhaupt trugen. Dessen vermochte sie auch nicht entgegenzuwirken und war daher froh, dass sich die meisten Teilnehmer bereits aus den Katakomben verzogen hatten. Da Terry während der Pausenunterbrechung wohl anderswo verweilte, war sie mit Ryan und Andrew sogar allein. Schon seltsam, wie still und leer es hier auf einmal war. Und wie schnell es sich geändert hatte. Vor nicht mal 24 Stunden war hier die Hölle los gewesen.

    Sandra stoppte. Etwas drückte sich gegen ihre Schulter und brachte sie zum Halten. Sie sah erst an sich herunter, fast überrascht, bevor sie wirklich nach vorn sah und das Hindernis erkannte. Wobei die behandschuhte Hand es eigentlich schon verriet. Ryan gefiel es überhaupt nicht, die Arenaleiterin von Ebenholz City so zu sehen. Es sah ihr überhaupt nicht ähnlich und da sie beide nun eine gewisse Zeit zumindest Teile eines jeden Tages in ihrer Nähe verbracht hatten, meinten sie auch absolut, dies auch wahrhaftig beurteilen zu können.

    Bloß was konnten sie jetzt sagen, das ihre Wunden zu salben vermochte? Das Turnier war für sie am Ende des Tages uninteressant, wenn man das große Ganze betrachtete. Die Niederlage gegen eine Feindin – nicht etwa so etwas Banales wie eine Rivalin – wog dafür umso schwerer. Es brachte sie regelrecht um den Verstand! Dessen waren sich die beiden Trainer auch bewusst. Ebenso der Tatsache, dass es jetzt keine Worte gab, die das ändern würden. Aber vielleicht tat es ja ein Blick. Eine stille Geste. Ryan klopfte ihr auf die Schulter und lächelte. Nicht mitleidig oder tröstend. Weder aufbauend noch die Niederlage herunterspielend. Es war schlicht und einfach ein kameradschaftliches Lächeln. Eines das sie daran erinnerte, dass die Stärke von Milas Gemeinschaft eben in der Gemeinschaft lag. Dass der nächste Kampf vereint geführt werden und dann auch garantiert ein Sieg gelingen würde. Um ihre Ehre als Drachenmeisterin wiederherzustellen. Zwischen ihr und Bella würde sie dann wohl noch immer als die Schwächere gelten, doch das konnte sie verkraften. Die Schande abzuwaschen war ihr um ein Vielfaches wichtiger. Und das würde sich auch in der Gemeinschaft bewerkstelligen lassen. Vielleicht sogar nur in dieser, bedachte man, wer der Feind war.

    Andrew ging einmal um Sandra herum und boxte sie kumpelhaft in die Seite. Normalerweise war ihre Haltung stramm und fest, aber jetzt musste er fast befürchten, sie damit zu Boden zu bringen.

    „Versprich mir was“, forderte er schroff und lehnte sich zu ihr vor. Er wirkte irgendwie unerwartet euphorisch. Und er wartete auch nicht ab, bis Sandra ihr Einverständnis gab.

    „Irgendwann will ich gegen dein Shardrago kämpfen.“

    Nicht nur Ryan, sondern natürlich auch er hatte während ihrer Zeit in den Wäldern ausgiebig mit dem Höhlendrachen trainiert, aber nun, da Andrew ihn zum ersten Mal in einem offiziellen Match beobachtet hatte, war er Feuer und Flamme dafür, diesem Pokémon einmal ernsthaft gegenüberzustehen. Und ganz nebenbei konnte er Sandra somit auf andere Gedanken bringen. Welche, die ihre Kampfgeister kitzelten und die Vorfreude anheizten. Er wusste mittlerweile ganz gut, wie sie tickte.

    Und tatsächlich erwiderte sie sowohl Ryans Lächeln als auch die heißblütigen Augen Andrews. Beides nicht ganz so intensiv, aber immerhin.

    „Du weißt, wo du mich findest“, meinte sie daraufhin nur. Er hatte über die vergangenen Tage längst beschlossen, der Stadt Ebenholz künftig bei jeder Gelegenheit einen Besuch abzustatten. Die letzte Woche hatte das Trio enorm zusammengeschweißt und mit Sicherheit würde ihr Band noch stärker werden, bis alles vorbei war. Und vielleicht war es ja gar keine schlechte Idee, ein paar Pläne zu machen. Sich etwas festzulegen, dem man nachkommen konnte, wenn man Team Rocket und den drohenden Krieg einmal hinter sich hatte. Es bekräftigte die Überzeugung, dass es wirklich gelingen und vor allem, dass das Leben danach weitergehen würde.


    Bella hatte ihren Flachmann erst kurz vor dem Viertelfinale neu befüllt und nun leerte sie ihn schon wieder. Fast in einem Zug. Dennoch hielt das Brennen in ihrem Rachen nicht ansatzweise lange genug an. Es wurde noch immer von dem in ihrer Brust in den Schatten gestellt. Genau das war es, was sie sich von Milas Verbündeten versprochen hatte. Heiße Kampfeslust und ein Feuerwerk der Zerstörung in einem Hexenkessel aus zehntausenden Stimmen. Ein Tanz mit brutaler, erbarmungsloser Gefahr. Der Einsatz – die eigene Gesundheit.

    Letzteres traf zumindest aus der Sicht der Pokémon zu. Und in diesem Kontext musste man festhalten, dass beide Seiten teuer bezahlt hatten. Absol hatte lange kein Pokémoncenter mehr von innen gesehen. Es war nie nötig gewesen und sie mochte die Ärzte sowie deren Pokémon-Assistenten auch nicht besonders. Nach diesem hitzigen Gefecht führte allerdings kein Weg daran vorbei. Ohne eine anständige Behandlung würde sie mehr als eine Woche brauchen, um sich gänzlich zu erholen. Das angestrebte Zeitfenster lag bei ein paar Stunden! Im Halbfinale musste eine oder eher zwei – da ihr ein Doppelkampf bevorstand – Alternativen her. Naja, war ja nicht so, dass ihr keine zur Verfügung standen. Dennoch hoffte sie, dass Joy ihrem Ruf gerecht würde, sodass Bella in einem möglichen Finale wieder auf ihr Schätzchen zurückgreifen konnte.

    Im Augenblick schlenderte sie den Weg vom Center zurück Richtung Prime Stadium. Der Haupteingang war von den Türen des Centers nur einen Steinwurf entfernt. Vielleicht sollte sie noch schnell einen Abstecher in eine der Nebenstraßen machen, um ihren Alkohol Vorrat aufzustocken. Ein Scotch, das wär´s jetzt. Der rauchige vom alten Willam, der dort seinen Laden hatte.

    Aus diesem Vorhaben wurde leider nichts. Gerade mal ein paar Schritte hatte sie getan, da stand plötzlich ein junger Mann vor ihr. Schätzungsweise in Ryan Carparsos Alter und ebenso wie dieser, ein Halbfinalist des Summer Clash. Er hatte beide Hände in den Taschen seiner betongrauen Jacke vergraben und dennoch erkannte sie deutlich, dass sie zu Fäusten geballt waren. Nicht nur diese, die gesamte Körperhaltung war angespannt. Geradezu herausfordernd. Und der Blick erst. Die Augen lugten unter etwas zerzaustem, blassrotem Haar hervor, als lägen sie auf einer Feindin. Dabei war er es hier nicht, der Grund hätte, sie als solche zu betiteln. Dazu war den Johtonesen aus Milas Gruppe weit mehr Anlass gegeben.

    „Woher kommst du?“, verlangte Terry Fuller ohne ein Wort der Begrüßung zu wissen. Bella hob darauf eine Braue, als signalisiere sie, die Herausforderung anzunehmen. Aber nicht, ohne sich ein bisschen zu amüsieren.

    „Hast du kein Benehmen? Man grüßt zunächst einmal anständig.“

    Sie konnte sich das verschmitzte Schmunzeln nicht verkneifen, woran Terry gleich erkannte, dass sie keine echte Scharade spielen wollte. Zumindest nicht ernsthaft. Insgeheim aber stieß das Auslassen einer Begrüßung durchaus Antipathie bei ihr an. Die Chance auf einen guten Ersteindruck hatte er damit schonmal vergeigt.

    „Spiel keine Spielchen mit mir. Ich bin nicht wie die Pfeifen, die du sonst so triffst.“

    Er war es nicht gewohnt, so minder ernst genommen zu werden. Für gewöhnlich – besonders seit seinem Sieg in der Johto Liga – begegneten ihm andere Trainer mit enormem Respekt. Manche gar mit Ehrfurcht. Wüsste er doch nur, dass vor ihr keine gewöhnliche Trainerin stand, sondern eine tödliche Agentin. Jene zog nun auch die zweite Braue hoch.

    „Und du weißt, wen ich sonst so treffe?“

    Das wagte sie doch sehr stark zu bezweifeln. Selbst die Harmloseren in ihrem Bekanntenkreis würden einen wie ihn noch vor dem Frühstück durch den Fleischwolf drehen.

    „Muss ich nicht wissen.“

    Na, wenn er meinte. Dass er es nicht tat, war eh klar gewesen.

    „Jetzt antworte auf meine Frage“, forderte Terry erneut, achtete aber zumindest darauf, sich in der Lautstärke nicht so sehr zu vergreifen, wie im allgemeinen Ton. Da musste man sich schon fragen, wer dem hier Manieren beigebracht hatte. Oder hätte beibringen sollen.

    „Woher kommst du?“, wiederholte er etwas langsamer und deutlicher. Wenn er Bella einzuschüchtern gedachte, musste er schon mehr auffahren. Viel mehr.

    „Aus dem Pokémoncenter.“

    „Verarsch mich nicht!“

    Laut wurde er noch immer nicht, aber eindeutig ungeduldiger und er riss die Fäuste aus den Taschen, als wolle er sie zum Einsatz bereithalten. Es war so einfach, dass es schon fast keinen Spaß mehr machte. Aus der Ferne hatte die Agentin ihn gar nicht so grob und anstandslos eingeschätzt.

    „Ich kauf dir deine Masche nicht eine Sekunde ab, also raus mit der Sprache.“

    Sie gab zugegebenermaßen wenig auf gutes Benehmen oder Etikette, gönnte sich hier lediglich einen kleinen Spaß mit einem nicht allzu sympathischen Fremden. Aber überrascht war sie ob dieses Auftretens durchaus. Vielleicht war er normalerweise gar nicht so und diese Attitüde besaß einen konkreten Ursprung. Und sie war durchaus neugierig, weshalb Terry Fuller ihr hier so auf den Zahn fühlen wollte. Daher beschloss sie, die Spielchen zurückzustellen.

    „Du willst wissen, wo meine Heimat liegt? Was mich hierher verschlägt? Solche Sachen?“

    Bella wurde etwas ernster, verbannte sogar ihr Schmunzeln und verschränkte die Arme unter der Brust. In einer übermäßig ausfallenden Bewegung wechselte sie das Standbein.

    „Ich will wissen, wer du bist.“

    Der Trainer aus Einall schwor sich, wenn sie jetzt einfach mit ihrem Namen antworten sollte, würde er zuschlagen. Unwissend, dass er sich selbst damit weit mehr gefährdete als sie.

    „Ich bin auf drei Kontinenten unterwegs gewesen und kenne quasi jeden, der Rang und Namen in der Trainerszene hat.“

    Er kam einen kleinen Schritt näher an sie heran, doch sie rührte sich nicht einen Millimeter. Warum sollte sie auch? Selbst wenn er gewalttätig werden würde, könnte sie ihn niederschlagen, ohne sich vom Fleck zu bewegen.

    „Deinen hab ich aber noch nie gehört und im Rival Check gibt´s nicht mal ´nen Eintrag zu dir.“

    Beides hatte seinen Grund. Nur wieso stachelte ihn das so an?

    „Und so jemand kommt hierher, marschiert einfach so durch das zweitwichtigste Turnier von ganz Hoenn, als absolut Unbekannte. Und dann ziehst du so eine Show ab?“

    Daher wehte der Wind. Terry Fuller war misstrauisch. Konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie mehr war als bloß eine äußerst talentierte, aufstrebende Trainerin. Und das stimmte natürlich. Doch warum sollte Bella ihm ihre Tarnung preisgeben? Da drehte sie den Spieß lieber um.

    „Wenn ich mich recht entsinne, ging es dir damals ganz ähnlich.“

    Terry neigte den Kopf etwas zur Seite und verengte die Augen. Verlangte nach genauer Erklärung. Glücklicherweise bekam er die auch, allerdings gefiel es ihm überhaupt nicht, wie diese Déreaux ihn auf einmal ansah. Wie scharf ihr Blick plötzlich geworden war. Ihm stockte glatt der Atem. Und wie sie auf einmal um ihn herum ging, als treibe sie ihn in die Enge, gefiel ihm noch weniger.

    „Ein Junge aus einfachen Verhältnissen, aufgewachsen in einem verschlafenen Vorort ohne Verbindung zu irgendjemand Wichtigem in der Trainerbranche.“

    Terry wollte sich mit ihr drehen. Eigentlich ihr Pirschen gänzlich unterbinden, um sich nicht einschüchtern zu lassen. Er fand seine Füße jedoch gänzlich paralysiert vor. Als seien sie festgewachsen und keine menschliche Muskelkraft konnte sie befreien. Was für eine Wendung nahm das hier plötzlich?

    „Dir wurde nichts in die Wiege gelegt. Nein, nein.“

    Sehr langsam schritt sie in einem engen Kreis um Terry herum, der sich zunehmend verletzlich fühlte. Er neigte den Kopf zu ihr, wagte aber aus unergründlichem Anlass nicht länger, sie anzusehen. Auch nicht, als sie wieder vor ihm stand.

    „Als Sohn von zwei Beamten, die von der Pokémon-Aufzucht nicht halb so viel verstanden, wie sie allen weiß machten, hast du es nicht nur auf die höchsten Trainerschulen geschafft, sondern dort brilliert. Manche Professoren wollten dich sogar als Assistenten, was du natürlich abgelehnt hast. Jemand wie du arbeitet nicht für andere, stimmt´s? Du brauchtest etwas Forderndes, wobei du selbst die Fäden in der Hand hältst und dich beweisen kannst.“

    Sie sagte die Wahrheit. Er kam nicht aus einer Trainerfamilie. Hatte auch keine Freunde oder Verwandten, die ihn dahin bewegt hatten. Es hatte sich halt alles irgendwie ergeben. Es hatte einfach gepasst. Terry Fuller war nicht abergläubisch, doch das Einschlagen dieses Weges hatte sich fast wie Schicksal angefühlt.

    Aber… wieso wusste Déreaux all das?

    „Und man wollte meinen, du warst das Gewinnen schon sehr bald quasi gewohnt.“

    Der junge Trainer gab sich größte Mühe, ihrem Blick nicht auszuweichen. Streng genommen tat er das auch nicht, aber sein gesenkter Kopf lenkte die leeren Augen gen Boden, sodass der Blickkontakt dennoch nicht hergestellt werden konnte.

    Woher er kam oder wie er in seinen ersten Arenakämpfen und später Turnieren abgeschnitten hatte – das waren keine Geheimnisse. So etwas konnte man aus mehr Quellen als nur dem Rival Check entnehmen. Der ein oder andere Vertreter aus der Presse wusste vielleicht sogar über einige Details seiner Schulbildung oder den Beginn seiner Trainerkarriere Bescheid. Die Typen besaßen ja Verbindungen zu allen möglichen Instanzen und Einrichtungen im gesamten Gewerbe. Es war manchmal richtig gruselig, was sie alles herausfanden. Aber diese Dinge wusste normalerweise keine dahergelaufene Trainerin. Ganz zu schweigen von seinen Eltern und der Tatsache, dass sie die Klappe gerne mal etwas zu weit aufrissen, wenn es um ihre Pokémon ging. Das konnte doch eigentlich niemand wissen, der seine Eltern nicht persönlich kannte.

    „Stimmt das heute immer noch?“, erkundigte sich Bella und ging mit dem Oberkörper weit nach vorn, sodass sie aus tiefer Position nun doch in Terrys abwesende Augen blicken konnte. Der hatte kaum realisiert, wie sich sein Kopf gesenkt hatte und fing ihren Blick mehr reflexartig als gewollt auf.

    „Bist du das Gewinnen noch immer gewohnt?“

    Er starrte ein paar Sekunden lang stumm in die zwei glänzenden Bernsteine, welche in ihren Augenhöhlen saßen. Hatte sie schon immer diese raubtierartige Iris besessen? Oder ließ sie gerade eine Fassade fallen und zeigte ihm zum ersten Mal ihre wahre Natur?

    Das Ausbleiben einer Antwort würde normalerweise als Unhöflichkeit aufgefasst und somit zu einem bereits stolzen Stapel solcher addiert werden. Bellas Schmunzeln vermittelte jedoch, dass sie mit der Reaktion sehr zufrieden war. Sie legte die Arme auf den Rücken und tänzelte an Terry vorbei, wirkte auf einmal verspielt und unschuldig.

    „Ich kann das sehr gut verstehen. Gewinnen macht Spaß, nicht?“

    Und so wie sie die Zügel der Konversation locker ließ, legte sich auch die Anspannung. Seine Stirn dafür aber in Falten. Er wagte gar wieder, sich umzudrehen, sah sie jedoch mit gekehrtem Rücken. Sie hakte bezüglich ihrer Frage nicht weiter nach, was die Vermutung bekräftigte, dass sie rhetorischer Natur war. Dafür erntete er einen verschmitzten Blick aus dem Augenwinkel. Die Bernsteine wirkten auf einmal wieder völlig harmlos. Dafür aber ein klein bisschen spöttisch.

    Und somit gewann der Rotschopf auch wieder an Selbstsicherheit, erinnerte sich daran, dass er derjenige gewesen war, der auf sie zugegangen war und nicht umgekehrt. Er wollte die Kontrolle über das Gespräch zurück.

    „Du klingst als kennst du das Gefühl gut.“

    Bei dieser These war er sich sogar äußerst sicher. Sie ließ sie allerdings unkommentiert. Das würde er ohne Zweifel ändern, sollten die beiden gleich aufeinandertreffen. Endlich drehte er sich nun wieder ganz zu ihr um.

    „Ich sag dir was. Wenn ich erst einmal dich geschlagen hab, dann werd ich sagen: Ja, ich bin´s absolut gewohnt, immer zu gewinnen.“

    Nun war es wiederum an ihr, die Stirn zu runzeln. Nach wie vor, ohne ihm ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken.

    „Mich?“

    Was sollte denn jetzt die Frage? Wer sonst?

    „Mit wem rede ich denn gerade?“

    Sie neigte das Haupt wieder ein Stück zu ihm, schaute aber über den Vorplatz des Prime Stadiums, als würde sie noch immer nach einer Antwort suchen.

    „Hast du vor mir etwa am meisten Angst? Verschafft mir das dieses zweifelhafte Vergnügen?“

    In ihren Augen war das noch eine sehr schmeichelhafte Beschreibung für dieses Gespräch. Und natürlich fasste Terry dies als Hohn auf. Er konnte ja nicht wissen, dass Derartiges unter ihrem Niveau war.

    „Steck dir deine Angst sonst wo hin“, giftete er zurück. Selbst wenn er befürchten müsste, wirklich mal einen Pokémonkampf zu verlieren, so war das am Ende des Tages nichts, was es zu fürchten galt. Höchstens zu hassen. Besonders, wenn er gegen Trainer verlor, die er nicht ausstehen konnte und so langsam begann sich Bella Déreaux in diese Riege einzureihen.

    „Nur die Ruhe, ich habe es nicht nötig, dich zu provozieren“, beschwichtigte die Agentin mit bestenfalls halber Mühe.

    „Wenn du´s genau wissen möchtest, kümmerst du mich überhaupt nicht.“

    Mit diesen Worten bewirkte sie fas Gegenteil zu den vorherigen. Übergangen zu werden schmeckte Terry glatt noch weniger als verhöhnt zu werden. Und an dieser Front war ihm Ryan bereits bitter genug aufgestoßen. Dennoch atmete er tief durch und zwang sich mit einer gehörigen Portion Selbstbeherrschung zur Entspannung. Den Umständen entsprechend zumindest. Die Hände versanken wieder in den Jackentaschen.

    „Bist du einfach arrogant oder hast du bloß noch nicht erkannt, dass ich dein härtester Konkurrent bin?“

    Endlich wandte sich Bella ihm wieder zu. Zumindest halb. Allerdings sah sie ihn an, als hätte sie selten so eine irrsinnige Aussage vernommen und sowohl ihre Wortwahl als auch ihr Tonfall entfernten sich ganz plötzlich weit von dem bisherigen.

    „Wie kommst´n jetzt auf den Trichter?“

    Terry blinzelte einige Male und erwiderte den verdutzten Blick. Einerseits durch den wechselnden Tonfall. Primär aber, da sie ihn so niedrig handelte.

    „Du bist von uns vier übrigen Trainern doch definitiv der Schwächste.“

    Jeder der Terry Fuller nur ein bisschen kannte, wäre in diesem Augenblick in Deckung gegangen. Nicht einmal wegen der Behauptung an sich, sondern wegen der Selbstverständlichkeit, mit der sie ausgesprochen wurde. Er hatte die letzten Jahre nicht so hart geschuftet, sich selbst und seine Pokémon immer und immer wieder zu Höchstleistungen angespornt und die Silberkonferenz gewonnen, um für irgendwen die zweite Geige zu spielen. Schon gar nicht die vierte! Diese beiden Johto-Deppen und auch Bella – wo immer sie jetzt auch herkam – waren bestenfalls da entlang gekrochen, wo er schon entlang marschiert war. Wo her Spuren hinterlassen hatten, die man in zehn Jahren noch wiederfinden würde, hatten sie nur aus der Distanz hingeschielt.

    Seltsamerweise und auch zu seiner eigenen Verwunderung blieb der Sturm aus. Kein entrüstetes Brüllen, kein rot anschwellender Kopf, nicht mal ´ne hervortretende, wütende Ader oder dergleichen. Terry blieb das Wort im wahrsten Sinne im Hals stecken. Das schien Bella jedoch völlig zu ignorieren und redete unbeirrt weiter. Nur war ihre nächste Behauptung kaum weniger überraschend.

    „Und übrigens bin ich auch nicht diejenige, vor der du die meiste Angst haben solltest.“

    Trotz des erneut verwendeten Reizwortes Angst starrte der Trainer aus Einall hierauf einfach nur ins Leere. Zwar in Bellas Richtung, aber doch irgendwie durch sie durch. Erst merkte nicht sofort, dass er den Atem angehalten hatte.

    „Wer sonst?“, fragte er dann und würde sich schon in wenigen Minuten selbst wundern, warum er es so leichtfertig hinnahm, dass sie ihn als Schlusslicht der letzten vier Teilnehmer abstempele. Das konnte er doch eigentlich nicht so stehen lassen. Geschweige denn, ihre Aussage auch nur ein bisschen für voll nehmen. Es hatte noch kein Trainer einen anderen nur durch Worte davon überzeugt, dass er chancenlos war. Warum fiel es ihm dann aber so schwer, sich ihrer Einschätzung nicht anzuschließen?

    Bella schwieg. Ihm das zu verraten, erschien ihr viel zu langweilig. Stattdessen wanderten ihre Mundwinkel sehr langsam sehr weit auseinander zu einem breiten Grinsen. Ebenso langsam setzten sich ihre Füße in Bewegung und trugen sie mit tänzelnden Schritten die Straße entlang. Sie ließ Terry einfach stehen. Darüber müsste er sich im Normalfall ebenso entrüsten, tat es aber genauso wenig, wie im Angesicht ihrer Geringschätzung. Sie winkte ihm noch süffisant als wünsche sie ihm viel Spaß auf der Suche nach der Antwort sowie im weiteren Turnierverlauf – wissend, dass er an keiner Front welchen haben würde. Jetzt konnte Bella kaum schnell genug in den Schnapsladen kommen. Ihr Durst war auf einmal noch viel stärker.

  • Kapitel 56: For the love of the game


    Ryan und Andrew verbrachten die einstündige Unterbrechung vor den Halbfinals fast in Gänze mit Audrey und Melody. Man hatte sich kollektiv mit Fressalien und Getränken eingedeckt und vertilgte selbige an einem runden Stehtisch unweit der Buden, an denen man sie ergattert hatte – ein anderes Adjektiv wäre unangemessen gewesen, da alle, aber auch wirklich alle Stände in der Pause regelrecht überrannt wurden. Sandra hatte sich diesmal entschuldigt und war spazieren gegangen. Sie hatte die jungen Trainer davon überzeugen können, dass sie keineswegs aus Verbitterung die Einsamkeit suchte. Ihr war nach der zurückliegenden sowie angesichts der anstehenden Aufregung einfach nach einem Moment der Ruhe, so ihre Erklärung.

    Andrew philosophierte ein bisschen über seine Trainingsmethoden vor sich hin, während die Mädels interessiert zuhörten. Er gab sogar zu, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Trainer keine besonderen Methoden verfolgte oder gar eigene entwickelt hatte, um seine Pokémon stärker zu machen. Er setzte mehr auf allgemein Bewährtes. Gut kopiert war bekanntlich besser als schlecht erfunden. Aber noch wichtiger – er setzte sich keine bestimmten Ziele, die es an einem Trainingstag oder auch binnen eines festgelegten Zeitraumes zu erreichen galt. Das fühlte sich dann nämlich mehr an, wie ein Ultimatum, setzte ihn und seine Partner mehr unter Druck, anstatt sie anzuspornen. Er arbeitete strikt die Punkte ab, die er bei seinen Pokémon zu verbessern hatte und zog nie etwas in die Länge. Er vertrat die Meinung, dass es ab einem gewissen Punkt gut zu sein hatte. Dass es die regelmäßigen Pausen genauso brauchte. Egal, ob man kurz sich vor einem Durchbruch befand oder Kraft und Motivation noch reichlich vorhanden waren. Erholung und vor allem Belohnung waren genauso wichtig, wie die Anstrengung. Da tickte Ryan anders, wie alle am Tisch wussten. Während Andrew die untergehende Sonne als Zeichen selbiger sah, das man heute genug gearbeitet hatte, suchte der Blonde einfach nach einer anderen Lichtquelle. Er war ein Arbeitstier und hin und wieder mutete er sich auch etwas zu viel zu. Seine – besseren! – Resultate bei großen Turnieren bestätigten diese Methoden jedoch unbestreitbar. Obwohl Andrew fast sicher war, dass dies mehrere kleine Gründe hatte, anstatt bloß dieses einen. Ihm entging es nebenbei nicht, dass Audrey und Melody öfters mal zu Ryan rüber schielten. Vielleicht wunderten sie sich über seine Wortkargheit? Er steuerte nämlich mit Abstand am wenigsten zur Unterhaltung bei.

    „Weißt du Andrew, für so einen quirligen Zeitgenossen, scheinst du mir ein überraschend bodenständiger Trainer zu sein“, kommentierte die Trainerin aus Rosalia zwischenrein und erntete dafür fast so etwas wie Entrüstung. Allerdings eindeutig gespielte. Sie beide machten nur wieder ihre Faxen.

    „Bitte? Ich glaube, ich muss in der nächsten Runde mal das Stadion abreißen, um dir das Gegenteil zu beweisen.“

    „Versuch erst mal nur zu gewinnen. Das sollte für´s Erste reichen“, bremste Melody ihn und stieß ihren Ellenbogen in seine Seite. Tatsächlich zuckte er ein bisschen.

    „Solange ich das nicht bin“, warf Ryan noch ein, mimte dabei den Gelangweilten. Gegen Andrew vor so einer Kulisse zu kämpfen wäre entgegen seiner momentanen Erscheinung ein absolutes Traumszenario. Der Alptraum, in dem er sich gegenwärtig befand und der dank des Turniers nur temporär etwas in die Ferne gerückt war, machte es ihm jedoch unmöglich, das voll zu genießen. Selbst ein mögliches Match gegen Terry würde nichts davon vergessen machen können. Und sollte er gegen Bella selbst kämpfen müssen, so wäre der Alptraum gar plötzlich wieder unfassbar nah.

    Bodenständig lass ich jedenfalls nicht auf mir sitzen“, wetterte Andrew mit einem Fingerzeig, aber auch einem stichelnden Grinsen Richtung Audrey. Melody drückte seine Hand immer wieder runter und versuchte ihn dezent zu beschwichtigen, aber der nahm einfach die andere, um die Geste aufrecht zu halten. Ungeachtet seiner Trainingsmethoden und vor allem -zeiten, ackerten er und seine Partner härter als hart und ließen es dafür auf dem Kampffeld umso mehr krachen. Scheinbar musste er ihr das mal ganz unmissverständlich vormachen. Wenn Audrey jedenfalls glaubte, sie habe schon alle gesehen, dann irrte sie sich schwer. Schwerer als ein vollgefressenes Relaxo. Diese schmunzelte mit einem Seitenblick in Ryans Richtung, der daraufhin ein Kichern unterdrücken musste. Die hatte wirklich Spaß an seiner Persönlichkeit. So lebhafte Zeitgenossen konnte sie gut leiden.

    „Gleich steht ein Doppelkampf an, hm?“, wechselte Melody das Thema nach einem Blick auf die Uhr, die verriet, dass es in wenigen Minuten weitergehen würde. Hatte sie Anlass, sich Sorgen zu machen? Bestimmt nicht. Ryan und Andrew hatten gewiss schon unzählige solcher Kämpfe ausgetragen. Aus unempfindlichen Gründen war ihre Nervosität jedoch um das Doppelte angestiegen und dabei hatte der Kampf noch gar nicht angefangen. Nicht einmal die Paarungen standen fest.

    „Ist bestimmt schwer, zwei Pokémon gleichzeitig zu steuern.“

    „Vergiss nicht, dass es beim Gegner auch noch eins mehr im Auge zu behalten gilt“, erinnerte Audrey, und richtete ihre Sonnenbrille – die auf der Nase – neu. Die ganze Zeit schon trug sie diese tief und schaute über den Rand hinweg.

    „Aber das klingt schwerer als es ist.“

    Melody lachte trocken auf. Mit Sicherheit untertrieb Andrew da zumindest ein bisschen. Klar spielten beim Trainieren und Kämpfen generell Gewohnheiten und Automatismen eine wichtige Rolle, aber es gab Grenzen für die Menschliche Wahrnehmung. Ihre eigene wart in den letzten Matches bereits ein ums andere Mal überfordert.

    „Na du hast leicht reden. Ich bin ja bei manchen Kämpfen schon mit dem Zusehen kaum hinterhergekommen. Wie soll das erst mit vier Pokémon laufen?“

    „Diese vier kämpfen nicht alle für sich“, stellte Ryan ganz plötzlich und äußerst fest klar. Er zog damit die Aufmerksamkeit von allen dreien auf sich.

    „In einem Doppelkampf willst du als Einheit auftreten. Ein gut eingespieltes Team wird in neun von zehn Fällen gewinnen, selbst wenn die andere Seite individuell stärker ist.“

    Kurz wanderten Ryans marineblaue Augen umher, als überdachte er seine eigenen Worte. Und tatsächlich entschied er sich, sie umzuformulieren.

    „Andererseits kann man auch immer einen Doppelkampf mit zwei Pokémon gewinnen, die vorher noch nie nebeneinander gekämpft haben.“

    Andrew und Audrey musste er das nicht weiter erörtern. Die wussten selbst, wie das Doppel zu funktionieren hatte. Melody aber konnte seiner Argumentation noch nicht ganz folgen.

    „Wie denn das?“

    Ryan wollte jetzt nicht den Lehrer spielen, wie gestern noch bei Cody. So entschied er sich, die Sache abzukürzen und vor allem von den Grundlagen zu sprechen, die er selbst befolgte. Die Dreistigkeit, für alle Trainer zu sprechen, brachte er nicht auf. Nicht einmal für alle an diesem Tisch.

    „Alles was ich sehen will ist, dass jeder für seinen Partner in die Bresche springt und auch mal einen für ihn wegsteckt. Egal ob Hundemon, Guardevoir, Sumpex oder Despotar – wenn man sich für den anderen einsetzt, wird jeder von ihnen sich sagen: Das war stark, das war mutig, das will ich für dich auch machen.“

    Jetzt redete er irgendwie doch länger als geplant. Man täte ihm einen Gefallen, wenn ihn jemand bremsen würde, aber tragischerweise hörte Melody ihm viel zu gespannt zu und nur wegen ihr wagte keiner, ihn abzuwürgen.

    „Eine Einheit ist immer stärker als die Summe ihrer Teile, sagt man ja. Und das ist schon mehr als die halbe Miete. Ob du´s glaubst oder nicht, so einfach kann man Teamkämpfe gewinnen.“

    Es klang wirklich etwas zu einfach. Ein gute Portion Können, Kraft, Geschick und natürlich Grips gehörten schon dazu, wie in jedem Match. Doch der Zusammenhalt war der Kern, um den diese Attribute herumgebaut wurden und ohne die keines davon wahren Wert besaß. Das schien Melody auch rasch zu begreifen. Es war ja im Grunde auch ganz simpel. Anschließend formten ihre Lippen ein zuversichtliches Lächeln.

    „Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen.“

    Sie hatte den Jungs in den letzten Tagen oft genug beim Training zugesehen, um sich ihres Teamspirits gewahr zu sein. Ob die langjährigen Weggefährten oder die jungen Neuzugänge Sumpex und Guardevoir, hatte zu keinem Zeitpunkt eine Rolle gespielt. Sie alle hatten sowohl einander gegenüber als auch Schulter an Schulter gestanden. Hatten gemeinsam geschwitzt, sich angespornt und im Rahmen von gesunder Konkurrenz sogar gelitten. Sie quälten sich regelrecht, um stärker zu werden. Das schweißte zusammen. Sie waren Kameraden, Freunde. Mehr sogar. Sie waren eine Familie.


    Über die Stadionlautsprecher ertönte eine spannungsaufbauende Musik. Nicht die epische Schlachtenmelodie wie beim Einlauf der Trainer, sondern etwas Anstachelndes, Dramatischeres. So wart schon in der letzten Pause darauf aufmerksam gemacht, dass selbige in wenigen Minuten enden würde. Für Ryan und Andrew war dies das Zeichen, sich in die Katakomben aufzumachen. Obwohl sie die Ankündigung lieber mit den Mädels gemeinsam verfolgen würden, mussten sie bereit sein, falls sie schon im ersten Semifinale kämpfen sollten. Das würde nämlich unmittelbar nach der Bekanntgabe starten und dann blieb keine Zeit mehr, um sich durch den halben Rundlauf des Prime Stadiums zu kämpfen. Sie tauschten einen vielsagenden Blick aus. Kein Nicken, Lächeln oder sonst was. Einfach nur Feuer. Sie waren bereit.

    „Zeigt´s ihnen“, meinte Audrey knapp und hielt abwechselnd beiden Jungen ihre Faust vor, die daraufhin bei ihr abklopften. Darum brauchte sie nicht erst bitten.

    „Und wenn sie gegeneinander antreten müssen?“, warf Melody ein. Fast im Flüsterton, als sei ihre jede Paarung recht außer dieser und sie befürchte fast, das Schicksal herauszufordern, indem sie es nur aussprach. Sie erntete darauf nur ein Schulterzucken und ein schiefes Grinsen. Man mochte meinen, Audrey war auf diese Konstellation sogar richtig heiß.

    „Dann zeigt´s euch gegenseitig.“

    Sehr gerne. Aber das wollten sie am liebsten im Finale. So weit schaute aber noch keiner voraus, denn der Weg dorthin führte über einen geradezu höllisch schweren Doppelkampf. Das stand als einziges bereits fest.

    Ryan und Andrew gingen nebeneinander als würden die das nächste Match als Duo bestreiten. Natürlich war ihnen jedoch bewusst, dass das genaue Gegenteil eintreten konnte. Was nützte es, darüber zu grübeln? Am Ende mussten sie es nehmen, wie es kam. Die langsam an ihre Plätze zurückkehrenden Zuschauer, die sie passierten, drehten sich alle nach ihnen um, als könnten sie es kaum fassen, dass sie wie ganz normale Menschen hier langspazierten. Auf dem Weg die Treppe hinab teilten sich die Massen vor ihnen fast ehrfürchtig. Hier und da wünschten manche ihnen Glück und Erfolg. Einige wenige klopften ihnen auf die Schulter. Aber nichts von alldem löste eine Reaktion bei ihnen aus. In Gedanken waren sie bereits im Tunnel Richtung Innenraum, Richtung Kampffeld. Ryan ging voraus und hallte die Hände in den Handschuhen zu Fäusten geballt. Die marineblauen Augen leuchteten ernst und entschlossen. Ganz gleich, welcher Gegner ihn in ein paar Minuten erwarten würde, er würde kämpfen als ginge es um sein Leben. Er hatte sich längst damit abgefunden, dass er dies in Bälde ohnehin tun musste. Und sollte er tatsächlich das Finale erreichen, würde er gar noch eine Schippe draufpacken. Dann würde er kämpfen, als ginge es um das Leben aller.

    Andrew dagegen schlurfte lässig durch die Gegend als stünde eine Routinearbeit an und hatte die Hände in den Taschen seiner Jeansjacke vergraben. Das euphorische Lächeln hätte in keinem größeren Kontrast stehen können. Er war sich der Aufgabe sehr bewusst. Natürlich würde es gleich verflucht hart werden. Es würde ein Gegner warten, der seine bisherigen weit in den Schatten stellte. Einer, der ihm und seinen Pokémon alles abverlangen und ihr Können auf Herz und Nieren prüfen würde. Mit aller Gewalt und aller Macht. Genau solche Kämpfe waren das Allergeilste. Völlig egal, was nach dem Turnier sein würde – er wollte das hier genießen. Arceus, er tat es schon jetzt, bevor es überhaupt los ging.

    Mit dem Erreichen des Erdgeschosses waren die Menschenmassen plötzlich weg. Hier unten gab es nebst den Wegen zum Kampffeld nur Räume, die ausschließlich für das Personal zugänglich waren. Aber in diesem Augenblick hätte keiner von ihnen einen Unterschied zum Obergeschoss festgestellt. Ob Personen, Geräusche oder sonstige Einflüsse – das befand sich in einer Nische ihrer Wahrnehmung, die kaum noch registriert wurde. Es gab jedoch Ausnahmen. Wie zum Beispiel die beiden Trainer, die im Aufenthaltsraum bereits warteten. Doch ging Ryan zielstrebig geradeaus, passierte Terry Fuller dabei desinteressiert und ließ sowohl seine Blicke als auch die der schwarzhaarigen Agentin auf der Bank, die sich beim Anblick der zwei Johtonesen glatt die Lippen leckte, an sich abprallen. In Andrews Augen las sie dagegen ein feindseliges, ja geradezu verachtendes Blitzen. Wirklich süß. Das ließ Bellas Herz höher schlagen, obgleich ihr schleierhaft war, wie sie nach dem gestrigen Gespräch zu dem Vergnügen kam.

    Ryan suchte sich eine weiter entfernte Bank, die genau zwischen zwei Säulen platziert worden war. Er nahm im Schneidersitz darauf Platz und lehnte mit dem Rücken an einer davon, währen die Arme verschränkt und der Kopf auf die Brust gebettet wurde, als wolle er schlafen. Er kehrte noch einmal in sich und befreite seinen Geist. Von Mila, von Rayquaza, Team Rocket, dem Krieg. Von einfach allem. Zumindest soweit es menschenmöglich war. Das alles spielte im kommenden Match keine Rolle und würde sich während diesem nicht beeinflussen lassen. Jetzt war hier, hier war Halbfinale. Alles andere kam danach. Von nichts würde er sich ablenken lassen. Nicht einmal von einem Krieg. Er wollte einfach gewinnen.

    Andrew steuerte bereits den Flur an, der zum Tunnel und schließlich zum Innenraum des Stadions führte. Er lehnte sich in einiger Entfernung an die Wand, behielt die Hände in den Taschen. Von befand sich nicht mal einer der Bildschirme in seinem Sichtfeld, sodass er die Bekanntgabe der Paarungen gar nicht würde sehen können. Es reichte auch vollkommen, sie zu hören. Cay las ja wirklich alles, was von Bedeutung war, nochmal extra vor. Sein Platz war bewusst in einiger Entfernung zu Ryan gewählt worden. Mit dem Betreten dieses Raumes hatten sich die Schwerpunkte zwischen ihnen kurzweilig verschoben. Ab jetzt waren sie zuerst Rivalen und erst danach Freunde. Ohne Argwohn und Zwietracht, dafür mit gleichermaßen ausgeprägtem Siegeswillen. Zumindest fast. Dieser Sieg kam zu jenen, dessen Wille das berüchtigte Quäntchen stärker war. Bella sah abwechselnd zu beiden, hatte das Kinn auf eine Hand gestützt und schien sich in Gedanken mehrere Szenarien auszumalen, die dort draußen gleich Realität werden könnten. Natürlich war sie währenddessen mal wieder am Trinken. Hier musste sie das vor niemandem mehr verstecken. Ryan und Andrew wussten ja bereits um ihre Liebe zu Hochprozentigem und sie sollte verflucht sein, wenn sie wegen diesem Fuller trocken blieb.


    Die Musik im Innenraum wurde lauter, schneller, reit dringlich zur Eile mit der Rückkehr an den Sitzplatz. Ein ungeduldiges Raunen ging durch die Massen auf den Tribünen und Cay kündigte euphorisch wie immer die Fortsetzung des Turniers an.

    „Oho, schaut nur, wie spät es ist. Die Uhr sagt, es ist Halbfinal-Zeit! Ab auf die Plätze zurück, aber fühlt euch nicht zum Hinsetzen gezwungen, denn mich hält ab jetzt auch nichts mehr auf dem Stuhl.“

    Tatsächlich nahmen die wenigsten wirklich Platz, wie Audrey mit einem sporadischen Rundblick feststellte. Sie und Melody stellten fast schon Ausnahmen dar, aber letztere rutschte auf ihrem Sitz so weit nach vorn, dass sie fast runterfiel und krallte sich angespannt, in ihren Rock. Ihr breites Lächeln bestätigte die Vermutung, dass diese Anspannung freudiger Natur war.

    „Was für ein geiler Tag war das bislang?“, fuhr Cay fort und ließ erahnen, wie er übers ganze Gesicht grinste, während er einige Matches in Gedanken im Schnelldurchlauf nochmals abspielte.

    „Ganz im Vertrauen, ich mach das hier schon eine Weile, aber so einen bombastischen Summer Clash hab ich noch nicht erlebt.“

    Das Publikum vergeudete keine Zeit, seine Meinung kund zu tun und sich mit Jubel und begeisterten Pfiffen Cays Auffassung anzuschließen. Der Lärm war elektrisierend. Wenn sich tausende Stimmen vermengten, sodass man sie nicht nur hörte, sondern auch spürte.

    „Was noch bleibt, sind vier Trainer, drei Kämpfe und ein Sieger. Doch wie sieht die letzte Hürde vor dem großen Finale aus?“

    Streng genommen standen vier weitere Matches an, da auch der dritte Platz ausgefochten wurde. Verständlicherweise war der aber von geringerem Interesse und irgendwo auch nur ein Zeitfüller, damit den Finalisten Gelegenheit gegeben war, vor dem Höhepunkt nochmal durchzuschnaufen. Genau das tat der Stadionsprecher jetzt schon jetzt, als auf den riesigen Bildschirmen die vier Gesichter von Ryan, Andrew, Terry und Bella auftauchten, um seiner Anspoannung Luft zu machen.

    „In wenigen Sekunden wissen wir´s!“

    Die Bilder wurden umgedreht und zeigten eine gemusterte Rückseite wie bei einem Kartenspiel. Sie wanderten erst zueinander, dann übereinander als mische man sie durch und teilten sich schließlich in zwei Paare. Irgendwie lag ein richtiger Trommelwirbel in der Luft, obwohl keiner über die lautsprecher abgespielt wurde. In den Katakomben war Terry der Einzige, der gefesselt auf den Fernseher starrte. Sein Erzrivale schielte scheinbar kaum interessiert aus dem Augenwinkel rüber, hatte aber immerhin den Kopf angehoben. Andrew schloss in seiner Position an der Wand lehnend die Augen und stellte sich bildlich das vor, was nun verkündet würde. Bella nahm ohnehin alles mit einem feisten Lächeln hin.

    Die Karten wurden umgedreht. Die Paarungen standen fest.

    „Boom, da sind wir!“ jaulte Cay und sofort gab es euphorische Aufschreie auf den Rängen, sodass er die Stimme weiter anheben musste.

    „Das erste Match ist die Neuauflage des Johto Liga Finals. Terry Fuller kämpft gegen Ryan Carparso!“

    „Jaa!“

    Eben der sprang von seiner Bank auf, schmiss diese dabei fast um und ballte triumphierend die Faust. Der energische Ausbruch wäre ihm glatt peinlich, wenn in seinem Verstand noch Platz für solche Belanglosigkeiten existieren würden. Er holte tief Luft, stieß sie aber glatt sofort wieder aus und ging den Raum einmal in ganzer Länge hektisch auf und wieder ab, hatte dabei die Fäuste geballt. Natürlich hatte er sofort alle Blicke auf sich gezogen. Bella grinste sich mal wieder eins. Diese Leidenschaft, dieser Ehrgeiz. Wirklich süß. Der seitens Terry dagegen war mit den scharf verengten Augen deutlich weniger erbaut, hatte er sich doch gewünscht, dem Penner diesmal ausweichen zu können. Aber… wieso eigentlich? Ryan bemerkte das feindselige Funkeln seines Rivalen nicht einmal. Genauso wenig wie das irritierte hin und her wandern seiner Pupillen, die offenkundig von Verwirrung zeugten. Verwirrt daher, warum er nicht einfach das Los akzeptieren und einen leichten, geradezu geschenkten Sieg annehmen wollte. Die wahre Herausforderung würde im Finale schon noch kommen. Egal, wer es gewinnen sollte. Und Ryan einen erneuten Dämpfer zu verpassen, war an und für sich auch nie etwas Verkehrtes. Wieso also?

    Terry hätte in Flammen stehen oder ein Chelterrar durch die Decke brechen können - Ryan hätte es nicht gemerkt. Überhaupt nichts und niemand in seinem Umfeld erhielt Aufmerksamkeit. Es war kein Platz neben der surrealen Botschaft, die eben verkündet worden war. Es war eingetreten. Er hatte es kaum zu hoffen gewagt. Er bekam ein weiteres Match auf großer Bühne gegen seinen erbittertsten Gegner. Jener, der letzten Monat noch so auf ihn herabgesehen hatte und dem er sich nicht hatte stellen können. Er und Terry. Hier beim Summer Clash. Dies als wahrgewordenen Traum zu bezeichnen, wäre des Guten etwas zu viel, aber dieses Los machte ihn verdammt glücklich.

    „Die gnadenlose Bella Déreaux tritt folglich gegen Andrew Warrener an.“

    Bei der Erwähnung ihrer beiden Namen, lenkte die Agentin den Blick zu ihrem zugelosten Gegner. Was sie dort sah, ließ ihr ersoffenes Herz vor Freude springen. Könnte er sich jetzt noch die rubinrote Farbe ausleihen, würde sie glatt glauben, Sheila vor sich zu sehen. Andrews Augen waren du Dolchen geworden und stießen vehement auf sie ein. So einen Ausdruck hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Aber sie war hocherfreut, ihn zu finden. Genau denselben Willen hatte sie auch bei Sandra beobachtet und ihr später gestohlen. Sie hätte durchaus Lust, dies ein zweites Mal zu tun.

    „Genug gewartet, es wird Zeit, den Laden zum Kochen zu bringen…“, begann Cay mal wieder die Menge anzupeitschen und lotste dann die ersten zwei Trainer gen Innenraum. Ryan ging weiterhin auf und ab, inzwischen aber gemächlicher. Noch immer waren beide Fäuste geballt, als wolle er sie gleich in die Luft reißen und einen Siegesschrei ausstoßen. Dann blieb er vor dem Flur abrupt stehen, neigte den Kopf etwas, um Andrews Blick aufzufangen. Fast als wundere er sich, dass der überhaupt anwesend war. Es war nur ein ganz kurzer Kontakt. Aus dem Augenwinkel heraus, ehe sich der Fokus wieder geradeaus richtete. Beide ballten aus Faust und schlugen mit dem Rücken aneinander.

    Terry wartete noch, bis Ryan außer Sicht- und Hörweite war. Es war nicht so, dass er etwas vorhatte, was dieser nicht mitbekommen durfte, aber er wollte ihm nicht noch einmal dort im Tunnel begegnen. Auf eine zweite Runde mit seinen Psychospielchen hatte er keinen Bock. So ließ er seinen Blick ziellos durch den großen Raum wandern und konnte, bedingt durch das, was vorhin passiert war, nicht vermeiden, sich einmal nach Bella zu drehen. Die schenkte ihm nur einen Seitenblick und hob das Kinn an, als frage sie still, ob es noch was zu klären gäbe.

    „Eine ganze Menge“, würde die Antwort lauten. Er selbst schätzte Ryan mit Abstand als den Schwächsten hier ein. Sie dagegen drückte ihm diesen Stempel auf und würde ihr Geld sogar auf den Johtonesen setzen, wenn es um den Turniersieg ging. Wie in aller Welt konnten ihre Meinungen nur so weit auseinander gehen? Und warum gerieten seine eigenen Ansichten so ins Wanken, obwohl er Ryan Carparso doch so viel länger und besser kannte? Tat er das denn wirklich? Über ihn selbst schien Bella ja auch geradezu unheimlichen präzise Bescheid zu wissen.

    Es gab so einiges, dass er sie gerne fragen würde, aber er zweifelte stark daran, dass er brauchbare, geschweige denn ehrliche Antworten bekommen würde. Doch ab morgen musste ihn das auch nicht mehr kümmern. Er hatte interessantere Menschen als sie getroffen und vergessen. Wenn er erst einmal festgelegt hatte, dass sie ihn nicht länger kümmerte, dann konnte er auch wieder befreit kämpfen. So machte er kurzerhand hier und jetzt seinen Seelenfrieden damit, dass sie ihm ein Rätsel bleiben würde. Und vor allem damit, dass dies für ihn okay war. Um nicht zu sagen uninteressant. Der Trainer aus Einall zeigte die kalte Schulter und schlenderte Richtung Flur. Bella nahm es mit einem weiteren Schluck Scotch hin. Der von Willam war einfach immer noch der beste.


    „Freunde, Freunde, wer hätte gedacht, dass ich mal so eine Begegnung beim Summer Clash ansagen darf? Ich ganz sicher nicht, so viel sei verraten.“

    Mittlerweile war wirklich jeder Zuschauer an seinen Platz zurückgekehrt. Nur saß wirklich kaum einer auf ihm. Auch wenn sie diese vier Teilnehmer, die gleich die Semifinals bestreiten sollten, schon mehrfach in Aktion gesehen hatten, war die Atmosphäre gleichwiegend mit der Bedeutung des Kampfes eine ganz andere. Die Vorfreude stieg proportional dazu und verwandelte das Prime Stadium jetzt schon in einen Hexenkessel. Audrey war wohl die Einzige, die zumindest noch die Hände stillhalten konnte. Ihre Arme waren vor der Brust verschränkt und sie lächelte ganz gelassen, als kenne sie bereits den Ausgang und war über ihn sehr erfreut. Melody war dagegen so aufgekratzt, dass es für sie beide langte. Man musste fast befürchten, dass sie gleich über die Mauer fiel. Sie stemmte sich bereits mit einem Fuß darauf und musste von einem der vielen in Signalwesten gehüllten Ordner, die in der vordersten Reihe positioniert waren, gebändigt werden. Irgendwo hinter ihr erklangen stetig lauter werdende Sprechchöre, die Ryans Namen skandierten, dem sie sich mit allem, was ihre Stimmer hergab anschloss und dabei eine Faust reckte. Anderswo forderten die Zuschauer, Terry sehen zu dürfen. Im ganzen Stadion gab es mehrere solcher Gruppen für beide Parteien.

    „Und ohne weitere Umschweife – hier kommt jemand, der sich innerhalb von gerademal drei Jahren einen Namen in jeder Region gemacht hat, die eine Pokémon Liga hält. Und das, ohne die Hälfte davon überhaupt betreten zu haben.“

    Die Musik von der Bekanntgabe setzte wieder ein. Ein Trommelwirbel lag in der Luft. Der Blick ins Innere des Tunnels, der bereits von buntem Scheinwerferlicht erleuchtet wurde, wart jedoch verhindert, da nun ab dem Halbfinale ein künstlich erzeugter Rauchschleier die Schwelle verhüllte.

    „Er war der große Sieger in der letzten Silberkonferenz und hat bereits inoffizielle Kämpfe gegen ein paar von Einalls Top Vier-Mitgliedern gewonnen. Manche nennen ihn momentan einen der stärksten Trainer der Welt.“

    Melody, klappte bei dieser Info glatt die Kinnlade runter und sie suchte ungläubig nach Bestätigung suchend den Blick von Audrey. Die nickte nur bitter. Sie hatte es nicht mit eigenen Augen gesehen und es war zwar nur von einem eins-gegen-eins sowie einem drei-gegen-drei die Rede, aber Freunde und Bekannte schworen bei all ihren Pokémon darauf. Von den betreffenden Mitgliedern der Top Vier hatten die Medien nie ein Statement ergattern können, aber sie schätze, dass eine weitreichende Falschmeldung dieses Formates unverzüglich dementiert worden wäre. Wenn schon nicht von den Top Vier selbst, dann von deren Managern, PR-Beratern oder dem Liga Komitee. Bester Trainer der Welt war in Audreys Augen dann doch übertrieben, aber manche Fans neigten zu so etwas.

    „Ich gebe euch Terry Fuller!“

    Da änderte sich die Akustik wieder schlagartig. Die heroische Schlachtenmelodie löste den Trommelwirbel ab und der angekündigte Trainer trat durch die Rauchwand ins Freie. Wie schon in den letzten Runden verzichtete er jedoch auf Show und Prahlerei. Er hielt kurz, um sich umzusehen, die Reaktion der Menge zu begutachten. Die konnten es von den Tribünen aus nicht erkennen, aber die Atmosphäre ließ seine Mundwinkel minimal nach oben zucken. Dieser Lärm hatte schon was. Obwohl er tatsächlich die Einsamkeit der Wildnis bevorzugte. Bei einem Kampf zählten nur die Trainer und ihre Pokémon. Alles andere war überflüssig. Im schlimmsten Fall sogar ein Störfaktor. Aber das hier… das waren keine ungeladenen Zaungäste. Kein Dutzend stalkender Teenies, die irgendwie spitzgekriegt hatten, wann und wo er mal wieder einen Arenakampf bestritt, um sich ungefragt auf die Tribünen zu begeben. Dies waren keine schaulustigen Passanten, die sich irgendwo im Park aufdringlich an den Rand seines provisorischen Kampfplatzes drängten, weil ihre eigenen Angelegenheiten nicht spannend genug waren. Das hier war Energie. Das war Ektase. Das war Bühne. Seine Bühne! Fast traurig, dass er sie mit Ryan teilen musste.

    Terry marschierte, den Blick nun eisern geradeaus gerichtet, zum Kampffeld. Sporadisch wurde der Nacken etwas gedehnt und die Arme gelockert. Die Anspannung und die Trägheit, die in erster Linie diese Bella Déreaux zu verantworten hatte, konnte er nun wirklich nicht brauchen. Bevor er durch die Rauchwand getreten war, hatte er entschieden, die Frage nach Ryans Form völlig zu begraben. Ob es nun das leichteste oder schwierigste Turniermatch werden würde, spielte keine Rolle. So oder so würde er es angehen, wie alle anderen. Seine größten Waffen waren Einschüchterung und Unantastbarkeit. Niemand reichte an ihn heran, niemand konnte ihm was und wenn er einen Kampf erst einmal begonnen hatte, wusste Terry, dass er ihn gewinnen würde. Und seine Gegner wussten das in der Regel auch.

    Nicht so dieser hier. Ryan wartete hinter der Nebelwand als wolle er sie gleich rennend durchbrechen. Den Kopf hatte er gesenkt, sodass das blonde Haar sein Gesicht vollkommen verhüllte. Nicht, dass ihn gerade jemand sehen könnte. Noch, dass es ein Problem dargestellt hätte. Das Gegenteil war der Fall. Er wollte da raus. Wollte, dass ihn alle sahen. Dass sie ihm zusahen!

    „Ihm gegenüber steht jemand, den sowohl er auch ihr bestens kennt“, fuhr Cay endlich fort, nachdem Terry seinen vorgewiesenen Platz erreicht hatte und ein zweites Mal der Trommelwirbel einsetzte.

    „Er legte in seiner Trainerkarriere den wohl krassesten Raketenstart aller Zeiten hin. Schon in seinem ersten Jahr triumphierte er auf dem Indigo Plateau und stand Fuller bei der Johto Liga im Finale gegenüber. Heute will er die Revanche!“

    Revanche? Lächerlich. Selbst wenn dies das Finale der Hoenn Liga wäre, so würde ein Sieg über Terry die Rechnung nicht begleichen. Ryan war in seiner Heimatstadt geschlagen worden. Hatte sich die Krone des Silberberges von seinem größten Rivalen stibitzen lassen. Hatte zusehen müssen, wie er an seiner Stelle die Trophäe in den Nachthimmel stemmte, unter dem er sich heimisch fühlte. Das ließe sich nur am selben Ort vergelten. Aber um Revanche ging es hier auch nicht.

    „Hier kommt der mit dem göttlichen Auge, Ryan Carparso!“

    Der erste Schritt hinaus wurde noch in derselben Körperhaltung getätigt, die der eines benebelten Schlafwandlers gleichkam. Doch schon sowie er mit dem zweiten Fuß nachzog, breitete er mit einem tiefen Atemzug die Arme aus und sah zum Himmel hinauf. Ein Sturm aus Stimmen prallte an ihm ab. Wenn er wollte, könnte er sie alle übertönen, so viel Energie pulsierte gerade in seiner Brust. Er wollte sie hinausschreien und Terry mit dessen Gewalt zurück in den Tunnel, ach was, direkt nach Einall fegen.

    Er sparte sie. Verbot sich das stumpfsinnige Getue. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden seine Partner die Stimme ihres Trainers – genauer gesagt die Energie darin – noch bitter benötigen. Außerdem wollte er sich der Drachendame dort oben nicht so undiszipliniert präsentieren. Wobei die schließlich selbst sehr stimmgewaltig war und das auch während des Kämpfens mehrfach demonstriert hatte. Keiner auf der Tribüne hatte Anlass, nach oben zu sehen. Und selbst wenn, so ließ sich die Gestalt des Brutalanda mit bloßem Auge kaum ausmachen, selbst wenn sie einmal kurz hinter den Wolken hervorbrach. Nun, da der Junge namens Ryan Carparso für dieses laut umworbene Match das Feld betreten hatte, würde sie sich kaum noch verstecken müssen und konnte unbehelligt zusehen, was er und seine Pokémon dort trieben. Sie hatte bereits Sumpex´ und Guardevoirs Siege beobachtet, doch handelte es sich bei keinem von beiden um einen Triumph, auf den man besonders stolz sein sollte. Mit einem einzigen Schlag hätte Ruby sie niedergestreckt, ohne wirkliche Mühe aufzuwenden. Jetzt aber schien endlich ein Gegner von würdigem Format zu warten und sie war sehr gespannt, wie Ryan sich behaupten würde.

    Die Drächin schnaubte verblüfft. Hatte sie den jungen Mann gedanklich gerade beim Namen genannt? Sie überlegte tatsächlich einen Moment lang sehr angestrengt. Ja, doch. Genau das hatte sie. Merkwürdig. Normalerweise machte sie sich nichts aus Namen von Menschen. Selbst bei Mila und ihrer Partnerin hatte es seine Zeit gedauert, bis sie wirklich verinnerlicht worden waren. Und nur die Priesterin selbst nannte sie heute noch bei diesem.

    Ruby schüttelte diese lästigen Gedanken ab. Es war nicht die Zeit zum Grübeln. Schon gar nicht, über ihn zu grübeln. Über ihren… Trainer. Allein dies zu denken fühlte sich noch immer unsagbar befremdlich an. Genaugenommen hatte sie ihn auch nicht als solchen akzeptiert. Würde sie vermutlich auch nicht. Er und seine sogenannte Familie wurden bis auf weiteres toleriert. Dabei wollte sie es für den Augenblick gerne belassen.


    Ryan ließ alle ungewöhnlich lange warten. Man könnte es nicht verübeln, wenn ihm jemand unterstellte, er würde polarisieren. Sollten sie doch. Das kümmerte ihn gerade kein Bisschen. Er setzte dennoch seinen Weg alsbald fort, um nicht ungewollt andere Blicke hinauf zu Ruby zu lenken. Dass dieses Bilderbuch Brutalanda zum Publikum zählte, ging niemanden etwas an und blieb besser ein Geheimnis. Stattdessen wischte er seine Haarpracht zurück, um sein Sichtfeld frei zu machen und Terry zu fixieren. Er sah ihn während der folgenden Schritte allerdings nicht auf dem Kampffeld des Prime Stadiums. Sie beide befanden sich im berühmten Knofensa-Turm von Viola, flankiert von einem alten Mönch im Kimono, der ihnen kryptische Denkanstöße über die Beziehung zu ihren Pokémon gegeben hatte und nun mit eigenen Augen beobachten wollte, ob sie mit ihren Partnern wirklich Eins waren. Auch wenn der Mann stellenweise sehr abwesend wirkte und mehr mit sich selbst, als mit den beiden Trainern zu reden schien, war es wahnsinnig demütigend gewesen, vor seinen Augen zu verlieren. Hätte nur noch gefehlt, dass er sich Terrys Geprahle von dessen ach so überlegener Bindung zu seinen Partnern anschloss, was zum Glück nicht eingetreten war. Eine Schmach war es für Ryan dennoch gewesen.

    Dann sah er ihn im Unterholz des Steineichenwaldes, direkt vor dem alten Schrein aus fein geschnitztem Holz. Alt und zerbrechlich, weder groß noch beeindruckend, aber vielleicht verlieh gerade diese Einfachheit ihm seinen mythischen Charme. Dies und die makellose Stille, die ihn umgeben hatte. Jene war von seinem verhassten Rivalen gestört worden, als Ryan für eine Minute hatte in sich kehren und diesen Ort hatte würdigen wollen. Jedes Mal, wenn er an Schreinen, Ruinen oder anderen sagenumwobenen Bauten vorbeikam, suchte er dort einen Moment der Ruhe, um jene auf sich wirken zu lassen. Um zu realisieren und auch ein wenig zu träumen, wer auf diesem Fleckchen Erde gestanden haben oder was vor vielen Jahren hier passiert sein mochte. Welche Geschichten diese Bauten ihm erzählen könnten, wären sie nur fähig zu sprechen. Terry hatte jeglichen Respekt dafür vermissen lassen und ihn ausgerechnet hier gestört, um seine – so hatte er damals geglaubt – in Stein gemeißelte Überlegenheit erneut zu demonstrieren. Ryan hatte sich letztlich dazu breitschlagen lassen. Allerdings nicht, um zu beweisen, dass er besser war, sondern um ihn für seine Takt- und Respektlosigkeit zurechtzustutzen. Er hatte mit dem alten Schrein im Rücken gekämpft und selbst heute könnte er noch darauf schwören, von einem Rückenwind getragen worden zu sein. Als sei der Schrein auf seiner Seite gewesen. Nie wieder hatte ein Match zwischen ihnen so einseitig ausgesehen.

    Anschließend standen sie am Strand von Anemonia City. Ryan war in dem Glauben gewesen, Terry ausgewichen zu sein, indem er von Dukatia City ein kleines Transportschiff dorthin genommen hatte. Die meisten reisten nordwärts Richtung Teak. Dass sie beide exakt denselben Gedanken gehabt hatten, war ihnen extrem übel aufgeschlagen. Zugegeben, die gesamte Fahrt hätten sie sich dadurch nicht gleich verderben brauchen, aber auf so kleinem Raum war es grundsätzlich schwierig, sich aus dem Weg zu gehen. Besonders für Rivalen. So hatte sich auf dem Weg in die kleine Küstenstadt einiges an Unmut aufgestaut, welchem nach ihrer Ankunft Luft gemacht werden musste. Allerdings hatte Ryan sich von seinen Emotionen zu stark einnehmen lassen. Meist war das etwas Gutes, aber nicht, wenn es sich um so negative Emotionen handelte. Terry hatte die zu jener Zeit viel besser im Griff gehabt, daher weit besonnener gekämpft und schlussendlich gewonnen. Was war das für ein gebrauchter Tag für Ryan gewesen.

    Das bis dato wichtigste ihrer Duelle hatte wenig später beim Strudel-Cup stattgefunden. Ein Turnier für Wasserpokémon, an dem auch Audrey teilgenommen hatte und bei welchem dem Sieger ein seltenes Amulett winkte, das jeden Vertreter dieser Gattung stärkte. Es war das erste Mal gewesen, dass sie einander bei einem offiziellen Kampf gegenübergestanden hatten. Dementsprechend groß war der Ehrgeiz gewesen, dieses Amulett zu gewinnen. Es sollte zu einem Symbol ihrer Rivalität werden und immer an diesen Tag erinnern. Impergator hatte es mit sehr viel Stolz getragen – und sich ebenso geschämt, als es während des zweiten Arenakampfes mit Sandra zerbrochen war.

    Im Tanztheater von Teak war Ryan ebenfalls Sieger gewesen. Bis heute war es das einzige Mal, dass sich ein Ausgang zwischen ihnen wiederholt hatte und als objektiver Beobachter musste man einfach festhalten, dass Ryan zu dieser Zeit schlicht der Bessere gewesen war. Damals wollten sie die fünf Tänzerinnen herausfordern, für die diese Stadt unter anderem berühmt war, doch da sich beide Parteien kindischer Weise geweigert hatten, sie unter sich aufzuteilen, hatten das Recht des Stärkeren den Herausforderer bestimmt. Terry hatte somit einen weiteren Tag auf die Chance, gegen die vielen Weiterentwicklungen von Evoli zu kämpfen, warten müssen. Das war an sich nicht weiter tragisch, schon gar nicht in einer geschichtsträchtigen Stadt wie Teak City, die mehr als genug Möglichkeiten bot, die Zeit totzuschlagen. Die damit verbundene Niederlage war es dagegen durchaus.

    Der See des Zorns stellte ihren letzten Schauplatz dar, bevor die Silberkonferenz begonnen hatte. Ein stürmischer Tag war es gewesen. Kaskaden hatten sich aus dem Himmel ergossen und waren gefühlt fast waagerecht auf sie eingeprasselt. Dem Wind war kaum standzuhalten gewesen. Die Vernunft war da aber schon über Bord geworfen worden und keiner hatte den Vorschlag machen wollen, das Duell zu vertagen. Es war eine ihrer hitzigsten Schlachten gewesen und mit Abstand die schmutzigste, was leider nicht nur am Wetter gelegen hatte. Obendrein war es bis heute der einzige ihrer Kämpfe, der unentschieden geendet hatte. Zumindest in einem offiziellen Kampf. Nach den Straßen-Regeln hätte Ryan verloren, da Terrys Admurai erst eine Sekunde später zu Boden gegangen war.

    Und dann war das noch das Finale der Johto Liga. Vor einigen Wochen noch hätte Ryan sich eher selbst verprügelt, anstatt sich diesen Tag in Erinnerung zu rufen. Damit hatte er sich schließlich tagelang gequält und sich selbst runtergezogen. Hatte das Gefühl gehabt, nicht mehr aufstehen zu können. Dass alles vorbei sei. Aber das lag hinter ihm. Die Schmach und die Enttäuschung existierten zwar nach wie vor, doch ging er unterschiedlich damit um, empfand anders. Letztendlich war es doch nur ein weiterer von wahrscheinlich vielen Akten gewesen, den die beiden noch durchspielen würden. Zugegeben, es war bislang der größte und genau deshalb würde Ryan dies korrigieren und irgendwann selbst die Krone des Silberberges aufsetzen. Ob Terry mit von der Partie wäre, war dabei zweitrangig. Wenn sich eine weitere Gelegenheit bieten sollte, ihn auf großer Bühne zu bezwingen, dann umso besser. Falls nicht, war´s auch egal. Es ging schließlich nicht um Revanche. Es ging um das Spiel. Und das Spiel hörte niemals auf.


    Ryan hatte seine Kampfposition erreicht. In seinen Augen brannte ein marineblaues Feuer. Nein, das war unpassend für diese Augen Lugias. Eher tobte ein Sturm darin. Einer der in der Lage wäre, das ganze Stadion niederzureißen. Das ließ Terry zumindest nach außen hin jedoch völlig unbeeindruckt, aber der Blonde war sicher, dass er bloß pokerte. Entweder dies oder er war wirklich so naiv und sah in ihm weiterhin einen gebrochenen Trainer, einen Schatten seines früheren Selbst, der für ihn kein Hindernis darstellte. Ryan würde es schon merken, wenn er tatsächlich nicht ernst genommen werden sollte, aber eigentlich hielt er Terry nicht für so dumm. Nicht auf dieser Ebene zumindest.

    „Boah Leute, ich kann die Luft bis hier oben knistern hören. Für alle, die´s nicht wissen – die Jungs da unten sind nicht grade beste Kumpels. Hier wird nicht nur ein hochklassiges Match ausgetragen, sondern eine erbitterte Rivalität fortgesetzt“, erklärte Cay, während der Schiedsrichter die Regeln darlegte. Ein Doppelkampf ohne Wechsel. Erst wenn beide Pokémon einer Seite kampfunfähig waren, stünde der Sieger fest. Ryan hatte sich für jedes mögliche Los eine Option ausgedacht und da das Schicksal ihm nun Terry gegeben hatte, brauchte er gar nicht zweimal überlegen. Gleichzeitig schmunzelte er über die Wortwahl des Stadionsprechers und war damit absolut auf seiner Seite. Fortsetzung traf es sehr gut. Die Mentalität des Neuanfangs, den er einst angestrebt hatte, war längst umgeschrieben worden. Er war kein Anderer. War niemand Neues. Er war wieder er selbst und knüpfte da an, wo er unterbrochen hatte.

    „Bereit für die nächste Runde?“

    Er versprach sich von der Frage nicht wirklich etwas. Ryan hatte lediglich das Bedürfnis, etwas zu sagen, bevor es los ging. Selbst wenn er dafür nur Hohn oder Schweigen ernten sollte. Tatsächlich las er bei dem Trainer aus Einall eher dezente Verwunderung. Das erkannte er an den geschürzten Lippen und der hochgezogenen Braue.

    „Du rechnest dir wirklich noch Chancen aus, oder?“

    War es noch immer nicht deutlich genug? Dann eben absolut unmissverständlich.

    „Ich werd dir den Arsch aufreißen“, versprach Ryan mit einem euphorischen Grinsen und breitete die Arme ein Stück aus, als präsentiere er sich als seine Nemesis. Terry reagierte nur mit unverständlichem, geradezu bemitleidendem Kopfschütteln. Er war sich seiner Sache scheinbar genauso sicher und benahm sich, als stünde ein Geisteskranker vor ihm. Das konnte nur noch mit einem trockenen Auflachen quittiert werden, aber Terry musste noch einen draufsetzen.

    „Dir sollte mal klar werden, wie die Rollen hier verteilt sind. Ich bin der amtierende Champ von Johto...“

    „Und ich bin Ryan Carparso!“, stellte er felsenfest klar und sprach von seinem Namen in deutlich höheren Tönen als von der Liga. Er hätte gar die Möglichkeit, auf seinen Siegeszug vom Indigo Plateau hinzuweisen, der von Cay bereits erwähnt worden war. Bei diesem war Terry auch im Stadion gewesen, allerdings vor dem Finale gescheitert und hatte Ryan nicht gegenüber gestanden. Überhaupt hatten sie sich damals noch gar nicht gekannt. Doch das lag lange zurück und damit zu prahlen war eh nicht Ryans Stil. Er definierte sich nicht durch einen Titel. Sondern durch seinen Charakter. Und sein Charakter war definitiv stärker als Terrys Goldmedaille!

    Die Erklärung hierzu sparte er sich. Taten sprachen deutlichere Worte als seine Stimme es vermochte. Seine Taten würden laut sein. Würden schreien und toben und Terry hier und heute niederringen. Daraufhin würde der wiederum neuen Ehrgeiz finden und bissiger, hungriger zurückkehren. So lief das immer zwischen ihnen, zwischen Rivalen.

    Der Rotschopf zückte nun zwei Pokébälle und rümpfte die Nase als hätte sein Gegenüber etwas Offensichtliches, vielleicht sogar Überflüssiges gesagt. Ein Uneingeweihter würde davon ausgehen, dass genau dies der Fall war. Aber es war nur die Geringschätzung, die aus ihm sprach und die Worte so auslegen wollte, als untermauerten sie sein eigenes Argument.

    „Ich weiß“, meinte er nur. Womit er das Gegenteil bewies.

    „Du weißt überhaupt nichts.“

    Ryan langte in die Balltasche an seine Gürtel. Er nahm die beiden vordersten. Die jener Pokémon, die den Sieg über diesen Gegner gar noch mehr wollten als er selbst. Genau daher wählte er sie ja.

    In den Katakomben hatte Andrew sich an eine Säule gelehnt, von der aus er Bella, die wie immer ganz hinten im Raum saß, zumindest noch aus dem Augenwinkel heraus beobachten konnte. Eigentlich verspürte er gar keinen Wunsch, eben das zu tun, aber ein Gefühl sagte ihm, dass es deutlich klüger war. Sollte sie sich einmal davonstehlen, wenn er gerade nicht hinsah, würde er sich sofort die schlimmsten Möglichkeiten ausdenken, was sie nun tun könnte. Und sollten sich derartige Befürchtungen dann bewahrheiten, würde er sich das vermutlich nie verzeihen. Jedoch machte sie ganz und gar nicht den Eindruck, auf irgendeine Gelegenheit zu lauern. Nirgendwo anders wollte sie jetzt sein. Nichts Anderes tun. Sie fing nicht einmal Andrews Blick auf, um ihn verschmitzt anzulächeln und damit mal wieder zu verhöhnen. Sie schien selbst sehr interessiert an dem Match von Ryan und Terry. Gerade hob die Agentin ihren Flachmann, als wolle sie mit den beiden durch das Fernsehbild anstoßen und murmelte leise Worte, die außerhalb der Hörweite des jungen Trainers blieben.

    „Jetzt wirst du´s ja sehen, Terry.“

  • Hallo,


    das Kapitel stand ganz im Zeichen von Ryans und Terrys Rivalität und ich fand es spannend, wie intensiv sich hier Emotionen aufbauten. Normalerweise wirken sie doch recht gefasst und durch die Erinnerungen an vergangene Erlebnisse sowie Kämpfe baut sich eine enorme Erwartungshaltung an diesen bevorstehenden Kampf auf. Nicht nur in Bezug auf die gewählten Pokémon und den Ablauf, sondern auch, welche Konsequenzen beide Trainer am Ende daraus ziehen können. Im Übrigen wirkt Rubys Anwesenheit wie eine Vorahnung, dass sich auch in ihr etwas für Ryan regen könnte. Für den Moment erwarte ich das allerdings noch nicht.


    Wir lesen uns!