Kapitel 46: A night out
Gerne hätte Ryan noch ein letztes Wort mit Cody gewechselt. Hätte sein durchaus respektables Ergebnis gewürdigt und ihm zum Abschied auf die Schulter geklopft. Doch nach der Bekanntgabe der Achtelfinalisten war er nicht mehr auffindbar gewesen. Ironischerweise war Ryan nun, ein paar Stunden später, gar nicht mal mehr unglücklich über diese Tatsache. Sonst würde er sich jetzt wie ein Heuchler vorkommen, da er jemanden für seinen 18. Platz gelobt hätte, während er noch vor ein paar Monaten einen zweiten Rang und viel stärkerer Konkurrenz als wertlos erachtet hatte. Und ein bisschen tat er das noch immer. Der zweite war der erste Verlierer – so hatte er selbst es stets angesehen. Vielleicht zu lange, um es nochmal zu ändern. Was er ändern konnte, geändert hatte, war die Art, wie er mit einem zweiten Platz umgehen würde.
Ryan verzettelte sich in vielerlei Gedankengängen, sodass er sich irgendwann kaum noch erinnern konnte, wie er zu ihnen gelangt war. Gedanken über sich selbst, seine vergangenen Turniere, das momentane, seine mentale Einstellung zu verschiedenen Dingen oder auch seine Begegnungen mit anderen Trainern. Cody war da zugegebenermaßen nicht von solcher Tragweite wie Audrey oder Terry, aber dennoch trug der Blonde den Wunsch in sich, eines Tages wieder gegen ihn zu kämpfen. Wenn er die Gelegenheit hatte, Erfahrung zu sammeln und stark zu werden.
„Du bist ziemlich still.“
Melody stellte dies sehr leise fest, wollte eigentlich gar keinen Grund erfahren, warum Ryan das war. Sie machte sich lediglich Sorgen, dass er sich in negativen Gedanken verirrte. Sie – Ryan, Melody, Andrew und Sandra – saßen in der verqualmten Kneipe von Pete. Der hatte nicht schlecht zu tun mit seiner Besucherschaft, obwohl es nicht sonderlich viele waren. Nur viel Durst hatten sie. Und er kümmerte sich um seine Sondergäste nicht mehr oder weniger aufmerksam, als um den Rest.
„Ich denk an morgen“, tat er die Anspielung ab. Damit log er nur ein bisschen, denn teilweise führten ihn seine Gedankengänge wirklich an den zweiten Turniertag. Oder eher an mögliche Verläufe und Gegner.
Sie hatten sich nicht aus einem bestimmten Grund bei Pete eingefunden. Mila und Sheila waren nicht einmal hier. Es hatte die vier ganz einfach wenig gereizt, den Abend im Pokémoncenter zu verbringen. Jene unter ihren Partnern, die heute gekämpft hatten, unterzogen sich gerade einigen Routinechecks, aber mit irgendwelchen Hiobsbotschaften war eigentlich nicht zu rechnen.
„Deine Vorgehensweise war eine andere, als noch in meiner Arena“, begann Sandra und unternahm damit einen Versuch, seiner Schweigsamkeit entgegenzuwirken. So wollte sie ihn nicht sehen müssen und er tat sich auch selbst keinen Gefallen, wenn er pausenlos grübelte. Während ihrer Trainingstage im Wald außerhalb von Graphitport hatte er doch selbst erlebt, wie man sich selbst unter mentalem Druck zugrunde richten konnte. Er sollte sich selbigem nicht auch noch hier aussetzen.
„Ich bin´s eigentlich gewohnt, den Gegner zu steuern und auflaufen zu lassen. Das hab ich mich aber in den wenigsten Arenen getraut“, erklärte er schulterzuckend. Schon ironisch, dass gerade die Person mit der wenigsten Erfahrung von der Materie hier Ratschläge geben wollte. Und dann nicht mal besonders clevere.
„Never change a running system, Ryan. Noch nie gehört den Spruch?“
So einfach war´s dann nun auch wieder nicht. Es gehörte schon mehr zum Gewinnen, als ein einziges, gutes Rezept zu finden und immer zu wiederholen. Man musste sich unaufhörlich weiterentwickeln.
„Na, na, bisschen anpassungsfähig muss man schon sein.“
Die beiden stichelten und neckten sich fast ununterbrochen, wenn Melody ihn denn mal aus seinen geistigen Monologen zu entführen vermochte. Die waren ganz schön verknallt. Ein kurzer Augenkontakt verriet, dass sowohl Andrew als auch Sandra diesen Gedanken teilten.
„Ich sag´s nicht allzu gerne, aber der Erfolg gibt Ryan schon Recht“, merkte Andrew an und lehnte sich zurück. Der zuckte mit den Schultern.
„Wollte einfach nicht zu vorsichtig sein und dem Gegner das Feld überlassen, verstehst du? Gegen die meisten Trainer kann ich mir das erlauben, aber in der besten Arena Johtos kann man doch nicht so passiv auftreten.“
Das fasste die Drachenmeisterin durchaus als Lob auf. Egal, ob Ryan es beiläufig oder sehr bewusst aussprach, diese Worte von ihm zu hören machte sie stolz. Gerade nach den letzten Tagen und Wochen schätzte sie sowohl seine Fähigkeiten als auch seinen Charakter immens. Das ließ sie ihn wissen, indem sie ihr Glas in seine Richtung erhob.
Nach einem nicht allzu tiefen Schluck fiel ihr etwas anderes ein, das sie ihn und auch Andrew schon längst hatte fragen wollen.
„Wenn ihr beide die Wahl hättet, gegen wen würdet ihr morgen gerne antreten?“
„Terry.“
Die Arenaleiterin hatte kaum ausgeredet, ehe die Antwort gefallen war. Ryan hatte nicht einmal überlegt. Es war eine unbewusste Reflexreaktion, auf solche Fragen den Namen seines Erzrivalen zu nennen. Genau wie auf die Frage, wen er am liebsten in einem See voller Garados versenken wollte.
Andrew lachte trocken über die Antwort. Darauf hätte er sein letztes Hemd verwettet. Weniger sicher wäre die Frage nach der Wahl seiner Pokémon, sollte dieser Fall eintreffen. Stellen wollte er diese Frage aber nicht. Die Überraschung wollte er sich beibehalten.
Worüber Ryan dann wiederum nachdachte, war die restliche Liste seiner Wunschgegner. Und diese auszusprechen, ließ ihn dann doch geradezu provokant schmunzeln.
„Und Audrey. Und natürlich euch beide.“
Er zählte langsam auf. Als plane er den Verlauf nach seinem Willen im Kopf. Damit stichelte er quasi gegen alle seine Freunde und potenziellen Gegner. Was ihn zum letzten Namen auf der Liste brachte, welcher den Frohsinn gleich wieder aus seiner Mimik verbannte. Gar wirkte er gleich noch ernster und energischer.
„Und Bella.“
Ryan wünschte noch im selben Moment, er hätte sich diesen letzten Namen verkniffen. Ihn auszusprechen war von keinem Nutzen, ließ lediglich die Stimmung ins Negative kippen. Allerdings sollte das schon Sekunden später eh hinfällig sein.
Mit einem leisen Quietschen kündigte die aufgestoßene Eingangstür einen neuen Gast an. Leise und überlegene Schritte führten selbigen an den ersten Tischen vorbei und vor die Bar. Auf dem kurzen Weg dahin sah fast jeder Mann ihr hinterher, wollte den eleganten Hüftschwung, die schlanke Figur oder das Nachtschwarze Haar so lange wie möglich bestaunen.
Andrew war von allen am Tisch wohl am wenigsten abergläubig, doch das hier fühlte sich wirklich so an, als habe Ryan sie heraufbeschworen.
„Leck mich doch“, stammelte er leise und ungläubig über den Anblick. Sie hatte ihn unmöglich hören können, doch die Bernsteinfarbenen Augen huschten zur Gruppe herüber, als hätte sie es doch getan.
Bella schenke ihnen ein verschmitztes Lächeln, aber mehr auch nicht. Sie ging nicht auf sie zu, sprach sie auch nicht an. Wenn es sich nicht um eben die Agentin des Schwarzen Lotus handeln würde, wäre keiner auf die Idee gekommen, sie würde ihnen sonderlich Beachtung schenken. Aber dass sie sich unter allen Bars in Graphitport ausgerechnet diese aussuchte, konnte kein Zufall sein.
„Ist das…“
Melody vollendete die Frage nicht. Die Blicke waren Antwort genug. Es war die Turnierteilehmerin, von der ihr erst vorhin erzählt worden war und die im Dienst von Team Rocket stand. Was in Arceus verfluchtem Namen wollte die hier? Diese Frage wiederum sprach keiner aus, da sie ohnehin jeder dachte. Ryan überkamen sogleich diverse böse Vermutungen. Er begann sich unter den anderen Gästen umzusehen.
„Sind hier noch mehr…?“, überlegte er. Keiner verhielt sich auffällig. Weder erkannte der junge Trainer irgendwelche verräterischen Signale, noch schien sich jemand von ihrer Ankunft geradezu verdächtig unbeeinflusst zu stellen. Sandra war in dieser Frage schon einen Schritt weiter.
„Sicher nicht. Die sind zu betrunken oder haben sie zu lüstern gemustert. Außer uns kennt sie keiner hier.“
In der Tat würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Partner oder Untergebener der Agentin sich weder volllaufen lassen, noch ihr so eifrig hinterherstarren. Bella entging die sofort angestiegene Wachsamkeit der Gruppe natürlich nicht. So sie sich auch arglos und unbehelligt gab, hatt sie immer ein Auge auf sie. Doch scheren tat sie sich scheinbar auch nicht darum. Sie amüsierte sich nur einen Moment daran, ehe sie sich einen Barhocker schnappte und darauf niederließ. Ihre Augen wanderten anschließend regelrecht verträumt durch die Regale, die sich an der Wand vor ihr ausbreiteten. Schnäpse, Wodka, Rum, Sake, Weine und Liköre der besten Sorten. Selbst sie würde es wohl nicht schaffen, sich durch alle durchzuprobieren, nach denen ihr gelüstete. Hier lagerte wahrlich alles, was ihr Herz oder eher ihre Leber begehrte. Was ihr Herz anging, so würde aller Alkohol dieser Welt nicht jedes ihrer Verlangen Stillen können.
Ein recht adretter Barkeeper schien sich fast genötigt, sie aus ihrem verträumten Zustand zu reißen, indem er keck mit ausgebreiteten Armen die Handflächen auf die Theke klopfte. Allerdings nicht zu fest oder aggressiv.
„Was darf´s sein, Lady?“, fragte Pete charmant. Ryan war äußerst neugierig, wie er der Agentin gegenübertrat und beobachtete ihn sehr genau. Sein Pokerface war absolut tadellos. Wüsste er es nicht besser, wäre er davon ausgegangen, er habe nicht die geringste Ahnung, wen er vor sich hatte. Natürlich wusste er das allzu gut.
„Die Auswahl ist üppig“, seufzte sie sehr zufrieden und ließ sich mit der Entscheidung Zeit. Sie musste wohl überlegt sein. Währenddessen kreiste ihr Zeigefinger verspielt auf dem Tresen.
„Ich denke, ich fang mit einem Gin an.“
„Ein bisschen konkreter werden sie schon sein müssen, Lady.“
Wie von allem anderen auch hatte Pete hiervon mehr als eine Sorte auf Lager. Bella schien diese Neuigkeit sehr zu gefallen. Ihr süffisantes Lächeln hätte wohl die meisten Männerherzen zum Schmelzen gebracht. Es gab einem das Gefühl, gejagt zu werden – mit dem Unterschied, dass man nichts Böses zu befürchten hatte, wenn man erwischt wurde. Eher durfte man das Gegenteil erhoffen.
„Dann hab ich die richtige Bar ausgesucht.“
Er ließ sich kein bisschen aus der Ruhe bringen. Und es machte Bella durchaus Spaß, ihn bei seinem Schauspiel zuzusehen. Selbstverständlich hatte auch sie seine Visage nicht vergessen. Obwohl er in den Wäldern bei ihrem Hinterhalt nur eine Randfigur gewesen war.
„Gib mir, was du trinken würdest, Pete.“
Sie hatte nicht auf sein Namensschild geschaut und das war ihm auch absolut klar. Dennoch konnte er allein durch die Tatsache, dass er es ausnahmsweise mal trug, so tun, als wäre es doch der Fall und die Scharade bedenkenlos fortsetzen. Die Genugtuung würde er ihr nicht verschaffen, als der Freund ihrer Feinde aufzutreten, der er war.
„Und nenn mich Bella“, warf sie noch ein, als Pete sich gerade umdrehen wollte. Dabei lehnte sie sich aufdringlich nach vorn, sodass er ihre Worte selbst im Flüsterton noch genau hören konnte. Nebenbei wäre hier wohl so ziemlich jedem Mitglied des männlichen Geschlechts der Blick in Richtung ihres Dekolletés entwischt. Nicht so bei Pete. Diese Schauspielkunst verdiente einen Preis.
„Ich bin so einiges, aber sicher keine Lady.“
Er setzte weder das charmante Lächeln auf und neigte das Haupt ein wenig, als würde er ihren Wünschen nur allzu gerne nachkommen und ihren Small Talk obendrein sehr genießen. Tatsache war, dass er ihr das gewünschte Getränk gerne in Verbindung mit einem Feuerzeug überbringen würde.
Nur wenige Meter weiter hatte man die Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum Bella hier war, inzwischen aufgegeben. Es stand mittlerweile eine andere im Raum, die sich allerdings als ähnlicher Brocken entpuppte.
„Was machen wir jetzt?“
Dass ausgerechnet Ryan jene Frage aussprach, förderte nicht gerade die Zuversicht. Er war der einzige hier, der mit ihr schon einmal Kontakt gehabt hatte. Gerade Melody spürte die Nervosität in sich aufsteigen und hätte nichts lieber getan, als augenblicklich das Feld zu räumen. Doch selbst sie befand, dass dies eine schlechte Entscheidung wäre. Sie durften sich Bella gegenüber nicht so schwach und ängstlich zeigen. Schon gar nicht, wenn sie nicht einmal Drohungen vermittelte.
Ryan hatte bei seinem kurzen Gespräch mit ihr während des Turniers nicht das Gefühl gehabt, dass sie damit ein konkretes Ziel hatte verfolgen wollen. Es hatte kein Sinn oder Anlass darin bestanden. Er schätzte, dass sie den Kontakt aus eigenem Interesse gesucht hatte. Konnte gut sein, dass ihr diese Spielchen lediglich Vergnügen bereiteten und ihr das schon reichte.
„Ihr könnt gern weiter überlegen“, stellte Andrew unerwartet klar und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Er wünschte gerade, er hätte das Zeug nicht mit Cola gemischt. Die Verdünnung behinderte sein Ziel, sich Mut anzutrinken.
„Aber ich geh zu ihr rüber.“
Er eilte sich, aus der Reichweite von Sandra und Ryan zu entkommen, um nicht von ihnen aufgehalten zu werden. Mit Gewissheit würden sie das tun und wäre er an ihrer Stelle, würde er das ebenfalls. Um es klar zu sagen, Andrew hielt es selbst für eine schlechte Idee und wusste selbst nicht, warum er sich dazu entschied. Doch er hatte durch die Begegnung in den Wäldern sowie den Erzählungen von Ryan und Mila eine vage Vermutung, wie diese Frau tickte und wenn er wenigstens halbwegs richtig lag, würde sie heute Abend keinen Angriff wagen. Er vermutete stark, dass sie auf so einen nicht einmal aus war, selbst wenn sich die Gelegenheit bot. Schon gar nicht auf ihn. Wer war er denn schon in all diesem Zirkus? Verglichen mit Ryan oder Mila war er ein Niemand. Und darüber war er gar nicht mal unglücklich.
Tatsächlich wurde nicht einmal versucht, Andrew aufzuhalten. Bis alle sichergestellt hatten, sich nicht verhört zu haben, war diese Option bereits dahin und er zog den Barhocker direkt neben Bella zu sich.
„Ist der frei?“
Für einen Augenblick verlor Pete sein von Ryan still gepriesenes Pokerface. Zu seinem Glück war die Agentin ebenfalls zu überrascht und abgelenkt durch den jungen Trainer. Sie zog eine Braue hoch und sah keineswegs abgeneigt, ja geradezu verspielt zu ihm hoch. Wenn es auch nur ein Seitenblick war. Ihr Glas roch bereits auf die Entfernung viel zu stark für ihn, aber er ignorierte das Stechen in seinem Geruchsorgan. Andrew blickte sehr nüchtern in ihre bernsteinfarbenen Augen. Schenkte ihr weder ein Lächeln noch einen kleinen Funken Höflichkeit – abgesehen von der Tatsache, dass er gefragt hatte, anstatt sich einfach zu setzen.
„Jetzt nicht mehr, wie´s aussieht“, schmunzelte sie und leerte ihr Glas in einem Zug. Wie stellte sie das an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken?
„Sehr gut. Gib uns zwei davon“, orderte sie, ohne Pete anzusehen. Vielleicht würde der Abend doch noch mehr außer Getränken zu bieten haben. Der Barkeeper zögerte eine Sekunde, befand aber, dass er Andrew nicht derart bloßstellen konnte, dies auszuschlagen. Widerwillig und mit einem scharfen, warnenden Blick in Richtung des Jungen fischte er nach einem zweiten Glas und füllte zu einem Drittel auf. Zumindest beim ersten. Das zweite, wurde ganz voll gemacht, da Bella mit der Hand nachlangte und die Flasche geneigt hielt, bis sie zufrieden war. Auch hierbei hafteten ihre Augen eisern an Andrew. Ein Teil von ihm befürchtete fast, sie würde ihm das volle Glas reichen, doch schob sie ihm jenes zu, das mit weniger giftigen Mengen gefüllt war. Die Hand, mit der sie das tat, war um den Knöchel und die Kante bandagiert. Zweifellos das Andenken an Sheilas Klinge.
„Geht auf mich.“
Er bedankte sich nicht. Einen Moment überlegte er sogar, ob er überhaupt trinken sollte. Er hatte genau ein Mal hochprozentigen Alkohol getrunken und war minder begeistert gewesen. Obendrein war er streng genommen noch ein paar Monate zu jung, um dies legal tun zu dürfen, doch hier und jetzt konnte das natürlich keine Rolle spielen. Hatte es beim ersten Probieren schließlich auch nicht.
Andrew setzte sich zur Bar gerichtet und vermied es, Bella direkt anzusehen. Dass sie ihn zum Anstoßen aufforderte, war allerdings unmöglich zu ignorieren. Und dieses süffisante Lächeln, mit dem sie das tat. Es war echt zum Kotzen. Jedoch würde es wohl wenig bringen, ihr kontinuierlich die kalte Schulter zu zeigen. Im besten Fall würde ihr dieses Spiel dann im Nu langweilig und er könnte sich genauso gut wieder verziehen. Im schlimmsten Fall bereitete er ihr damit noch mehr Amüsement.
Selber anstoßen wollte er dennoch nicht, aber er gestattete der Agentin, es bei ihm zu tun. Andrew fackelte nicht lange und stürzte den Großteil von seinem Gin flott hinunter, damit nicht der Eindruck entstand, sie genossen hier wirklich zusammen bloß ein paar Drinks. Gemeinsam… wie Freunde. Bei dem Gedanken wurde ihm übel. Bei dem Geschmack auch fast. Schmeckte sehr bitter das Zeug und es schüttelte ihn von oben bis unten. Er konnte es geradeso vermeiden, komische oder gar peinliche Laute zu machen. Bella kicherte schadenfroh.
„Stärker als das, was du sonst trinkst?“
Nun war er es, der ihr einen Seitenblick, aber ja nicht mehr schenkte. Und ohne Lächeln.
„Bisschen.“
Sie dagegen genoss das Gesöff richtig, leerte diesmal aber nur knapp die Hälfte, was ob der Füllmenge noch immer weit mehr war, als Andrew probiert hatte. Nun, da er den Geschmack kannte, bildete sich der junge Trainer ein, ihn allein durch den Anblick schon wieder im Rachen zu schmecken. Er wünschte, er hätte was zum Runterspülen.
„Genießt du das Turnier?“, fragte Bella aus heiterem Himmel und schlug das rechte Bein über das linke, während sie mit dem Ellenbogen an der Theke lehnte. Sie wandte sich ihm ganz zu. Von außen musste es fast aussehen, als sei sie in mehreren Aspekten... stark interessiert an dem Pokémontrainer.
„Mhm, macht Spaß“, antwortete er knapp. Seine Stirn lag in Falten. Hatte sie aus reiner Neugier gefragt? Sein Verstand sagte ihm natürlich, dass das unmöglich sein musste, doch sein Gefühl vermittelte genau diesen Eindruck. Es war keine Spitze, keine Anspielung oder verborgene Drohung zu erkennen. Der Verdacht erhärtete sich, als sie sich locker zurückfallen ließ und erheitert auflachte.
„Nicht wahr? Ich liebe es, hin und wieder mit Amateuren zu spielen.“
Eine sadistischere und widerwärtigere Antwort hätte man sich kaum ausdenken können. Sie machte ein Gesicht, als bemerke sie dies gerade und fasse es nicht, dass sie es laut ausgesprochen hatte. Tatsächlich ging es ihr aber um etwas Anderes.
„Tschuldige. Dich mein ich natürlich nicht. Keinen von euch.“
Auch hier klang sie absolut ehrlich.
„Danke, dass du uns nicht zum Bodensatz zählst“, erwiderte Andrew bloß nüchtern. Hoffentlich ließ sie die Gelegenheit aus, ihn hier auf´s Korn zu nehmen. Schon im nächsten Moment ärgerte er sich, war geradezu fassungslos, dass er ihr solche Vorlagen gab. Er musste aufpassen, dass er sich nicht von ihrer lockeren Art – fast hätte es Ehrlichkeit genannt – aus dem Konzept bringen ließ.
Wie sah das Konzept eigentlich aus? Oder der Plan? Der Sinn? Nichts davon hatte er vorliegen gehabt, als er sich erhoben hatte.
„Jetzt hör aber auf. Ich freu mich total auf morgen. Hatte lange keine Herausforderung. Ich versprech mir einiges von euch.“
Ihr Mundwerk plapperte absolut lose. Aber nicht vom Alkohol. Ungeachtet der Stärke dieses Zeugs traute er ihr das nach so kurzer Zeit nicht zu. Nein, sie war einfach unbekümmert und offen. Was kein gutes Zeichen sein konnte, denn das bedeutete, dass sie in Andrew und seinen Freunden keine Bedrohung sah. Das wäre zumindest die logische Auslegung, die man treffen sollte, wenn man auf der Hut war. Doch der junge Trainer konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie gar nicht an all das dachte. An Team Rocket, den Schwarzen Lotus, Rayquaza. Man könnte glatt meinen, sie habe vergessen, dass sie Feinde waren.
„Ich geb mein Bestes, dich nicht zu enttäuschen“, murrte Andrew diesmal etwas zynisch und nippte an seinem eignen Getränk, womit es auch schon leer war. Schmeckte plötzlich viel schwächer. Bellas Grinsen verriet, dass sie die versteckte Kampfansage erkannte, jedoch keineswegs missmutig aufgriff. Das Versprechen gefiel ihr sogar.
„Hast du dich deshalb vom Schwarzes Lotus anheuern lassen? Weil du die Herausforderung suchst?“
Einige Sekunden war es still zwischen den beiden. Pete hatte aus ein paar Metern Abstand noch vage vernommen, was über Andrews Lippen gekommen war und er könnte ihm für die Dummheit sofort eine Flasche auf dem Kopf zerschmettern. Aber nun waren die Worte raus.
Bella schien jedoch nichts aus der Ruhe bringen zu können. Lediglich ihre Heiterkeit wurde etwas gebremst. Und Andrew konnte den Grund dafür kaum fassen, als die Agentin ihn nannte.
„Warum wollen alle, mit denen ich einen trinken gehe, ständig über meine Arbeit reden?“, seufzte sie ernüchtert. Sie dachte an Eaves zurück, machte sich aber schnell daran, diese Gedanken zu ertränken, indem sie ihren Gin schon wieder leerte. Andrews Brauen zuckten daraufhin und beinahe schüttelte es ihn allein bei dem Anblick erneut. Die war echt ein Monster am Glas.
„Keiner will einen gemütlichen Abend lang einfach nur mein Saufpartner sein.“
Der Grund hierfür war in diesem Fall offensichtlich und Andrew wollte ihn gerade offenlegen. Da ertappte er sich erneut bei dem Gefühl, dass Bella hier keine Spielchen spielen oder jemandem auf den Zahn fühlen wollte. Sondern, dass sie eben genau das, einen gemütlichen Abend und sonst nichts im Sinn gehabt hatte, als sie eingetreten war. Er wandte den Blick kurz ab und seufzte fast reumütig.
„Tut mir ehrlich leid.“
Das Wort ehrlich fügte er nicht grundlos hinzu. Später würde er sich jedoch nicht mehr beantworten können, warum er es gewählt hatte.
„Aber in dieser Hinsicht muss ich dich enttäuschen.“
„Mach dir keinen Kopf“, winkte sie noch beschwichtigend ab, als Andrew sich schon erhob. Dass er mit einem miesen Gefühl von dannen zog, war nicht in ihrem Interesse und sie zog auch keinen Vorteil daraus. Es gab keinen Grund für böses Blut zwischen ihnen. Nicht hier und heute Abend. Wenn es nach ihr ginge, gab es den selbst morgen nicht. Es geschah hier schließlich nichts Persönliches. Es war einfach nur ihr Geschäft.
„Andrew.“
Er stoppte tatsächlich, als sie ihm nachrief. Pete lugte über die Schulter und auch Andrews Freunde sahen mittlerweile alle rüber. Keiner machte sich mehr Gedanken, wie offensichtlich sie starrten oder ob die Agentin das mitbekam.
„Ich versteh dich vollkommen, aber trotzdem hätte es ein toller Abend werden können.“
Sie hob ihr Glas noch einmal in seine Richtung. Er sah lediglich aus dem Augenwinkel zurück, vernahm die Geste aber eindeutig und hätte sogar um ein Haar in bitterer Zustimmung genickt.
„Ich find dich gut“, fügte Bella schmunzelnd an und schenke ihm noch ein Zwinkern. Ein paar Mal blinzelte er baff, gab sich sonst aber keine Blöße. Diesmal war er fast sicher, dass sie ihn aufzog. Eigentlich wollte er dahinter auch etwas Hämisches oder Herablassendes erkennen, woran er allerdings erneut scheiterte. Sie triezte ihn verbal, kumpelhaft. Jedoch blieb er nicht lange stehen. Was er sich von diesem so kurz ausgefallenen Gespräch erhofft hatte, wusste höchstens Arceus. Vielleicht nicht einmal der. Aber Andrew hatte wenig Zweifel daran, dass Bella heute wirklich nur hatte trinken wollen und ihr leichtsinniger, durchaus verrückter Charakter ihr keinen Grund hatte finden können, dafür nicht die Bar ihrer Feinde aufzusuchen. Vielleicht war die Tatsache, dass sie Pete gehörte sogar einer der Gründe, warum ihre Wahl auf eben diese gefallen war.
Bella sah wenigstens für eine Sekunde etwas frustriert hinter Andrew her. Zu schade, dass er die Umstände nicht für ein paar Stunden beiseiteschieben konnte, aber nachvollziehbar war das durchaus. Wären jene Umstände anders gewesen, hätte er sich vielleicht auf sie eingelassen und gäbe es Sheila nicht, wäre sie dem ebenfalls alles andere als abgeneigt. Eventuell auch über das Trinken hinaus. So blieb ihr leider nur das Eine.
„Pete, deinen stärksten Rum. Hier herrscht Flüssigkeits-Defizit“, rief sie, ohne den Blick zu dem Barkeeper zu suchen. Der brauchte einen Moment, um sich aus der Starre zu lösen – und die Waffe, die er unter dem Tresen versteckt hatte, wieder aus seiner Hand zu legen. Mit einer Leiche sollte der Abend ganz gewiss nicht enden. Er wollte lediglich sichergehen, dass es für den Fall aller Fälle Bellas Leiche wäre. Sollte sie ihn jedoch nicht dazu zwingen, ließ er sich lieber seine Kasse von ihr füllen.