Votetopic
[Blockierte Grafik: http://i50.tinypic.com/1zedn4k.jpg]
Quelle
Information | Vote | Gewinner
Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr frei wählen könnt, wie genau ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenig oder zu viele Punkte enthalten können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen! Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen zur Wettbewerbssaison 2012
Ihr könnt 7 Punkte verteilen
Der Vote läuft bis zum 25.08.2012 um 23:59 Uhr.
Erneut ging die Sonne über den Horizont auf, tauchte das umliegende Wasser in eine rot-goldene Farbe und verkündete den Beginn eines neuen Tages. Eines weiteren Tages, an dem ein erneuter Kampf ums nackte Überleben stattfinden würde. Wie oft hatte sich Cait bereits gewünscht, dass sie eines Morgens aufwachen würde und endlich wieder saftiges, grünes Gras erblicken könnte oder auch bloß einen kleinen Flecken Erde, welcher sie wieder daran erinnern könnte, wie sie sich früher immer darüber aufgeregt hatte, wenn ihr Shiba Inu an ihr hochgesprungen war, nachdem er sich in irgendeiner Schlammpfütze gewälzt hatte.
Doch ihr Wunsch blieb auch heute unerhört, noch immer breitere sich der endlose Ozean vor ihr aus, genauso betrübt wie sie es war. Hoffnung war ein Fremdwort geworden, niemand an Bord ihres kleinen Schiffes hatte überhaupt noch den Mut an Hoffnung oder Besserung zu glauben. Wie sollte man auch, wenn man nun schon mehrere Monate, vielleicht war es auch bereits ein Jahr, bloß auf dem Wasser herum trieb und davon lebte, was man mit anderen Menschen tauschen konnte, die man zufällig ab und zu trag?
Cait hätte niemals daran geglaubt, was aus ihrem Planeten einst werden konnte, wenn sie es nicht selbst miterlebt hätte. Angefangen mit kleinen Berichten in den Medien über Klimaerwärmung und Schmelzung der Polkappen, gefolgt von immer stärker werdenden Naturkatastrophen wie Hurrikans oder Tsunamis, doch nie hatte es sich wirklich so schlimm angehört, als würde das Ende der Welt vor der Tür stehen.
Doch dann war es da, nicht über mehrere Wochen oder Monate, sondern innert Tagen, in denen sich die Welt um ganze Ecken verändert hatte. Das wenige Land, welches nicht von den tosenden Fluten ertränkt worden war, diente heute nur noch als Schauplatz von blutigen Kämpfen von Gruppierungen, die sich um das letzte noch verbliebene Fleckchen Erde bekämpften, doch einen Sieger gab es nie. Zu viele Menschen strömten jeden Tag nach, in der Hoffnung natürlich, dass sie die Letzten wären, die zurück an Land kommen würden und somit bessere Chancen hatten, dieses für sich zu gewinnen.
Alle Menschen strömten zu den noch bekannten Plätzen, an denen sich Land befand, doch wer dort ankam, verließ es in der Regel auch nicht mehr. Doch wie er dort verweilte, war eine ganz andere Sache.
Gähnend erhob sich Cait von ihrem Schlafplatz, der bloß aus mehreren alten Fußmatten und einer Decke bestand, und machte sich auf den Weg nach oben zum Deck, um auch von dort aus das Wasser beobachten zu können, welches sie auch sonst jeden Morgen bereits von ihrem Fenster aus sah.
Die wenigen anderen Menschen, die mit ihr das Boot teilten, waren ebenfalls bereits auf den Beinen, arbeiteten am Schiff oder versuchten mit den verbliebenen Lebensmitteln etwas zu Essen auf den Tisch zu bringen. Insgesamt waren sie nur noch zu fünft, vor wenigen Tagen waren sie jedoch noch zehn und vor knapp 3 Wochen sogar noch das Dreifache ihrer Zahl. Doch das Essen war niemals genug für alle, auch das Trinkwasser nahm rapide ab und wer nicht verdurstete oder verhungerte, hatte meistens noch mit anderen Leiden wie Krankheit oder Verletzungen zu kämpfen, die sie schlussendlich ebenfalls noch dahin raffte. Auch Cait sah für sich keine bessere Zukunft, auch wenn sie die Jüngste an Bord war, wieso sollte sie überleben und alle anderen sterben? Sie war weder besonders stark, noch irgendwie gewandt in handwerklichen Aktivitäten und Verhandeln konnte sie erst recht nicht. Zu sehr hatte sie immer Mitleid mit anderen, die ihr Schicksal teilten und sie wusste, wenn sie alleine hier gewesen wäre, hätte sie bereits jegliche Lebensmittel an andere verloren, da sie sich niemals in ihrem Interesse durchsetzen konnte.
Sie hatte nur überlebt, aufgrund der anderen an Bord und wurde auch nur deswegen toleriert, weil sie die einzige war, die mehrere Sprachen auf einmal fließend beherrschte und demnach für Handel mit anderen Menschen kaum eintauschbar war.
„Cait, mach dass du dich nach oben bewegst und dich nützlich machst! Wir nehmen Kurs auf Hope“, hörte sie einer der Männer rufen, unverkennbar die Stimme von Charlie, nach neben ihr einer der jüngsten auf dem Schiff. Trotz seines Alters war er ein geborener Anführer und Kapitän, regelte jeden Tag aufs Neue wie viel sie Essen durften und wohin sie segeln mussten und übernahm auch die meisten Verhandlungen mit anderen Menschen.
Der Film Waterworld war ein Mist im Gegensatz zu ihrem Alltag hier und anders als in diesem Spielfilm, wussten die Menschen ganz genau, wo sich Land befand. Und dieses Land, wurde von allen bloß Hope genannt, die Hoffnung auf ein besseres und vor allem überlebbares Leben.
„Ich dachte wir halten uns vom Land fern. Du weißt doch was passiert, wenn wir in die Nähe davon kommen! In einem Kampf würden wir den Kürzeren ziehen, das weißt du doch“, protestierte Cait verwirrt und sprang auch bereits nach oben zu dem jungen Mann. „Das mag sein… doch wir haben seit Tagen keine anderen Schiffe mehr gesehen, mit denen wir hätten handeln können. Unser Wasser reich vielleicht noch für 3 Tage, danach ist Schluss. Ob wir verdursten oder versuchen uns etwas Land zu erkämpfen, kommt etwa auf das Gleiche heraus, doch wenigstens haben wir noch versucht unsere Haut zu retten. Also stell keine Fragen und tu was ich sage!“
Solche harsche Antworten waren nicht ungewöhnlich, weswegen sie Cait auch nicht wirklich beeindruckten. Doch sie konnte auch nichts dagegen tun, sie hatten bereits Kurs auf Hope genommen und schon bald würden sie sicher die Geräusche des Gemetzels hören können, welches dort vor sich ging.
Zwei Tage vergingen wie im Flug. Niemand sprach viel, jede Kursänderung wurde mit Sorgfalt und Bedacht getätigt, damit ja keine unnötige Aufmerksamkeit erregt wurde. Doch ihre Vorsicht war überflüssig, denn niemand war dort, als sie endlich am besagten Land ankamen. Schiffwracks, zerstörte Häuser und gefällte Bäume war alles, was sie dort fangen. Hope brachte keine Hoffnung mit sich, es gab noch nicht einmal Menschen mit denen man sich um irgendetwas bekämpfen konnte, denn es gab nichts mehr, was man hier hätte holen können. Weder Wasser, noch andere Lebensmittel waren hier zu holen, die Menschen die vor ihnen hier gewesen waren, hatten durch ihre Kämpfe noch das zerstört, was ihnen auf dieser Welt zum Überleben verholfen hätte.
Trübselig starrte Cait auf das kahle Land und sank zu Boden, hilflos anfangend in der Erde mit ihren Fingern herumzustochern, bevor sie hoch in den Himmel starrte. Doch ein einziges, kurzes Gefühl, veränderte alles in ihr. Ein flüchtiger Hauch von Kälte auf ihrer Wange, die nichts mit dem Wind oder der Temperatur der Luft zu tun hatte. Sie führte ihre Hand zu ihrem Gesicht, zeichnete die Linie nach, welche von der Kälte vorgegeben war, nur um festzustellen, dass sie seit Monaten, den ersten Regentropfen auf ihrer Haut spüren konnte. Sie waren nun hier, sie hatten das Land erreicht, doch war es zerstört und vielleicht sogar unfruchtbar. Doch wie der Name des Landes schon sagt, es braucht nur ein kleiner Funken, der die Hoffnung neu entfalten kann. Ein kleiner Funken oder in diesem Falle, ein einzelner Tropfen, der die Botschaft von Süßwasser mit sich brachte.
Ihre Hand gegen den Himmel streckend, spürte sie wie mehr und mehr Tropfen auf ihre Haut trafen und mit jedem weiteren, trat ein neuer Hoffnungsschimmer am Horizont auf. Wasser war da, es regnete seit Monaten zum ersten Mal wieder, also musste es irgendwo auch Pflanzen geben.
Mit Wasser, wurde ihr altes Leben beendet… doch mit Wasser würde ein neues Leben auch wieder beginnen… und Cait’s Leben, würde von nun an vielleicht wieder neu beginnen. An dem Tag, an dem der Himmel zum ersten Mal wieder weinte.
Ein erfrischend kühler Wind zieht auf, wiegt das Gras unter meinen Schuhen hin und her und zerzaust mir das rote Haar. Ich schließe die Augen und drehe das Gesicht in Windrichtung – dieses Gefühl von Freiheit fühlt sich so gut an wie schon lange nicht mehr… aber es ist eben nur ein Gefühl… nichts weiter als eine unerreichte Emotion.Ich öffne die Augenlider wieder und der sengende Sonnenschein blendet mich für eine kurze Zeit. Ich stehe am Rande eines tiefen Abgrundes, der in ein großes Tal hinab führt und betrachte das Ausmaß der Katastrophe, die vor mehr als 200 Jahren unsere Welt heimgesucht hatte. Vor mir erstreckt sich das Skelett einer längst vergangenen Stadt; eine Stadt, die einst das Zentrum unseres Landes war… genannt „Rashima Den“.
Die ehemals prachtvollen Hochhäuser sind nichts mehr als halbverfallene Ruinen, die mit Efeu und Moos überwuchert sind und aus dem Boden ragen, wie abgeknickte Strohhalme. Ihre einzigen Bewohner stellen gigantische Bäume dar, die aus den Fenstern und Dächern herauswachsen. Ausgebrannte Fahrzeuge säumen die zerstörten Wege und Straßen. Überall liegt Schutt herum… und irgendwo unter den Trümmern die sterblichen Überreste menschlicher Zivilisation. Weit im Hintergrund thront die mächtige „Radialisbrücke“, welche die Stadt mit dem im Osten liegenden Festland verbindet… Ein faszinierender, aber gleichzeitig auch trauriger Anblick.
Ich schrecke durch ein Geräusch im Unterholz zusammen, zücke mein Messer und bin auf das Schlimmste gefasst. Mein Puls steigt, doch als ich sehe, wer auf mich zukommt, beruhige ich mich wieder und lasse meine Waffe sinken.
„Ezio! Erschreck mich nicht so“. Ich wollte tadelnd klingen, doch die Wirkung verblasst bei meinem leicht aufgesetzten Lächeln. Er schaut mich an und wirkt sehr ernst.
„Was machst du hier oben so alleine, Lightning? Willst du, dass die „Umbra“ dich finden?“ Es klingt vorwurfsvoll und mit echter Besorgnis untermalt… dabei sind Emotionen zwischen uns eigentlich verboten… eigentlich.
Wir beide sind nämlich Sklaven – Zwangsarbeiter bis zum letzten Atemzug – doch wir haben es gewagt in die Freiheit zu entfliehen, um auf ein besseres Leben zu hoffen. Trotzdem sind wir nicht wirklich frei. Sowohl Ezio als auch ich tragen noch ein elektronisches Überwachungshalsband um unsere Kehlen, mit dem man uns aufspüren könnte, wenn mein Partner den Ortungschip nicht ausgebaut hätte. Das Sicherheitsschloss der Fessel ließ sich nicht öffnen, aber das war egal, da wir bis jetzt nicht von den Umbra oder den Sklaventreibern entdeckt worden sind.
Ich spüre seinen Blick auf mir ruhen und schaue ihm in die grauen Augen. Ich suche nach Worten… doch sowas fällt mir schwer, deshalb schweige ich lieber und wende den Blick zurück zur Stadt.
„Lightning? Nun sag schon…“ Er versucht mich zu ermuntern, ein wenig kläglich, aber immerhin… Doch ich gebe mir einen Ruck:
„Ich wollte nur nachdenken und ein wenig Ruhe haben. Mehr nicht…“ Ich stocke mitten im Satz und ertappe mich dabei, wie ich mir auf die Lippen beiße… Die Lüge hat er mit Sicherheit bemerkt.
Ezio seufzt nur resigniert, antwortet aber nicht. Er weiß, dass ich weiterziehen möchte; auch ohne ihn, wenn es sein muss.
Doch dann:
„Ich weiß schon, was du meinst. Aber der Weg durch die Stadt wird gefährlich werden…“ Er schaut zu seiner Linken. Ein gelbes verschmutztes Schild ragt aus dem Boden, darauf aufgemalt ein schwarzer Fuchsschädel mit einer einfachen Botschaft: >> Achtung, Umbra! <<
Umbra… so nennen wir die mutierten Füchse und Wölfe, die durch die klimatischen Veränderungen und vielmehr durch genetische Experimente auf das zweifache ihrer ursprünglichen Größe herangewachsen sind und deren scheues Wesen sich in ein blutdürstendes Etwas entwickelt hat. Die Tiere entflohen ihrem Gefängnis in den Versuchslaboren, vermehrten sich rasend schnell und machen nun Jagd auf alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Selbst das Klima stellte sich gegen die Menschen. Eine Naturkatastrophe nach der anderen fiel über die Menschheit her, zerstörten Städte und ganze Landstriche… Die Zivilisation selbst wurde weitestgehend ausgelöscht.
Als sich die Unruhen allmählich legten, bildeten sich Flüchtlingslager für alle Überlebenden. Aber diese sind nicht mehr als Sklavenviertel, in denen die Menschen bei harter körperlicher Arbeit gezwungen werden, wichtige Ressourcen abzubauen, um mit dem Wiederaufbau zu beginnen.
Doch Ezio und ich hatten dieses Leben satt. Wir haben schon zu viele Narben auf unseren Körpern, weshalb die Flucht das einzig richtige war.
Mein Partner holt mich in die Gegenwart zurück:
„Komm schon. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vor Sonnenuntergang zur Radialisbrücke. Dort ruhen wir uns aus und gehen dann weiter nach Osten in Richtung Festland. Mit ein wenig Glück, finden wir dort eine bessere Bleibe.“
„Mir wäre es lieber, wenn wir diese Halsbänder los würden.“ Setze ich nach.
„Ich lasse mir schon was einfallen, aber bis dahin, musst du den ungewollten Körperschmuck ertragen. Und jetzt los!“
Wir machen uns an den Abstieg nach Rashima Den. Der Abhang ist steil, bietet wenig Freiraum für sicheren Halt und bröckelt unter unserem Gewicht regelrecht weg. Ich setze meine Füße nur mit Bedacht auf und folge dabei Ezios Route, weil sie mir sicher erscheint und ich nicht darauf aus bin abzustürzen. Und während er behände hinabklettert, vergrößert sich der Abstand zwischen uns immer mehr. Er hält inne und schaut zu mir hoch. Er macht sich Sorgen um mich… Schon komisch, wenn ich bedenke, dass ich ihn überhaupt nicht mochte, als wir als Partner ausgewählt wurden. Ein stures Mädchen mit großer Klappe und ein eher ruhiger Bursche mit festen Zielen vor Augen… beide etwas älter als 20. Inzwischen aber konnte ich ihm so einiges abgewinnen.
Endlich unten angekommen bin ich vollkommen außer Atem, doch Ezio zwingt mich zum Weitergehen. Wir laufen über die gebrochenen asphaltierten Straßen und halten nach möglichen Gefahrenquellen Ausschau. Es ist so unsagbar still… bis Ezio ausversehen gegen eine leere Getränkedose tritt. Das Geräusch von zerdrücktem Aluminium zerreißt die angespannte Ruhe und hallt zwischen den Ruinen hin und her. Wir erstarren…
Und dann hören wir es beide… Unsere Köpfe drehen sich in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Eine Staubwolke türmt sich auf und daraus schälen sich die Körper von einem Rudel schwarzer Füchse…
Umbra!
„Lauf, Lightning! Lauf!“ Die Stimme meines Partners dröhnt mit solcher Intensität in meinen Ohren, dass ich Angst habe, dass mir das Trommelfell platzt. Mit aller Kraft nehmen wir die Beine in die Hand und rennen um unser Leben. Wenn die uns erwischen, sind wir auf jeden Fall tot.
Während wir uns einen Weg über die mit Geröll, Schutt und Müll übersäten Straßen bahnen, begleitet vom Geheul der Füchse, stolpert Ezio plötzlich über ein rostiges Rohrstück und schlägt der Länge nach hin. Er unterdrückt einen Schmerzschrei und rappelt sich wieder auf.
„Nicht stehen bleiben, Lightning!“
Ich schließe zu ihm auf und bemerke die klaffende Wunde oberhalb der Hüfte auf seiner rechten Seite. Er zieht ein großes Stück Glasscherbe heraus, wirft sie weg und drückt seine Hand drauf.
„Ezio…“
„Ist nicht schlimm, lauf weiter!“ unterbricht er mich.
Ich blicke nach hinten und sehe, wie unsere Häscher näher kommen… Panik bereitet sich in mir aus. Doch dann sind wir da… Vor uns ragt einer der mächtigen Pfeiler der Radialisbrücke auf. Gehetzt sehe ich mich nach einer Möglichkeit um, um nach oben zu kommen und mache einen Vorsprung aus, der zu einem Gerüst führt.
Ich blicke zu Ezio. Alle Farbe ist aus seinem schmerzverzerrten Gesicht gewichen, doch seine Augen sagen mir, dass er nicht aufgeben wird.
Wir laufen zum Gerüst und machen uns an den Aufstieg. Ich gehe voran, während Ezio mir folgt. Und kaum ein paar Meter über den Boden, sind auch schon die Umbra da und klettern uns hinterher.
„Schneller, Ezio!“
Ich blicke ständig nach unten, während ich mit jeden Meter schneller werde, und kaum war ich oben auf den Brücke angekommen, höre ich einen Schrei. Etwa 1 1/2 Meter unter mir hält sich Ezio an einer Strebe fest… an seinem Knöchel verbeißt sich ein Umbra und versucht, ihn herunter zu zerren. Plötzlich höre ich das metallische Knacken von Metall – das Gerüst… es wird zusammenbrechen.
Ich steige ein Stück hinab und packe Ezio am Kragen seiner Jacke. Ich ziehe mit aller Kraft… ich will ihn nicht verlieren und kämpfe gegen den Zug von unten.
Und dann geschieht, was geschehen muss. Mit einem ohrenbetäubenden Geräusch löst sich das verrottete Gerüst vom Pfeiler. Betonbrocken brechen weg, Eisenstangen verbiegen sich und alles sinkt in sich zusammen.
Die Umbra werden fortgerissen, doch einer lässt nicht von Ezio ab. Und während ich mich bemühe, dass Gleichgewicht zu halten und meinen Freund nach oben zu ziehen, der sich verzweifelt festhält, bricht auch plötzlich Ezios letzter Halt. Der Kragen seiner Jacke zerreißt unter dem Druck der Zugkräfte und Ezio wird mitsamt dem Fuchs in die Tiefe gerissen und unter den Betontrümmern begraben.
Fassungslos starre ich nach unten und rufe verzweifelt seinen Namen… Ich schreie, bis mir der Hals schmerzt, doch ich erhalte keine Antwort… Kein Laut dringt zu mir hoch…
Als es langsam dunkel wird, wird mir erst richtig bewusst, dass er tot ist. Ich erhebe mich mit steifen Muskeln, kehre dem Grab meines Freundes den Rücken zu und mache mich voller Trauer alleine weiter auf den Weg nach Osten in eine mir unbekannte Zukunft…
Eine riesige Staubwolke breitete sich von dem erneuten Zusammenstürzen einiger Gebäude in der zerstörten Stadt aus. Ein ohrenbetäubender Lärm und ein kräftiger Wind begleiteten sie. Die Trümmer versperrten sämtliche Wege und die, welche sie nicht blockierten, wiesen zu viele Löcher durch den Meteoritenhagel auf, um befahren zu werden.
Die Menschen wollten immer noch das Unmögliche ermöglichen, indem die kleinen Wesen die großen Trümmer beseitigten und neue Straßen, Häuser und Monumente bauten. Jeder, der dabei nicht half, starb qualvoll an den Peitschenhieben der Aufseher in Phönix City, einer Stadt, die sich vollkommen neu aus den Trümmern mehrerer Städte erheben sollte. Sie bestand aus einem kleinen, dreckigen Zeltlager für die Arbeiter, einem nie enden wollenden Feld aus Trümmern und dem sowohl in die Höhe als auch in die Tiefe ragenden Gefängnisturm am Rand der einzigen Straße, die freigelegt und restauriert worden war. Der Turm war breit wie ein Fußballstadion und nicht mal der höchste Wolkenkratzer aus der alten Ära erreichte seine Größe. Die betongraue Fassade erzeugte ein trostloses und abschreckendes Aussehen für die armen Arbeiter. Seine bedrohlich wirkende Spitze war nur an wolkenlosen Tagen zu sehen, wenn nicht gerade eine weitere Staubwolke die Sicht gleich Null setzte.
Nachdem der Junge erneut stolperte und zu Boden gefallen war, blieb er für ein paar Sekunden regungslos liegen. Auf seine Unterlippe beißend nahm er ein Häufchen Staub in die Hand, welches sich allerdings durch den starken Wind wieder von ihm trennte. Schon seit Tagen hörte der Junge sie wieder, die Schreie seiner Freunde, seiner Bekannten und seiner Familie, die bei der Apokalypse einen schnellen Tod geschenkt bekommen hatten. So sah er zumindest ihren Tod und dieser Meinung folgten viele, denn in der neuen Ära, welche die Menschen nun erlebten, wollte keiner mehr leben. Man lebte nur noch, weil man arbeiten musste. Jegliche Tabletten, Waffen und andere zum Tode führenden Hilfsmittel wurden den Arbeitern abgenommen, aus Angst zu den vielen vor Erschöpfung gestorbenen Arbeitern noch die körperlich gesunden Exemplare zu verlieren. Tag für Tag arbeiteten sie zehn Stunden in der niederschmetternden Hitze der Sonne oder im eiskalten Schnee.
Letztendlich wusste Tom, dass es ihm auch nichts brachte, hier sinnlos auf der Straße herumzuliegen. Er rappelte sich auf, schlug den Dreck von seiner kurzen, braunen Hose herunter und kramte aus seiner Hosentasche ein kleines Foto hervor. Es fehlte bereits eine Ecke, die von einem Gefängniswärter bei seinem Ausbruch vor ein paar Tagen absichtlich abgerissen wurde. Das Foto war ziemlich zerknittert, weshalb man nur noch schwer die darauf abgebildeten Personen erkennen konnte. Nur eine kleine Holzhütte mit einer Antenne auf dem halbverbrannten Dach konnte man identifizieren. Eine winzige Träne floss ihm über die Wange, die der Junge schnell wieder mit seiner Hand abrieb. Es war ein Versprechen!
„Hey, du da! Bleib stehen, du bist verhaftet!“, rief plötzlich ein Aufseher. Tom blickte kurz zurück. Es waren drei Personen in braungrünen Uniformen und hohen olivgrünen Stiefel, die auf ihn zu rannten. Ihre Augen waren durch die schwarzen Sonnenbrillen gegen die grelle Abenddämmerung geschützt und ihre Haare wurden von lila Kappen verdeckt. Tom schaute wieder nach vorne, nahm seine Beine in die Hand und rannte um sein Leben. Noch einmal wollte er nicht in diesen grausamen Gefängnisturm, wo das Leid noch größer war als hier im Trümmerfeld.
Seinen Weg durch die Trümmer bahnend konnte er immer mehr Boden gegenüber seinen ausdauerstarken Verfolgern gut machen. Er wusste eben wie man sich in diesen Gebieten zu bewegen hatte, der Junge kannte die Trümmerplatten, die noch betretbar waren und welche, die schon nach dem kleinsten Schritt nachgeben würden.
Sein Atem wurde mit der Zeit langsam flacher, seine Schritte kürzer. Er hatte sich noch nicht von der langen Flucht aus dem Turm erholt und hätte nicht mit einer solchen Hartnäckigkeit der sonst so faulen Aufseher gerechnet. In einem viel zu hohen Tempo schlug sein Herz, als sei es eine tickende Bombe. Tom suchte sich die nächste Nische, die ihm einen Sichtschutz für die Aufseher dienen könnte und platzierte sich so, dass seine Verfolger direkt an dem kleinen Versteck vorbeiliefen. Eine kurze Verschnaufpause war ihm gegönnt, bis er sich zu dieser Holzhütte aufmachte. Es war der letzte Wunsch!
Sein Weg führte ihn an den Arbeitsplatz vieler Menschen vorbei, die in den Schrotthaufen nach nützlichen Dingen suchten oder von den Aufsehern dazu getrieben wurden, brachliegende Felder aus Schrott aufzuräumen. Manche flohen aus der Stadt, andere versuchten es und scheiterten daran, weil sie von den Wächtern an der Grenze aufgehalten worden sind. Niemand konnte diese Stadt auf legalem Wege verlassen. Diese Stadt brauchte eigentlich kein Gefängnis, sie war selbst eins!
Am Rande einer zerstörten Straße sah Tom ein kleines Mädchen. Es saß die Hände vor den Beinen verschränkt im Dreck des Gerümpels. Sie schaute mit halboffenen Augen nach unten, während ihre schwarzen, langen Haare in einer leichten Windböe wehten. Tom ging vorsichtig auf sie zu.
„Hallo? Kannst du mir kurz helfen? Ich suche diese Holzhütte hier“, sagte er und hielt ihr das Bild vor den Kopf. Sie richtete sich langsam auf. Ihr Blick wurde klarer und sie nahm das Bild fest in die Hand.
„Komm mit!“, befiehl sie Tom, der ihr verwundert hinterherlief. Für ein kleines Mädchen war
sie ziemlich schnell zu Fuß. Verspielt sprang sie von Stein zu Stein und lief ohne Schuhe über diesen gefährlichen Untergrund. Es war eine wichtige Nachricht!
„Das ist sie, oder? Das ist unsere Holzhütte, die du gesucht hast“, erklärte sie ihm mit einem Lächeln auf dem Gesicht und auf die Hütte zeigend, der mal wieder ein Stück Holz von der Wand abgebrochen war. Mit weitgeöffneten Augen und einem Schrecken im Gesicht schaute er auf das Dach der Hütte. Eine Antenne war auf ihr angebracht. Er schaute in Gedanken versunken zu dem Mädchen. Sie ging lachend und froh in die etwas wärmere Hütte hinein, während er weiter draußen in der Kälte stand. Toms Blick wandte sich dem Himmel zu. Die Wolken zogen viel zu schnell heute, es war ein kleiner Sturm zu erwarten.
Langsam betrat er die rechte Hand an den Türrahmen haltend die kleine Hütte.
Plötzlich stand eine Frau mit langen, braunen Haaren und einem freundlichen Gesichtsausdruck vor ihm. Toms Gesicht wurde immer blasser, als er seiner grausamen Aufgabe in die Augen sah.
„Guten Tag, ich heiße Tom und ich…muss ihnen etwas…“ stammelte er vor sich hin. Er kramte in seiner Hosentasche herum und schluckte seine Furcht vor diesem Moment herunter. Es würde Schmerzen bereiten!
„Komm, lass uns erst mal etwas warmes Essen. Ich habe zwar nicht viel Suppe da, aber für drei Personen dürfte es wohl noch reichen“, entgegnete ihm die Frau und unterbrach ihn. Sie hatten beide so ein warmes Lächeln im Gesicht, wie er. Wie konnten einfache Leute auf dieser Welt noch lächeln?
Tom zitterte und setzte sich widerwillig auf ein kleines Kissen auf den Boden, die Beine verschränkt, die Arme zusammengefaltet. Sie saßen alle drei still mit ihren Tellern Suppe vor dem Feuer und dem Topf. Es knisterte und brodelte. Von draußen blies der kalte Wind in die Hütte, welche ihn zwar abhielt, aber sein Heulen nie abhalten konnte. Es war soweit.
Tom runzelte die Stirn und drückte seine Augen fest zusammen. Er konnte die eine oder andere Träne nicht unterdrücken, kramte das Foto aus seiner Tasche und gab es schweigend der Frau.
„Er hatte es mir gegeben. Er war die lange Zeit im Gefängnis immer an meiner Seite. Es tut mir leid! Er konnte nicht entkommen. Simon war die ganze Zeit hinter mir, doch als wir an die verschlossene Tür kamen, die ich aufbrechen wollte, ging er plötzlich zurück und lief den Wachen direkt in die Arme. Er kämpfte um sein Leben, während ich die Tür öffnete, unsere Tür zur Freiheit, aber dann…ein Schuss und…“, erzählte Tom. Er weinte entsetzlich dabei. Langsam ließ er seinen Kopf fallen. Sein Blick richtete sich stur auf seine gefalteten Hände. Er konnte sie nicht ansehen.
„Wenn ich nicht mehr hier herauskommen sollte, Tom, dann gibst du dies bitte meiner Familie und sagst ihnen, dass ich sie vermisst habe. Jahr für Jahr habe ich sie vermisst, ich werde sie jedoch dann nicht mehr wiedersehen können. Sag ihnen, sie sollen flüchten, irgendwo hin, egal wo, nur weg von der Grausamkeit, von der täglichen Qual, von der Trostlosigkeit, irgendwohin, wo sie Hoffnung haben können“, sagte Simon damals zu Tom in ihrer gemeinsamen Zelle.
Das Lächeln war mit einem Schlag verschwunden. Sie waren so schockiert, dass sie nicht einmal weinen konnten. Die Mutter brach später in Tränen aus, während die Tochter nach einer Weile ohne ein einziges Wort hinausging. Tom war wieder in Gedanken versunken. Vor lauter Tränen konnte er nicht mehr klar sehen und er hätte in diesem Moment auch nicht gewusst wohin er schauen sollte, wohin er gehen sollte.
„Mamiiii!“, schrie plötzlich das Mädchen von draußen.
Drei Schüsse, drei Leben, die diese abscheuliche Welt wieder verloren hatte. Einsam zog er durch das Feld der Trümmer, auf einem ihn unbekannten Weg. Er lief, wohin der Wind wehte, wie die Wolken mit diesem reisten, so reiste auch er, weinend, verlassen und das Fünkchen Hoffnung dieser Welt suchend.
Im vollen Galopp fegte er durch den Schnee, der hinter ihm in einem feinen Nebel aus Eiskristallen aufgewirbelt wurde. Wie eine Fahne wehte sein heller Schweif hinter ihm her, die Mähne derselben Farbe flatterte im Wind. Er war nur ein dunkler, schwarzbrauner Punkt in der weißen Berglandschaft. Tiefe, graue Wolken bedeckten den Himmel und hüllten die Zinnen des hochaufragenden Gebirges ein. Es hatte gestern zu Schneien begonnen, ganz überraschend und mitten im Sommer. Er hatte schon den ganzen Tag ein komisches Gefühl gehabt, als man ihn nach getaner Arbeit zurück auf seine Weide geführt hatte. Aber wer erwartet Schnee im Juli?
Am frühen Abend wurde es plötzlich sehr dunkel, schneller als die Tage zuvor und die dunklen Wolken hatten sich bald grau und schwer am Himmel aufgetürmt. Die Temperaturen waren innerhalb weniger Stunden weit unter den Gefrierpunkt gesunken und schließlich hatte die weiße Pracht das Land bedeckt. Verwirrt hatte er sich untergestellt und dieses Wetterphänomen beobachtet. Er war nun auch schon neun Sommer alt und hatte schon viel erlebt, aber das war ihm absolut neu gewesen.
Er folgte dem Weg vor sich, den er aufgrund des hohen Schnees kaum noch erkennen konnte. Normalerweise wäre er um diese Uhrzeit schon längst unten im Dorf, vor den Karren gespannt um seinen Herren bei der Arbeit zu helfen. Aber es war heute früh niemand gekommen, um ihn zu holen. Er kannte schon lange eine Stelle auf seiner Koppel, wo er den Zaun problemlos überspringen konnte, nur bisher war das nie nötig gewesen, bis heute, denn er hielt es nicht mehr länger dort aus.
Der spitze Schrei eines Adlers durchschnitt die Stille, die sich über die Berge gelegt hatte und er blickte nach oben, konnte ihn aber nicht erkennen. Er ging in einen leichten Trab über, immer noch wachsam die Ohren gespitzt und das Maul in die Luft geregt. Der geflügelte Jäger tauchte an seiner rechten Seite auf, überholte ihn und kam dem Boden immer näher, als würde er sich anschicken zu landen. Schnaubend stoppte er einen Meter vor dem Adler, der gerade seine mächtigen Schwingen faltete und sich zu ihm umdrehte.
„Servus! Was treibt dich denn hierher, Pferd?”, begann der braungefiederte Vogel mit weiblicher Stimme zu sprechen.
Pferd? Er konnte ein verärgertes Schnauben nicht unterdrücken. Er war doch nicht irgendein dahergelaufener Gaul! Er war ein Noriker, eine bekannte Rasse in dieser Gegend.
„Grüß Gott, Frau Adler”, erwiderte er höflich und neigte seinen schweren Kopf. „Ich bin auf dem Weg ins Dorf.”
„Ins Dorf, ha? Was willst du denn dort?”, hakte sie nach und fixierte ihn mit ihren gelben Augen. „Heute ist nicht das beste Wetter für Ausflüge.”
„Ich weiß”, gab er zurück. Er hatte keine wirkliche Lust sich mit diesem Steinadler zu unterhalten.
„Ich bin mir nicht sicher, ob du tatsächlich wissen willst, was da grade im Dorf so los ist”, meinte sie beiläufig, während sie kurz den Schnee vor sich musterte. „Aber mir ist das auch recht wurscht. Du als Pferd hast da bestimmt mehr Ahnung als ich.”
„Jetzt hör mich mal zu, gell? Ich bin kein einfaches ‚Pferd’, ich bin ein Noriker und ich heiße Jona, wenn’s recht ist”, erwiderte er gereizt und mit angelegten Ohren.
„Schön dich zu treffen, ich bin Noomi”, entgegnete die geflügelte Jägerin, nachdem sie ruckartig den Kopf gehoben hatte, mit zufriedener Stimme.
Jona wunderte sich, beendete das Gespräch aber damit, dass er an ihr vorbei ging und weiter dem verschneiten Weg folgte.
„Scheint als würdest du nicht wissen wollen, wie’s im Dorf zugeht”, rief Noomi ihm hinterher und erhob sich mit kräftigen Flügelschlägen.
„Jedenfalls nicht von dir”, murmelte er und fiel in einen schnellen Galopp. Er wusste doch schon lange, wie die Wildtiere über ihn und seinesgleichen dachten. Wie oft hatte ihn schon irgendeine Gams schräg von der Seite angesprochen, nur weil er mit Menschen zusammenarbeitete. Wie oft hatte er sich von einem alten Steinbock anhören dürfen, wie gefährlich es war mit den Menschen. Was kümmerte ihn das? Er wollte wissen wie es ihnen geht.
„Gut, dann sage ich dir eben nicht, dass es gar kein Dorf mehr gibt.”
Abrupt stoppte er und wandte sich zu Noomi um, die gerade an ihm vorbeisegelte.
„Was hast du gesagt?!”
„Du hast mich schon richtig verstanden”, erwiderte sie und landete erneut vor ihm. „Es gibt kein Dorf mehr. Gestern ist eine Lawine niedergegangen. Es ging fast allen Menschensiedlungen hier so. Der Schnee gestern war zu viel und zu plötzlich. Niemand weiß, woher dieser Wetterumschwung plötzlich kam, aber das dort am Himmel, sind nicht nur Wolken. Da ist auch Asche.”
„Asche?”, wollte Jona verwundert wissen. Noch wollte er nicht akzeptieren, dass das Dorf nicht mehr existierte. Vielleicht hatte sie ein anderes gemeint, auch wenn es hier in der Nähe nur eines gab? Es musste einfach so sein!
„Ja, genau, Asche. Ich weiß nicht, woher sie kommt und kein anderer Jäger konnte mir diese Frage beantworten, Fakt ist jedoch, dass es die Sonne verdeckt und deshalb ist es hier so kalt geworden.”
„Das ist mir egal, ich gehe trotzdem ins Dorf.”
„Wenn es aber kein Dorf mehr gibt!”, sprach sie eindringlich auf ihn ein.
„Das interessiert mich nicht! Ich muss wissen, wie es meinen Herren geht!”
Er wartete nicht auf eine Erwiderung, sondern erhob sich auf die Hinterhufe. Mit einem entschlossenen Wiehern und in der Luft wirbelnden Vorderhufen, wurde er selbst der abgehärteten Noomi zu gefährlich und sie brachte sich kreischend mit wild flatternden Flügeln aus der Gefahrenzone, bevor Jona galoppierend seinen Weg fortsetzte.
„Was für ein Dickkopf!”, sagte sie zu sich. „Er kann froh sein, dass ich nicht so leicht locker lasse.” Sie stieg höher und folgte ihm.
Der Weg ins Tal war recht steil und so erhöhte sich von selbst seine Geschwindigkeit. Vor ihm war alles weiß und er dachte fast, er hätte sich verlaufen. Aber es gab doch nur einen Pfad, wie konnte er sich da verlaufen? Er müsste das Dorf jetzt eigentlich genau erkennen können , schließlich breitete sich das Tal vor ihm aus. Jona war nicht gewillt so schnell die Hoffnung zu verlieren und folgte weiter dem Weg, der sich jetzt wie eine Schlange hinabwand. In all dem Weiß was sich nun vor ihm erstreckte, erkannte er plötzlich etwas Schwarzes. Er blieb stehen und strengte seine Augen an, um zu erkennen, was es sein könnte, aber er war zu weit weg.
„Was ist das?”
„Die Spitze des Kirchturms; das schwarze Metallkreuz”, antwortete Noomi unvermittelt und Jona machte einen erschrockenen Satz nach vorne. Sie saß plötzlich schräg hinter ihm, genau in seinem toten Winkel.
„Du schon wieder!”, keifte er das Adlerweibchen mit angelegten Ohren an. „Was willst du?!”
„Dich davor bewahren, dass du dich umbringst.”
„Pah! Was hat dich das zu interessieren?”
„Ich interessiere mich eben dafür. Außerdem habe ich das ungute Gefühl, dass wir zusammenhalten müssen. Ich weiß nicht warum oder wieso, aber es ist da”, gab Noomi zu. „Außerdem habe ich aus der Luft etwas gefunden, was dich interessieren könnte. Möchtest du, dass ich es dir zeige, jetzt da du weißt, dass das Dorf wirklich nicht mehr so existiert, wie du es in Erinnerung hast?”
Jona überlegte. Er war sich unsicher, ob der Absichten dieses Steinadlers und das Interesse an ihm war ihm irgendwie unheimlich. Andererseits hatte sie recht, die Dinge standen alles andere als gut. Dieser plötzliche Wetterumschwung war nicht natürlich und auf der Welt musste irgendwas passiert sein. Was, das entzog sich seinem Wissen, aber ihm war klar, dass es ungewöhnlich war.
„Zeig’s mir, bitte.”
Noomi nickte zufrieden und erhob sich in die Lüfte. Sie flog zu einem kleinen Waldstück in der Nähe, am Rand des Tals. Jona folgte ihr in einem schnellen Trab. Ihn fröstelte, auch wenn er nicht empfindlich gegenüber derartigen Wetterbedingungen war, so konnte er ja doch nicht so schnell sein Winterfell bekommen, wie er es sich gerade wünschen würde. Je näher sie der Ansammlung von dunklen Tannen kamen, desto mehr konnte der Noriker dort am Rande der Bäume mehrere dunkle Punkte im Schnee erkennen. Bald schon war klar, dass es sich um Menschen handeln musste. Überlebende?
Noomi landete am Anfang des Waldes, noch ein ganzes Stück entfernt von der Stelle, wo die Gruppe von Menschen stand in einem der unteren Äste einer Tanne.
„Es haben einige überlebt. Aber ich bin mir unsicher, ob du dich ihnen zeigen solltest.”
„Warum?”, erwiderte Jona verständnislos.
„Diese Leute dort haben nichts mehr, außer das was sie am Leibe tragen. Ich weiß nicht, wie sie vorhaben sich zu ernähren, ich weiß nicht, was sie als Nächstes tun werden. In meinen Augen, setzt du dein Leben auf’s Spiel, wenn du dich ihnen zeigst”, erklärte Noomi mit emotionsloser Stimme.
„Du meinst …” Der Hengst brach ab, er wollte den Gedanken lieber nicht in Worte fassen.
„Komm mit”, meinte das Adlerweibchen sanft, erhob sich von ihrem Ast und flog am Rand des Waldes entlang. Jona folgte ihr, unschlüssig über die Zukunft, die sich gerade vor ihm auftat. Eines war ihm jedoch klar geworden: was immer geschehen war, die Menschen würden nun nicht mehr seine Freunde sein.
Gerade mal vor 20 Jahren war alles noch in Ordnung gewesen.
Und jetzt? Ich klammerte mich ängstlich an die Hand meines Freundes und er flüsterte: "He, du brauchst keine Angst haben, Chiara!"
Ich sah in sprachlos, gar ärgerlich an und erwiderte: "Du weißt, dieser Tag treibt mir die Furcht bis in die Knochen, lässt jedes Mal grausame Erinnerungen an all die kreischenden, verzweifelten Menschen aufleben..."
Eine Träne tropfte auf mein Gesicht und erstaunt blickte ich in die Augen meines Schatzes, die vor Tränen glitzerten.
"Mir geht es doch genauso! Denkst du, ich finde es schön, ständig die Gesichter der Leidenden zu sehen?", schrie mich Jayden an, so hieß mein Freund nämlich. Sofort bereute er, dass er mich angeschrien hatte und murmelte eine Entschuldigung.
Ich antwortete ihm nicht und blickte auf all diese zerfressenen Gebäude, mir blieb vor Entsetzen fast die Luft weg, obwohl ich doch eigentlich schon an dieses zerstörte Bild gewohnt seien müsste.
Stürme, Erd- und Seebeben, Tsunamis, Dauerregen und soviel anderes hatte dafür gesorgt, der Welt ein Untergang zu bereiten.
Es roch einfach nach purem Verderben.
Mit uns beiden lebten ungefähr an die 200 Menschen, eine erschreckende Zahl, wenn man bedenkt, dass es früher sieben Milliarden Menschen gegeben hatte.
Für längere Zeit herrschte eine gespenstische Stille, bis die anderen von ihrem Rundgang zurück kamen. Heute war schließlich der Tag, der damals alles veränderte, was wir kannten.
Mein Freund gab mir einen Kuss auf die Stirn und jemand erhob das Wort: "Hallo, liebe Leute... Ihr wisst, was heute für ein gar entsetzlicher Tag ist, an dem wir an die Menschen denken, die umgekommen sind. Ihre Leichen sind teilweise unter Schlamm begraben, in die Meerestiefe gesunken oder einfach zerfetzt worden."
Mit meinen braunen Augen musterte ich die Leute wie schon so oft und alle sahen noch abgemagerter aus, eine Kennzeichnung dafür, dass es an Essen mangelte.
Alles war so trist... Die Gesichter der Überlebenden waren größtenteils voller Trauer, in die sich langsam Wut schlich. Wut darüber, dass es nur noch so wenig gab.
Bald würden sie sich sicher gegenseitig töten - um weiter leben zu können.
Aber brachte das etwas? Wir schliefen auf ungemütlichen Metallteilen...
Wisst ihr was dann ein wunderschönes Gefühl war? Letztendlich in den Armen meines Freundes zu sterben und im Jenseits der Familie und allen gestorbenen Freunden zu begegnen.
Frustriert rammte ich die Spitze meines Schwertes in den Boden. Von den Erdhügeln, die sich in der kargen Landschaft erhoben, konnte man das Dorf gut sehen – oder besser gesagt das, was noch davon übrig war. Tiefe Risse zogen sich durch die Straßen, Häuser lagen in Trümmern, überall der Tod, Verzweiflung, Hunger und Trauer. Ich schloss die Augen, Bilder flossen an der Schwärze hinter meinen Lidern vorbei, wie ein Film. Das plötzliche Beben in der Nacht, die Erde erzitterte wie von einer unsichtbaren Hand geschüttelt, Schreie von Tieren und Menschen. Ich hatte mich unter meinem Bett versteckt, den Kopf eingezogen und darauf gewartet, dass der Boden wieder ruhig wurde.
Mehrere Minuten hatte das Erdbeben gedauert, dann war ich aus dem Haus gerannt, da es eingestürzt war. Draußen hatte sich mir ein Bild des Grauens geboten: Tote Körper, Menschen mit furchtbaren Verletzungen, meine engste Freundin, blutüberströmt. Sie war schon tot gewesen, als ich bei ihr angekommen war. Der Gedanke an sie und meine Eltern, die ich ebenfalls verloren hatte, zerriss mir schmerzhaft das Herz, die Trauer durchtränkte meinen Leib. Doch das Leid hatte noch kein Ende genommen, die Erde hatte die ganze Nacht lang keine Ruhe finden wollen, immer wieder hatte ein erneutes Beben das Dorf erschüttert.
Und nicht nur hier, es war, als hätte die gesamte Welt sich gegen die Menschheit erhoben. Riesige Flutwellen an den Küsten, Vulkanausbrüche, Erdbeben – die Berichte der geflohenen Menschen erschütterten auch noch die letzte Hoffnung all jener, die geglaubt hatten, irgendwo anders auf der Welt neu anfangen zu können, nachdem sie nach dieser Katastrophe alles verloren hatten.
Dies alles lag nun schon ein Jahr zurück, dennoch hatte sich nichts verändert, es war sogar noch schlimmer geworden.
Immer wieder verspürte ich Wut, die wie lodernde Flammen meinen Körper von innen erhitzten und meine Seele verschlangen. Fühlte unbändigen Zorn über unsere eigene Dummheit. Wie nur hatten wir so naiv sein, ihm glauben können? Mit seinen leeren Versprechungen hatte er uns alle reingelegt und unser Leid nur noch schlimmer gemacht. Selbst die letzten Besitztümer, die diese Katastrophe – die einem Weltuntergang gleichkam – wundersamerweise überlebt hatten, hatte er an sich gerissen und uns Menschen in Armut und Verzweiflung zurückgelassen, worin wir früher oder später wohl umkommen würden.
Ein trockener Zweig eines umgefallenen Baumes knackte hinter mir und ich fuhr aufgeschreckt herum, zog gleichzeitig meine Waffe aus der Erde. Gerade rechtzeitig, um den Schlag meines Gegenübers abzufangen, der mir ansonsten wohl die Schulter aufgerissen hätte. In dem Sekundenbruchteil, in dem unsere Waffen zusammenschlugen und für einen Moment so verharrten, musterte ich meinen Gegner. Es war ein Junge mit schmutzig braunem, schulterlangem, zerzausten Haar und trüben, dunklen Augen. Er war wohl nicht älter als ich und somit ebenfalls fast noch ein Kind, wie auch mein Körper war seine nur in fetzenartige Lumpen gehüllt – die übergebliebenen Reste ehemals wärmender Kleidung. Mit einem schnellen Sprung entfernte ich mich ein Stück von ihm, nur, um meinerseits anzugreifen. Ein metallisches Klirren ertönte, als seine grobe Axt auf die Klinge meines Schwertes traf, wilde Verzweiflung konnte ich seinem erkennen. Diese war es wohl auch, die ihn überhaupt dazu trieb, mich anzugreifen. Doch seine Bewegungen waren unbeholfen, scheinbar hatte er nie gelernt, zu kämpfen. Ein weiteres Mal drückte ich mich von ihm weg, sprang diesmal in die Luft, schlug ihm von oben die Waffe aus der schmutzigen Hand. Panische Angst ergriff von seinen Gesichtszügen Besitz. Augenblicklich wandte er sich um und rannte davon, die spitzen Steine und kleineren Trümmer, die bis hierher geflogen waren, rissen die Haut seiner nackten und wunden Füße auf.
In Ermangelung einer Lederscheide behielt ich meine Waffe in der Hand, während ich mich umwandte und meinen Weg fortsetzte. Solche Kämpfe waren schon längst zum Alltagsleben geworden und ich war mir sicher, dass er Junge mich hatte töten wollen. Wie es alle im Sinn hatten, die einen Mitmenschen angriffen, um sich dessen Besitz zu Eigen zu machen. Aber es war ja auch ein nahe liegender Gedanke, denn das Schwert meines Vaters, das ich in den Trümmern unseres Hauses gefunden hatte, war eine gute Waffe und somit etwas, das viele begehrten.
Deshalb war es gefährlich, sich in Gedanken zu verlieren, doch ich hatte mich wieder einmal von ihnen und meinem Zorn mitreißen lassen. Und selbst, wenn ich wegen einer Unachtsamkeit getötet werden sollte, fand ich diesen Gedanken nicht weiter erschreckend. Niemand mehr hier hatte Angst vor dem Tod, kaum jemand hatte noch etwas, wofür es sich zu leben lohnte. Ich selbst hatte durch diesen Weltuntergang alles verloren – meine Familie, meine Freunde, das Haus, in dem ich gewohnt hatte und meine kleine Katze Nika. Ich hatte sie an demselben Tag wie das Schwert gefunden, erschlagen von einem Dachziegel. Sie war noch so jung gewesen, verspielt und neugierig. Wehmut und Sehnsucht nahmen Besitzt von meinem Körper, trieben mir einige Tränen über die Wangen. Warum hatte es soweit kommen müssen? Weshalb hatte sich plötzlich die Welt gegen ihre Bewohner verschworen? Wie viele andere Menschen auch hatte ich nun nur noch mich selbst und mein Dasein in Leid, Elend, Armut, Angst und Verzweiflung. All das konnte ich in den Gesichtern der wenigen Menschen erkennen, deren Herz noch zwischen den Trümmern unseres zerstörten Dorfes schlug, ebenso in denen derjenigen, die aus ihrer zerstörten Heimat geflohen waren, getrieben von der verzweifelten Hoffnung, irgendwo einen Platz zu finden, wo noch der ehemalige Frieden herrschte. Doch schon bald hatten sie es sich alle eingestehen müssen: Es gab keinen Platz, der diese Katastrophen überlebt hatte, noch so lebendig und friedlich war wie früher. Überall sah es gleich aus. Egal, wo man war, nirgendwo konnte man auch nur den kleinsten Funken Hoffnung sehen.
Alles war grau und trüb, die Felder waren durch Lava und Erdbeben zerstört, das Vieh getötet worden und das wenige, was übrig gewesen war, hatte der König an sich genommen. Er hatte sich unsere Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu Nutze gemacht, uns versprochen, er könnte alles so wie früher machen und wir waren auf ihn hereingefallen. Hatten ihm geglaubt. Wie naiv wir doch gewesen waren. Zwar war er nun ebenfalls tot – woran er gestorben war, wusste niemand hier und es kümmerte auch keinen – doch er hatte sein Ziel erreicht und die letzten kleinen Funken von Hoffnung und Zuversicht aus den Herzen der Menschen vertrieben. Und anstatt einer neuen, friedlichen Welt hatte er nach seinem Tod dasselbe Bild zurückgelassen, das zuvor auch da gewesen war.
Selbst der Himmel war grau, die Sonne hatte niemand mehr gesehen seit dem verfluchten Tag, an dem die Welt untergegangen war und die beständigen Regenschauer vermochten nicht den Gestank nach Dreck und toten Körpern, für die man aus Platzmangel keine Gräber mehr errichtet hatte, wegzuwaschen. Kaum ein Tier sah man noch, die einst hier so zahlreichen Vögel waren – oft auch roh – in den Mägen der Leute verschwunden.
Einen Fuß vor den anderen setzend ging ich über die zerstörten Pflasterstraßen, kletterte über Trümmer und hielt mich möglichst weit von dem großen, breiten Riss entfernt, der sich einmal quer durch das gesamte Dorf zog und schwindelerregend weit nach unten ging. Er war durch die vielen Erdbeben entstanden und einige waren bereits im Kampf oder absichtlich hinuntergestürzt. Erst gestern hatte ich eine junge Frau gesehen, die hinunter gesprungen und wie ein Stein in die Tiefe gefallen war. Noch lange hatte mir ihr Schrei in den Ohren nachgehallt. Er hatte nach Verzweiflung und Trauer über ihr zerstörtes Leben geklungen, aber auch nach der freudigen Erwartung auf die schmerzhafte Erlösung von diesem Dasein, die sie empfangen würde, sobald ihr Körper unten aufkam. Ich hatte tatsächlich überlegt, es ihr nachzutun und konnte mir die Frage selbst nicht beantworten, warum ich es nicht getan hatte. Vielleicht lebte irgendwo in mir doch noch ein Funke naiver Hoffnung auf eine Veränderung der Dinge.
Schließlich war ich an meinem ehemaligen Heim angekommen, einem kleinen Haus aus Stein, die nun über den Boden verteilt waren. Ganz hinten, in einer kleinen Nische, die unerklärlicherweise standgehalten hatte, hatte ich meine Katze begraben, unter einem kleinen Erdhügel, auf den ich vorsichtshalber einige Steine gelegt hatte. Ich wollte nicht, dass jemand das Grab und die Reste meiner toten Freundin fand. Denn für die anderen war es einfach Fleisch. Ein wenig Nahrung, die zumindest ein wenig ihren Hunger stillen konnten.
Mit Essen könnten sie zumindest ihre Mägen füllen, wenn auch nicht ihre leeren Herzen oder ihre von Verzweiflung und Trauer zerfressene Seelen.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Arm und fuhr erschrocken herum, das Schwert in der Hand. Es war eine Frau, die ich auf Mitte dreißig schätzte. Eines ihrer mausgrauen Augen war milchig weiß und über ihre gesamte Haut zogen sich seltsame, gelbliche Blasen. Sofort zuckte ich zurück – möglicherweise war das ansteckend. Die geschundene Frau strecke flehentlich eine ihrer schmutzigen Hände nach mir aus, redete leise und unverständlich auf mich ein. Schnell entfernte ich mich noch einige Schritte von ihr, ehe ich mich von ihr losriss und davonlief.
Egal wo man hinsah hatte die Not – eingeleitet durch die Naturkatastrophen und ausgeweitet durch die Tyrannei des Königs – sowohl die Menschen als auch die Umgebung fest in ihren Klauen.
Gab es überhaupt ein Entkommen daraus?
Schaum quoll aus der sündhaft teuren Sektflasche, als sich der Korken mit einem lauten Knall löste. Gläser klangen. Gelächter erfüllte die verglaste Festhalle. Ausgelassen wurden die ersten Minuten des kommenden Jahres 2115 gefeiert. Doch war die Aussicht auf weitere zwölf Monate in dieser Welt wirklich ein Segen oder doch nur die Fortsetzung eines nicht enden wollenden Alptraums. Einer neuen Epoche, die bei Weitem nicht so perfekt war, wie sie nun von Allen dargestellt wurde. Ewigkeiten, vielleicht aber auch nur wenige Jahre waren vergangen, seit sich alles geändert hatte.
Immer weiter, immer schneller war das Wasser angestiegen. Zunächst unbedeutende Küstenregionen. Dann einzelne Länder. Und schließlich ganze Kontinente. Einfach alles verschwand in den tosenden Fluten der nicht aufzuhaltenden Wassermassen. Gewaltige Evakuierungsmaßnahmen scheiterten und gnadenlos verschlang der gewaltige Ozean nahezu die gesamte Weltbevölkerung. Unter Hochdruck wurde an einer Lösung gearbeitet, die wahrscheinlich viel zu spät sein würde. Angst. Panik. Entsetzen. Langsam zerfraßen sie die Verbliebenen. Mehr als die Hälfte beging Selbstmord. Ein, in Anbetracht des qualvollen Todes in den schäumenden Wellen des blauen Ungetüms, durchaus nachvollziehbarer Schritt. Alles deutete auf das Ende der menschlichen Ära hin und doch gelang den nur noch wenigen Tausend Erdenbewohnern in letzter Sekunde die Abwendung des vorzeitigen Untergangs. Zumindest für den Moment.
NovaTerra, eine gewaltige schwimmende Stadt war fertiggestellt. Ausgestattet mit einem unabhängigen Ökosystem, einer sonnenbetriebenen Wasseraufbereitungsanlage sowie durchaus luxuriösen Appartments versprach es Hoffnung auf einen Neubeginn. Geschunden. Verängstigt. Von Alpträumen geplagt bezogen die Menschen ihre neue Zuflucht. Und dann geschah es, das Unglaubliche. Bereits wenige Monate, wenn nicht sogar Wochen später, war Alltag eingekehrt. All das Vergangene war wie ausgelöscht. Die zahlreichen Parties zu allen möglichen Anlässen spielten dabei sicherlich keine unbeduetende Rolle. Ausreichend alkoholische Spezialitäten halfen die Realität zu beschönigen. Und so sollte es auch bei diesem Fest wieder der Fall sein. Ein sinnloses Saufgelage anlässlich des vermeintlichen Beginns eines neuen Jahres.
Niemand realisierte, dass es keine sorgenfreie Zukunft gab. Nein, voller Freude wurde gefeiert, um dann in letzter Sekunde aufzuwachen und die Ausweglosigkeit zu erkennen. Ein plötzlicher Defekt an der Wasseraufbereitungsanlage, eine Epidemie oder auch nur ein unbemerktes Lack. Alles könnte NovaTerra innerhalb von kurzer Zeit in eine tödliche Falle verwandeln. Das gewaltige Schiff war schließlich doch nur ein kurzfristiger Aufschub des endgültigen Endes. Eine schwimmende Stadt mit Kurs aufs Jenseits.
Unruhig öffnete ich meine Augen. Ich lebte noch. Ja, ich lebte noch. Ohne die pechschwarze Himmelskuppel über unserer Scheibe, welche sich Erde nannte, zu beachten, versuchte ich mich zu erheben. Was war nur geschehen? Sicherlich, der Sternenbeobachter hatte verkünden lassen, dass "die Neuzeit" anbreche, doch wer hätte das schon glauben können? Wie sollte man ihm auch glauben? Immerhin hatte er diese Botschaft schon in solch einer Häufung verkünden lassen, dass er selbst es kaum glauben konnte. Doch zugeben mussten wir - die Überlebenden - es alle: Er hatte die Wahrheit gesprochen.
Ein seltsames Gefühl durchströmte mich - Ich hatte Hunger. Wie viel Zeit mochte seit der letzten Mahlzeit nur vergangen sein? Was sollte ich nur zu mir nehmen? Nachdem die riesige Feuerkugel auf unsere Scheibe gefallen war und so all unsere Nahrungspflanzen zerstört hatte, musste ich eine Quelle finden. Etwas finden, dass essbar war, sonst hätte ich sterben müssen.
„Pukko?“, flüsterte ein leise, fast ängstliche Stimme. „Pukko, siehst du dieses Wesen dort hinter dem Felsen?“
Angespannt erhob ich mich von meinem Schlafplatz, dem harten Boden. Mein Blick wanderte durch die Umgebung. Vorbei an den Überresten des großen Waldes, in dem ich gemeinsam mit den anderen Walddorf-Bewohnern gelebt hatte, an einem fast ausgetrocknetem Fluss entlang, bis zu dem genannten Felsen. In der Tat befand sich auf seiner Rückseite ein wolfähnliches Wesen. Allerdings strahlte eben jenes Wesen nicht die typische Aura eines Wolfes aus. Nein, es schien ängstlich zu sein und Schutz zu suchen.
„Siehst du, was es dort tut, Pukko? Siehst du es?“, fragte mich die Stimme eneuert.
„Ja, ich sehe es!“, antwortete ich genervt und wandte mich der fragenden Gestalt entgegen. Sie hatte ein langes, helles Kopffell und eine ebenso helle Haut. Ihre schimmernd blauen Augen waren mit dem Wasser des Meeres gefüllt und doch hatte sie ganz alleine den Mut aufgebracht, ihr altes, zerstörtes Dorf zu verlassen, um eine andere Gestalt zu suchen, die ihr ähnlich sah; mich. Und doch, unsere Körper waren unterschiedlich geformt.
„Saya, lass mich zu diesem Wesen gehen. Es beobachtet uns, vielleicht kann es uns eine Nahrungsquelle nennen, die wir gemeinsam nutzen können“, sprach ich, während meine Hand ruhig das Meereswasser aus dem Gesicht von Saya wischte.
Ohne auf eine mögliche Antwort zu warten, wandte ich mich wieder von ihr ab und zog mit langsamen Schritten in Richtung des Felsen. Ich wusste nicht woran es lag, doch mit jedem Schritt, den ich setzte, blicke mir diese Gestalt treuer, wenn nicht gar verspielt entgegen. Die Angst schien ihren Kopf scheinbar mit jedem weiteren meiner Schritte zu verlassen. Doch dann, nach etwa der Hälfte, der zu laufenden Distanz, hob die Gestalt ihren Kopf, machte sich bereit und lief auf mich zu. Fast lächelnd sprintete sie mir entgegen, um dann schließlich doch vor mir anzuhalten und sich zu setzen. Ihre zwei kugelrund geformten Augen blickten erst in meine rechte, dann in meine linke Gesichtshälfte. Anschließend direkt in das Zentrum. Unterhalb ihres Rückens befand sich ein langer Schweif aus Fell, welchen sie freudig durch die Luft schwingen ließ.
„Entschuldigung, wissen Sie vielleicht -“, versuchte ich meine Frage zu beginnen, wurde jedoch durch ein eigenartiges Geräusch der Gestalt unterbrochen.
Auf das erste Geräusch folgte ein Weiteres, das in etwa wie ein "Wuff" klang.
„Ist das Ihr Name, Wuff? Mein Name ist Pukko“. stellte ich mich vor, jedoch ohne eine Antwort zu bekommen. Doch trotzdem hatte ich mich gemeinsam mit Wuff auf den Rückweg zu Saya begeben.
Die helle Scheibe hatte ihre Wanderung um unsere Scheibe beendet und das bedeutete, dass es kälter wurde. Zum Schutz dagegen, hatte uns Saya bereits am Abend aus dem wenigen verbliebenen Naturmaterial eine Art zweite Haut zusammengestrickt, doch alles in Allem blieb auch während der Dunkelheit nur ein Gedanke:
Wie sollten wir zu dritt auf einer Scheibe überleben, auf welcher unsere Nahrung; unsere Dörfer und unsere Herkunft zerstört wurde?
*Wuff agierte so schnell er konnte und zog jedes Wesen, das er bemerkte, heran, sodass Pukko, Saya und er selbst Nahrung hatten. Die wenigen Überlebenden vermehrten sich, doch es kam kein Frieden in der "neuen Welt" auf, wie er zuvor geherrscht hatte. Der Kampf um Nahrung, sowie Lebensgebiete war zu groß.
Die Sonne scheint mir warm in mein Gesicht und der Wind spielt mit meinen blonden Haaren. Wenn ich die Augen schließe, ist es fast, als wäre es nie passiert; wäre da nicht dieser Gestank und…
Ein Erdbeben holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Wie ein übermächtiges Gewitter donnern die Kontinentalplatten aneinander. Ich schaue mich um. Es scheint, als wolle die Sonne nicht wahrhaben, auf was für einen trostlosen Planeten sie da scheint.
Ein Gong, lauter als jedes Beben, ertönt. „Zurück an die Arbeit, ihr faulen Säcke!“, dringt die raue Stimme an mein Ohr.
Seufzend beende ich die kleine Pause, um weiter die Straßen frei zu räumen. Als ob das irgendetwas bringen würde – die Autos können hier doch sowieso nicht mehr fahren. Ein Gutes hat unser Weltuntergang allerdings schon, urplötzlich sind sich alle Nationen einig – na ja, immerhin ist es ja auch nur noch eine große; geographisch gesehen. Die Arbeit ist hart und schweißtreibend, aber es ist die einzige Möglichkeit, jetzt noch etwas Essbares zu kommen. So räume ich brav mit den anderen den Dreck von den Straßen, um am Ende des Tages sogar einen warme Mahlzeit zu bekommen.
Ein weiteres Beben lässt einen großen Betonklumpen von einem Berg aus Schutt rutschen und gibt den Blick auf mehrere tote Körper frei. Auch wenn ich schon seit Tagen nichts anderes als zerfallene Häuser, verwüstete Wälder, abgemagerte oder eben tote Menschen zu Gesicht bekomme, muss ich wegsehen. Ich weiß nicht, wie man mit diesem Anblick jemals fertig werden kann.
Als der Donner des Bebens verebbt, hört man wieder die Stimme des „Bauleiters“, eines Mannes mittleren Alters, der zwar die Aufsicht hat und uns Befehle erteilen darf, selbst aber nie einen Finger rührt: „Bewegt euch! Oder habt ihr noch nie eine Leiche gesehen?“
Idiot.
Ich zwinge mich, tief durchzuatmen und auf den Haufen zuzugehen. Wie oft wünsche ich mir, dass auch ich diese Qualen nicht mehr durchmachen müsste…
„Darf ich behilflich sein, Ma’am?“
Bei diesem Worten drehte ich mich wieder um. Schräg hinter mir steht ein Mann, den ich etwa mein Alter, also Anfang zwanzig schätzte. Er hat dunkle, verstaubte Haare und sieht mich aus strahlenden, blauen Augen an. Wenn ich bei dem ganzen Weltuntergang nicht auch meine Verlobten verloren hätte, hätte ich ihn ganz süß finden können. Aber jetzt ist ohnehin so absolut nicht die richtige Zeit, um zu flirten. Er sieht mich immer noch an und wartet auf eine Antwort. Ich nicke stumm und sehe zu, wie er sich an meiner statt auf den Berg begibt, um die Leichen wegzuräumen. Vielleicht bin ich ja zu eigennützig, aber er hatte immerhin gefragt.
Ich beschließe, dass einfach rum zu stehen und einem fremden Typen bei der Arbeit zuzusehen, bei meinem Arbeitsgeber sicher nicht sonderlich gut ankommt, weshalb ich mich daran mache, kleinere Teile des Hauses, was dieser Schutthaufen wahrscheinlich einmal gewesen ist, wegzuräumen. Wie zufällig schweift mein Blick immer wieder zu dem dunkelhaarigen Mann, bis er irgendwann aus meinem Blickfeld verschwindet.
Fünf Stunden später wird es dunkel und wir müssen mit unserer Arbeit für diesen Tag aufhören. Lampen bzw. Strom im Allgemeinen ist eine Rarität geworden und so sind wir wie die Menschen früher auf das Sonnenlicht angewiesen. (Uhren funktionieren allerdings noch ganz gut, weshalb wir meist noch vor Sonnenaufgang geweckt werden, um ja kein Licht zu verschwenden.)
Während sich die anderen Arbeiter zur provisorischen und sogar einigermaßen erdbebensicheren Küche aufmachen, bleibe ich noch in der verwüsteten Landschaft stehen und sehe zu, wie die letzten Strahlen der Sonne verschwinden – eigentlich schon fast lebensmüde, da man in der Dunkelheit auf diesem Schlachtfeld viel zu leicht etwas übersehen kann. Trotzdem geben mir die Farben, die die Sonne an den Himmel malt, immer irgendeine Hoffnung. Wenn unser Stern den Planeten noch nicht aufgegeben hat, vielleicht sollten wir es dann auch nicht tun.
„Ein toller Anblick, oder?“, schreckt mich eine Stimme aus meinen Gedanken auf und ich sehe neben mir den Mann, der mir vorhin geholfen hatte.
„Ja“, beginne ich und mache eine Pause. Mit jeder Sekunde wird der Himmel dunkler. „Dankeschön“, setzte ich dann wieder an, „für die Hilfe…“ Ich komme mir äußerst unbeholfen vor, aber ganz theoretisch ist inzwischen auch alles egal.
„Kein Problem, es ist ja auch nicht gerade die beliebteste Arbeit, da kann es einen schon mal überkommen.“ Er lächelt mich an und ich spüre, wie ich rot werde. Hoffentlich ist es schon so dunkel, dass man das nicht mehr erkennt. „Ich bin Robert“, stellt er sich nun vor und reicht mir die Hand, als wäre die Welt um uns nicht dunkel und zusammengefallen, als hätten wir und gerade irgendwo – vielleicht in einem Einkaufzentrum – kennengelernt. Aber geschlossene Räume sind schon seit Längerem zu lebensgefährlichen Aufenthaltsmöglichkeiten geworden.
„Tamara“, bringe ich nach ein paar Sekunden heraus und schüttle seine Hand, „sehr erfreut.“ Fällt mir denn nichts Besseres ein?
Er lächelt mich wieder an. Anscheinend findet er es gar nicht so seltsam, hier in den Trümmern mit mir zu flirten.
Auch ich ringe mir ein Lächeln ab. So falsch ist es ja gar nicht: Immer das Positive sehen.
„Wir sollten mal zur Küche gehen“, meint er dann. „Wenn wir den Hindernisparcours dahin überleben, möchte ich ungern verhungern.“
Er lacht, wie er es wahrscheinlich auch vor einem Jahr getan hätte, und ich lasse mich anstecken. Was bringt es schon, immer nur Trübsal zu blasen, auch wenn ich den Schock immer noch nicht verdaut habe. Es kam schließlich alles viel zu plötzlich. Natürlich hatte man schon seit Jahren eine Annäherung der Kontinente aneinander feststellen können, aber dann…
Mit einem ohrenbetäubenden Donnergrollen fängt die Erde erneut an zu beben. Ich werde direkt aus meinen Gedanken gerissen und stolpere sofort. Viel zu schnell sehe ich die dunklen, harten Trümmer näher kommen, als mich zwei Hände mit festem Druck halten und nach oben ziehen.
„Alles in Ordnung?“, fragt Robert ernsthaft besorgt.
Vorsichtig nicke ich. Ich kann es nicht fassen; er hat mich schon wieder gerettet – und diesmal richtig.
Das Donnern verklingt, doch Robert greift nach meiner Hand, als hätte er Angst, dass ich noch einmal falle.
Ich muss einfach lächeln, während wir auf den einzigen noch beleuchteten Punkt in der kargen, wüsten Landschaft zugehen. Morgen früh wird die Sonne wieder aufgehen, so wie jeden Morgen; zumindest eine Beständigkeit in dieser Welt. Und ich werde es ihr gleichtun. Ich sehe Robert ins Gesicht, als wir in das Licht der Küche treten. Endlich spüre ich wieder richtige Hoffnung in mir aufkeimen. So schnell werde ich nicht mehr aufgeben; ich werde stetig weiter gehen. Wie die Sonne.