L'Artista

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    „ Die Feder in meiner Hand, die Farben an meiner Seite, das Papier auf meinem Schoß. Mehr brauchte ich in meinem Leben nicht.-
    Bis er kam.“



    Herzlich willkommen zu meiner neusten Fanfiction hier im Bisaboard. Ich war für eine ganze Zeit ziemlich inaktiv, und viele meiner alten Fanfics sind längst schon gelöscht worden, aber aus gegebenem Anlass habe ich mich entschlossen zumindest hier, in einem meiner Lieblingsbereiche, den Staub von meinem Namen zu wischen und mal wieder ein neues Projekt zu starten.


    Genre
    Überwiegend Reise. Ich bemühe mich aber auch, alltägliche Themen hineinzubringen, wie Verlust, Freundschaft und Familie und natürlich Liebe.
    Mysterie werdet ihr hier jedoch vergeblich suchen.


    Inhalt
    Es gibt Dinge, die erachten wie als selbstverständlich.
    Doch vergessen wir oft, warum es sie gibt, warum wir ihre Annehmlichkeiten heute nutzen können und dürfen.
    Einer hat immer den Anfang gemacht.
    Und den Anfang der Dokumentation, die Entwicklung der Technologie, das Leben, wie wir es leben, hatte seinen Anfang mehrere Generationen vor uns.
    Als das Schmieden der Pokebälle noch aufwendig war. Als die Erforschung der Pokemon noch in den Anfängen steckte. Als der Pokedex nicht mehr als ein Traum war.
    Und in dieser Zeit wurden für eben jene Dinge die Anfänge geschaffen.
    Denn damals waren die Zeiten keineswegs besser. Und einfach schon gar nicht.


    Idee
    Ja, ich muss zugeben, die Idee eine Geschichte zu der Zeit zu schreiben, in der der Pokedex noch nicht entwickelt war, stammt nicht ganz von mir. Vor ein paar Tagen entdeckte ich die Vorstellung eines Pokemon Hacks, genannt Generation 0. (Link)
    Ich wandelte die Idee geringfügig ab. So werden die Protagonisten weder Eich noch Agathe sein, sondern zwei junge Menschen, die meiner Fantasie entsprungen sind. Nichtsdestotrotz verdanke ich die Idee diesen Herrschaften.


    Hinweise
    Von Zeit zu Zeit werde ich vermutlich auch ein paar andere Charaktere einbringen, was wäre schließlich eine Reise ohne random auftauchende Trainer/Reisende/Einheimische/waseuchsonstnochsoeinfällt.
    Was das betrifft, bin ich immer offen für Vorschläge.
    Wenn ihr also Zeit und Lust habt, dann schickt mir einfach einen kleinen Charaktersteckbrief und ich schau, wie ich ihn einbauen kann.
    Dabei bleibt es aber immer noch meine Entscheidung, ob ich den Charakter wirklich einbringe. Passt er nicht ins Konzept oder ist beispielsweise ein typischer Gary Stu/typische Mary Sue nehme ich es mir heraus, ihn nicht einzubringen. Ich sage euch dann, was mich stört, damit ihr den Chara noch einmal überarbeiten könnt.
    Ich freue mich über jeden Vorschlag.


    [tabmenu]
    [tab=Allgemeines]
    Die folgenden Tabmenus sind für das Verstehen der Story eigentlich nicht notwendig, nur der Vollständigkeit wegen möchte ich die Steckbriefe aufführen- und, weil ich glaube, dass das Aussehen der Charaktere in Bildern besser zu erfassen ist. Die stammen übrigens von mir und sollten ohne meine Erlaubnis nicht weiter veröffentlicht werden. Merci~


    Im Grunde dreht sich diese Geschichte Angelique, ein junges, wohlbehütetes Mädchen, das wegen der Krankheit ihrer Mutter nach Alabastia zog und sich ihr ganzes, bisheriges Leben um sie kümmerte, und Erion, der sich von zu Hause flüchtet, um die Welt auf eigene Faust zu erkunden.
    Während Ange schon immer davon träumte, dem Vorbild ihres Bruders zu folgen und die Welt zu bereisen, hielt ihr Verantwortungsbewusstsein sie zurück. So behielt sie ihren Traum bei sich und kümmerte sich still und lächelnd um ihre Mutter, während der Vater Tag und Nacht fort ist, um das Geld für die Behandlung zu erarbeiten. Den einzigen Kontakt zu fernen, weiten Welt findet sie in dem Gebiet über Alabastia und den Pokemon, mit denen sie sich rasch anfreundet. So kommt es, dass sie Erion begegnet, der sich von zu Hause flüchtete, und nun auf der Flucht vor seinem herrischen Vater ist.
    [tab=Charaktere]
    [subtab= Angelique Dayleen]
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    Links: Alltagskleidung- Rechts: Winterkleidung
    Name: Angelique „Ange“ Dayleen
    Alter: 15 ( 18. August)
    Herkunft:
    Prismania City in Kanto. Sie lebt aktuell jedoch in Alabastia, da die Ärzte ihrer Mutter zu einem ruhigeren Wohnort rieten.


    Angelique ist ein eher ruhiges Mädchen. Diese Ruhe zeigt sich vor allem in ihrem Verhalten gegenüber ihrer Mutter und ihrem Vater. Ange stellte ihre Wünsche unter die ihrer Eltern und versucht ihnen so gut es geht zu helfen. Das Mädchen übernahm schon früh die Verantwortung für ihre kranke Mutter, da ihr Vater für deren teure Medizin und Behandlung hart und lange arbeiten musste. Insgeheim wünschte sie sich jedoch immer, ihrem Bruder folgen zu können, und ebenfalls auf Reisen zu gehen, um die Welt für sich zu entdecken. Ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Eltern hinderte sie jedoch stets daran, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als diesen Wunsch in Bildern und Büchern auszuleben, die ihre Mutter ihr regelmäßig, sozusagen als Entschädigung, schenkte. Mangels eines Hobbys begann sie mit dem Malen. Ihre favorisierten Motive sind die Pokemon, mit denen sie gelegentlich im Gebiet über Alabastia spielt, da es ihr schwer fällt, als Zugezogene in die festen Cliquen der Einheimischen zu gelangen.
    Angelique wollte schon immer ihrem Bruder etwas mehr ähneln. Seit er in der Nacht verschwand, änderte sich ihr Charakter drastisch. Sie wurde zu dem zurückgezogenem, einsamen Ding, das, eingesperrt in ihrem Käfig, darauf hofft ihr wahres ich, die kämpferische, mutige und freche Ange, endlich wieder etwas Freiraum geben zu können.
    [subtab= Erion Sanders]
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    Links: Alltagskleidung- Rechts: Winterkleidung
    Name: Erion Sanders
    Alter: 16 ( 4. März)
    Herkunft: Ein Vorort von Azuria City


    Erions Mutter verstarb kurz nach seinem siebten Geburtstags während eines Unfalls, verursacht durch einige aggressive Pokemon. Im Gegensatz zu seinem Sohn affektierte der Vorfall Erions Vater sehr; Er entwickelte einen grundlegenden Hass gegen Pokemon und zog sich immer mehr zurück. Er ertränkte seinen Kummer in Arbeit und Alkohol, weswegen Erion sich nahezu selbst großziehen musste. Einzige Hilfe bot sich ihm in einer in die Tage gekommenen Nachbarin, die er als seine Großmutter akzeptierte. Diese kümmerte sich regelmäßig um Erion und Pokemon, die sich nach Azuria verirrten. Mit diesem ständigen Kontakt mit Pokemon entwickelte er den Drang, so viel wie möglich über die bis dato nahezu unerforschten Wesen in Erfahrung zu bringen. Er lernte fleißig und erhielt seinen Abschluss in der städtischen Schule mit erstklassigen Noten.
    Kurz nach seinem 16. Geburtstag eröffnete er seinem Vater, dass er gerne los ziehen und Forschen wolle, was zu großem Unbehagen und Wut auf dessen Seite führte. Sie stritten sich häufig darüber, noch mehr als sonst üblich. Für eine geraume Zeit beherzigte Erion den Wunsch seines Vaters, doch nach dem letzten, großen Streit packte er seine Sachen und floh. Von seinem Vater verfolgt, versteckte er sich im Waldgebiet in der Nähe von Alabastia.
    [tab=Technologie und Sonstiges]
    … Ist nur spärlich vorhanden. Es gibt keine Pokecoms, keine Pokenavs, nur Karten und höchstens ein Handy oder ein elektronisches Notizbuch.


    Pokebälle werden noch in Handarbeit hergestellt und sind deswegen sehr teuer. Noch dazu müssen die Trainer ihre Apricos selber sammeln, da diese aber häufig vorhanden sind, ist das das kleinere Problem.
    Die Fangrate hingegen ist schon ein etwas Größeres. Da die Technologie noch nicht so weit fortgeschritten ist, müssen freundschaftliche Beziehungen zu den Pokemon hergestellt werden, weswegen die Trainerrate ebenfalls noch nicht so hoch ist.


    Arenen befinden sich noch in der Anfangsphase und auch die Top-4, sowie der Champ sind lediglich ein Testlauf für die Zukunft und deswegen auch noch nicht so hoch geschätzt. Im Allgemeinen findet der Gedanke, Pokemon einzufangen und sie gegeneinander antreten zu lassen gerade erst Anklang.


    Es gibt, technisch gesehen, noch kein Pokemoncenter, nur Gaststätten für Reisende, doch findet man immer mal wieder Personen, die den Trainern mit Freude helfen. Auch Items sind noch teuer, da auch sie in der Entwicklungsphase sind. Sonderbonbons, Statusitems und Schutz sind nicht vorhanden.


    Bestimmte Pokemon, wie Magnetilo, Voltoball und Porygon gibt es noch nicht.
    Diese sind:


    Magnetilo & Magneton
    Voltoball & Elektroball
    Porygon
    Mew& Mewto
    (die Liste wird eventuell noch erweitert)


    Da sie in Kanto reisen, werden auch nur Pokemon aus dieser Region vorkommen. Man beachte hier, dass viele Pokemon noch nicht entdeckt wurden oder wenig erforscht. Das ist ein großer Bestandteil dieser Story.
    Die beiden Charaktere werden durch die Welt reisen und Daten über diese Pokemon sammeln.
    [/tabmenu]


    Kapitelübersicht:
    Prolog
    Erste Studie: Taubsi
    Zweite Studie: Familienangelegenheiten
    Dritte Studie: Flucht
    Vierte Studie: Endgültig
    Fünfte Studie: Georok
    Sechste Studie: Hornliu
    Siebte Studie: Phobien
    Achte Studie: Lebensretter
    Neunte Studie: Sklaverei
    Special: Zehnte Studie, erster Part: Blutige Bande ; Zehnte Studie, zweiter Part: Santfe Bande


    (kursiv- bereits geschrieben, noch nicht veröffentlicht)


    Jetzt bleibt mir nur noch, euch viel Spaß zu wünschen.
    Caithy~

  • Anmerkung: Der Prolog ist noch recht kurz. Die Kapitel werden mindestens zehn Word Seiten lang sein.


    Prolog


    Als ich nach Alabastia zog, bemerkte ich rasch, dass Lehrer immer die gleiche Art hatten, ihre Schüler aufzumuntern. Ich fand es bemerkenswert, dass sie sogar die gleichen Worte benutzten, obwohl ich mir doch ziemlich sicher war, dass es keine Möglichkeit gab, dass diese Menschen sich kannten.
    „ Jeder Mensch hat ein Talent!“
    Das pflegten sie immer zu sagen, wenn uns etwas misslang. Manche bekamen es öfter zu hören als andere, manchen mochte es vielleicht sogar helfen.
    Ich für meinen Teil hatte keine Probleme mit dieser Aussage, hatte ich mein Talent schon längst entdeckt.
    Nachdem wir aus meiner Heimatstadt umgezogen waren, in dieses kleine, ruhige Dorf mitten in der Pampa, nachdem die Ärzte uns rieten einen weniger aufregenden Lebensstil zu führen, nachdem Papa sich in Arbeit stürzte um die besten Ärzte dieser Region finanzieren zu können, zwang ich mich selbst, dieses Talent auszuleben:
    Das Verstecken des eigenen Charakters.
    Die eigenen Wünsche unterdrücken.
    Die Emotionen verstecken.
    Kurz gesagt, die Schauspielerei.
    Auf besagtes Talent folgte das, was unweigerlich kommen musste. Wir blieben in Alabastia, ich gewöhnte mich nur widerwillig an meine Situation und forcierte das strahlende Lächeln, das mich bei allen Eltern des Dorfes beliebt machte.
    Meine Mutter erholte sich die nächsten Jahre über stetig. Nichtsdestotrotz dachte mein Vater nicht einmal im Traum daran, wieder zurückzuziehen, in meine geliebte Heimat, zurück nach Prismania, zu meinen Freunden.
    Sie blieb schwach und anfällig für einen Rückfall, und so blieb ich die hübsche, sich kümmernde Tochter, die, die sich nie beschwerte und glücklich war, was auch passierte.
    Die Mütter der anderen sahen mich immer mit einem Stolz an, der ihnen eigentlich nicht zustand. Sie zeigten mir ihre Bewunderung, lobten und bemitleideten mich gleichzeitig.
    „ Das arme Mädchen. Muss sich immer um ihre Mutter kümmern.“
    „ Ist erstaunlich, nicht wahr? Wie selbstständig und erwachsen sie ist.“
    Ja, das war ich.
    Selbstständig und erwachsen.
    Weil ich es sein musste, nicht, weil ich es wollte.
    Ich beneidete meinen Bruder, seit er sich von den familiären Nadelbändern losgerissen hatte und sich auf eigene Faust seinen Platz in dieser Welt suchte.
    Das war auch etwas, was man uns Kindern zu sagen pflegte:
    „ Ob ihr es glaubt, oder nicht, jeder von euch ist etwas Besonderes, und jeder hat in dieser Welt etwas zu tun, dass nur diese Person tun kann.“
    Zuerst dachte ich, dass es meine Aufgabe war, mich um meine Mutter zu kümmern, solange sie es nicht selbst konnte. Ich wusste, dass ich wegen dieser Bestimmung wohl für immer im goldenen Käfig gefangen sein würde.
    Versteht mich nicht falsch.
    Meine Eltern liebten mich von ganzem Herzen. Sie sorgten sich um mich, und ich mich um sie, indem ich mich verbog und vorgab, dass mir all das nichts ausmachte. Ihnen ging vieles durch den Kopf, deswegen waren sie froh, dass ich nicht auch noch Mucken machte. Ich tat ihnen den Gefallen und ertrug es schweigend.
    Und weil ich deswegen an Alabastia gebunden war, suchte ich mir selbst eine kleine Freude in meinem Leben. Ich bin nicht schüchtern, doch fiel es mir damals wie heute schwer, zu jemandem Kontakt aufzubauen, ganz besonders betraf das die Leute in meinem Alter, die spärlich, wie sie hier waren, bereits eine feste Gruppe darstellten, in die ich mich nicht einzumischen wagte.
    Sozialen Kontakt zu anderen Menschen konnte ich also vergessen.
    So kam es, dass ich mich entschied, in der vielen freien Zeit, die ich trotz der Pflicht gegenüber meiner Mutter hatte, einfach in der Gegend herumwanderte, darauf bedacht möglichst niemanden zu treffen. Denn je öfter ich diesen Menschen begegnete, desto stärker wurde mir bewusst, dass ich ein miserables Leben führte.
    Ich war bis dato nur selten außerhalb der Grenze von Alabastia gewesen, weil mein Vater es mir verbot. Zu groß war ihm die Gefahr, dass ich die gleiche Krankheit hatte wie meine Mutter, und auf bestialische Art und Weise dahinraffte, weil keiner mich dort, im Wald, fand. Meiner Mutter war es eigentlich gleich. Sie wusste, dass ich nicht zufrieden war, auch wenn ich es vorgab. Obgleich schwach und krank, war sie eine wundervolle, intelligente und mitfühlende Frau. Deswegen sagte sie auch nichts, als ich das erste Mal mit Blättern in den Haaren und aufgeschürftem Knie nach Hause kam, vollkommen dreckig, aber so fröhlich wie lange nicht mehr. Ich hatte Schmerzen und war müde, aber ich merkte, wie sehr mir der Wald gefiel. Wie viel Spaß es machte, in ihm herum zu irren und die kleinen, weiß violetten Wesen zu jagen, die man Rattfratz nannte.
    Meine Mutter verbat es nicht, sie erlaubte es auch nicht. Sie nahm es zur Kenntnis, gab mir öfters Zeit für mich und begann, mir Bücher und Bilder von berühmten Autoren und Malern zu schenken. Wir konnten es uns ohne Probleme leisten, genauso wie das große Haus und die Therapien, sodass Papa eigentlich weniger hätte arbeiten können. Ich glaube, er hatte sich einfach daran gewöhnt und es war seine Art und Weise, mit seinen Problemen fertig zu werden.
    Mein zweites Talent, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob man es so nennen kann, da ich viel, sehr viel dafür übte, fand ich mit diesen Geschenken.
    Es begann mit einfachen Skizzen, mit abartigen und missratenen Bleistiftkreaturen, für die ich mich heute schäme. Ich entwickelte Motive, stellte sie in meinem Kopf fertig, doch manchmal schaffte ich es einfach nicht, sie aufs Papier zu übertragen. Mir fehlten die Mittel, das Können, die Erfahrung.
    Es gab Zeiten, in denen ich aufgab, weil sämtliche Inspiration ausblieb, oder ich einfach keine Zeit hatte.
    Trotzdem raffte ich mich immer wieder zusammen. Und bald verband ich dieses Talent mit meinem dritten.
    Wann immer ich den Wald betrat, wusste ich, dass ich in der Tat in Gefahr war. Sicherlich könnte ich mich irgendwann einmal verirren, oder ein Pokemon könnte mich angreifen. Sie taten es nie. Wenn ich mich setzte, um Pausen zu machen und meinen Block hervorholte, ein paar Skizzen anfertigte, da näherten sie sich mir, langsam und vorsichtig, mit regem Interesse an dem fremden Wesen, das so oft den Wald besuchte, sich setzte und still an einem Baum zusammensank. Sie fassten Vertrauen zu mir, wenn ich sie näher kommen ließ, und sie mich beschnupperten, dann konnte ich sie mit Früchten füttern. Ich ließ sie an meinem Körper herumturnen, in meine Kleidung krabbeln, Bisse und Kratzer ließ ich ihnen durchgehen, lernte daraus, was ihnen gefiel und wann sie sich bedroht fühlten. Irgendwann hörten sie sogar auf mich, und ich fand Gefallen daran, sie zu malen, in den unterschiedlichsten Posen.
    Mehr brauchte ich nicht.
    Meine Laune wurde besser, ich begann, aufrichtig zu lächeln, kümmerte mich mit mehr Elan um meine Mutter.
    Bis ich irgendwann verstand, was meinem Bruder an dem Gedanken, durch die Welt zu ziehen, so gefallen hatte, dass er uns einfach so verlassen hatte, und mich dieser Wunsch ebenfalls packte.
    Trotzdem blieb mein Verantwortungsbewusstsein stärker. Auch wenn es von Tag zu Tag, den ich im Wald verbrachte, immer weiter schrumpfte.
    Ich würde meine Pflicht nicht vernachlässigen, das schwor ich mir. Meine Mutter und mein Vater brauchten mich.


    Es war ein paar Wochen vor meinem sechzehnten Geburtstag, als mein Wunsch meine Pflicht endgültig schachmatt setzte.

  • Hallo Cáithlyn.


    Hauptsächlich bin ich hier aufgrund deines Namens gelandet, da mir der von früher noch etwas sagte. Insofern, wenn ich schon einmal da bin, warum nicht auch gleich einmal ansehen, was du hier fabriziert hast? Der Titel lädt ja schon zu einer gewissermaßen artistischen Show ein und man könnte meinen, du spielst damit auch auf die selbstgezeichneten Bilder an, die im Übrigen sehr detailliert sind und einen markanten Eindruck hinterlassen (vielleicht etwas zu große und schlanke Charaktere für meinen Geschmack, aber das liegt im Stil selbst begraben). Tatsächlich dürfte es aber wohl auf die reine Reise und das Entdecken der Region zurückzuführen sein, was den künsterischen Aspekt im Zeichnen der Pokémon wiederspiegelt und das verspricht doch wirklich interessant zu werden, eben weil die heutige Technik noch kaum vorhanden ist.
    Der Startpost selbst ist ausführlich und sauber gestaltet. Überhaupt deine Inspiration fasziniert mich gerade selbst (das Projekt werde ich wohl einmal etwas verfolgen, danke) und lieferte einen sinnvollen Beitrag. Das Einzige, was ich soweit anmerken könnte, wäre deine Kapitelübersicht, dass du diese eventuell noch verlinkst; ich habe aber das Gefühl, dass du das ohnehin mit dem ersten Kapitel machen wolltest. Bis hierher sieht das Ganze schon einmal nicht schlecht aus, gute Arbeit.


    Prolog
    Nette Ankündigung bereits zu Beginn, dass die eigentlichen Kapitel deutlich länger werden und dass der Text auch noch in der ersten Person geschrieben wurde, begeistert mich umso mehr. Für die Einleitung hast du dabei geschickterweise den Moment ausgelassen und stattdessen Fakten über Angelique (ich liebe den Namen!) aufgeführt. Somit fällt es nicht schwer, ihre Einstellung zum Umzug nach Alabastia zu erkennen - das zeugt nämlich von enormer Willensstärke, wenn sie bis jetzt nicht einmal dagegen protestiert hat, dass sie wieder in ihre alte Stadt zurück möchte - oder wie sie ihre Liebe zum Zeichnen gefunden hat. Man kann sich eigentlich keinen besseren Start wünschen, als den Hauptcharakter kennenzulernen und das gelingt dir über große Strecken ganz gut. Gelegentlich hätte ich mir von ihr Eigenkommentare gewünscht, egal ob jetzt übermäßid freundlich oder zynisch, allerdings gehört das in gewisser Hinsicht ja zur Perspektive dazu und da lasse ich mich auch überraschen, was noch folgen wird. Du hast dich aber auf das Nötigste beschränkt, dieses kompakt und doch betont ausführlich gestaltet und daraus setzt sich dann auch dein Stil zusammen. Auf den werde ich aber vorerst eher weniger eingehen, da er sich meist erst in einem langen Text richtig entfaltet.
    Dafür, zwei kleine Anmerkungen von mir für dich.
    A) Achte vielleicht darauf, deine Sätze durch Nebensätze und Kommata nicht zu lang zu gestalten. Mir ist das ein paar Mal aufgefallen und je nach Inhalt können diese sonst anstrengend zu lesen sein. Hier haben sie das noch nicht getan, aber ich wollte dich einmal darauf hinweisen.
    B) Hat es einen besonderen Grund, dass du zwischen den ersten Anführungszeichen und dem ersten Wort Leerstellen gesetzt hast? Das hat sich ebenfalls durch die wenigen gesprochenen Sätze im Text gezogen.


    Von daher bin ich hier einmal fertig und ich denke, wir lesen uns bestimmt wieder einmal. Ich freue mich darauf.


    ~蛇

  • Hi Snake,
    hätte nicht gedacht, dass sich noch jemand an mich erinnert xD Dnke für deinen Lob bezüglich des Startpostes. Ich war mir vorallem bei den Bildern nicht sicher, ob ich sie wirklich verwenden sollten, weil sie eigentlich eher eine Stütze für mich ewesen waren. Ich wollte sie euch jedoch nicht vorenthalten, da ich, wenn ich selbst weiß, wie meine Charaktere aussehen, dazu tendiere entsprechende Beschreibungen innerhalb der Story zu vergessen. Und ja, meine Figuren sind öfters mal zu lang geraten. Kann daran liegen, dass ich das selber gerne mag. Ich arbeite daran ^_^'
    Die Kapitel werde ich natürlich verlinken, nur dachte ich, dass wäre beim Prolog nicht nötig, weil der ja direkt darunter gepostet ist.
    Ja, das mit den langen Sätzen... Das sagt man mir oft, in unterschiedlichen Storys, und ich versuche wirklich, das zu ändern, weil ich dann grammatikalisch öfters mal danebenliege, aber... Es funktioniert einfach nicht =/ Ich werde aber mehr darauf achten, versprochen.
    Und zu B kann ich nur sagen, dass das eine alte Angewohnheit von mir ist. Word hat damals immer gemeckert, wenn ich es nicht getan habe. Habs aber jetzt geändert, danke für den Hinweis.
    Danke dauch für deinen Kommentar. Bisher kam es immer selten vor, dass ich schnell einen Kommentar hatte. Ich gehe mal davon aus, dass das auch hier der Fall sein wird. Hoffentlich ändert sich das bald, ich werde mir Mühe geben, eine lesenswerte Story zu verfassen und online zu stellen.


    Wie angekündigt ist das erste Kapitel wesentlich länger als der Prolog- Vierzehn Word Seiten. Die anderen Kapitel werden sich ebenfalls um diese Seitenzahl herum oder höher bewegen.



    Erste Studie: Taubsi


    Jener Tag war warm und drückend. Ich wusste, dass Mamas Kreislauf zusammenbrechen würde, wenn sie länger als eine Stunde bei solchem Wetter im Garten blieb. Sie wehrte sich nicht dagegen, das tat sie nie, aber ihr wehmütiger Blick wegen der warmen Temperaturen sprach Bände.
    Ich schaffte sie ins Bett und zog die Vorhänge zu, weil die Mittagssonne den Raum sonst aufheizen und in einen Ofen verwandeln würde.
    Sie bat mich nur noch um einen Eimer mit kaltem Wasser und einen Waschlappen, ich reichte ihr beides und das Buch auf ihrem Schreibtisch. Sie versank bereits darin, als ich noch ein wenig aufräumte.
    Das wars.
    Wenn meine Mutter in einem Buch versank, dann hatte ich die Erlaubnis, zu gehen und mir einen schönen Tag zu machen.
    Unser Haus war groß und recht modern. Wir kochten mit Strom, hatten einen Kühlschrank und einen kleinen, dicken Fernseher in unserem Wohnzimmer. Meine Mutter hatte große Freude an Pflanzen, sodass unsere Räume voll davon waren. Wohin man auch sah, überall standen die Stauden und Knospen in voller Blüte, sendeten ihren süßlichen Duft wie eine Art Dankeschön für die intensive Pflege, die man ihnen schenkte, durch das Haus.
    Die Treppe knarzte unter meinem Gewicht und bog sich leicht. Ich ging nur auf Zehenspitzen, das war eine Gewohnheit, die ich angenommen hatte, um meine Mutter nicht zu stören wenn sie schlief. Ich passierte die Türen zum Bad und zur Bibliothek, bog dann rechts in die Küche ein und griff nach einer Beere aus dem Korb, sank auf einen der sechs Stühle rund um den Esstisch. Eine Zeitung lag aufgeschlagen darauf, leicht zerknittert. Mein Vater ging niemals aus dem Haus, ohne sich nicht vorher über die Geschehnisse in der Welt aufzuklären.
    Er sagte, das gehöre zu seinem Beruf.
    Ich sage, er lügt. Er hoffte immer, etwas von seinem Ältesten zu hören, auch wenn das nie geschah.
    Ich blätterte ein wenig darin, überflog die Artikel über die wachsende Begeisterung hinsichtlich des Themas „Pokemontrainer“, eine Ankündigung über die Eröffnung einer Arena in Azuria, den Mord an einer junge Mutter in Saffronia.
    Die Welt war so wie immer. Wild und aufregend und unberechenbar.
    Nur Alabastia schien den Atem anzuhalten und still zu verharren, wie ein Beutetier das hofft, seinem Jäger auf diese Weise zu entkommen.
    Ich schluckte den Rest der Beere mit einem bitteren Nachgeschmack herunter und entsorgte die Zeitung auf meinem Weg nach draußen. Ich griff nach meinem Schlüsselbund, nach einer leichten Jacke und meinem Rucksack, alles hatte ich im Wohnzimmer deponiert, von wo ich auch das Haus verließ. Vorsichtig schloss ich die Tür, zog aber schnell die Hand vom Türknauf zurück, weil er von der hitzigen Sonne über mir förmlich glühte. Ich griff an meinen Rücken, wo die vertraute Form des Zeichenblocks in meiner Tasche sich in meinen Körper bohrte und seufzte zufrieden. Der Marsch zum Wald würde anstrengend werden.


    Ich passierte einige Häuser, die sich still der Sonne hingaben. Ich wusste, dass die Meisten sich jetzt wohl nach drinnen verschanzten, weil die die Wärme einen schnell außer Gefecht setzen konnte. Ich griff schon nach wenigen Metern zu meiner Wasserflasche und kippte mir etwas von ihrem Inhalt über die Arme.
    Der Sommer war kalt und regnerisch gewesen, wir hatten nicht viel von ihm gehabt, und so kam es jetzt umso plötzlicher, dass das Thermostat in der Dorfmitte, gleich neben dem Springbrunnen, mittlerweile knapp über 35 Grad anzeigte. Ich hörte schon von weitem, wie sich zumindest die Kinder abkühlten.
    Besagter Springbrunnen war eigentlich nicht zum Baden geeignet, aber die wenigen Erwachsenen, die aufpassten, dass nichts passierte, schien das nicht zu stören. Ganz im Gegenteil. Sie lachten und plauderten in dem wenigen Schatten, die ein paar Bäume ihnen boten. Ich versuchte nicht, dem spritzenden Wasser auszuweichen, und erhielt gleich eine kostenlose Dusche, als die kleinen Gören das merkten. Ich schimpfte halbherzig, lächelte ihnen aber zu, was die reuevollen Gesichter sofort wieder verschwinden ließ. Die Erwachsenen grüßten mich, ich grüßte sie zurück und ging weiter.
    Mir war nicht nach Geschwätze zu Mute.


    Die Luft stand still, bis ich die Grenzen von Alabastia verließ und mich dem rechten Weg zuwandte. Der andere führte nach Vertania. Ich hatte nicht das Verlangen, an so einem Tag ungeschützt in der Sonne weite Strecken zurückzulegen. Außerdem war ich mir sicher, dass die Pokemon schon auf mich warteten. Ich musste aufpassen, dass ich sie nicht überfütterte.
    Spätestens, als sich das Blätterdach über mir ergoss und ich wieder die Geräusche des Waldes wahrnahm, wuchs meine Begeisterung. Ich fuhr mit spitzen Fingern die Rinden der Bäume nach und tauchte meine Hand in grün leuchtende Büsche. Die Gewächse in Alabastia waren ausgetrocknet, aber hier, wo alles noch natürlich wuchs, da hielten die Baumgiganten die Hitze ab und spendeten wohltuenden Schatten. Ein leichter Wind brachte die Blätter zum Rascheln und blies meine Haare aus dem Gesicht. Ich spürte, wie mein Nacken und meine Beine kühler wurden, als der Hauch über die vom Schweiß nassen Stellen glitt.
    Den Weg zu meinem Baum kannte ich auswendig. Ich musste nicht hinsehen, konnte die Eindrücke über mich ergehen lassen und sie genießen. Der Weg stieg leicht an, bis er auf einer Lichtung endete, auf dessen Hügel die gigantische Eiche wuchs und über den Wald wachte. Der Wind spielte mir die Melodie der Natur. In der Ferne hörte ich einen Bach rauschen.
    Noch war kein Pokemon in der Nähe.
    Das änderte sich schlagartig, als ich den Verschluss meiner Tasche öffnete und mit der Dose rasselte.
    Kleine Gesichter ragten aus dem Gebüsch hervor, neigten den Kopf zurück und prüften die Luft. Erst dann, als sie sich sicher waren, preschten sie hervor und fielen über mich her. Kleine Füße kratzen über meine Haut, rutschten aus und suchten Halt. Ich blieb so still wie möglich, um keines der kleinen Wesen zu verletzen. Sie schnüffelten an der Dose, ein Rattfratz beugte sich von meinem Kopf herunter, dass die kleinen Härchen mit an der Nase kitzelten. Ich wartete noch ein wenig, dann fummelten meine Finger nahezu blind an dem Verschluss herum. Sie stürzten darauf zu, kaum rochen sie die Beeren, ich holte aber nur eine Hand voll davon heraus, schloss sie dann wieder. Die violetten Pokemon schnüffelten jetzt an meiner Faust, kratzten sanft meinen Finger.
    „Vergesst es. Runter von mir.“, sagte ich leise, aber bestimmt. Sie hielten inne, wandten sich mir zu, und kletterten dann von mir herunter, sammelten sich vor meinen angezogenen Beinen. Als ich sie ausstreckte, stoben sie auseinander, suchten sich aber trotzdem schnell wieder einen Platz möglichst nah an mir. Ich kicherte, wedelte ihnen meine Faust noch etwas vor der Nase herum.
    „Also dann. Kommt her, die habt ihr euch verdient.“
    Kaum öffnete ich meine Finger, war die Geduld wie weggeblasen. Die Rattfratz kletterten meine Beine hoch und stützten sich an meiner Hand ab, gruben die winzigen Zähne in die Beeren. Sie machten sich darüber her, als hätten sie seit Tagen nichts mehr gegessen.
    Die Geräusche lockten nach und nach auch noch andere Pokemon an. Erst kamen die Raupy, langsam, aber stetig, die großen Kulleraugen auf meinen Rucksack gerichtet, in denen sich die Beerenmischung befand, die ich für sie zusammengestellt hatte. Danach gesellten sich auch noch Taubsi dazu, wobei diese sich nicht einmal einen Deut darum scherten, dass ihre natürliche Beute keine zwei Meter weit entfernt von ihnen herumkrabbelten.
    Nachdem die Rattfratz nun also zufrieden waren, holte ich die Samen für die Taubsi und die Beerenmischung für die Raupy heraus. Die Samen verstreute ich, das letzte Mal, als ich versuchte die Vogelpokemon aus meiner Hand zu füttern, konnte ich keinen Finger mehr beugen und strecken, ohne einen saftigen Fluch auszustoßen.
    Ein größeres Taubsi Männchen hielt sich im Abseits. Nur ihm gab ich die Körner aus meiner Hand, weil ich wusste, dass es nicht gierig war, wie seine Artgenossen. Es sprang leichtfüßig auf mich zu, immer zwei Hüpfer, dann wartete das Taubsi kurz ab. Es legte den Kopf schief.
    „Komm schon, Tsubasa.“
    Es hielt inne, wartete still ab, erst als ich mit den Körnern in der Hand zu rasseln begann, setzte es sich wieder in Bewegung und begann, die Körner vorsichtig aufzupicken.
    Ich nannte das Taubsi Tsubasa, seitdem ich das arme Ding mit verletztem Flügel auf dem Weg zu meinem Baum gefunden hatte. Ich kümmerte mich darum, informierte mich diskret bei meinem Vater darüber, wie man herausfindet, ob ein Knochen gebrochen ist und wenn ja, wie man ihn dann behandelt. Er gab mir bereitwillig Auskunft, offenbar stolz darüber, dass ich so vielseitig interessiert war.
    Glücklicherweise war der Flügel nicht gebrochen, es handelte sich lediglich um eine leichte Prellung, vermutlich durch einen Kampf mit einem Artgenossen. Denn, obwohl es mit Abstand das größte Taubsi war, war Tsubasa immer außerordentlich friedfertig. Es kämpfte nicht mit den anderen darum, die meisten Körner zu bekommen, und flog auch nicht bei der kleinsten Bewegung weg. Während ich es pflegte, fasste Tsubasa Vertrauen zu mir.
    Seinen Namen gab ich ihm erst später, nach einem der häufigen Treffen mit meiner Großmutter. Seit meiner Geburt, noch bevor ich laufen lernte, unterrichtete sie mich in allerlei Sprachen. Fremde Sprachen, antike Sprachen, Sprachen, bei denen ich nicht einzuordnen wagte, wo sie wohl herkam. Ich schien eine natürliche Begabung dafür zu haben, lernte schnell und ausdauernd.
    Tsubasa ist ein Wort jener antiken Sprache, die sie mich als erstes lehrte. Es bedeutet Flügel, was ich einfach als passend erachtete.
    Die Wunde war gut verheilt, und mittlerweile flog es sogar wieder ohne Anzeichen auf eine Behinderung.
    Das Picken hörte auf und Tsubasa platzierte sich auf seinem üblichen Platz, meiner linken Schulter. Von der rechten jagte ich es stets herunter, weil ich dann nicht malen konnte.
    Ich griff wieder in meine Tasche, holte Stiftmappe und Block hervor, zeichnete Kreise und Ovale, bevor ich die Details hinzufügte. Kurze, schnelle Striche, jedes Mal etwas schräger angesetzt. Tsubasa warf den Kopf hin und her, stieß einen protestierenden Schrei aus, als ich ausnahmsweise mit links radierte, damit ich mit meiner rechten Hand einen Buntstift suchen konnte, beruhigte sich aber schnell wieder, als ich ihm ein Korn, eingeklemmt zwischen Daumen und Mittelfinger vor den Schnabel hielt.
    Es zwitscherte amüsiert.
    Die Pokemon verließen die Lichtung nach und nach, jetzt, wo das Essen aus war. Nur Tsubasa leistete mir in dem Schatten des Baumgiganten Gesellschaft. Mangels Motiven (futtersüchtige Monster!) bat ich diesmal eben ihn, Modell zu stehen. Er sprang auf meine angewinkelten Knie und hielt so still wie eben möglich, während ich eine neue Seite aufschlug und begann, das Vogelpokemon mit leichten Strichen auf Papier zu übertragen.
    Ich hatte schon viel Übung darin, die hier heimischen Pokemon zu malen. Erst verewigte ich es in Frontansicht, danach im Profil, und als Tsubasa die Flügel spreizte, versetzte ich ihn mit einem lauten „Halt!“ in Schockstarre, die ich ihm erst erlaubte zu lösen, als ich fertig war. Es betrachtete neugierig das Papier und pickte darauf herum.
    „Hör auf, du Federhaufen! Du machst es kaputt!“, fuhr ich Tsubasa an, der kreischend das Weite suchte und erst wieder zurück kam, nachdem ich lachend in den Box mit den Körnern griff, den Rest davon zusammenkratzte und sie in die Richtung hielt, in der es verschwunden war. Ich kicherte als es mich mit Absicht piekte, als Rache für diesen Schreck.
    „Jetzt hab dich nicht so.“ Tsubasa warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, nahm dann aber wieder Platz auf meiner Schulter ein.
    Ich packte den Block wieder in meine Tasche und hing sie mir über, sorgsam darauf bedacht, Tsubasa nicht schon wieder zu verärgern, und bewegte mich auf kürzestem Weg wieder in den schützenden Wald zurück, ließ die Lichtung hinter mir und folgte dem Rauschen des Wassers.
    Ich nahm die Rufe über mir kaum mehr wahr, sie waren für mich ein Zeichen, dass es Leben hier gab, und ich nicht alleine war, mehr brauchte ich nicht, um mich sicher zu fühlen. In all den Jahren, in denen ich hier gewesen war, war mir niemals etwas passiert, warum sollte als jetzt etwas passieren?
    Davon abgesehen, dass es heiß und schwül war, unterschied sich rein gar nichts von den anderen Tagen.
    Tsubasa flog irgendwann voraus, ich wusste nicht, wohin, aber ich wusste, dass er kommen würde, wenn ich es rief, und das war es, was zählte. Das Taubsi war nun mal ein wildes Pokemon, und obgleich ich spürte, dass es mir seit dem Vorfall mit seinem Flügel vertraute und dankbar war, ich hatte und wollte kein Anrecht darauf, wie es sein Leben führte.
    Ich erreichte den Bach recht schnell, kniete mich hin und kühlte meine Arme und Beine mit dem kühlen Quellwasser. Tsubasas Ruf erregte meine Aufmerksamkeit.
    Nicht weit von vom Bach entfernt gab es eine natürliche, kleine Höhle, eingebuchtete in einem hoch aufragenden Felsen, von dem man eine gute Übersicht über den Wald hatte. Wenn ich Zeit und Lust hatte, kletterte ich auf den höchsten Baum dieser Klippe und verbrachte dort meine Zeit damit, Panorama Skizzen anzufertigen oder zu träumen.
    Träume über entfernte Länder, über Prismania und meine Freunde, über meinen Bruder und was er gerade so machte. Dachte er oft an mich? Ich hoffte, dass er es tat.
    Tsubasa wartete, die Flügel weit von sich gestreckt und aufgeregt damit schlagend, vor der Höhle auf mich. Auch sie kannte ich. Wenn das Wetter plötzlich umschlug, und es zu regnen begann, versteckte ich mich oft dort und wartete darauf, dass die düsteren Wolken sich verzogen. Etwas in seiner Gestik machte mich nervös. Ich hatte es noch nie so aufgeregt, gar panisch gesehen, es musste also dringend sein.
    Ich ging den Bach ein wenig weiter entlang, um ihn über denen Steinen zu überqueren, die dort kleine Plattformen bildeten, zog aber trotzdem noch schnell meine Schuhe aus, damit ich sie nicht nass machte. Wellen kühlen Wassers umspülten meine Füße und ließen mich erleichtert aufatmen. Bei solchem Wetter war es vor allem für Leute wie mich, deren Kreislauf von Natur aus nie sonderlich stabil war, wichtig, sich rechtzeitig abzukühlen. Das Taubsi drängte mich weiter und verschwand in der Dunkelheit der Höhle. Ich folgte ihm barfuß, bereute diese Entscheidung aber schon, als ich über die Kieselsteine laufen musste, die den Bach säumten. Erst als ich im Graß die kleinen Steine wieder abstreifen konnte, ließen die Schmerzen etwas nach.
    Tsubasas Ruf hallte aus dem Unterschlupf wieder. Ich seufzte und trat ebenfalls ein.
    Die Schwärze hüllte mich sofort mit einem Mantel aus Ruhe und Kühle ein, den ich dankbar aufnahm. Ich verharrte, bis mich Tsubasa weiter lotste, tastete mich an den moosigen Wänden entlang, immer näher zu der Quelle des Geräusches. Meine Augen mussten sich erst an das wenige Licht gewöhnen, sodass ich über etwas stolperte, dass vorher sicherlich noch nicht hier drin gewesen war. Ich erlangte mühevoll mein Gleichgewicht wieder und wich etwas zurück, kniete mich hin und rutschte mit blinden Augen und tastenden Händen weiter in die Richtung, in der ich den Wiederstand gespürt hatte.
    Tatsächlich.
    Tsubasa klagte erneut. Diesmal ganz nah.
    Meine Hand fuhr über etwas Raues, dann eine Auskerbung, warm und weich, mit feinen Härchen. Wieder etwas Raues, Faltiges. Meine Hand fand Leere. Ich tastete weiter, bis ich wieder etwas fand, das warm und weich war, wie zuvor. Tsubasa Protest hörte gar nicht mehr auf.
    Beim besten Willen, ich wusste einfach nicht, was dort im Weg lag. Vor meinen Augen funkelten bunte Sternchen, verblassten nach und nach und ließen der Dunkelheit Platz. Je länger ich so verharrte, mit den Fingern über dieses Ding fuhr, desto mehr Umrisse konnte ich erkennen.
    Es war groß und breit. Kein Stein, dafür war es zu warm.
    Meine Finger fuhren über etwas Weiches, Glattes.
    Ich wartete noch etwas.
    Hörte ein Stöhnen, schwach und angestrengt, zuckte zurück und schluckte schwer. Ein Pokemon? Nein, es hörte sich anders an…
    Wie ein…
    „Scheiße!“, fluchte ich. Ich wusste was es war. Und wenn dieses etwas hier zusammengebrochen war, dann stand es schlecht um es.
    „Aufwachen! Hey, aufwachen!“
    Er regte sich nicht, egal wie bestimmt ich an seinen Schultern rüttelte und zerrte. Seine Haut war nicht nur warm, nein, sie glühte.
    Wie lange war er wohl ohne Schatten unterwegs gewesen? Vermutlich hatte er sich mit letzter Kraft hier in die Höhle geschleppt.
    „Ruhe, Tsubasa!“, fauchte ich das aufgeregte Pokemon wütend an. Ich musste denken. Er war überhitzt, litt vermutlich unter Dehydration.
    Meiner Mutter half dabei immer etwas Wasser.
    Und Beeren! Er würde den Fruchtzucker brauchen, um schnell wieder auf die Beine zu kommen.
    „Bleib hier.“, murmelte ich Tsubasa und dem Jungen zu, auch wenn letzterer mich vermutlich nicht hörte.
    Ich folgte dem schwachen Lichtstrahl und stürzte aus der Höhle aus. Zwei der Boxen würde ich, wenn ich zurückkam noch mit Wasser aus dem Bach füllen, erst einmal musste ich jedoch die Beeren finden.
    Diesmal achtete ich nicht auf die Kieselsteine und ließ meine Augen sich auch nicht an das Licht gewöhnen. Es stach unangenehm und brannte, trotzdem watete ich halb blind durch das Wasser. Meine Beine würden bei dieser Hitze eh schnell wieder trocknen.
    Ich suchte und suchte, aber was Botanik betraf, war ich nicht auf dem neusten Stand. Ich wusste, wie ich mich um die Zierpflanzen zu kümmern hatte, aber Beeren und Sträucher?
    Ein Raupy verirrte sich auf meinen Weg und ich konnte gerade noch so verhindern, dass ich es nicht zertrampelte, stolperte jedoch bei dem Versuch, mein Gleichgewicht wiederzufinden und landete in einer missglückten Vorwärtsrolle auf dem harten Boden. Das Gras minderte den Sturz zwar leicht, trotzdem sah ich für einen Augenblick noch Sterne und musste warten, bis mir nicht mehr schwindelig war. Die Hitze machte mir zu schaffen. Ich merkte wie meine Sicht verschwamm.
    Nicht gut. Der Junge brauchte meine Hilfe. Die Schemen des Raupy tauchten vor meinem Gesicht auf. Ich blinzelte angestrengt und ordnete meine Gedanken.
    Beeren. Wasser. Schatten.
    Das Raupy fiepte laut und berührte mit seiner großen Nase mein Gesicht. Ich stemmte meinen Körper mühevoll hoch und blieb fürs erste auf meinen Beinen sitzen. Eile und unüberdachtes Handeln war unangebracht. Er saß im Schatten, das würde mir noch etwas Zeit geben. Trotzdem musste ich ihm so schnell wie möglich helfen. Er litt sicherlich fürchterlich.
    Dann kam mir eine Idee.
    „Wo gibt es Beeren?“, fragte ich den kleinen Käfer, der jetzt auf seinen hinteren Beinen stand um mit dem Kopf so nahe an meinem zu sein wie möglich. Die großen, schwarzen Augen sahen mich verständnislos an. Ich ließ meinen Rucksack neben mir auf den Boden fallen und holte die Box heraus, in der vorher die Beerenmischung gewesen war.
    Das Raupy war kein Fugato, aber ich konnte mir einfach keine bessere Idee vorstellen. Es schnüffelte daran, die große Nase tanzte in dem grünen Gesicht, dann machte es sich auf den Weg, langsam aber zielorientiert. Ich folgte ihm mit wenig Abstand, und immer, wenn es stehen blieb, biss ich nervös auf meiner Lippe herum. Hatte es mich überhaupt verstanden?
    Mir blieb nichts anderes übrig als ihm zu vertrauen.


    Das Raupy führte mich in einen Teil des Waldes, in den ich nur selten ging. Es war dunkel hier und weit von Alabastia weg. Ich konnte mir keinen guten Grund vorstellen, hier hin zu kommen.
    Das Gebüsch wurde dichter, ich spürte Dornen, die sich in meine Beine gruben, schluckte und ignorierte den Schmerz. Ich fiel ein wenig zurück und dachte schon, dass ich Raupy verloren hätte, da tauchte es direkt vor meinen Füßen wieder auf und blickte mich aus großen, schwarzen Augen an. Das gelbe Ende seines Körpers wackelte hin und her.
    Ich sah auf und seufzte erleichtert.
    „Pirsifbeeren, genau das, was ich gerade brauche. Danke.“ Ich pflückte so viele Beeren wie ich tragen konnte und genehmigte mir ebenfalls zwei, dann führte mich das Raupy zurück zum Ausgangsort, von wo ich den Bach wieder plätschern hören konnte. Ich folgte dem Geräusch, klemmte mir die Box mit den Beeren und den Arm und füllte die beiden anderen mit Bachwasser, so wie ich es vorgehabt hatte. So beladen glitt ich durch das seichte Gewässer, hüpfte über die Kieselsteine und strich sie mir im Gras wieder von den Sohlen.
    Als ich die Höhle betrat, erwartete mich eine wohltuende Brise. Es dauerte wieder eine Weile, bis ich mich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, deswegen tastete ich mich mit vorsichten Schritten näher an die Stelle heran, an der er zuvor gesessen hatte.
    Er saß immer noch da, den Kopf in den Nacken gelegt, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Tsubasa schlug mit den Flügeln und seine Haut fühlte sich jetzt auch schon etwas kühler an. Ich hoffte, dass es nicht nur daran lag, dass ich selbst recht warm war.
    Die Jacke, die ich für den Notfall mitgenommen hatte, wurde jetzt für eben jenen benutzt, auch wenn ich an eine andere Art von Notfall gedacht hatte, als ich sie einsteckte. Ich tränkte sie in die Boxen mit Wasser, krempelte dem Jungen das Shirt hoch, damit ich seine Unterarme damit kühlen konnte. Das gleiche tat ich mit seinen Waden, dann wrang ich etwas Wasser über seinem Nacken aus, tauchte die Jacke wieder in Wasser und legte sie ihm über die Stirn.
    Jetzt konnte ich nur noch warten. Tsubasa legte den Kopf schief, als ich seufzte und mich an die Steinwände lehnte. Ich gab ihm eine Beere als Belohnung und wartete, auf irgendein Lebenszeichen.
    Nach einer Weile wurde sein Atmen wieder lauter. Ein gutes Zeichen. Ich nahm ihm die feuchte Jacke wieder von der Stirn, tauchte sie wieder in Wasser, mein letztes, verbleibendes, und beugte mich vor um, seine Beine damit abzutupfen.
    „Wo bin ich?“
    Seine Stimme klang etwas heiser, aber gefasst.
    „In der Höhle. Du hattest einen Hitzschlag.“
    Ich wandte mich ihm nicht zu, ehe ich damit fertig war, dann reichte ich ihm meine Jacke und sagte ihm, er solle sie sich über die Augen legen. Er zögerte, als traue er mir nicht. Dann tat er, was ich sagte.
    „Mach den Mund auf.“
    „Was?“ Die Jacke rutschte herunter, er sah mich verwirrt an.
    „Du musst etwas trinken, und die Pirsifbeeren werden dir den nötigen Zucker geben, damit du schnell wieder auf den Beinen bist.“
    Er runzelte die Stirn, als ich ihm eine Beere vors Gesicht hielt, blickte unsicher zwischen mir und der Frucht hin und her. Dann nahm er sie mit zitternden Händen entgegen und ließ sie in seinem Mund verschwinden.
    Tsubasa nahm wieder Platz auf meiner Schulter und strich mir mit dem Flügel über das Gesicht. Ich schwitzte, mir war heiß und schwindelig.
    Das Wasser in meiner Flasche war lauwarm und half nicht wirklich, aber es war besser als gar nichts.
    „Wie hast du mich gefunden?“, fragte der Junge mich. Ich brauchte eine Weile, bis ich das gehörte verarbeitete.
    Etwas verklärt sah ich ihn an, schüttelte dann energisch den Kopf und antwortete matt und müde: „Bedank dich bei Tsubasa. Der hat dich gefunden.“
    Tsubasa schlug mit den Flügeln und stieß seinen Ruf aus, leiser als sonst.
    Er schwieg eine Weile.
    „Bist du eine Trainerin?“, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf.
    „Warum benennst du dieses Pokemon dann?“
    „Weiß nicht. Es ist etwas Besonderes. Es vertraut mir. Da verdient es einen Namen.“
    Er schwieg wieder, beugte sich vor und nahm sich eine Beere, biss hinein und musterte mich von oben bis unten. Ich zog die Beine an und atmete so leise ich konnte.
    „Ich hatte wohl Glück. Wie heißt du?“, fragte er mich schließlich.
    „Angelique. Ange, das ist kürzer.“ Er nickte und sah auf meine Wasserflasche. Ich reichte sie ihm.
    Er trank sie in einem Zug aus.
    „Und du?“
    Meine Stimme hallte in der Höhle wieder, wurde merkwürdig verzerrt. Sie klang dumpf.
    „Erion.“, gab er einfach zurück. Dann ließ er mich mit meinen Gedanken allein.
    Was jetzt? Fürs erste war er überm Berg, aber hier zu bleiben wäre dumm.
    Sollte ich ihn mitnehmen? Zu Hause könnte ich mich besser um ihn kümmern, das war sicher.
    Aber wollte er das überhaupt?
    „Danke.“, meinte er irgendwann.
    „Geht es dir besser?“ Ich ging nicht weiter darauf ein. Es war ja wohl selbstverständlich, jemandem in Not zu helfen.
    Vielleicht war ich aber auch nur daran gewohnt, mich für jemanden aufzuopfern. Das tat ich ja nun schließlich seit fast acht Jahren.
    Erion nickte: „Schätze schon.“
    „Ist dir schwindelig?“
    „Ein wenig.“, er lachte. „Nur dieser Durst nervt. Ich hab das Gefühl ich verdurste.“
    Wenn er gewusst hätte, wie nah er dem Verdursten wirklich gewesen war, würde er sicherlich keine Witze darüber machen.
    „Warte hier, ich hole dir etwas.“
    Ich stand auf und griff nach einer Box und meiner leeren Flasche.
    „Ist schon okay. Du hast genug gemacht.“, meinte er rappelte sich ebenfalls auf. Er schwankte gefährlich, ich griff nach seinem Arm und half ihm, das Gleichgewicht wiederzufinden.
    „Ah, danke.“
    „Vorsichtig, sonst kippst du mir noch um.“, warnte ich ihn. Er lächelte schief, ließ sich aber von mir führen. Tsubasa fächelte mir mit seinen Flügeln etwas Luft zu.
    Ich blieb kurz vor dem Eingang der Höhle stehen, blinzelte angestrengt ins Licht. Diesmal war genug Zeit, und ich zweifelte daran, dass ihm die stechende Sonne in den Augen so gut tun würde.
    Erion war größer als ich, nicht viel, vielleicht einen halben Kopf. Er war schmal und schlank, aber ich glaubte nicht, dass ich ihn alleine nach Alabstia tragen könnte, wenn er unerwartet umkippte.
    Ich sah ihn aus dem Augenwinkel an und merkte, wie sein Blinzeln seltener wurde, dann ging ich heraus. Mir wurde wieder wärmer, ich führte ihn so schnell wie möglich aus der Sonne heraus durch den Bach in den Schatten der Bäume. Der reichte bis ins Wasser und spendete uns wohltuende Kühle.
    Erion ließ sich auf dem Grasstreifen nieder – auf dieser Seite gab es keine Kieselsteine- und führte seine Hände, geformt zu Schalen, in das Wasser, trank hastig. Ich tat es ihm nach, aber nicht ganz so schnell. Meine Sicht klärte sich wieder etwas.
    „Was machst du eigentlich hier? Ich meine, wenn du keine Trainerin bist, ist das doch gefährlich, oder nicht?“
    Es war kein Vorwurf. Er interessierte sich nur dafür.
    „Ich mag den Wald.“ Mehr sagte ich nicht, ging ihn ja auch eigentlich nichts an.
    „Was ist mit dir? Musst ja ziemlich lange gewandert sein wenn du so erschöpft warst.“ Erion erstarrte, das Wasser rann durch die Lücken in seinen Fingern. Als er sich mir zuwandte, war sein Gesicht finster.
    „Azuria.“, murmelte er schließlich. „Bin heute Morgen von Azuria los.“
    Das war wirklich eine weite Strecke. Bei diesen Temperaturen, und ungeschützt, war es kein Wunder, dass er zusammengebrochen war.
    Ich hätte ja jetzt Zeit gehabt, ihn mir genauer anzusehen, allerdings traute ich mich nicht, weil er mich in diesem Moment so ansah, als wäre ich eine giftige Schlange. Ich wandte mich wieder dem Wasser zu. Eine verschwommene Silhouette glitt darin, mit glatten, kirschroten Haaren und blauen Augen, die sich kaum von der Spiegelung des Himmels abhob. Tsubasa machte sich mal wieder selbstständig und flog Kreise um unsere Köpfe. Es stieß freudige Rufe aus, offenbar froh darüber, dass es Erion jetzt besser ging.
    Er keuchte nicht mehr und das Zittern hatte auch aufgehört.
    „Wo wolltest du denn hin? Nach Alabastia?“
    Ich konnte es mir nicht vorstellen. Wer wollte schon nach Alabastia?
    „Weiß nicht. Nur nicht zurück.“
    Er starrte mich nicht mehr an, ich warf ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu. Erion trank jetzt nicht mehr, er setzte sich auf den Boden, in merkwürdig gekrümmter Haltung, halb zusammengesunken, halb angespannt. Er winkelte die Beine an und legte seine Arme auf den Knien ab, sah zum dunklen Fleck herüber, dem Eingang der Höhle.
    Seine Haare hatten einen ähnlichen Farbton wie das Gras um uns herum, nur heller. Er bemerkte meinen Blick und erwiderte ihn aus hellen, braunen Augen.
    Tsubasa landete auf meinem Kopf und zwickte mir mit seinen Klauen an den Haaren. Ich beschwerte mich halbherzig und umschloss den leichten Körper mit meinen Händen, hob das Taubsi vor mein Gesicht und bedachte es mit einem warnenden Blick.
    „Also wirklich, kannst du dich nicht einmal benehmen.“, murrte ich und setzte es auf den Boden vor mir ab, fuhr mir mit den Fingern durch die zerzausten Haare. Tsubasa hüpfte in Erions Richtung und nahm auch auf dessen Kopf nach einer kurzen Flugeinlage Platz. Er rührte sich nicht, und das Pokemon machte es sich bequem.
    „Tsubasa!“, stieß ich wütend aus.
    „Macht doch nichts. Er ist immerhin so etwas wie mein Retter.“ Erion fuhr mit seiner Hand vorsichtig über Tsubasa Körper. Dem kleinen, braunen Vogel gefiel das offensichtlich; Er stieß einen zufriedenen Schrei aus.
    Tsubasa hatte selbst bei mir eine lange Zeit und eine passende Gelegenheit gebraucht, bis es mir vertraute. Warum ging das bei Erion so schnell? Echt merkwürdig…
    „Was ist merkwürdig?“
    Ich hatte schon wieder laut vor mich hingeredet. Das musste ich mir unbedingt abgewöhnen.
    „Nichts. Ist schon okay.“ Ich merkte, dass er mich ansah, Erion sagte aber nichts.


    Ich wollte noch etwas bleiben, sicher gehen, dass es ihm wirklich besser ging.
    Ich wusste, das war eine Ausrede, ich wollte nur einfach nicht zurück nach Hause. Erion war etwas Fremdes, etwas unberechenbares, jemanden, den ich nicht kannte und der aus einer großen Stadt kam.
    Azuria war nicht so groß wie Prismania, sicher, aber eine deutliche Steigerung gegenüber Alabastia allemal.
    Das Schweigen wurde ihm unangenehm. Erion rutschte auf dem Gras herum und versuchte, irgendeine Beschäftigung zu finden, ich merkte aber, dass er immer wieder zu mir rüber schielte.
    Au! Kacke, Verdammter!“, fluchte er plötzlich. Ich kicherte. Tsubasa riss an seinem Haar und hüpfte auf seinem Kopf herum.
    Hör auf damit, Tsubasa! Das macht man nicht.“
    Tsubasa dachte nicht dran. Er klang sogar ziemlich amüsiert, wich Erions Händen aus und zerrte fester an der Strähne, die er im Schnabel eingeklemmt hielt. Es hörte und hörte einfach nicht auf.
    Naja, zumindest so lange, bis ich es in die Finger bekam.
    Ich übte sanft Druck auf das Gesicht neben seinem Schnabel aus und zwang es damit, loszulassen, dann drückte ich es an mich, damit Tsubasa nicht fliehen konnte.
    „Also wirklich…“, murrte ich ärgerlich. „Haare noch dran?“, fragte ich dann an Erion gewandt. Der verzog noch etwas das Gesicht.
    „Zumindest fallen sie für den Moment noch nicht aus…“, gab Erion zurück und fuhr sich durch die grünen Strähnen. „Ja, sie sitzen noch unter der Haut fest. Sollte halten.“
    Ich kicherte leise, streichelte über Tsubasas Kopf. Der gurrte zufrieden.
    „Und was machst du jetzt?“
    Erion sah mich überrascht, beinahe etwas verklärt an, als hätte ich ihm gerade erklärt dass der Weihnachtsmann nicht existiert.
    „Ich schätze, ich bleibe. Hier gibt es Schatten und Wasser, also…“
    Er hatte Recht. Wasser gab es sogar vom Himmel herab reichlich, bemerkte ich in diesem Moment. Die Hitze wurde von Wolken abgehalten, die sich erstaunlich schnell über den Himmel gelegt hatten. Einzelne Tropfen perlten an meinen Haaren ab und befeuchteten mein Gesicht. Ich blickte mich um. Das, was noch kam, war tiefschwarz. In einiger Entfernung sah ich einen Blitz vom Himmel zucken.
    Der Wind pfiff mir um die Ohren.
    „Ein Sturm?“ Erion sprach mehr mit sich selbst, ich merkte aber, dass ihm der Gedanke daran nicht gefiel. Seine Stirn zog sich in Falten und er biss sich auf die Lippe.
    Er hatte Recht. Das würde eines jener heftigen Sommergewitter werden, die dann passierten, wenn extreme Wärme auf extreme Kälte traf. Und es würde heftig werden. Tsubasa bewegte sich unruhig in meiner Umklammerung, und auch die Pokemonrufe aus dem Wald verstummten einstimmig.
    „Du kannst nicht hierbleiben, wenn der Sturm tobt.“, stellte ich fest.
    „Das wird schon gehen.“, behauptete er, aber seine Finger zuckten nervös. „Ich kehre jedenfalls nicht nach Azuria zurück.“
    „Das würdest du auch nicht schaffen.“
    Nicht bevor der Sturm losbrach und seine zerstörerische Macht entfesselte, und schon gar nicht in seinem Zustand. Die Luft war schwer und ich hatte Mühe zu atmen.
    Ich könnte ihn nicht hier zurücklassen. Das würde mein Gewissen nicht mitmachen.
    „Danke für deine Hilfe.“ Er wandte sich um und watete schon wieder durch das Wasser, auf die Höhle zu.
    Ich wusste, dass es einen Ort gab, wo er sicher sein würde. Aber das würde Konsequenzen für mich haben.
    Der Schatten verschluckte ihn.
    Mir blieb wohl nichts anders übrig.
    „Erion! Warte!“ Für einen Moment geschah nicht, dann tauchte sein Kopf wieder auf.
    „Komm mit.“, sagte ich ihm. „Du kannst bei mir bleiben.“

  • Zweite Studie- Familienangelegenheiten


    Wir erreichten Alabastia, als es anfing, stark zu regnen. Meine Jacke war noch immer nass, deswegen nützte sie mir nichts und ich begann zu rennen. Erion hielt mit, auch wenn er schwer keuchte. Die Luft war drückend und noch immer warm, von Nässe getränkt. Wir waren beide vollkommen durchweicht, als ich unsere Haustür erkennen konnte. Ich atmete erleichtert auf. Der Regen verschlechterte meine Sicht, ich hatte schon gedacht, dass ich mich in Alabastia verirrt hatte.
    Haha. In einem kleinen Kaff wie Alabastia verirren. Als ob.
    Wo war noch gleich der Schlüssel? Verdammt.
    Ich rüttelte an der Türe, klopfte und rief. Dann fiel es mir ein.
    „Erion, die rechte Tasche von meinem Rucksack. Hol den Schlüssel heraus!“
    Der Lärm vom prasselnden Regen und der Donner über unseren Köpfen waren zu laut, als dass ich eine Antwort hätte verstehen können- vielleicht hatte er auch gar nicht geantwortet.
    Ich spürte eine Bewegung an meinem Rücken, dann hörte ich das Klimpern von Metall neben meinem Ohr. Ich griff danach und suchte mit zusammengepressten Augen nach dem richtigen Schlüssel.
    Hier. Der größte von allen.
    Ich steckte ihn ein, drehte, zog und zerrte, mit einem Klacken gewährte man uns Einlass. Ich stürmte hinein und zog Erion hinter mir her, dann knallte ich die Tür zu. Der Lärm wurde leiser.
    Das Tropfen von Wasser auf Fliesen und unser Keuchen war zu hören.
    „Warte hier. Ich hole Handtücher.“
    Meine Beine trugen mich schon zur dritten Tür von rechts, ohne auf eine Antwort zu warten, ich öffnete sie und zog die Schränke auf.
    Kleine Fläschchen mit Medizin. Nein, falscher Schrank.
    Ich zog die nächste Tür auf.
    Shampoo, Zahnbürsten und –creme. Auch falsch.
    Im dritten Schrank wurde ich fündig. Ich nahm zwei große und drei kleine Tücher heraus, schloss die Türen und kehrte in den Flur zurück.
    Erion bemühte sich, sich so wenig zu bewegen wie möglich, damit der Boden nicht nass wurde, was im Grunde aber keinen Effekt hatte. Eine große Pfütze hatte sich um ihn herum gebildet, und auch im restlichen Flur war es nicht besser. Überall wo ich entlang gegangen war, schimmerte Wasser.
    „Zieh die Schuhe aus und trockne dich ab.“, wies ich ihn an, reichte ihm ein großes und ein kleines Tuch. Er nahm beides mit einem Nicken an.
    Nachdem wir einigermaßen trocken waren, wischte ich das Wasser im Flur mit dem verbliebenen Handtuch auf.
    „Wir sollten uns umziehen.“, meinte ich mehr zu mir selbst.
    „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir die gleiche Größe haben.“, gab Erion ernst zurück und musterte mich von oben bis unten. Ich warf ihm einen kritischen Blick zu; Er begann zu lachen.
    „Wir werden schon was finden.“
    Ich lachte auch. Vielleicht sollte ich ihm mein Nachthemd geben. Das Gesicht würde ich zu gerne sehen.


    Ich führte Erion die Holztreppe hoch, vorbei am Schlafzimmer meiner Eltern, am zweiten Bad und dem Arbeitszimmer meines Vaters. Mein Zimmer war das letzte und größte. Ich ermahnte ihn, leise zu sein, und öffnete die Tür Zentimeter für Zentimeter. Mit einem letzten Blick auf den Flur lotste ich Erion hindurch und schloss sie wieder.
    Mein Gast stieß beim Anblick meines Zimmers einen leisen Pfiff aus. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Einer der wenigen Vorteile hier zu leben war eben dieses Haus. Es war groß und gut, stilvoll, eingerichtet.
    „Setz dich!“, bot ich ihm an und deutete auf die Sesselgruppe um die breite Fensterfront herum. Ich machte es mir dort gerne bequem wenn ich las oder eine Skizze anfertigte.
    Mein Zimmer hatte eine U-Form und umschloss den Flur mitsamt der Türe. Auf der einen Seite befanden sich eben diese Fensterfront und einige Bücherregale entlang des Endes der Ausstülpung. In der Ecke stand meine Staffelei, und ein Regal mit Farben, Spachteln und Pinseln.
    In der anderen Ausstülpung erhob sich mein Himmelbett und mein Kleiderschrank. Ansonsten hatte Mama sich auch hier ausgetobt. Ein Topf mit Gracidea und anderen Zierpflanzen stand schräg in einer Ecke. Wenn man den Raum betrat, blickte man auf einen großen Tisch mitsamt einigen Stühlen.
    Ich arbeitete hier gerne und machte meine Hausaufgaben. Dahinter erhob sich ein weiteres Regal, mit Fotos und Erinnerungsstücken.
    Erion sah sich erst ein wenig um. Er hob einen Rahmen auf und betrachtete ihn eingehend.
    Ich verübelte es ihm nicht. Dieses Foto sah ich mir auch oft und lange an.
    „Ist das deine Familie?“
    Ich nickte stumm und öffnete meine Schränke. Erion fragte nicht weiter. Ich hörte die Federn des Sessels knarzen. Hier hinten, in der Ausstülpung verborgen, konnte ich mich umziehen ohne dass er mich sah.
    Ich pellte mir die nassen Klamotten vom Körper, wechselte sie Unterwäsche so schnell wie möglich – wer weiß, vielleicht war er neugierig, was ich so lange trieb- und streifte mit eine lockere Shirt und eine knielange, schwarze Sporthose über, die an den Knien einen Bund hatten, damit sie besser hielten.
    Ich überlegte kurz, ob ich meine dicken Socken anziehen sollte, entschloss mich aber dagegen. Sie waren bunt mit kleinen, weißen Herzchen darauf. Ich wollte mich nicht blamieren.
    „Was hast du für eine Größe?“, fragte ich ihn.
    „S, denke ich. M geht aber auch.“
    „Warte kurz hier, ich hole dir was.“
    Die Kleidung von meinem Vater stand außer Frage. Er hatte herzlich wenige gemütliche Sachen, und es würde auffallen, wenn die fehlten. Mit etwas Glück könnte ich Erions Anwesenheit noch etwas länger verstecken, um mir eine glaubhafte Geschichte auszudenken, die verschwieg, dass ich im Wald war.
    Dass ich oft im Wald war.
    Ich schlich mich aus dem Zimmer, über den Flur, bis hin zu dem Raum neben meinem. Er war nicht ganz so groß wie meiner und nahezu unbenutzt.
    Die Dielen knarzten laut als ich auf sie trat. Ich zuckte zusammen und verharrte. Im Raum meiner Mutter rührte sich nichts, ich konnte auch keine Geräusche daraus hören. Bevor ich in den Raum schlüpfte, atmete ich erleichtert, aber leise, auf. Noch einmal Glück gehabt.
    Das Zimmer war dunkel, aber ordentlich. Ich fuhr mit den Fingern über die antiken Möbel.
    Obwohl er uns verlassen hatte, wollte meine Mutter dieses Zimmer so lassen, wie es war. Falls es zurückkam.
    Ich glaubte nicht daran. Alabastia war kein Ort für einen Abenteurer wie ihn.
    Ich öffnete die Schranktüren, durchwühlte die Klamotten.
    Ein Shirt, eine Hose.
    Sollte ich ihm Unterwäsche mitbringen? Sie war unbenutzt, aber…


    Just in diesem Moment hörte ich einen panischen Schrei, ließ die Kleidung fallen und stürmte auf die offene Türe meines Zimmers zu. Meine Mutter stand, kreideweis, eine Hand an ihre Brust gepresst, neben meinem Tisch und starrte Erion, der hastig aufgesprungen war, entsetzt an. Als sie mich bemerkt stürzte sie auf mich zu und klammerte sich an meinen Arm. Sie war schon immer blass gewesen, aber der kalte Schweiß und die Schatten unter den Augen ließen sie wirken wie tot. Die Hitze ließ sie schlecht schlafen.
    Ich schauderte.
    „Angelique, ruf die Polizei! Er ist eingebrochen!“, keuchte sie und wechselte einen nervösen Blick zwischen mir und Erion.
    Ich tätschelte ihr den Rücken.
    „Alles wird gut, Mama, lass mich nur erklären-“
    „Er wird dich verletzen!“ Der vermeintliche Einbrecher machte einen Schritt auf uns zu, wich aber wieder zurück als Mama ihn mit einem tödlichen Blick und einem gekreischten:“ Fass meine Tochter ja nicht an!“ wohl einen ordentlichen Schreck einjagte.
    „Es ist okay, Mama, ich kenne ihn. Ich habe ihn hier hergebracht.“
    Sie sah mich mit einem verklärten, verwirrten Blick an und sank erschöpft auf einen Stuhl, als ich sie dahin führte.
    „Kann ich-“
    Ich unterbrach ihn mit einem strengen Blick. Ich wusste, dass Erion nur helfen wollte, aber egal was er jetzt tat, meine Mutter würde es als reinste Provokation deuten und auf ihn losgehen.
    Sie war zwar krank, aber der familiäre Beschützerinstinkt gegenüber ihrem einzig verbliebene Kind war stark wie eh und je.


    Ich traute mich nicht, meine Mutter wieder mit Erion alleine zu lassen, ich hatte Angst, dass sie ihn im Affekt verletzt. Also schickte ich ihn in das Zimmer meines Bruders.
    „Da liegen Klamotten am Boden. Zieh dich um, sonst erkältest du dich noch.“
    Erion nickte ernst, zögerte aber nachdem er die Tür geöffnet hatte.
    Ich wedelte mit der Hand und formte mit meinem Mund die Worte „Jetzt hau schon endlich ab!“. Er seufzte tonlos, ging dann aber.
    Ich schwieg eine Weile und streichelte den Rücken meiner Mutter.
    „Wer war das?“, krächzte sie müde.
    „Sein Name ist Erion… Er… Ich habe ihn ohnmächtig vorgefunden, da musste ich ihm doch helfen.“, versuchte ich mich zu erklären.
    „Im Wald?“
    „In einer Höhle.“
    „Das wird deinem Vater nicht gefallen. Du weißt, was er davon hält, dass du-“
    „Ich bin fast sechzehn, nahezu erwachsen, Mama. Ich kann schon auf mich aufpassen.“, seufzte ich.
    Meine Mutter lachte.
    „Ich sag‘s ihm nicht, wenn du es ihm nicht sagst.“ Sie wandte sich mir zu, mit den gleichen, himmelblauen Augen wie ich sie auch hatte. „Einverstanden?“
    Ich lächelte dankbar.
    Dann erzählte ich ihr alles, angefangen von der Fütterung, bis zum plötzlich eintreffenden Regen.
    „Du hast das Richtige getan. Ich hoffe, ich habe ihn nicht verschreckt.“ Sie sah etwas besorgt zur Tür. „Er braucht lange…“
    Ich stimmte ihr zu. War ihm etwas passiert? Vielleicht hatte der Stress in Verbindung mit der Erschöpfung…
    „Schau lieber mal nach ihm.“
    Ich blinzelte überrascht. Meine Mutter nickte in Richtung Tür. „Geh schon, ich komm zurecht.“
    „Warte ein bisschen hier, dann bringe ich dich wieder ins Bett. Hast du Hunger? Dann koche ich gleich.“
    Mama rieb sich den Magen. „Gerne. Mach aber nichts Aufwendiges. Kümmere dich lieber um deinen Gast.“
    Ich lächelte peinlich berührt. „Ich bin doch nicht sein Babysitter, Mama!“
    „Aber du hast ihm das Leben gerettet. Das verbindet, mein Schatz.“
    Himmel, für wen hielt sie mich?


    Ich hörte keine Geräusche aus dem Zimmer kommen, deswegen klopfte ich. Es kam keine Antwort. Ich wartete nervös.
    Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, riss die Tür auf und erstarrte.
    Erion saß dort, zusammengesunken an einer Wand, das Shirt in der einen, einen Anhänger in der anderen Hand. Er war wach, nur reagierte er nicht, starrte unentwegt auf die kleine, violette Perle.
    „Erion? Alles okay?“
    Er brauchte eine Weile, dann nickte er langsam, hing sich die Kette wieder um und stand auf.
    „Entschuldige die Störung. Sobald meine Klamotten trocken sind, gehe ich.“
    Ich blinzelte verwirrt.
    „Warum?“
    „Ich habe euch schon lange genug belästigt.“
    Ich lachte. „Keine Panik, meine Mutter weiß Bescheid. Sie war nur etwas erschrocken, das ist alles.“
    Erion sah mich lange und eindringlich an. Er wirkte fürchterlich müde und erschöpft.
    „Geht es ihr gut? Es war mein Fehler. Ich habe wohl zu viel Krach gemacht.“, überlegte er laut.
    Ich schüttelte den Kopf: „Sie dachte, ich wäre zurück, sie wollte mich nur begrüßen. Es war ein schlechter Zeitpunkt, mehr nicht.“
    Er schien den Gedanken abzuwägen.
    „Wenn du fertig bist, komm nach unten. Ich bringe meine Mutter zurück in ihr Zimmer, dann koche ich etwas. Du hast doch Hunger, oder?“
    Ich merkte an seinem Blick, dass er immer noch gehen wollte.
    Das würde ich nicht zulassen, soviel war sicher.
    Vielleicht hatte Mama ja wirklich recht gehabt. Jemandem das Leben zu retten, verband.
    Vielleicht wollte ich auch einfach nur diesen unberechenbaren, fremden Junge so lange wie möglich bei mir behalten, damit ich zumindest das Gefühl hatte, ein aufregendes Leben zu führen.
    Wenn er ging, wäre alles wie vorher. Langweilig und ruhig.
    Alabastia eben.
    Ich ließ ihm keine Wahl. Drehte mich um und verließ den Blick, ohne auf sein Gemurmel zu hören.
    Als ich die Tür schloss, stand meine Mutter schon im Rahmen zu meinem Zimmer.
    „Alles okay?“, fragte sie und glättete sich ihr Nachthemd und lehnte sich an die Wand.
    „Er wollte gehen. Dachte, er mache Umstände.“, erklärte ich kurz.
    „Nicht doch!“, stieß sie traurig aus. Ich wusste, was sie meinte. Seine Statur und die Augen ähnelten denen von meinem Bruder. Erion erinnerte sie an ihn.
    „Hab ich ihm auch gesagt.“
    „Ich esse mit euch. Ich habe keine Bücher mehr.“


    Erion kam erst, als die Kartoffeln gar und das Steak in der Pfanne waren. Ich pfefferte letzteres gerade nach, da steckte er den Kopf durch die Türe.
    Seine Haare waren noch etwas nass. Meine hatte ich in ein Handtuch gewickelt.
    „Setz dich!“ Meine Mutter saß auf einem der gepolsterten Esszimmerstühle am Tisch Ende und deutete auf den Platz rechts von sich. Erion zögerte leicht, und ich merkte, dass er sich so leise verhielt wie möglich.
    „Viel Hunger oder wenig Hunger?“, wandte sich mich an die beiden. Meine Mutter entschied sich für viel, obwohl er sagte, dass nicht so hungrig sei, füllte ich seinen Teller genauso voll wie den von meiner Mutter.
    „Wann kommt Papa nach Hause? Lohnt es sich, das Essen in den Kühlschrank zu stellen?“, wandte sich mich an Mama, als ich ihr den Teller vor ihr auf den Tisch stellte.
    „Es wird wohl wieder spät werden.“
    Ich seufzte. So wie immer.
    Vielleicht gar nicht so schlecht. Dann könnte ich das Treffen mit Erion herauszögern.
    Papa war etwas eigen, was Jungs betraf. Vor allem Jungs, die mich besuchten.
    „Na los, iss. Angelique kocht schon, seit sie sieben ist.“, lachte meine Mutter. „ Und ich bin noch quicklebendig.“
    Ich verzog das Gesicht. Verdammt noch Mal, mach mich bei anderen doch bitte wenigstens nur dann lächerlich, wenn ich nicht anwesend bin.
    Ich nahm mir meine Portion und setzte mich links von Mama, versuchte den Augenkontakt mit Erion möglichst zu vermeiden. Ich hatte vergessen, wie gerne meine Eltern über mich plauderten, und dabei kaum eine der Fähigkeiten außen vorließen, die ich mir zwangsweiße angeeignet hatte. Gerade wünschte ich mir, dass ich ihr doch ein Buch aus dem Laden in Vertania mitgebracht hätte.
    Erion zögerte, bevor er eine Kartoffel aufstach und in seinem Mund verschwinden ließ. Er kaute und kaute, und damit war das Eis gebrochen.
    Ich fürchtete schon, dass er sich verschlucken würde.
    Meine Mutter kicherte. Sie schlang nicht, sondern genoss.
    Ich beobachtete ihn lieber für eine Weile, man wusste ja nie.
    „Schmeckt‘s?“ Die Frage war eigentlich überflüssig, aber wie jeder Mensch mochte auch ich Komplimente. Immer nur her damit.
    „Genial.“, antwortete er ohne aufzusehen. Er stach schon die nächste Kartoffel auf.
    Ich lächelte zufrieden und sah zu Mama herüber, die mir einen bedeutungsvollen Blick zuwarf. Ich kniff die Augen ärgerlich zusammen. Sie kicherte.
    Erst als ich Erion von selbst einen zweiten Teller hinstellte bat er beim dritten Mal um Nachschub.
    „Himmel, du musst ja ganz ausgehungert sein, mein Lieber.“, lachte meine Mutter. Wir waren beide schon fertig und der Abwasch war ebenfalls so gut wie erledigt, ich wartete nur noch auf Erions Teller.
    Als er fertig war sank er zurück in seinen Stuhl und seufzten zufrieden.
    „Danke für das Essen.“, murmelte er mit geschlossenen Augen.
    „Ah, mach dir mal keine Gedanken deswegen.“
    Ohoh, Mama kam in Plauderlaune.
    „Angy hatte schon so lange keine Freunde mehr zu Besuch.“
    Ich warf ihr einen bitterbösen Blick zu den sie gekonnt ignorierte. Erion warf mir einen fragenden Blick zu. Ich schüttelte leicht und unauffällig den Kopf. Er gab sich offenbar damit zufrieden.
    „Ich nehme mal an, dass du nicht willst, dass wir deine Eltern kontaktieren, hm?“
    Erion schien zwar überrascht und brauchte eine Weile, aber er nickte mit ernster Miene. Stimmt. Er wollte nicht zurück nach Azuria. Das musste einen Grund haben. Meine Mutter ging also von Familienproblemen aus.
    „Meinst du nicht, sie machen sich Sorgen um dich?“
    Er schüttelte sanft den Kopf. „Kann ich mir nicht vorstellen. Meine Mutter ist tot, und mein Vater… Naja. Ich gehe ihm so ziemlich am Arsch vorbei.“, grummelte er.
    „Das glaube ich nicht. Kein Vater interessierte sich nicht für seinen Sohn.“
    Ich grinste, weil meine Mutter die vulgäre Phrase gekonnt ignorierte.
    „Sie haben ja keine Ahnung.“, grinste er schief. „Ist ja auch egal. Er wird vermutlich nicht mal merken, dass ich weg bin. Vielleicht sogar besser so.“
    Ich wurde zwar das Gefühl nicht los, dass er mit seiner Situation ganz und gar nicht zufrieden war, tauschte aber nur einen Blick mit meiner Mutter aus. Sie sah besorgt drein, ritt aber nicht auf dem Thema herum. Ich glaubte sowieso, dass uns das gar nichts anging. Wir waren praktisch Fremde.
    Also keine Freunde.


    Es war gerade erst Mittag. Draußen tobte noch immer der Sturm, der Wind peitschte an unsere Fenster und brachte sie zum Klappern.
    Ich konnte Stürme nie leiden. Vielleicht lag das auch einfach daran, dass ich von Natur aus recht schreckhaft war. Erion schien sich nicht daran zu stören. Er saß auf seinem Stuhl und starrte auf die Tischplatte. Meine Mutter hatte die Zeitung aus dem Mülleimer gerettet und raschelte ab und an mit deren Seiten. Ich sah aus dem Fenster in den dunklen, bedrohlichen Himmel und zuckte zusammen, wenn es donnerte. Es sah nicht danach aus, als ob das Wetter sich in nächster Zeit bessern würde.
    Erst als das Telefon klingelte weckte es uns aus diesem stillen Verharren. Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer, wo es auf einer Anrichte, direkt neben ein paar Bildern und einem kleinen Farn stand, hob ab und meldete mich.
    „Ange? Bist du das? Die Verbindung ist so schlecht…“
    „Ja, Papa, ich bin‘s.“
    „Wie geht es deiner Mutter? Bei euch alles in Ordnung?“
    „Ja, alles okay.“
    „Hör zu, Schatz, wartet nicht auf mich mit dem Essen. Ich bleibe für heute Nacht bei einem Kollegen in Mamoria, im Fernsehen sagen sie, dass dieser verdammte Sturm vermutlich noch bis spät in die Nacht andauern wird.“
    Ich hielt inne. So lange?
    „Okay. Ich sag Mama Bescheid. Pass auf dich auf.“
    „Ihr auch, ja? Ich bin morgen wieder da.“, versprach er mir eindringlich. Ich legte auf und seufzte resignierend. Wieder ein Tag mehr an dem ich Papa nicht sehen würde.
    Mama kam ebenfalls ins Zimmer, gefolgt von Erion, der sich im Raum umsah.
    „Papa kommt nicht. Es ist draußen zu stürmisch.“, erklärte ich ihr. Sie nickte und lächelte: „Ist gut. Auf dem Rückweg könnte sonst was passieren. Und wir können uns noch überlegen, warum ein vollkommen fremder Junge über Nacht bei uns war.“
    Ich grinste schief. „Wäre vielleicht nicht schlecht.“
    „Bitte, machen sie sich wegen mir keine Mühen.“, meinte Erion leise.
    „Mein Vater meinte, dass der Sturm anhalten wird. Du kannst unmöglich bei so einem Wetter in der Gegend herumwandern.“, widersprach ich ihm.
    „Das wäre nicht gut für deine Gesundheit.“ Mit einem Augenzwinkern fügte meine Mutter noch hinzu:“ Ich glaube nicht, dass Ange dir das erlauben würde.“
    Ich spürte mein Gesicht warm werden und beschwerte mich halbherzig mit einem „Lass das, Ma!“. Erion schien es glücklicherweise jedoch nicht zu bemerken. Er sah aus dem Fenster, runzelte die Stirn und seufzte dann.
    „Danke.“


    „Dein Zimmer ist echt riesig.“, meine Erion.
    „Eine kleine Entschädigung dafür, dass ich eigentlich gar nicht hier sein will.“, gab ich zurück. Er runzelte die Stirn.
    „Wir sind vor ein paar Jahren von Prismania hergezogen. Ich wollte da bleiben. Das Klima hier ist aber besser für Mamas Gesundheit.“, erklärte ich ihm und setzte mich auf mein Bett. „Sie war ziemlich krank. Deswegen kümmere ich mich um sie.“
    Erion schlenderte zu mir rüber und fiel neben mir aufs Bett.
    „Tut mir Leid. Ich sollte mich nicht beklagen.“
    Sich bei jemandem über seine familiäre Situation zu beschweren, wenn dieser seine eigenen Probleme damit hatte und dessen Mutter auch nicht mehr wirklich lebendig war, erschien mir leicht… taktlos.
    „ Du magst Alabastia nicht, mh?“, lachte Erion.
    „In Prismania hatte ich meine Freunde…“ Und meinen Bruder, fügte ich in Gedanken dazu.
    „Hier nicht?“, fragte er mich. Ich setzte mich in den Schneidersitz und betrachtete meine Zehen.
    „Hier gibt es nicht viele in meinem Alter. Und die, die es gibt… Naja, die kennen sich halt schon seit sie Kinder sind.“ Ich grinste schwach. „ Da ist die Neue aus Prismania zwar interessant, aber mehr auch nicht.“
    Ganz davon abgesehen war da auch noch Mama. Um die musste ich mich auch kümmern. Das tat ich gerne, ja, aber…
    „Wie alt bist du denn?“, fragte Erion mich. Er streckte Arme und Beine von sich.
    „Fünfzehn. Dreineinhalb Wochen noch, dann werde ich sechzehn.“
    Er gab einen undefinierbaren Laut von sich. So etwas wie Grummeln, nur nicht wütend, sondern eher als würde er über etwas nachdenken.
    „Du?“
    „Sechzehn. Sechzehn und ein paar Monate.“, gab er zurück. Seine Augen waren geschlossen, Strähnen von grünem Haar fielen ihm ins Gesicht. Ich kicherte, als er vergeblich versuchte, sie wegzublasen. Schließlich gab er auf und wischte sie sich mit seiner Hand weg.
    Ich schaute zu Standuhr, die mich mit ihrem ruhigen, rhythmischen Ticken etwas von dem Grollen hinter dem Fenster ablenkte. Ein Blitz zuckte am Himmel und erleuchtete das Zimmer. Nur kurz darauf folgte der Donner. Ich zuckte wieder zusammen.
    Halb sieben. So spät schon? Wie lange war ich im Wald gewesen?
    „Bist du müde?“, fragte Erion mich, als ich gähnte.
    Ich schüttelte den Kopf. Nein, eigentlich nicht. Ich war nur erschöpft. So eine Rettungsaktion machte einen ziemlich fertig.
    „Du?“
    „Nein.“ Erion schüttelte ebenfalls den Kopf.
    Wir schwiegen eine ganze Weile. Jetzt war ich es, die die Stille als unangenehm empfand. Wenn man es denn Stille nennen konnte, wenn draußen der Wind gegen die Fenster pochte und Regen auf den Boden prasselte.
    Ich sah auf den Tisch. Mein Rucksack lag da, noch immer nass.
    Stimmt, ich hatte ihn darauf abgelegt.
    Ich stand auf und begann, ihn auszuräumen. Erst den Block, dann die Boxen. Die Stiftmappe legte ich auf das Regal neben meiner Staffelei, den Block ebenfalls. Die Boxen stellte ich auf die Kommode, neben das Bild meiner Familie.
    Als wir noch in Prismania gewohnt hatten und mein Bruder noch bei mir gewesen war. Als alles noch besser gewesen ist.
    „Das hast du also im Wald gemacht.“
    Ich hatte nicht gemerkt, dass Erion aufgestanden und zum Regal gegangen war, wo mein Block noch aufgeschlagen gegen die Wand lehnte.
    „Du zeichnest du Pokemon.“
    „Auch, ja.“, bestätigte ich.
    „Mh?“
    „Ich beobachte sie, füttere sie… Ich versuche, ihre Gewohnheiten zu lernen.“, erklärte ich ihm. Er blinzelte überrascht. Aber er lächelte, schien irgendwie glücklich darüber zu sein.
    „Was ist mit den Taubsi? Was hast du so über sie herausgefunden?“ Ein Test? Na gut, warum auch nicht.
    „Sie sind äußerst friedfertig und kämpfen nicht gerne. Wenn es doch einmal zum Kampf kommt, wirbeln sie Staub mit ihren Flügeln auf, um die Gegner zu verscheuchen. Sie lieben Körner, aber auch Beeren. Tsubasa hat es beispielsweise besonders auf Pirsifbeeren abgesehen.“, sagte ich und überlegte. Das war alles, was ich herausgefunden hatte. Recht spärliche Info, wenn man bedachte, dass ich sie schon viele Jahre beobachtete.
    „Taubsi ist ein Pokemon der Gattung Kleinvogel. Sie sind vom Typ Flug und Normal, und beherrschen anfangs die Attacken Tackle, Sandwirbel, Windstoß und Ruckzuckhieb. Ihr Gewicht liegt im Normalfall um die 1,8 kg. Sie sind etwa 60 Zentimeter groß. Es kommt oft in Waldgebieten und Wiesen vor und ist ein leicht zu trainierendes Pokemon.“, schoss Erion los.
    Ich blinzelte überrascht.
    „Woher… weißt du das alles?“
    „Teils Schule, teils eigene Forschung.“ Er grinste breit und stolz.
    „Ist ja krass. Du forschst?“
    „Naja. Ich will forschen. Nur mein Vater… der hat da leicht was gegen.“, grummelte er.
    Pokemon waren erstaunliche Wesen. Jeder vor uns bekommt das in der Schule zu hören. Bisher waren die Möglichkeiten, sie zu erforschen eher begrenzt, aber seit vor wenigen Jahren der Pokeball erfunden wurde, boten sich ganz andere Chancen. Einmal gefangen war das Pokemon an den Ball gebunden, und man hatte Zeit das Pokemon genauestens zu untersuchen.
    Bisher hatte man von etwas über einhundert Pokemon Kenntnis. Genau erforscht waren davon vielleicht zwanzig. Das waren meist die Pokemon, die häufig vorkamen. Was war aber mit den seltenen, starken Wesen? Es gab nicht einmal Bilder von ihnen.
    Mein Herz schlug schneller. Was würde ich dafür geben wegzugehen, einfach durch die Gegend zu reisen und mich mit ihnen zu beschäftigen. Sie zu malen, zu beobachten, wie ich es bereits mit den Pokemon im Wald getan hatte.
    Niemand wusste, wie viele es wirklich gab.
    Oder wie sie aussahen, welche Attacken sie beherrschten.
    Wer weiß? Vielleicht zeigen sie ein Verhalten, haben einen Körperbau, oder eine Attacke, die uns Menschen in unserer Entwicklung helfen könnte?
    Ich wusste jetzt schon, dass mir dieser Gedanke heute Nacht den Schlaf rauben würde.
    Ich wollte all das herausfinden.
    Aber vor allem wollte ich dieser Einöde entfliehen.
    Eine Reise um die Welt.
    Genau die Gefahr, die Aufregung, die Spannung und die Unberechenbarkeit, die ich spüren wollte.


    Für die Nacht überließ ich Erion mein Bett. Er protestierte zwar, aber ich war so aufgedreht, dass ich eh nicht schlafen würde. Also brachte ich ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen, sah noch einmal nach meiner Mutter und verschwand dann in der Bibliothek.
    Bisher hatten mich die Bücher dort nie wirklich interessiert.
    Es war überwiegend Sachliteratur, über Business und Mathematik, aber jetzt suchte ich nach etwas Bestimmten. Mein Vater hatte vor Jahren mal ein Buch über Pokemon gekauft, als die Forschungen über sie gerade erst begannen.
    Als ich die Türen öffnete, wehte mir der Geruch von Papier und Staub entgegen. Der Raum wurde selten genutzt, auch wenn hier Bücher im Wert von mehreren hundert Dollar waren.
    Ich sah mich etwas um. Die Regale waren deckenhoch, deswegen würde es wohl dauern, bis ich das Buch gefunden hätte das ich suchte. Das hieß, wenn ich nicht etwas Glück hatte.


    Das Glück fand mich nach etwa einer Stunde. Ich erkannte den Einband und holte das Buch lächelnd heraus, blies den Staub davon herunter. Das Gewitter war noch im Gange, schwächte aber wieder etwas ab. Die Lampe auf dem Lesetisch spendete Licht, ich setzte mich in den karmesinroten Polstersessel, legte die Beine auf den Hocker davor.
    Dann schlug ich das Buch auf und versank darin.


    Nach den Informationen über Rattfratz und Raupi folgten auch die über Taubsi. Erions Nachforschungen waren vollkommen korrekt.
    Meine jedoch auch. Taubsi zeichneten sich durch eine natürliche Friedfertigkeit aus und ihre Waffe war der Staub, den sie mit einigen Flügelschlägen aufwirbelten.
    Jetzt wusste ich, warum Erion so stolz geklungen hatte. Ich war es auch. Mit den renommierten Wissenschaftlern dieser Welt mithalten zu können war schon etwas.


    Ich merkte nicht, wie schnell die Zeit verging. Als ich das nächste Mal auf eine Uhr sah, war ich auf dem Weg zur Tür. Es hatte geklingelt, also musste ich zwangsweise die Literatur zur Seite legen und öffnen.
    Es war kurz nach zwölf. Mich beschlichen Zweifel. Wer läutete um kurz nach zwölf an einer Tür?
    Wie erwähnt war ich schreckhaft, und vielleicht auch ein wenig paranoid, aber so etwas schrie doch geradezu nach Gefahr. Noch dazu schliefen meine Mutter und Erion sicherlich schon. Ich würde sie jetzt nicht aufwecken wollen.
    Es läutete schon wieder.
    Sie würden irgendwann mit Sicherheit davon wach werden.
    Ich schluckte meine Bedenken und den Kloß im Hals mitsamt den Erinnerungen an alle Horrorbücher die ich jemals gelesen hatte, herunter, und näherte mich im dunklen Flur der Türe. Ich hörte ein lautes Klopfen und Poltern, den Donner und leises Prasseln von Regen im Hintergrund.
    Meine Hand zitterte als ich nach der Türklinke griff. Irgendwas stimmte hier doch nicht! Wer lief schon mitten in der Nacht und bei einem der heftigsten Gewitter dieses Jahres bitte vor die Tür?
    Kurz bevor ich die Tür erreichte, polterte es wieder. Ich zuckte zurück und biss mir auf die Lippen.
    Jetzt oder nie. Trau dich!
    Die Tür öffnete sich klackend, ich riss sie förmlich auf. Regen tropfte auf mein Gesicht, die riesenhafte Gestalt ragte über mir auf. Sie war dunkel gekleidet, durchweicht von Nässe, in Kleidern, die ihr halb zerfetzt vom Leib hingen.
    Ich erstarrte und blickte sie mit großen Augen an. Ich konnte keine Details erkennen, nur, dass das Gesicht kantig war und die Haare ihr wirr vom Kopf abstanden.
    Und erst, als Blitz und Donner gemeinsam den Himmel verließen, entdeckte ich die große Hand, die auf mein Gesicht zuschoss.
    Ich konnte nicht anders.
    Ich stieß einen spitzen, vier Oktaven höheren Schrei aus, der wohl jeden in der Nachbarschaft wecken würde.
    Zumindest hoffte ich das.

  • Hallo Caithy.
    Jetzt ist schon einige Zeit seit der Veröffentlichung vergangen, ein zweites Kapitel hat sich auch dazugesellt und ich will dich einmal mit etwas Feedback entlasten (kommt schon Leute; wenn ihr mitlest, dann nehmt euch doch auch die Zeit, die Geschichte zu belohnen).


    Interessant finde ich, dass du die Kapitel nach Studien benennst und so für etwas Abwechslung bei der Ausführung sorgst. Dabei hältst du dich auch mit Taubsi auch recht allgemein, sodass man nicht genau erraten kann, wie es nun ins Geschehen miteinbezogen wird. Schade ist dabei dann, dass das wohl nur fürs erste Kapitel galt, dass du dich auf Pokémon beziehst und alles weitere wohl allgemein wird, aber so findet sich wohl die beste Ordnung, um auch einen Bezug herstellen zu können.
    Ich muss sagen, du hast eine wirklich angenehme Art zu erzählen und zu schreiben. Man fühlt sich richtiggehend in Angeliques Lage versetzt und sieht die Welt durch ihre Augen; egal ob es sich nun um die Pokémon handelt, die um sie herumtollen, oder um ihre Einstellung oder das Empfinden zu gewissen Dingen. Die Ich-Perspektive liegt dir auf jeden Fall sehr gut und du weißt es, dich gezielt auszudrücken. Dadurch wird nicht nur der Text ausführlicher, nein, sondern damit wird auch die Welt greifbarer für die Leser. Ich glaube auch gesehen zu haben, dass die Sätze nun schon nicht mehr so stark mit Kommata verlängert werden, insofern gute Arbeit bei der Umgewöhnung. Lediglich gegen die paar Tippfehler könnte man noch etwas unternehmen, auch wenn diese eher beiläufig passieren dürften und kaum die Welt sind. Mehrere Male drüberlesen schafft da meistens Abhilfe, aber ansonsten hast du die Technik so weit beinahe perfektioniert, indem du auf alle Sinneseindrücke eingehst, das mag ich.
    Die Geschichte selbst gestaltet sich bisher auch recht interessant, wobei ich sagen muss, dass mir das Schema vertraut vorkommt (vermutlich durch einen Anime). Dadurch fällt der Einstieg nicht schwer und man fühlt sich sofort auf den aktuellsten Stand versetzt, was dir nur zugute kommen kann. Als kleine Randbemerkung: Ich habe das Gefühl, dass Ange und Erion zusammen schon eine Art Pokédex "bilden", denn sie zeichnet sie gerne und er hat sich viele Daten über die Pokémon angeeignet. Ein guter Ersatz und auch eine Möglichkeit, wie man die Technik umgeht. Da bin ich schon richtiggehend gespannt, wenn die beiden auf Reisen durch die Region gehen und noch mehr von der Welt sehen; ich bin sicher, du setzt du das fabelhaft um. Die Reaktionen der einzelnen Charaktere bestimmen auf jeden Fall den Verlauf der Geschichte und sind sehr glaubwürdig, wie deine Protagonistin in ihrem Denken.
    Mehr habe ich so weit auch gar nicht anzumerken. Ich bin schon gespannt auf die Fortsetzung, mach weiter so!


    ~蛇

  • Snake,
    ich habe dir ja schon über GB geantwortet, möchte dir aber trotzdem noch einmal danken. Ich hoffe, dass du mir als Leserin erhalten bleibst.


    Dritte Studie: Flucht


    „Eine Tasse Tee, Mr Sanders?“
    Der gut gemeinte Versuch, die angespannte Stimmung im Raum zu vertreiben schlug fehl. Der Mann verzog keine Miene, rubbelte mit einem Handtuch seine Haare trocken. Ich tauschte einen unbehaglichen Blick mit meiner Mutter, die das Teeservice auf den Kaffeetisch im Wohnzimmer stellte und mir und sich selbst eine Tasse eingoss. Sie nahm die Nichtreaktion offenbar als ‚Nein‘.
    „Wecken sie diesen Nichtsnutz von Sohn einfach auf und wir verschwinden.“, grummelte er mit einer Aggression in der Stimme, die mich unruhig auf meinem Platz auf dem dunkelgrünen Sofa herumrutschen ließ.
    „Ich wette, dass er sich fürchterlich benommen hat. Sie müssen ihn doch eh leid sein.“
    Ich biss mir auf die Lippe.
    Dieser Kerl war mir immer noch suspekt… und ziemlich unheimlich.


    Nachdem ich so panisch geschrien hatte, passierten viele Dinge in kurzer Zeit.
    Meine Mutter stürmte die Treppe herunter, der Fremde stellte sich als Erions Vater heraus, und die Ähnlichkeit war nicht zu bestreiten. Sie hatten ein ähnliches Gesicht, und die Haare waren genauso stürmisch wie seine. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob das nicht einfach vom Unwetter kam, durch dass er gelaufen war.
    Eins führte zum anderen, und jetzt saß er hier, verlangte die Herausgabe seines ‚missratenen Sohnes‘- dieser Ausdruck machte mich ziemlich wütend und ich versuchte, ihn zu verteidigen, der tödliche Blick ließ mich aber mitten im Satz verstummen- und weigerte sich, vor dieser von hier zu verschwinden.


    Wir schwiegen eine Weile und tauschten Blicke.
    „Weck ihn auf.“, sagte mir meine Mutter eindringlich. Ich wollte ihr widersprechen, aber schon wieder brachte man mich mit einem Blick zum Verstummen. Mit hängenden Schultern öffnete sich die Tür zum Flur. Ich schaute noch einmal zurück, meine Mutter scheuchte mich mit einer Handbewegung raus.


    Als ich die Tür schloss, lehnte ich mich dagegen und verharrte bewegungslos. Wars das? Wars das mit der Spannung, der Aufregung in meinem Leben?
    Erion tat mir Leid.
    Ich konnte nur zu gut verstehen, warum er von zu Hause geflohen war. Der Atem seines Vaters stank nach Alkohol und ich konnte mir gut vorstellen dass er sich gerade zusammenriss. Ob er noch schlimmer werden würde, wenn er mit Erion alleine war?
    Ich schluffte kraftlos die Treppen hoch. Halb zwölf. Ich war seit sechzehn Stunden auf den Beinen und hatte kein Auge zugemacht.
    Die Tür zu meinem Zimmer knarzte leise, als ich sie öffnete und hineinschlich. Dunkelheit lag über dem Raum, nur eine kleine Lampe auf meinem Tisch brannte. Er lag im Bett und schlief selig.
    Ein Wunder, dass er nicht aufgewacht war. Ich hatte einen ziemlichen Krach veranstaltet.
    Ich setzte mich neben ihn aufs Bett und sah ihn eine Weile an. Er lag auf der Seite, atmete leise und gleichmäßig. Es tat mir in der Seele weh, ihn aus seinem Traum zu wecken. Er sah so entspannt aus.
    Ich seufzte und rüttelte an seiner Schulter.
    „Erion. Wach auf.“
    Er murmelte etwas unverständlich und drehte sich weg. Ich kicherte. Dann wurde ich wieder traurig.
    „Aufwachen! Jetzt wach schon auf!“
    Erst als ich ihm fast ins Ohr schrie zuckte er zusammen und öffnete verschlafen die Augen.
    „Schon morgen?“, hörte ich ihn murmeln.
    „Dein Vater ist hier.“
    Erion war plötzlich hellwach.
    „Hier?“, fragte er und schluckte.
    „Im Wohnzimmer.“
    Er schwieg eine Weile und schaute an die Decke. Dann sah er mir in die Augen.
    „Ich werde nicht mit ihm mitgehen.“
    Ich sah ihn perplex an.
    „Und was hast du dann vor? Er hat nun mal leider das Recht darüber zu bestimmen wo du dich aufhälst.“, widersprach ich ihm stirnrunzelnd. Ich konnte ja verstehen, dass er nicht mit wollte, aber ihm blieb nichts anderes übrig.
    „Kannst du mir ein wenig Zeit verschaffen? Bis morgen früh, vielleicht?“
    Er fragte nicht, er flehte fast. Ich verzog das Gesicht. Ich wollte ihm helfen, wirklich, das wollte ich. Ich mochte Erion und wenn ich mir vorstellte dass er mit diesem Kerl da unten mitgehen würde, musste ich den Würgereiz unterdrücken, aber…
    „Bitte, Angelique! Bitte. Ich will nicht zurück.“
    Ich schluckte und verfluchte mich schon selber, als ich mich doch tatsächlich selber sagen hörte: „Ich versuch es.“


    „Wie bist du überhaupt auf die verblödete Idee gekommen? Verdammt noch mal, du Nichtsnutz! Ich habe es dir mehr als einmal gesagt!“
    Mit jedem Mal, dass sein Vater einen neuen Satz anfing, zuckte Erion zusammen. Ich konnte ihn verstehen, mir ging es nicht anders.
    „Warte nur, bis wir zu Hause sind…“, beendete er seinen Vortrag verheißungsvoll. Mir lief es kalt den Rücken herunter.
    Ich musste ihm helfen.
    Ich würde ihm helfen.
    Nicht nur, weil ich es ihm versprochen hatte, sondern auch, weil ich Angst hatte, was passieren würde wenn ich es nicht tat.
    Erion saß mit zu Fäusten geballten Händen auf der Couch und starrte auf seine Füße. Er sah vollkommen fertig aus.
    Wie gerne hätte ich ihn jetzt aufgemuntert. Wie gerne hätte ich diese Typen hochkant aus unserem Haus geschmissen, aber ich traute mich nicht. Er war ganz offensichtlich betrunken und ich wollte gar nicht wissen, was passieren würde, wenn man ihn provozierte. Wir waren zwar zu dritt aber…
    Ich war nie wirklich kräftig gewesen und dazu noch vollkommen übermüdet.
    Erion sah gerade sowieso nicht danach aus, als ob er sich wehren könnte. Ich zweifelte daran, dass er eingreifen würde. Vermutlich hätte er zu große Angst.
    Und meine Mutter? Meine zerbrechliche, kranke Mutter?
    Und genau diese zerbrechliche, kranke Mutter rettet Erion vor seinem Schicksal.
    „Sie können heute nicht nach Azuria zurück, Mr Sanders.“, wandte sie sich ihm mit unentwegt freundlichem, höflichem, aber trotzdem distanziertem Tonfall zu.
    „Der Sturm wird vermutlich bis morgen andauern. Seien sie solange unsere Gäste.“
    „Das kommt nicht in Frage. Je schneller wir zurück sind, desto besser.“, knurrte er. Meine Mutter zuckte nicht mit der Wimper, wohingegen Erion und ich vor dem aggressiven Tonfall zurückzuckten.
    „Seien sie nicht dumm.“, gab sie scharf zurück. Mr Sanders wütende Miene wich einem überraschten Gesichtsausdruck.
    „Wenn sie jetzt gehen, stehen ihre Chancen, unbeschadet anzukommen, schlecht. Ihr Sohn ist außerdem noch geschwächt von seinem Hitzschlag.“
    Sanders legte den Kopf schief und schien abzuwägen, ob das, was sie sagt, für ihn von Wichtigkeit war oder nicht.
    „Ich nehme das als Einladung hier über Nacht zu bleiben.“, sagte er schließlich unterkühlt.
    „Selbstverständlich. Ich bereite ihnen das Gästezimmer vor.“, erwiderte Mama nicht weniger kalt.
    „Ange, geh mit Erion nach oben. Ihr wisst ja, wo ihr schlafen könnt.“
    Ich nickte schnell, und stand auf, ging schon auf die Tür zu. Als ich merkte, dass Erion mir nicht folgte, drehte ich mich um und beugte mich zu ihm herunter, berührte ihn sanft an der Schulter.
    Er zeigte eine Weile keine Reaktion, dann nickte er schwach.
    Erion torkelte mehr als dass er ging, und ich musste ihm am Arm packen und führen, damit er überhaupt aus dem Wohnzimmer fand.


    Als wir draußen waren, versuchte ich ihm gut zuzureden. Er wirkte so… fertig. Fertig mit der Welt. Geradezu vernichtet.
    „Alles okay? Wir sind draußen. Okay?“
    Er antwortete nicht.
    Schwieg eisern bis wir in meinem Zimmer waren und ich ihn auf meinem Bett absetzte. Dann begann er zu schnaufen, zu keuchen.
    Er begann zu weinen.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Also versuchte ich es mit einem Taschentuch, setzte mich neben ihn und schwieg unbeholfen. Er nahm es an und weinte noch eine ganze Weile. Irgendwann wurde er stiller. Hörte auf.
    Lachte trocken.
    „Tut mir Leid, Angelique.“, seufzte er und sah mich aus verquollenen, hellbraunen Augen an. „Ich wollte nicht…“
    Erion sah wieder weg, auf den Boden, seine Füße. Er beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien abgestützt.
    Ich konnte nicht anders. Ich legte ihm einen Arm um die Schulter und zog ihn an mich ran.
    „Macht nichts.“, murmelte ich.
    Er seufzte eine Weile, dann lehnte er sich an mich. Erion schwieg. Ich schwieg.
    Und irgendwann schlief er dann ein. Und ehe ich mich versah, tat ich das auch.


    Ich wollte nicht aufwachen, drückte mir die Handflächen vors Gesicht. Es war zu hell.
    Viel zu hell.
    Ich gab auf.
    Mein Zimmer war durchflutet von Licht. Leichtem, dämmrigem Licht. Ich hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Die Uhr zeigte halb sieben an. Ich gähnte. Und erinnerte mich.
    Als ich mich aufstemmte merkte ich, dass etwas fehlte. Die Decke neben mir war warm.
    Erion. Er war nicht mehr da.
    Geflohen? Vermutlich.
    Ich rieb mir die Augen und blieb noch etwas sitzen, damit die dunklen Flecken verschwanden. Ich stand auf, sah mich um. Da entdeckte ich einen weißen Zettel auf meinem Tisch. Der war gestern noch nicht dagewesen. Ich griff danach, drehte ihn um. Ein paar einfache Worte, schön geschrieben und leserlich, standen darauf. Mehr nicht.


    Ange,
    danke für alles. Muss jetzt weg.
    Ich hab’s ja gesagt.
    Ich gehe nicht zurück.
    Erion


    Ich starrte den Zettel noch eine Weile an. Er war wirklich weg. Ich seufzte und sank auf den Stuhl.
    Warum machte mir das so viel aus?
    Wir waren keine Freunde, aber trotzdem, irgendwie fühlte ich mich, als hätte ich etwas verloren.
    Den letzten Funken Spannung in diesem miserablen Leben.
    Und jemanden, von dem ich wusste, dass ich ihn wirklich mögen könnte.
    Jemand, der hier genauso fremd war wie ich.
    Ich steckte den Zettel ein und stand auf. Jetzt würde ich sowieso nicht mehr einschlafen können.


    Als ich ins Esszimmer trat, wartete meine Mutter schon auf mich. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen.
    „Ich…“, begann ich flüsternd, brach aber ab. Ich hatte kein schlechtes Gewissen was mein Handeln betraf. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich fürchtete, dass meine Eltern mich deswegen verurteilen würden.
    „Schon gut. Er ist früh aufgewacht. Ich konnte auch nicht schlafen.“ Ich sah die dunklen Ringe unter ihren Augen. Sie wirkten wie an einem wolkigen Tag. Gar nicht mehr himmelblau.
    „Hast du ihn weggeschickt?“, fragte ich sie überrascht. Meine Stimme klang matt. Ich wusste, dass es besser wäre, meine Gefühle zu unterdrücken, wie sonst auch, aber ich spürte, dass ich dazu einfach keine Kraft hatte. Außerdem war es egal.
    „Indirekt. Er wollte sich noch bei dir bedanken und dann mit ihm gehen. Sagte, er hätte es eingesehen. Du hättest Recht gehabt.“
    „Und… warum ist er dann gegangen?“
    „Ich… Ich habe mich umgedreht. Ich wollte es mir nicht anschauen müssen. Hab die Tür geöffnet, ein paar Sachen für ihn gepackt, und ihm deinen Rucksack neben ihn aufs Sofa geworfen. Dann bin ich gegangen.“
    Er musste danach noch einmal in mein Zimmer gekommen sein. Sonst gäbe es diesen Zettel nicht. Ich fasste an meine Hosentasche.
    „Hat er sich von dir verabschiedet?“, fragte Mama. Ich schüttelte den Kopf.
    „Du hattest schon immer einen tiefen Schlaf.“
    Wir schwiegen, bereiteten stumm das Frühstück vor und ließen Mr Sanders Wutausbruch über das Verschwinden seines Sohnes über uns ergehen. Ich sah ihn nicht an. Meine Mutter warf ihn heraus, als er begann, uns zu beschimpfen. Danach hörten wir nur noch die Zündung eines Motor, ein Rattern, das sich immer weiter entfernte.
    Zum ersten Mal in meinem Leben begann ich ernsthaft zu beten. Ich hockte mich neben meine Mutter, faltete die Hände und betete, dass er Erion nicht fand.


    Als mein Vater gegen Mittag wohlbehalten zurückkam, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Wir erzählten es ihm, von Anfang bis Ende, und ließen auch nicht aus, dass ich gerne in den Wald ging. Erst sah er wütend aus und fürchterlich besorgt. Er wollte mir eine Standpauke halten, aber meine Mutter hielt ihn davon ab. Sie griff ihm sanft an die Schulter und schüttelte bekümmert den Kopf.


    „Und euch geht es gut?“, fragte Papa besorgt. Wir sahen uns an und nickten unsicher.
    Das Essen schmeckte fad und geschmackslos. Ich würgte es herunter, starrte stur auf meinen Teller, erschrak, als Papa mich darauf hinwies, dass ich meine Gabel verbog. Ich entschuldigte mich leise und brachte sie wieder in ihren Ursprungszustand. Diese Dinger waren wirklich nicht von guter Qualität, wenn ich sie einfach so zerdrücken konnte. Meine Mutter streichelte mir mit ihrer Hand erst über den Rücken, dann über den Kopf. Sie fuhr mit ihren Fingern durch mein zerwuscheltes Haar.
    Richtig. Ich hatte noch meine Kleidung vom Vortag an. Und gewaschen hatte ich mich auch noch nicht.
    „Machst du dir Sorgen?“
    Ich fühlte mich nicht mal mehr ertappt. Ich hatte schon selber begriffen, dass Erion für mich kein Fremder mehr war. Der einzigen Menschen, den ich seit langer Zeit mal wieder leiden konnte, wurde mir nach nicht einmal einem Tag genommen.
    Fortuna war mir wirklich nicht hold.
    Dabei hatte ich keine Ahnung, was ich der blöden Kuh getan hatte.
    Ich nickte nur als Antwort.
    „Meinst du, er findet ihn?“, fragte ich mit großen Augen. Ich biss mir auf die Zunge, als ich mir vorstellte, was er mit Erion anstellen würde, wenn er ihn fand und fluchte mit pochendem, blutendem Mund.
    „Du sorgst dich ja ziemlich um ihn, mh?“ Mein Vater lächelte schief. Ihm gefiel das wohl nicht. Ich könnte ja in Versuchung geraten oder so.
    Was soll‘s.
    „Sie hat sogar für ihn gebetet.“, lachte meine Mutter jetzt. „Das letzte Mal hat sie gebetet als sie vier war.“
    Ich erinnerte mich. Da wohnte ich noch in Prismania und hätte mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen vorstellen können, dass mir so etwas irgendwann mal passiert. Ganz zu schweigen von einem Umzug.
    „Damals hast du für mehr Süßigkeiten gebetete. Vielleicht war Omas Mühe doch nicht vergeblich.“, fügte sie hinzu.


    Meine Großmutter war schon immer fürchterlich religiös gewesen, und so kam es, dass ich neben Sprachen auch noch mit gottesfürchtigem Blödsinn vollgequatscht.
    Ich habe nie daran geglaubt. Beziehungsweise hatte ich damit aufgehört, nachdem die heiß ersehnten Süßigkeiten nicht kamen. Oma hatte damals nur gelacht, und ich war beleidigt gewesen. Wie beschränkt mein Denken damals doch war.
    So oder so. Die Messen in die sie mich schleppte waren grässlich. Ich stand damals einfach auf andere Dinge als Kleider mit rosa Rüschen, Typen die uns Vorträge über Teilen hielten und Märtyrer, die ihr Leben für irgendeine Bestimmung hergaben.
    Wenn ich gewusst hätte, dass ich später einmal genauso enden würde…
    Ich nickte also brav und tat so, als würde ich Oma zuhören, während ich innerlich darüber nachdachte, was ich mit meinen Freunden spielen könnte, sobald ich aus meiner eigenen, persönlichen, religiösen Hölle entkommen würde.
    Freunde hatte ich damals nämlich noch. Sogar recht viele. Aber mit der Gesundheit meiner Mutter schwanden auch die Freunde, mein Bruder, mein Zuhause und meine Zufriedenheit.
    Es brachte jetzt eh nichts mehr, sich zu beschweren. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Schreckliche Gedanken mit schrecklichen Gedanken zu übertönen funktionierte zwar, aber…
    „Geh und mach dich fertig, Schatz, ja?“, bat meine Mutter mich. Ich schluckte den letzten Bissen herunter und setzte mich in Bewegung. Kurz bevor ich die Tür schloss, hörte ich sie noch sagen: „Matt, wir müssen reden.“


    Normalerweise war Haarkämmen eine der Tätigkeiten, die ganz unten auf meiner Liste stand. Ich hatte die dicken und störrischen Haare meines Vaters geerbt und musste jetzt damit zu Recht kommen, dass sie sich wehrten wie bockige Kleinkinder. Als ich aber in den Spiegel im Bad sah, blieb mir nichts anderes übrig als sie durchzukämmen. So konnte ich jedenfalls nicht vors Haus gehen. Auch, wenn ich das nicht einmal vorhatte.
    Es ziepte und schmerzte, als ich mit der Bürste dadurch fuhr, und wenn sie bei Knoten festhing, blieb mir nichts anderes übrig als zu reißen.
    Der Schmerz war erträglich. Und die Ringe unter den Augen nervten mich so sehr, dass ich nicht mehr richtig nachdenken konnte.
    Meine Klamotten waren vollkommen zerknittert. Ich wollte sie ausziehen. So schnell wie möglich.
    Vorher noch baden. Das würde mich auf andere Gedanken bringen. Ich drehte die Schalter auf, das Wasser strömte hinein. Meine Beine waren vom Dreck in der Höhle und im Wald noch vollkommen schmutzig. Als ich darüber rieb lösten sich einige Brocken und fielen in die Badewanne. In einem kleinen Schrank fand ich kleine Plastikfläschchen mit bunten Aufklebern darauf. Ich sah sie durch, fand Erdbeer- und Kirschöle, ein Badesalz mit Maronbeerenzusatz, der angeblich entspannte. Ich entschied mich für Lavendelöl. Lavendelöl mit einem Schuss Rosensalz.
    Mein Plan ging auf. Der Geruch stieg mir auf bis ins Hirn und überlastete es fast.
    Von Rosenduft hieß es, das er direkt in das Erinnerungsvermögen eindringen und ihn anregen würde.
    Vielleicht lag es daran, dass ich mich an mein Leben in Prismania erinnerte. Und an die Reise, die ich in Gedanken machte, wenn ich abends im Bett lag und nicht schlafen konnte. Und an meinen Bruder.
    Er schlief bestimmt noch. Es war erst neun. Ces war immer schon ein Langschläfer gewesen.
    Vielleicht erinnerte ich mich aber auch nur, weil ich das so wollte. Umgekehrte Psychologie.


    Als ich in ein Badetuch gewickelt in mein Zimmer ging, saß meine Mutter bereits auf dem Bett. Sie hatte sich den weichen, seidigen Morgenkimono übergezogen und die Arme verschränkt. Ihre Züge waren weich und freundlich.
    „Ange, ich werde gleich zur Sache kommen.“, begann sie.
    Mir schossen viele unheilvolle Gedanken durch den Kopf.
    Hatten sich meine Eltern gestritten? Würden sie sich trennen?
    War etwas mit Mama nicht in Ordnung? Hatte die Krankheit sich verschlechtert?
    Hatten sie schlechte Nachrichten bekommen? War irgendjemand gestorben? Oma, Opa… Ces?
    „Ich glaube, dass es für dich an der Zeit ist, dieses Haus zu verlassen.“
    Mein Kopf war wie leer gefegt. Die ganzen Bedenken verschwanden daraus und ließen nichts zurück. So brauchte ich eine ganze Weile, um zu verstehen, was sie gerade gesagt hatte.
    „Verlassen?“, hörte ich mich murmeln. Schmissen sie mich raus? Hatte ich etwas falsch gemacht? Irgendwann? Einen unverzeihbaren Fehler?
    „Das letzte Mal, dass ich dich so fröhlich gesehen habe, mit leuchtenden Augen und schnell redend, dass du dir die Wörter um Mund verdrehtest…“
    Sie sprach von unserem Gespräch. Als ich ihr alles erzählte, vom Wald, von den Pokemon, von Erion und was passierte. Ja, ich war aufgeregt gewesen. Und nachdem sich Mama beruhigt hatte, da genoss ich es, ihr die Situation zu schildern, mit all den Einzelheiten, die ich in mir aufsog und bewahrte wie einen Schatz.
    „Das letzte Mal war bevor ich richtig krank wurde. Du warst weg und hast mit deinen Freunden gespielt. Wir haben uns solche Sorgen gemacht, weil du einfach nicht wiederkamst. Cesario…“ Ich merkte, wie schwer es ihr fiel, seinen Namen zu nennen.
    „Dein Bruder ging dich suchen. Er trug dich Huckepack nach Hause, weil du gefallen warst und dein Knie völlig aufgeschlagen war. Du blutetest, aber du hast nicht geweint. Du hast gescherzt und erzählt wie ihr durch den Park getollt seid. Dieses Leuchten… Oh Ange, ich habe es so vermisst.“
    Ich erinnerte mich an diesen Tag. Es war wie damals, als ich das erste Mal im Wald war. Ich hatte Schmerzen, aber ich war glücklich. Geradezu ekstatisch.
    Davon spürte ich heute nichts mehr. Ich war viel zu ausgelaugt.
    „Gestern kam es wieder.“
    Meine Mutter verstummte. Ich bemerkte, dass ihre Hände zitterten, setzte mich neben sie aufs Bett und hielt sie fest.
    „Ange, ich weiß, dass du leidest. Ich weiß, dass du nicht hier sein willst. Papa merkt es nicht, er ist so stolz auf dich. Wir sind beide so stolz auf dich, dass du versuchst es dir nicht anmerken zu lassen, aber… Angelique, wir beide wissen, dass das kein Leben für dich ist. Du hast deinen Abschluss, du musst die Schule nicht weitermachen, wenn du das nicht willst.“, beschwichtigte sie und sah mir mich geröteten Augen an. Ich wusste, dass sie kurz davor stand zu weinen. Das wollte ich nicht. Aber ich war froh, dass wir über dieses Thema sprachen.
    Zu lange hatte ich das aufgeschoben.
    Meine Eltern hatten für mich vorgesehen, dass ich nach meinem Abschluss an der Schule von Vertania eine speziell für mich ausgesuchte, weiterführende Schule besuchte. Ich würde fleißig lernen, einen guten Beruf bekommen, jemanden heiraten, Kinder bekommen. Das Leben, das sich viele Mädchen in meinem Alter wünschten.
    Ein guter Beruf, gerne.
    Heiraten, nur wenn ich wirklich jemanden fand, wovon ich noch nicht ausging.
    Und Kinder?
    Bei dem Gedanken schlug mein Herz schneller.
    Ich wollte noch nicht planen. Ich wollte leben. Ganz einfach.
    „Willst du?“, fragte Mama mich.
    Wollte ich? Noch nie war mir die Antwort leichter gefallen… Okay, doch, eins plus eins war eine wirklich einfacherer Entscheidung, aber die tägliche Wahl zwischen Keksen oder einem Pudding zum Nachtisch fiel mir definitiv schwerer. Nur so zum Vergleiche.
    Ich schüttelte jedenfalls den Kopf.
    „Das ist in Ordnung Ange. Das hast du dir verdient.“
    Meine Mutter atmete tief ein und aus.
    „Papa ist dagegen. Ich habe gesagt, dass ich nachgebe, aber…“
    „Das tust du nicht, hm?“ Ich lächelte milde. Sie gab nicht gerne nach. Hatte sie noch nie.
    „Willst du reisen? Die Welt sehen? Wie dein Bruder?“
    „Ja“, hauchte ich. Jetzt zitterten meine Finger, die sich um die Hände meiner Mutter schlossen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Das wäre mein größter Wunsch…“
    Gott, das hörte sich so schnulzig an. Aber, hey, es stimmte nun mal!
    „Das habe ich mir gedacht. Dann hör mir jetzt genau zu.“ Sie griff hinter sich, hievte eine Tasche hervor, die furchtbar schwer aussah. „Erion ist nicht weit. Ich glaube, dass er wieder in der Höhle ist, und sich vor Sanders versteckt. Geh, such ihn und reist gemeinsam. Das ist meine einzige Bedingung.“
    Sie öffnete mit zitternden Händen den Verschluss des Rucksacks.
    „Schau und merk dir alles.“
    Als erstes holte sie ein kleines Gerät heraus.
    „Eins von diesen neuartigen Dingern. Darauf ist eine Karte, und du kannst dir Notizen machen.“
    Als nächstes kam eine kleine, schwarze Börse hervor.
    „ Ich habe dir einen kleinen Notgroschen eingepackt. Und Startkapital. Ihr werdet aber nicht auf ewig damit auskommen. Irgendwie müsst ihr einen Weg finden, Geld zu verdienen. Ich weiß dass du das schaffst, Ange. Du bist talentiert, du musst nur herausfinden, wie du das ausnutzen kannst.“
    Ein kleiner Notgroschen war gut. Ganze 10,000 Dollar waren darin.
    Die ersten Tränen rannen über die Wangen meiner Mutter. Ihre Unterlippe bebte, sie suchte nach einem Taschentuch. Ich reichte ihr eins, dann inspizierte ich die Tasche selbst.
    Ein Zeichenblock, klein aber fein, ein Mäppchen mit Stiften, mehrere Boxen, die nach Essen rochen. Mein Pyjama, ordentlich gefaltete, und Ersatzwäsche.
    „Ich konnte dir keine Kleidung einpacken, die dir auf dieser Reise nützen würde. Die müsst ihr euch kaufen. Zieh dir das an, was bequem ist. Mehr zählt nicht.“
    Zwei große Wasserflaschen.
    Die Seitentaschen und kleinen Fächer, überall versteckt, waren leer. Wir würden den Platz brauchen, da war ich mir sicher.
    „Geh jetzt. Ich kann dich bis heute Abend decken, aber danach… Ihr müsst von hier verschwinden, okay? So schnell wie möglich. Dein Vater wird das nicht gut heißen.“


    Tsubasa erwartete mich aufgewühlt am Eingang zum Wald. Ich hatte darauf geachtet, dass mir keiner begegnete. Alles andere hätte zu Komplikationen geführt.
    Das Taubsi flog auf meine Schulter, ich hielt aber nicht an, um es zu begrüßen, sondern murmelte nur schnell ein paar Worte.
    Grüne Äste flogen auf mich zu, kratzten an meinen Beinen und Armen. Ich schlug sie aus dem Weg, fluchte und schnaufte. Der Weg kam mir fünfmal so lange vor wie sonst.
    Am Baum hielt ich nicht inne. Die Pokemon riefen mir hinterher, ich achtete nicht auf sie. Erst als ich den Bach rauschen hörte, verlangsamte ich meinen Lauf. Meine Seiten schmerzten und mein Herz explodierte fast. Das Atmen tat weh. Ich ignorierte den Schmerz, lief durch das Wasser, das zu allen Seiten verspritzte.
    Vor der Höhle blieb ich stehen.
    „Erion?“, fragte ich leise. Es kam keine Antwort. Ich würde nicht gehen können. Mama hatte sich geirrt.
    Freiheit, adé.
    „Erion!“, versuchte ich noch einmal. Ein letztes Mal. Wenn er nicht hier war, dann müsste ich umkehren. Ihn zu suchen, wäre vergebene Liebesmüh. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, die ich wartete. Alles schien still, die Natur selbst hatte den Atem angehalten. Nur ich konnte das nicht. Mein Brustkorb würde platzen.
    Ich merkte schon, wie bittere Enttäuschung und Verzweiflung meine Beine hochkroch. Sie begannen zu zittern, meine Unterlippe ebenfalls. Ich konnte nicht mehr! Tränen stiegen in meine Augen. Alles umsonst?
    Grüne Strähnen tauchten aus der Höhle auf, zwei neugierige, aber wachsame Augen. Als er mich sah, traute er sich heraus.
    „Angelique? Was machst du hier?“
    Ich kam nur langsam wieder zur Ruhe. Meine Beine gaben nach und ich landete auf dem weichen Boden. Glücklich. Ich war glücklich. Er war da. Ich konnte gehen. Zumindest die Tränen konnte ich zurückhalten. Es kostete mich Mühe und harte Selbstdisziplin, aber sie blieben aus. Gottseidank.
    „Gesucht!“, stieß ich keuchend hervor. Erion sah mich mit unverhohlenem Misstrauen an. Dachte er wirklich… Konnte er wirklich auch nur einen Gedanken daran verschwenden, dass ich ihn verraten hatte? Dass sein Vater jede Sekunde um die Ecke kam und ihn windelweich prügelte?
    Ich schniefte und wartete etwas ab, sah ihn aber bitterböse an. Erion zeigt fast sofort Reue. Gut so. Für wen hielt er mich bitte?
    „Wir haben ihn abgewimmelt. Du bist hier aber nicht sicher!“, appellierte ich eindringlich. Er nickte zwar, aber wirklich überzeugt wirkte er nicht.
    „Und wo soll ich deiner Meinung nach hin?“, fragte er mich. Seine Hände rieben die Stirn. Er sah blass und müde aus.
    Ich zögerte. Ja, wohin denn?
    „Das werden wir dann schon sehen. Wir hauen fürs erste einfach von hier ab, und dann-“
    „Warte mal!“ Wie unhöflich. Man unterbricht jemanden nicht mitten im Satz!
    „Was meinst du mit ‚wir‘?“
    Erion sah fürchterlich ernst aus.
    „Na, ich komme mit.“, erklärte ich ihm so beiläufig und natürlich wie nur möglich und wollte gerade mit meinen Erläuterungen fortführen, da blitzten seine Augen auf und hielten mich davon ab.
    „Hör mal, Angelique, ich bin dir ja echt dankbar, wirklich… Aber was ist mit deiner Mutter? Hm? Sie ist doch krank, oder nicht?“
    Ich schnaubte. Dachte er wirklich, dass ich so blöd wäre ausgerechnet diese Ausrede gelten zu lassen?
    „Erion, ich weiß ganz genau, worauf du hinaus willst! Ich werde dir keine Last sein!“
    Er sah ertappt aus, sah zu Boden, seufzte. Er würde wohl nicht so leicht aufgeben. Ich auch nicht. Meine Mutter traute mir, und das hier war das, was ich wirklich wollte. Niemand würde mich davon abhalten. Und wenn ich Erion folgen müsste.
    Denn, das war mir klar geworden, alleine schon aus Respekt und Dankbarkeit würde ich mein Versprechen nicht brechen. Entweder ich würde mit Erion reisen- oder gar nicht. Das schuldete ich Mama. Ich wollte ihr nicht auch noch Sorgen bereiten, so wie Ces, aber dafür war es wohl sowieso schon zu spät.
    „Schau, sie hat es mir erlaubt. Ich wollte nicht gehen, wenn ich mir nicht absolut sicher bin, dass es ihr gut geht. Sie will, dass ich glücklich bin. Und das kann ich nur, wenn ich mit dir zusammen reise.“
    Erion sah hoch, und an seinem Blick erkannte ich, dass er etwas falsch verstanden hatte. Blut schoss in meine Wangen.
    „Ihre Bedingung war, dass ich mit dir reise. Nicht alleine.“, erklärte ich leise, ohne ihn anzusehen. Wir schwiegen. Himmel, das wir mir so unangenehm. Einfach eine dumme Situation. Jeder hing seinen Gedanken nach. Und ich konnte einfach nicht herausfinden, an was er dachte. Es war zum verrückt werden!
    „Es ist doch im Endeffekt egal, ob du alleine, oder mit jemandem zusammen reist. Nur, dass du im letzten Fall jemanden zum Reden hast, es nicht so schnell langweilig wird und wir… Wir könnten auseinander aufpassen. Wir… wären eben nicht alleine.“ Ich merkte, dass meine Stimme zum Ende hin immer dünner wurde. Es war ein eher kläglicher Versuch ihn zu überzeugen. Ich warf ihm einen kurzen Seitenblick zu.
    Er wirkte nicht überzeugt, zweifelnd. Aber er dachte nach.
    Ich musste sicher gehen, dass er zustimmte. Es war gemein, aber es musste sein.
    „Und außerdem… Du schuldest mir etwas. Das ist dir doch klar, oder? Erion?“
    Ich wollte wirklich nicht auf so eine Methode zurückgreifen. Aber ich wollte das hier zu sehr, als dass mein Gewissen mich auch nur in irgendeiner Form beeinträchtigt hätte. Jetzt schmollte es in der hintersten Ecke meines Kopfes.
    Erion sah mich unverwandt an. Ich starrte zurück.
    Und nach einer Ewigkeit, die mein Herz fast zum Platzen brachte, begann er zu lächeln.
    Er lächelte, dann kicherte er leise, und dann begann er zu lachen.
    Ich erschreckte mich, als Tsubasa auf meiner Schulter einen schrillen Schrei ausstieß, wo ich das Pokemon schon absolut vergessen hatte.
    Irgendwann lachte ich mit ihm.
    „Angelique, um ehrlich zu sein…“, begann er letztlich, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte. „Du hattest mich schon, als du hier aufgetaucht bist.“
    Ich hörte auf zu lachen und sah ihn verwirrt an. Dann wurde ich ärgerlich. Und dann freute ich mich wieder.
    Ich hätte ihm um den Hals fallen können, riss mich aber noch gerade so zusammen. Stattdessen fragte ich mit dünner Stimme: „Das heißt…?“
    Erion wischte sich beiläufig eine Strähne aus dem Gesicht. Er lächelte breit, fröhlich und strahlend: „Gerne. Ich bin froh, dass du mitkommst, Angelique.“


    Tsubasa meldete sich erst wieder, als wir einen Schritt aus dem Waldgebiet heraussetzten. Wir durften uns nicht zu lange in offenem Gelände aufhalten; Die Chance, entdeckt zu werden, war einfach zu groß. Wenn wir erst einmal in Vertania waren, würde es einfacherer werden, sich zu verstecken. Ich kannte niemanden dort, höchstens ein paar Ladenbesitzer, und Erion erging es da nicht anders. Er sagte mir, dass die Stadt wie leer gefegt gewesen war, als er sie passierte. Kein Wunder. Menschen tendierten dazu, sich vor Gefahren zu verstecken. Und Hitze war eine ausgesprochene Gefahr, wie man an seinem Beispiel so schön erkennen konnte.
    Jedenfalls sah es mich auffordernd an.
    „Tut mir Leid, Kleiner. Ich hab heute nichts für dich dabei.“, gab ich zu. Ich fand es schade. Wir würden uns für eine lange, lange Zeit nicht sehen. Das Vogelpokemon war mir wirklich ans Herz gewachsen.
    „Geh schon.“, forderte ich es auf. Erion sah mich drängend an. Ich verstand schon. Aber ich konnte auch nichts daran ändern, dass Tsubasa einfach nicht von meiner Schulter weichen wollte. Ich bat und flehte. Es half alles nichts. Das Taubsi behauptete stur seinen Platz und stieß einen Protestschrei aus, als ich es packen und herunterheben wollte.
    Eine Schnabelattacke später saß es wieder da, wo auch vorher, und ich rieb mir fluchend meine Hand. Zumindest nur die linke. Rechts wäre schlimmer gewesen.
    „Angelique…“, raunte Erion mir zu. Ich sah ihn entschuldigend an.
    „Nimm es mit. Das ist es doch, was Tsubasa will.“ Er kam näher an mich heran und streichelte über den fedrigen Kopf. Tsubasa gurrte. „Stimmt doch, oder?“
    Es legte den Kopf schief. Das nahm ich als ja. Ja, aber…
    „Und wenn ihm was passiert?“, fragte ich mit einem besorgten Blick auf seine Flügel. Es war schon einmal verletzt gewesen. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn es wegen mir noch einmal Schmerzen leiden müsste.
    „Tsubasa ist genauso gefährdet wie du.“, grinste Erion frech. „Außerdem passe ich schon auf euch auf. Das schulde ich dir doch, nicht wahr?“
    Er fuhr mir über den Kopf und drückte ihn herunter, wandte sich um. Sah nicht mehr, dass ich rot wurde und meine Fäuste ballte. Wie ich mir selbst versuchte, Mut zu machen, und mein Herz zu beruhigen. Das bekam er alles nicht mit. Und ich war nicht scharf darauf, es ihm auf die Nase zu reiben.


    Die Sonne war heute nicht so stark wie am Vortag. Der Regen hatte ein angenehmes Klima gezaubert, nicht zu feucht, gerade so, dass das bisschen Wind, das kam, einen erfrischte, aber nicht auskühlte.
    Wir wanderten eine ganze Weile durch hohes, raschelndes Gras. Hier ließ sich das beobachten, was ich schon herausgefunden hatte. Sobald Tsubasa einen Laut vernahm, was weit öfter vorkam als bei uns, flog es von meiner Schulter auf den Boden und beschwor einen kleinen Sturm herauf, der den Staub vom Boden aufwirbelte. Erstickte Pokemonrufe waren zu hören, dann kehrte wieder Stille ein. Tsubasa bewahrte uns vor vielen Gefahren, die uns eine Menge Zeit gekostet hätte, und eventuell Verletzungen eingebracht, die wir gerade jetzt nicht brauchen konnten. Denn die hätten bedeutet, dass wir hätten rasten müssen, solange, bis wir wieder gesund waren.
    Ich belohnte Tsubasa mit ausgedehnten Streicheleinheiten, die es gurrend entgegennahm. Erion blieb dann stehen und sah uns an. Ich versuchte, seinem Blick auszuweichen, wenn das passierte. Ich wusste, dass auch diese kleinen Nebensächlichkeiten Zeit kosteten, die wir nicht hatten.
    Je näher wir Vertania kamen, desto entspannter schien Erion zu werden. Ich erwischte ihn seltener, wie er an den Striemen seines- eigentlich meines, aber ich plante nicht, ihn ihm wegzunehmen. Den konnte er schön selber tragen- Rucksacks friemelte und nervöse Blicke über seine Schulter warf. Wir schwiegen den Weg über; Ich wusste nichts zu sagen, was ihn beruhigen könnte.
    Als dann das Schild auftauchte, auf dem mit großen Lettern „Vertania City“ stand, da atmete er laut aus. Ich grinste vor mich hin. Wir waren immer noch nicht wirklich sicher.
    Aber das würden wir wohl eh nie sein.
    „Es wäre besser, wenn wir Azuria schnell passieren, meinst du nicht?“, fragte ich ihn während wir durch die Straßen schlenderten. Ich war schon öfter hier gewesen, aber die vielen Häuser und Geschäfte brachten jedes Mal ein vertrautes Gefühl mit sich. Sie erinnerten mich an Prismania. Es war lauter und voller hier als in Alabastia, und das reichte mir fürs erste.
    „Mein Vater hat mit Sicherheit das Auto genommen. Wir würden nicht vor ihm ankommen.“, erwiderte Erion.
    Autos waren ein Privileg, dass nur wenige bisher besaßen. Sie waren gerade neu entwickelt. In Alabastia brauchte man so etwas nicht, also hatten sich meine Eltern auch keines angeschafft. Wofür auch? Ich genoss den Fußmarsch genauso wie Papa auch, wenn er zur Arbeit oder ich Einkaufen ging. Ihn auf unserem Grundstück herumstehen zu lassen wäre dämlich. Die anderen wussten schon dank unseres großen Hauses, dass wir ziemlich flüssig waren. Da brauchte man so ein Statussymbol einfach nicht.
    „Dann ist es also egal, hm?“, riet ich. War mir recht. Ich wollte diese Reise so sehr genießen wie nur möglich.
    Erion nickte: „Ich glaube, dass er längst aufgegeben hat. Er wird zu Hause sitzen und sich die Hucke vollsaufen.“ Ich merkte den scharfen Unterton und wich etwas von seiner Seite. Es war ein Reflex. Ich glaubte nicht, dass er seine Wut auf den Vater an mir auslassen würde.
    „Sollen wir dann heute noch nach Mamoria, oder ist es besser hier zu übernachten?“, fragte ich ihn vorsichtig. Erion dachte eine Weile nach. Er hatte die Hände locker in seinen Hosentaschen verschwinden lassen und schlenderte nur langsam.
    „Ich glaube, wir sollten hier bleiben.“, sprach er sich schließlich aus. „Wir haben erst Mittag, wir wissen nicht, wie das Wetter noch wird.“
    Das stimmte. Noch mehr Hitze würde ihm schwer zusetzen. Und mir wohl auch. Ich war es einfach nicht gewohnt, und den anfälligen Körper hatte ich wohl von meiner Mutter geerbt. Ich wurde schneller krank als andere und Wunden heilten langsamer. So viele Dinge bereiteten mir Mühe. Das hatte sich zwar etwas gebessert, je älter ich wurde, aber trotzdem machte es mir Sorgen. Ich hatte Erion versprochen, keine Last zu sein.
    Wenn ich dieses Versprechen nicht halten könnte?
    „Außerdem können wir dann noch etwas Proviant kaufen, etwas essen… Und um eine Unterkunft müssen wir uns auch noch kümmern.“, riss er mich aus den Gedanken.
    Sich jetzt Sorgen zu machen würde mich nur ablenken.
    „Was hat Mama dir eingepackt?“, fragte ich ihn, als mein Blick auf den Rucksack fiel. Er folgte ihm und zuckte mit den Schultern.
    „Lass uns erst einmal einen Platz zum Schlafen finden, dann schauen wir nach. Danach können wir kaufen, was uns noch fehlt. Ja?“, schlug ich vor. Erion nickte und deutete auf ein größeres Haus. Ein Schild hing über dem Eingang.
    „Ein Hotel? Ist mir noch nie aufgefallen.“, stellte ich fest.
    „Kommt doch gerade richtig, oder?“, grinste Erion stattdessen.


    Wir leisteten schon etwas an Vorzahlung. Die Zimmer hier waren billig und nur mit dem Nötigsten eingerichtet, da wir aber eh nicht planten, länger zu bleiben, würde es ausreichen.
    Zwei Betten füllten den kleinen Raum fast komplett aus. Ein kleiner Fernseher stand auf dem Sideboard. Eine Tür führte zum Bad mit Dusche, Waschbecken und Toilette. Dafür hatten wir einen kleinen Balkon, der Richtung Alabastia zeigte und uns eine schöne Aussicht auf das dichte Blätterdach zeigte, das Vertania umgab.
    Pokemon waren im Hotel nicht erlaubt. Deswegen hatte ich Tsubasa gesagt, es solle warten und auf mein Signal hören. Ich zog die Balkontür auf und pfiff dreimal schnell hintereinander. Fast sofort landete das Taubsi auf dem Gelände und sah mich auffordernd an. Mangels Pokemonfutter gab ich ihm etwas von dem Brot, das Mama mir eingepackt hatte und ihm wohl zu reichen schien.
    „Also dann. Wir haben…“, begann Erion leise, während er den Rucksack ausräumte.
    „Ein Zelt.“ Eine kleine Rolle kam zum Vorschein. Darin waren wohl die Plane und ein paar Stangen. Erion sah mich an. Ich nickte, dann fuhr er fort.
    Auch bei ihm waren mehrere Boxen mit haltbarem Essen darin. Ebenfalls eine schwarze Börse, identisch mit der von mir. Wir zählten das Geld. Zusammen hatten wir knapp 25000 Dollar. Ein beträchtliches Sümmchen.
    Im Rucksack waren noch ein Feuerzeug und ein kleiner, faltbarer Topf und Ersatzwäsche, wie bei mir. Nur das Wasser fehlte ihm und eine Karte hatte er auch nicht.
    Unter dem Rucksack festgeschnallt waren zwei Schlafsäcke. Zwei.
    „Deine Mutter ist wirklich… Genial.“, murmelte Erion.
    „Sie hat von Anfang an darauf abgezielt.“, gab ich zurück. Ich zählte ihm meinen Rucksackinhalt auf.
    „Ergänzt sich perfekt.“, stellte er fest und begann zu lachen. „Ohne dich würde ich nicht weit kommen. Das Wasser könnte ich mir zwar kaufen, aber mir wäre es bestimmt nicht aufgefallen, bis ich im Wald gewesen wäre.“
    „Dasselbe gilt für mich.“, murmelte ich fast schon beschämt.
    So etwas verbindet, hatte sie gesagt. Und selbst ihre Hände mit im Spiel gehabt.
    „Was fehlt uns denn dann noch?“, überlegte Erion.
    „Vielleicht fällt uns etwas ein, wenn wir es sehen. Lass uns doch einfach mal schauen, was es so gibt.“


    Tsubasa landete wieder auf meiner Schulter, als wir das Hotel verließen. Es gurrte und stieß einen leisen Schrei aus. Die Frau an der Rezeption hatte uns den schnellsten Weg zur Einkaufsstraße genannt. Wir folgten ihren Anweisungen und fanden uns bald in einem Gewirr von Menschen wieder. Der Tag war schön, da konnte man es niemandem verübeln, das Wetter auszunutzen. Nachdem wir von einer Menschenmenge getrennt wurden und nur schwer wieder zusammenfanden, griff Erion mich beim Arm und murmelte mir zu: „Es wäre besser wenn wir nah beieinander bleiben. Wenn wir uns trotzdem verlieren, treffen wir uns beim Hotel wieder, okay?“
    Ich nickte, konnte mich aber erst dann wieder entspannen, als er meinen Arm losließ. Er blieb trotzdem so nah, dass ich ihn atmen hören konnte. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, bei dem Lärm, den die anderen gerade machten.
    Nach einer Weile waren wir aus dem Gröbsten raus. Es wurde nach und nach leerer und es war einfacherer, die Geschäfte zu inspizieren. Alles Mögliche wurde hier angeboten, aber nichts brauchten wir davon. Bücher waren ein zusätzlicher Ballast. Karten hatte ich in meinem Pager gespeichert. Und Haushaltskram brachte uns auch herzlich wenig. Also blieben unsere Rucksäcke mal abgesehen von dem Zeug, das schon drin war, leer.
    Bis uns ein Mann ansprach.
    „Seid ihr Trainer?“, fragte er uns. Eher mich, den Blick auf Tsubasa geheftet.
    Ich verneinte und machte schon Anstalten, weiterzugehen.
    „Es ist mittlerweile zu gefährlich, ohne Pokemon zu reisen. Überall Gefahren und Kriminelle. Es ist eine Schande.“, seufzte er. „Aber wie ich sehe hast du einen Gefährten, nicht wahr? Einen Beschützer.“
    Ich war mir nicht sicher, ob er jetzt Erion oder Tsubasa meinte.
    „Es ist einfacher für dich dein Pokemon in einem Pokeball aufzubewahren, meinst du nicht auch?“
    Ah, er meinte Tsubasa.
    „Es gehört mir nicht. Es reist nur mit uns.“, erklärte ich.
    „Dann reist ihr also wirklich. Nun, wie ich schon sagte. Wenn dieses Taubsi mit euch reist, dann wäre es einfacher für dich, es zu transportieren. Auch Pokemon werden irgendwann müde. Du willst es doch nicht die ganze Zeit über auf deiner Schulter tragen, oder?“
    Nein, das hatte ich eigentlich nicht vor. Tsubasa war größer als das Durchschnittstaubsi, und deswegen auch um einiges schwerer, obwohl es recht dürr war. Ich merkte sein Gewicht jetzt schon. Wie sollte es dann erst auf der Reise werden?
    „Was meinst du?“ Ich schaute zu Erion herüber, der Tsubasa aufmerksam musterte und seinen Kopf streichelte.
    „Es hat uns bisher gut beschützt. Aber wenn das so weitergeht, dann werden wir wohl mehr als nur Tsubasa brauchen.“, murmelte er vor sich hin.
    „Dann meinst du also, wir sollten uns mehr Pokemon zulegen.“, vervollständigte ich seine Gedanken. Wir tauschten einige Blicke aus, dann nickte er.
    „Das würde uns die Reise erleichtern. Da bin ich mir sicher.“


    Der Mann führte uns durch mehrere Gassen. Nach einer Weile schlich sich bei mir ein gewisses Gefühl der Unruhe ein. War es wirklich schlau gewesen, diesem Kerl zu folgen? Ich beschleunigte ein wenig, um Erion nicht aus den Augen zu verlieren. Mein Magen rebellierte und hörte erst dann wieder damit auf, als wir aus der letzten Gasse herausbogen, in eine kleine, leere Seitenstraße. Die Häuser wirkten verlassen, aber ordentlich, und die Ruhe um uns herum machte es einfacherer, mich ein wenig abzuregen. Ich hatte schließlich Erion bei mir und Tsubasa auch. Es würde schon nichts passieren.
    Unser Führer bewegte sich zielorientiert fort. Er wusste genau, wohin er ging. Sein Ziel war ein kleiner Laden mit einer roten Balustrade zu.
    Er schob den Stoff beiseite und wank uns herein.
    „Geht einfach durch. Ich findet den Meister dort.“, sagte er leiser als notwendig.
    Erion folgte seinen Anweisungen sofort, und ich zögerte auch nicht lange.
    Im Inneren war es dunkel und stickig. Es roch nach verbranntem Holz, und Kräutern. Ich sog den Duft in mir auf.
    Nachdem ich eingetreten war, kam auch der Mann herein und verschwand sogleich hinter einer Theke. Die Tür war von schwerem Stoff verhangen, und als er beiseitegeschoben wurde, hörte ich das Geräusch von klingendem Metall.
    Wir warteten eine Weile, dann öffnete sich der Vorhang erneut und der Mann von der Straße trat mit einer kleineren Person heraus. Er war deutlich älter, vielleicht im Alter meiner Großeltern, mit weiß-grauem Haar, das ihm an der Stirn klebte. Er grunzte dem Mann etwas zu, der verließ uns wieder.
    „Also dann. Pokebälle sollen es also sein, hm?“, grummelte der Ältere mürrisch.
    Erion überließ mir das Reden, indem er mich am Arm berührte. Ich sah ihn bettelnd an. Er zeigte kein Erbarmen. Menno.
    „Ja, äh… Genau, Pokebälle.“, stotterte ich. Wenn mir der Kerl von der Straße schon unheimlich war, übertraf dieser Typ doch alles andere. Er hatte einen so giftigen Blick, dass ich mich kaum traute, ihm in die Augen zu sehen.
    „Dann mal her mit den Apricocos.“ Der Alte streckte die knochige Hand aus.
    „Apricocos? Wofür brauchen wir Apricocos?“, fragte Erion bevor ich es tun konnte. Der Mann sah zwischen mir und meinem Begleiter hin und her, dann auf seine leere Hand, dann auf Tsubasa, und begann zu grummeln: „Verdammter Faulpelz.“
    Er seufzte, nahm die rußschwarze Schürze, die um seine Hüften gebunden waren ab, und wischte sich damit die Asche von der Haut ab.
    „Er hat euch nichts davon gesagt, oder?“, grummelte er. Wir schüttelten verwirrt die Köpfe. Ich wusste, dass Pokebälle mit Apricocos hergestellt wurden, sozusagen als Basis, aber ich wusste nicht, dass wir sie selber stellen mussten. Davon hatte uns niemand etwas gesagt.
    „Ihr seid sicher Reisende, nicht wahr? Nun, ich muss mich für meinen Assistenten entschuldigen, er tendiert dazu, Fehler zu machen.“ Er wandte sich um und murmelte noch „Viele, verdammt noch mal viele Fehler“, dann schlug er die Klappe zurück, die den Tresen abtrennte.
    „Er meinte, wir könnten Pokebälle gebrauchen.“, erklärte ich, als er vor mir stand. „Es tut mir Leid, sie belästigt zu haben. Könnten sie uns nur bitte erklären, wo wir die Früchte finden? Wenn wir sie haben, dann kommen wir zurück.“
    „Nicht doch. Es ist doch im Endeffekt mein Fehler, diesen Nichtsnutz eingestellt zu haben.“, seufzte der Alte. „Mein Name ist Takamura. Ich bin der einzige Pokeballschmied dieser Stadt. Außerdem bin ich einer der Großmeister in Sachen Schmiedekunst. Wenn ihr etwas geschmiedet haben wollt, dann könnt ihr euch darauf verlassen, dass ich das hinkriege.“
    „Mein Name ist Erion, und das ist Angelique.“, erklärte der Grünhaarige neben mir.
    „Und ihr wollt also reisen?“, fragte Takamura interessiert.
    „Ich möchte die Pokemon erforschen.“, bestätigte Erion.
    „Ich wollte ihn begleiten. Und ihm helfen.“, fügte ich hinzu. „Und natürlich die Welt sehen.“
    „Verstehe. Und dafür braucht ihr Pokemon, die euch begleiten.“
    „Ich denke, dass wir sie besser erforschen können, wenn sie mit uns kommen. Wir werden nicht alle fangen können, aber je mehr, desto besser.“, erklärte Erion weiter.
    „Wir können viel von Pokemon lernen, indem wir uns mit ihnen anfreunden.“, sinnierte Takamura.
    Er schwelgte lange Zeit in Gedanken. Erion und ich wechselten leicht verwirrte Blicke, je länger der Schmied still blieb. Als er sich dann wieder an uns wandte, lächelte er verschmitzt.
    „Wenn dem so ist, dann bin ich froh, euch helfen zu können.“ Er rieb sich die Hände, verschwand kurz hinter der Theke und beugte sich herunter. Als er zurückkam, hatte er eine Tüte mit runden Ausstülpungen darin in seinen Armen und stellte sich so gerade, wie ein Schmied mit seiner Erfahr und nun mal konnte, vor uns hin.
    „Nehmt sie. Eure Forschungen werden helfen, das Verständnis zwischen Mensch und Pokemon zu verstärken. Wenn ich dazu beitragen kann, umso besser.“, sagte er uns und hielt mit dir Tüte hin. Ich blickte hinein. Drei leicht grünliche, zwei feuerrote und fünf weiße Bälle befanden sich darin.
    „So viele? Ich dachte, wir müssten ihnen erst Apricocos besorgen.“
    Er lächelte breit: „Mach dir darum mal keine Sorgen, mein Kind. Der, der sie beordert hat, hätte sie schon vor drei Tagen abholen sollen. Ich glaube nicht dass der noch kommt. Und wenn doch, schmiede ich ihm eben neue. So ist das im Leben. Manchmal muss man Ausnahmen machen.“
    Ich konnte unser Glück kaum glauben. Takamura lehnte sogar die Bezahlung dafür ab und schickte uns weg, bevor wir ihm richtig danken konnten. Wir sollten die Bälle nur teilen und unser Bestes geben, das wäre ihm genug. Ich warf ihm mein strahlendstes Lächeln zu und verließ mit Erion den Laden. Vorher gab er uns allerdings noch einen Tipp, den ich mit Sicherheit beherzigen würde.


    Wir fanden erst spät am Abend zurück zum Hotel. Takamuras Assistent hatte uns weit von der Hauptstraße weggeführt und wir verzweifelten daran, den exakten Weg zurückzulaufen. Irgendwann liefen wir nur noch aufs Geratewohl. Ich wollte gerade die Tür zum Hotel öffnen, da packte mich Erion an der Schulter und hielt mich zurück.
    „Pokemon verboten, schon vergessen?“ Er deutete auf Tsubasa und dann auf das Schild.
    Stimmt ja.
    „Lass uns das mit den Pokebällen direkt mal ausprobieren.“, schlug er vor. Ja, warum eigentlich nicht? Wir hatten sie ja eh zu diesem Zweck gekauft. Ich griff in die Tüte und holte blindlings einen heraus. Es war einer der leicht grünen.
    Takamura hatte gesagt, dass wir einfach auf den Knopf in der Mitte drücken und das Pokemon dann mit der geöffneten Kapsel berühren mussten.
    „Bereit, mein Kleiner?“, fragte ich das Pokemon, das neugierig mit dem Schnabel auf den Ball klopfte und mich dann aus großen, schwarzen Augen ansah. Er gurrte noch einmal, was ich als Ja nahm.
    „Also dann…“ Ich fuhr über die glatte Kapsel und fand die Ausstülpung des Knopfes, drückte darauf und ließ ihn beinahe fallen. Erion griff schon danach, ich schaffte es aber gerade noch so, ihn in meiner Hand zu halten. Er sah mich vorwurfsvoll an und ich lächelte entschuldigend.
    Der Ball in meiner Hand war nicht sonderlich schwer und klein sowieso. Wie sollte ein Pokemon da hinein passen? Was war, wenn das Tsubasa verletzte? Ich zögerte eine ganze Weile. Bis mir das Taubsi die Entscheidung von selbst abnahm. Es drückte seinen Kopf gegen den Ball und glühte plötzlich rot. Erst nur der Kopf, dann der Körper, bis schließlich auch die Federn in seinen Flügeln leuchteten. Erion schnappte nach Atem. Ich hätte es auch getan, wenn ich denn überhaupt hätte atmen können.
    Und auf einmal, ganz plötzlich, war da nur noch eine kleine, rote Kugel, die in den Ball gesaugt wurde. Der schloss sich und begann zu piepen.
    Und piepte.
    Und piepte.
    Und klackte.
    War still.
    Wir schwiegen eine Weile. Ich sah Erion unsicher an: „Wars das?“
    „Keine Ahnung. Wirklich, keine Ahnung.“, gab der mit einem Blick auf den Ball zurück. „Schätz schon.“
    Ich sah den Ball eine Weile wie etwas Giftiges an, dann fiel mir ein, dass ich mir gerade eben noch Sorgen gemacht hatte, wie es Tsubasa ging. Ich drückte hastig auf den Knopf, der rote Strahl schoss in die Luft und bildete wieder diese kleine Kugel.
    Dann die Flügel, danach der Körper und zuletzt den Kopf. Das Rot wurde heruntergesprengt, und Tsubasa schlug mit den Flügeln. Es ging ihm gut. Alles war okay.
    Und plötzlich schämte ich mich dafür, dass ich Takamura nicht vertraut hatte.
    „Wollen wir dann?“ Erion schien ebenfalls erleichtert zu sein. Ich nickte, rief das Taubsi wieder zurück und betrat das Hotel.


    Der Abend kam schnell, und von der ganzen Aufregung war ich fürchterlich müde. Meine Lust zu Duschen beschränkte sich, ich wollte einfach nur noch schlafen. Erion schien es ähnlich zu gehen. Nachdem wir im Hotelrestaurent etwas gegessen hatte, machte sich jetzt eben die Müdigkeit breit.
    Ich schaffte es nicht einmal mehr, mich umzuziehen. Sobald ich mich auf dem Bett niederließ, begann ich zu gähnen und meine Augen fielen immer wieder zu.
    Mein Reisegefährte saß auf seinem Bett und sah durch das Balkonfenster. Irgendwann stand er auf und zog die Vorhänge zu.
    „Sehr müde?“, fragte er grinsend.
    „Du doch auch.“, gähnte ich grummelig.
    Er lachte nur und legte mir meine Decke über den Körper.
    „Dann schlaf gut, Ange.“, flüsterte er mir zu, beugte sich über mich. Es war das erste Mal, dass er mich Ange nannte. Ich war zu müde um das zu realisieren, und auch, dass er mir kurz seine Lippen auf die Stirn drückte, bemerkte ich kaum noch. Ich gähnte nur und schloss die Augen. Darüber könnte ich auch später noch nachdenken.
    Wenn ich mich denn daran erinnern würde.

  • Vierte Studie: Endgültig


    Als ich widerwillig meine Augen öffnete, schimmerte fahles Licht durch die Vorhänge. Die digitale Uhr auf meinem Beistelltisch zeigte kurz vor acht an. Erions Bett war leer, dafür rauschte im Bad Wasser. Vermutlich duschte er sich gerade.
    Ich hievte mich auf und starrte stumpf auf meine Bettdecke. Die war so verworren, dass ich erst einmal zwei Minuten brauchte, um mich zu entknoten. Danach faltete ich sie im Sitzen, was schwerer war als ich annahm und legte sie über das Bettende. Meine Beine leuchteten mit roten Striemen, dort wo ich auf den Falten und Nähten der Decke gelegen hatte. Ich rieb darüber und fuhr die Einkerbungen nach.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ins Bad konnte ich schließlich nicht, und alleine Essen wollte ich auch nicht gehen. Ich strich mir meine Kleidung glatt, eine einfache, schwarze Hose und ein weißes Top, das schon arg zerknittert war. Damit könnte ich nicht lange herum laufen, so viel stand fest. Ich würde heute wohl noch ein Reiseoutfit kaufen müssen.
    Ich entdeckte Tsubasas Pokeball neben dem klotzartigen Fernseher und beschloss, ihm etwas Freiraum zu lassen. Wann hatte ich ihn da abgelegt? Ich schob die Tür umständlich auf und drückte auf den Knopf. Tsubasa bedankte sich gurrend für die Freiheit und drehte dann ein paar Runden.
    Ich war also hier angekommen und hatte den Pokeball auf den Schrank gelegt.
    Die Balkontür ließ ich auf, damit die stickige Luft entweichen konnte. Es war warm hier drin.
    Ich war gestern todmüde ins Bett gefallen. Danach hatte sich Erion noch über mich lustig gemacht. Und irgendetwas getan.
    Ich schaltete den Fernseher ein und ließ mich aufs Bett nieder.
    Er hatte mir gute Nacht gewünscht. Aber irgendetwas anderes war da noch.
    Meine Hand fuhr sich wie von selbst über die Stirn. Ich überlegte.
    Er hatte mich Ange genannt. Ja, genau, das wars. Glaubte ich jedenfalls. Irgendwie kam mir das gar nicht so wichtig vor, wie ich dachte. Fehlte etwas?
    „28. Juli, 8 Uhr. Herzlich willkommen zur Tagesschau am Morgen.“, tönte es aus dem Fernsehgerät. Ich lauschte nur halbherzig.
    Wieder ein Bericht über den Mord in Saffronia.
    Eine Dokumentation über einen Trainer, der auf seiner Reise die neu erkorenen Arenaleiter besiegt.
    „Zusätzlich zu der Ehre, die er sich verdient-“, raunte die Frau mit Pagenschnitt monoton in die Kamera. „-erhält der Gewinner auch noch ein Preisgeld, um seine Reise fortführen zu können. Der oberste Gerichtshof prüft gerade, ob es legitim ist, dies auch in inoffiziellen Kämpfen einzuführen.“
    Das Geld also, hm? Ich seufzte. Wie viele Trainer machten das wohl nur wegen des Geldes, und nicht weil sie tatsächlich etwas mit den Pokemon zu tun haben wollten?
    Im Endeffekt nahm man ihnen die Freiheit und machte sie zu Sklaven. Ich schauderte und sah auf den Balkon hinaus.
    Machte mich das zu einer Sklaventreiberin?
    Nein, nein, das würde nicht passieren. Jeder Trainer hatte es selbst in der Hand, ob er sein Pokemon mit Respekt und Anstand behandelte, oder nicht.
    Ich würde Tsubasa nicht zu einer Kampfmaschine machen. Ich wollte nur reisen, mehr nicht. So wenig kämpfen wie möglich.
    Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass es nicht völlig ohne Kämpfe ging. Ab und an ließ es sich nicht vermeiden. Besonders, wenn uns irgendwann das Geld ausging. Dann mussten wir uns etwas einfallen lassen. Und Kämpfen war da die einfachste Methode.
    Gerade, als der Wetterbericht anfing, öffnete sich die Tür zum Bad.
    „Na, auch schon wach?“, grinste Erion mich an. Er trug die Kleidung, die für meinen Bruder bestimmt gewesen waren, eine dunkelblaue Hose, ein einfaches, beiges Shirt, darüber eine braune Weste. Die Ärmel des Shirts waren ihm zu lang, hingen viel zu locker über seinen Armen.
    „ Gerade erst. Warum hast du mich nicht wach gemacht?“, fragte ich ihn. „Es ist schon spät. Wir sollten vor Mittag im Vertania Wald sein.“
    Ich deutete auf den Fernseher, wo gerade ein eingefärbtes Diagramm von Kanto gezeigt wurde. Über Vertania und Umgebung schwebte eine große, stilisierte Sonne und die Letter 34 Grad. Im Wald würde und das Blätterdach schützen, aber ansonsten waren wir schutzlos ausgeliefert.
    „Hui, mach mal langsam, Angelique.“, meinte Erion seufzend. „Wir sind zwar auf der Flucht, aber ein bisschen Zeit lassen können wir uns doch trotzdem, oder nicht?“
    Ich wank ihn zu mir und kramte in der Seitentasche seines Rucksacks. Schnell wurde ich fündig. Irgendwann hatte ich dort mal ein paar Schnüre hineingesteckt, man wusste ja nie, wofür man sich brauchte.
    „Halt mal still. Die müssen doch nerven, oder?“
    Ich krempelte ihm die Ärmel hoch und wickelte je ein Band darum. Ein kleiner Knoten hielt es zusammen und gab ihm mehr Bewegungsfreiheit.
    „Besser. Danke.“, kommentierte er und ließ die Arme kreisen. Wassertröpfchen flogen auf mich zu und machten mich nass. Ich schaute ihn böse an, was ihn zum Lachen brachte.
    „Warum nennst du mich immer Angelique?“, fragte ich ihn irgendwann, nachdem er sich dem Fernseher zugewandt hatte.
    „Weil du so heißt.“, gab er selbstverständlich zurück. Naja. Das war eine Logik, die man nicht bestreiten konnte.
    „Gestern hast du mich noch Ange genannt.“, meinte ich beiläufig.
    „Das hast du noch mitbekommen?“
    „Natürlich!“, erwiderte ich augenverdrehend. „Hab ja schließlich noch nicht geschlafen.“
    „Nicht? Sah aber ganz danach aus…“, murmelte er, drehte sich aber nicht mehr um.
    Wir schwiegen eine Weile, bis Tsubasa zurückkam. Ich gab ihm etwas von Mamas Brot und verschwand dann selbst im Bad. Meine Haare waren wieder verknotet und so dauerte es ziemlich lange, bis ich mit meiner Katzenwäsche fertig war. Ich kippte mir noch etwas Wasser ins Gesicht und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Schon besser.
    Ich öffnete die Tür und sah Erion über Tsubasas Gefieder streicheln. Ich lächelte in mich hinein.
    „Wollen wir? Ich hab nen Mordshunger.“, weckte ich ihn aus seiner Streicheltrance. Er nickte, trug das Taubsi noch auf den Balkon, wo sich dieses wieder verabschiedete und schloss dann die Tür. Ich griff das Portemonnaie, das auf dem Sideboard lag und schaltete dann den Fernseher aus. Die letzten Worte der Moderatorin mit leuchtend roter Lockenmähne waren „Auf Wiedersehen“.
    Ja, genau, auf Wiedersehen.
    Deswegen wollte ich auch so schnell weg von hier. Ich hatte Angst, dass Papa uns finden würde. Sobald wir Mamoria passiert hatten, würde es einfacher für mich, aber schwerer für Erion werden. Denn darauf folgte Azuria.
    Und dort lauerte mich Sicherheit schon sein Vater.


    Im Restaurant erwartete uns schon der Duft von warmem Gebäck. Wir bezahlten an der Rezeption für das Buffet und suchten uns einen Platz, abgeschieden von den anderen aus. Hinter einem hölzernen Paravent standen ein kleiner, runder Tisch und zwei Stühle, direkt vor einem Fenster, sodass wir das Geschehen vor der Straße beobachten konnten.
    „ Geh du schon mal, ich passe hier auf.“, murmelte Erion mir mit einem Blick über die Schulter zu. Ich folgte seinem Blick, konnte aber nichts sehen, was in irgendeiner Weise gefährlich wäre. Trotzdem stellte ich es nicht in Frage. Umso schnell konnte ich etwas essen.
    Ich stellte mich an die kleine Schlange an, die sich aufgereiht hatte, schnappte mir einen Teller.
    Ein Croissant? Oh, ja, hatte ich schon länger nicht mehr gegessen. Was drauf… Kirschmarmelade, hört sich doch gut an. Kleine Pfannkuchen? Immer her damit!


    So kam es, dass mein Teller hoffnungslos überfüllt war, als ich zum Tisch kam. Erion grinste, stand aber ohne Kommentar auf und ließ mich alleine dastehen.
    Er kam wieder, als die Pfannkuchen verputzt waren. Sein Teller war nicht weniger voll.
    „Guten Appetit.“, grinste er mir zu.
    „Gleichfalls.“, erwiderte ich zwischen zwei Bissen.
    Wir aßen nahezu schweigend. Erst als nur noch wenig auf unseren Tellern war, wurden wir wieder gesprächiger.
    „Also dann. Wir werden es wohl nicht an einem Tag durch den Vertania Wald schaffen.“, begann er schließlich.
    „Wir haben ein Zelt, also dürfte das kein Problem sein.“, erwiderte ich mit meinem Croissant in der Hand. „Da wird uns keiner finden. Und ich habe gehört, dass da auch viele Pokemon sind. Du könntest mit deiner Forschung anfangen.“
    Er dachte eine Weile nach: „Dann brauche ich noch eine Waage und ein Maßband.“
    „Ich brauche neue Klamotten. Die hier sind für Reisen nicht konzipiert.“, ergänzte ich.
    Gut, ich war keine Last. Erion musste auch noch etwas aus der Stadt haben.


    Zwei Stunden später hatten wir aus dem Hotel ausgecheckt, ich hatte Tsubasa zurückgerufen, die Einkäufe waren ebenso erledigt und verstaut, und wir verließen gerade Vertania durch den Nordeingang der Stadt. Vor uns lag eine gerade Route, umsäumt mit Bäumen, die immer dichter wurden, je näher wir dem Wald kamen. Das Schweigen wurde mir langsam unangenehm, also begann ich mit einfachem Smalltalk.
    „Wie hast du geschlafen?“, begann ich. Wir gingen Seite an Seite, sodass ich ihn nur aus dem Augenwinkel anschaute.
    „Nicht schlecht.“, antwortete er. „Aber auch nicht gut. Dein Bett war bequemer.“ Er grinste, und ehe ich wirklich darüber nachdachte, grinste ich zurück: „Was war bequemer? Mein Bett oder ich?“
    Ich wollte mich selbst dafür schlagen, so etwas Dummes zu sagen, als ich seinen Gesichtsausdruck sah. Leicht peinlich berührt, ein wenig ärgerlich, und vermutlich auch nicht davon angetan, dieses Thema gerade jetzt zu Wort zu bringen.
    „Tut mir Leid.“, erklärte ich schnell und leise. „Das war dumm. Vergiss es einfach.“
    „Mir sollte es leidtun. Ich hab dich schließlich in den ganzen Dreck mit hinein gezogen.“, erwiderte er langsam, den Blick auf den Boden geheftet. Dann weiteten sich seine Augen plötzlich, er griff mich an den Schultern und fragte aufgeregt, beinahe ein wenig panisch: „Er hat euch doch nichts getan? Bitte sag, dass er niemanden verletzt hat!“
    Ich blinzelte entgeistert. Jetzt wo er darauf ansprach, wurde mir erst bewusst, in welcher Gefahr wir gewesen waren. Ich war glücklich darüber, wahrheitsgemäß mit ‚nein‘ antworten zu können. Erion war erleichtert.
    „Gottseidank…“, seufzte er und sah mich lange an, von oben bis unten, als ob er erwartete, einen offenen Bruch der schlimmsten Sorte vorzufinden.
    „Erion, es ist alles okay, ja? Mama hat ihn hochkant herausgeschmissen. Wir durften uns einiges an Beleidigungen anhören, mehr aber auch nicht.“, erklärte ich grinsend. „Als ob ich zugelassen hätte, dass er meiner Mutter etwas antut! Dem hätte ich schon Manieren beigebracht!“, versicherte ich frech und mit einer stupiden Tapferkeit, die ich eigentlich gar nicht besaß.
    „Ja sicher.“, lachte er und drehte sich wieder zum Gehen um. Wir gingen ein paar Schritte, dann drehte er seinen Kopf noch einmal zu mir um und meinte:
    „Und was das mit dem Schlafen angeht… So dünn wie du bist, war es ganz schön unbequem.“
    Ich verdrehte die Augen. Dann hätte er sich eben nicht an mich kuscheln sollen. Fertig!
    „ Dafür warst du aber wärmer.“, waren die letzten Worte, die er bis zum Vertania Wald ausspuckte.


    Die nächsten waren: „In Ordnung, hier sind wir also.“, als wir vor dem Tor zum Wald standen. Wir rüttelten daran, aber es war abgeschlossen und zu hoch, um es zu überklettern.
    „Was jetzt?“ Ich stemmte die Hände in die Hüften und legte den Kopf schief. Der Zaun führte rechts und links um den Wald herum. Vielleicht, um die Pokemon davon abzuhalten, nach Vertania zu kommen. Ich glaubte aber nicht, dass sie das tun würden. Warum in die große Stadt, wo es schwer war, an Essen zu kommen, wenn man doch in Ruhe leben konnte.
    „Was ist das?“ Bevor ich ihn fragen konnte, was er meinte, war Erion schon im Gebüsch verschwunden. Ich folgte ihm ins Dickicht und kurz darauf fand ich mich auf einer kleinen Lichtung wieder. Darauf stand ein kleines Häuschen, gebaut aus dicken Holzstämmen, mit einem leuchtend roten Dach darauf.
    Ein Haus? Hier?
    Dunkler Qualm quoll aus dem Schornstein hervor. Es war wohl bewohnt.
    „Meinst du, die haben den Schlüssel?“, fragte ich Erion, der sich noch auf der Lichtung umsah. Er sah über seine Schulter zu mir zurück und zuckte gleichzeitig mit den Achseln: „Gibt wohl nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.“
    Bevor ich irgendetwas Sinnvolles erwidern konnte, bewegte er sich schon zur Türe und klopfte. Eine Weile tat sich nichts, dann ratterte es und das Holzportal öffnete sich knarzten. Erion stellte uns bereits vor, als ich mich neben ihn stellte und den Schrank von einem Kerl, der den Rahmen der Tür schon fast komplett ausfüllte, von oben bis unten betrachtete. Die Hälfte seines Gesichtes war von einem weißen Bart bedeckt, buschige Augenbrauen versteckten die Augen, sodass ich mir nicht einmal sicher sein konnte, ob er überhaupt welche hatte. Aber seine Stimme klang freundlich, und er stieß ein tiefes, kehliges Lachen aus, als Erion ihm erzählte, dass das Tor abgeschlossen war.
    „Ja, genau. Ich habe den Schlüssel. Ich bin der Forster des Vertania Waldes, deswegen lebe ich auch hier.“, erklärte er. „Nennt mich Joseph.“
    „Könnten sie uns denn dann aufschließen?“, fragte ich ihn so freundlich wie möglich.
    „Kommt darauf an.“, brummte er. „Was wollt ihr denn dort?“
    Erion und ich sahen uns kurz an. Diesmal war er an der Reihe, was ich ihm mit einem kurzen, gar nicht festen Schlag klar machte. Das schien der nicht so zu sehen. Er stieß einen kurzen Klagelaut aus und sah mich dann böse an, während er sich den Arm rieb.
    „Wir wollen eigentlich nur nach Mamoria. Vermutlich bleiben wir aber noch etwas, weil ein Ziel unserer Reise die Erforschung der Pokemon ist.“, erklärte er etwas ärgerlich. Ich lächelte Joseph zuckersüß an. Irgendeiner musste ja schließlich Pluspunkte sammeln.
    „Forschung?“ Joseph wirkte erstaunt. Er überlegte eine Weile, eine ganze Weile, dann brummte er etwas vor sich hin und begann zu lachen. „Kommt nur herein. Ich kann euch nicht alleine gehen lassen, das wäre zu gefährlich. Der Wald ist ein wahres Labyrinth, wenn man sich nicht auskennt.“
    „Begleiten sie uns?“, fragte ich, strich meine Schuhe an der Fußmatte am Eingang ab. Das wäre sicherlich vom Vorteil für uns.
    „Ich? Nein, dafür bin ich zu alt. Euer Begleiter dürfte in ein paar Minuten zurück sein.“ Er sank auf einen alten Stuhl, der bedrohlich knarzte. „Hab ihn in den Wald geschickt, er sollte ein paar Beeren sammeln.“
    Joseph deutete auf zwei Stühle gegenüber von ihm. Wir setzten uns erleichtert hin. Der Fußmarsch war anstrengender, als ich gedacht hatte, vor allem, weil ich es nicht gewohnt war. Das würde hoffentlich mit der Zeit einfacher werden. Ich merkte, dass Erion mich mit einer Mischung aus Neugierde und Besorgnis an. Ich lächelte zurück.
    Keine Last. Das hatte ich ihm versprochen.
    Da fiel mir ein…
    „Wie hast du es eigentlich so schnell durch den Wald geschafft? Ich meine, an einem Tag von Azuria nach Alabastia…“, fragte ich Erion.
    „Vielleicht hatte ich Glück.“, entgegnete der schulterzuckend.
    „An einem Tag?“, fragte Joseph ungläubig und schüttelte gleich darauf den Kopf. „Nein, mein Junge, das ist vollkommen unmöglich. Niemand, nicht einmal wir, die wir den kürzesten Weg durch den Wald kennen, können ihn an einem Tag durchqueren.“
    Er überlegte kurz, legte den Kopf schief und starrte auf die Tischplatte.
    „Vielleicht hast du auch einfach nicht bemerkt, dass es Nacht und wieder Tag geworden ist. So was kommt oft vor.“
    Erion sah nicht überzeugt aus.
    „Das hätte ich doch gemerkt, immerhin… Ich meine, es wäre doch hell geworden, oder nicht?“
    „Du hast ihn bei Nacht betreten, oder? Dann habe ich vermutlich Recht. Der Wald ist so dicht, dass die Sonne nicht durch die Blätter hindurch kommt. Du bist wohl viel länger durch die Gegend geirrt, als du gedacht hast.“, lachte Joseph. Ich wusste nicht, was daran so lustig war. Schließlich wäre Erion ziemlich hinüber gewesen, wenn ich ihn nicht durch Zufall gefunden hätte. Klar, auf eine fiese, makabre Art kann man sich darüber amüsieren, aber der alte Forster schien mir dafür einfach nicht der Typ zu sein.
    Erion schien jedenfalls der gleichen Meinung zu sein. Er konnte auch nicht darüber lachen.


    Es dauert nicht lange, da klopfte es Sturm an der Tür. Joseph ließ sich trotz der offensichtlichen Dringlichkeit ordentlich Zeit, schlenderte gemütlich in den Flur und summte vor sich hin.
    Wir konnten die Tür nicht sehen, als aber ein Klicken ertönte, konnte man ein immer lauter werdendes Summen hören, wild und aggressiv, und einen panischen Schrei. Die Tür wurde wohl wieder zugeknallt, und der, der eingetreten war, atmete hektisch.
    „Wieder die Bibor geärgert?“ Joseph klang nicht wirklich besorgt. Eher amüsiert. Gab es überhaupt irgendetwas was diesen Kerl aus der Ruhe brachte? Jedes Kind wusste, dass man sich besser nicht mit diesen Viechern anlegt! Mal ganz davon abgesehen, dass ihre Stachel Attacken höllisch wehtaten, waren sie auch noch flink und unheimlich aggressiv. Je nachdem, wie anfällig man gegen das Gift der riesen Hornissen war, konnte einen dieses auch gut und gerne mal für ein paar Stunden außer Gefecht setzen. Mal ganz von den Leuten abgesehen, die eine Allergie dagegen haben…
    „Hab ich nit!“, maulte eine Kinderstimme ziemlich genervt. Ich hörte ein dumpfes Poltern, dann das Rascheln von Kleidung.
    „Zeig mal die Proben her.“, forderte Joseph ihn auf, ohne seinen belustigten Tonfall abzulegen.
    Wieder ein Rascheln.
    „Gut so, Gramps? Dacht‘ ich dring ein bissken weiter in den Wald vor“, sagte er Junge jetzt etwas gelassener. Sein Akzent war merkwürdig, erinnerte mich ein wenig an den, den sie in Johto gehabt hatten. Meine Eltern, Ces und ich sind irgendwann mal dorthin gefahren, um Urlaub zu machen. Damals dachten die Ärzte noch, dass eine kleine Auszeit Mamas Gesundheit wieder herstellen würde.
    Es kam wie es kommen musste, der ganze Aufwand war umsonst. Aber eben nicht kostenlos und deswegen machten wir so viel wie möglich aus diesem Urlaub und sahen uns alles Mögliche an.
    Joseph grummelte irgendetwas, was ich nicht verstehen konnte. Ich warf Erion einen Blick zu, der versuchte, sich soweit auf seinem Stuhl zurückzulehnen, dass er sehen konnte, was vor sich ging. Es gelang ihm nicht, da nahm er seine normale Position wieder ein und zuckte mit den Schultern.
    „Hab‘ nen Mordshunger. Wann gibt’sen was zu futtern, Gramps?“, fragte der Junge jetzt. Seine Stimme kam näher, und schließlich bog ein Kind, das mir vielleicht gerade mal bis zur Brust ging, um die Ecke, mit vielen kleinen Wunden an den braun gebrannten Beinen und Armen, einer Narbe auf der Wange und wachen, blassorangenen Augen. Er bemerkte zuerst Erion, der jetzt im Stuhl hing und dem intensiven Blickkontakt standhielt, dann mich, wobei er scheinbar nicht vorhatte, mich irgendwann wieder aus den Augen zu lassen. Er schien neugierig, da war aber auch noch etwas anderes, was ich nicht deuten konnte. Er starrte mich auch noch an, als Joseph neben ihn trat und uns schmunzelnd vorstellte.
    „Erion und… Angelique…“, wiederholte er leise und langsam, als würde er diese Information noch verarbeiten müssen. Ich nickte und lächelte.
    „Du wirst sie durch den Wald begleiten.“, ordnete Joseph an und sank wieder auf seinen Stuhl. „Essen ist im Kühlschrank.“
    Der Junge mit dem dreckigen, weißen Tanktop und den Jeansshorts griff nach dem Strohhut, den er auf dem Kopf trug und legte ihn auf den Platz neben meinem, dann sah er mich noch einmal intensiv aus dem Augenwinkel an, und verschwand daraufhin dann hinter der Küchentheke in einen Bereich, den ich nicht einsehen konnte.
    Ich griff nach dem Hut, der leicht zerfledert war. Einige Halme waren ausgerissen oder standen spitz ab, aber im Gesamtbild war er noch gut erhalten. Das Stroh roch nach Wald und Natur.
    Als der Junge zurückkam, brachte er Sandwichs mit sich, viel mehr, als er jemals hätte essen können.
    „Auch eins?“, fragte er mich und hielt es mir unter die Nase.
    Das war in der Tat ungewöhnlich.
    Ich hatte nichts gegen Kinder. Um ehrlich zu sein freute ich mich jedes Mal, wenn meine Nachbarn mich darum baten, kurz auf ihren geheiligten Nachwuchs aufzupassen, und auch wenn einige Rabauken unter ihnen waren…
    Ich fühlte mich einfach wohl, wenn sie dann endlich schliefen oder mit einem engelsgleichen Lächeln fragten, ob ich mit ihnen spielen würde.
    Klar, sie konnten auch biestig werden, und so war ich froh, wenn ihre Erzeuger sie auch wieder abholten.
    Jedenfalls fand ich seine Reaktion aus dem Grund ungewöhnlich, dass Jungen in seinem Alter eher dazu tendierten mich anzuspringen, an den Haaren zu ziehen oder den kläglichen Versuch wagten, sich über mich lustig zu machen, den ich mit eisernem Ignorieren abwehrte. Nach einiger Zeit legte sich das dann immer und sie benahmen sich genauso wie die Mädchen. Einigermaßen ruhig, manchmal sogar mit einem Anflug von guter Erziehung, und eben kindlich, nicht wie der Herrscher der Unterwelt persönlich.
    Aber dieses Exemplar hier, um es in Forschersprache auszudrücken, zeigte nicht die geringsten Symptome der kindlichen Aggressionen gegenüber älteren Mitgliedern ihrer Rasse. Faszinierend.
    „Danke.“, meinte ich und nahm es an. Ich war nicht wirklich hungrig, deswegen biss ich zweimal hinein und fragte dann Erion, ob er es haben wollte. Bevor der allerdings antworten konnte, funkte der Junge dazwischen und meinte: „Das geht nicht! Ich habs‘ dir gegeb‘n, und nit ihm!“
    Ich zog aus Reflex die Hand mit dem Sandwich zurück und starrte den Jungen verunsichert an.
    „Luca!“, herrschte Joseph ihn an. Der Junge sah seinen Großvater genervt an, sagte aber nicht. Der seufzte nur und versuchte irgendwie, die Situation wieder gerade zu biegen:
    „Tut mir Leid. Mein Enkel… Scheint wieder einmal zu vergessen, dass er auch so etwas wie Manieren beigebracht bekommen hat.“ Dabei sah er ihn aus dem Augenwinkel mahnend an. Den schien das jedoch herzlich wenig zu interessieren- Er nahm sich das letzte Sandwich und verschlang die Hälfte mit einem einzigen Biss.
    Ich wank lächelnd ab, war ich die Launen von Kindern doch gewöhnt.
    „Möchtest du es dann wiederhaben? Du bist sicherlich noch hungrig.“, bot ich ihm mit meinem freundlichsten Zähne zeigen an. Er sah mich kurz an, studierte mich von oben bis unten und nahm mir das Brot dann aus der Hand.
    Ich grinste schief. Jungen.
    „Danke.“, nuschelte er so leise, dass nur ich es hören konnte und stopfte auch diesmal wieder mehr als das er aß.
    Joseph gab offensichtlich auf ihn zu tadeln. Er wirkte peinlich berührt, wohl wegen dem unfreundlichen Handeln seines Enkels, nur musste ihm das nicht unangenehm sein. Kinder blieben Kindern, und man konnte von ihnen nicht erwarten, sich so gesittet wie Erwachsene zu benehmen.
    Denn bei denen ließen die Manieren auch manchmal zu wünschen übrig, wie ich oft erlebt hatte.
    Ich konnte Menschen, die zu viel Alkohol tranken und gerne mal einen über den Durst kippten nicht leiden. Genauso wenig wie Raucher und andere Exemplare des menschlichen Versagens. Niemand war unfreiwillig in dieses Verhalten hineingeschlittert, das konnte mir keiner erzählen. Und wenn man es geschafft hatte, sich in den Mist hineinzureiten, dann konnte man es ja wohl auch schaffen, die Rettungsbojen zu erreichen und sich herauszuziehen.
    Vielleicht war mir Sanders deswegen so unsympathisch gewesen.
    Weil er genau das verkörperte, was ich nicht leiden konnte.
    Starrköpfiger Egozentrismus, einen Hass auf alles um sich herum, der nicht berechtigt war, den Hang zur sinnlosen Gewalt… Und eben der Alkohol.
    Erion dagegen… Kaum zu glauben, dass sie Verwandt waren.
    Nur sagten die Gene nichts über den Charakter aus. Glücklicherweise.
    „Wann geh’n wir’n?“, fragte Luca, fummelte an einem losen Strohhalm seines Hutes herum. Er ließ mich ungern aus den Augen, fiel mir auf. Immer wieder schenkte er mir einen Blick, von dem ich mir nicht sicher war, was er bedeutete. Ein Funken darin erkannte ich von den Kindern, auf die ich manchmal aufpasste. Bewunderung und Zuneigung. Nur war das nicht alles.
    „Wenn die beiden hier bereit sind. Und du sie eingewiesen hast.“, erklärte Joseph jetzt wieder ruhiger. Er spülte gerade den Teller ab und richtete dabei stur seinen Blick ins Spülbecken. Kleine Bläschen flogen in der Luft umher. Der Forster hatte zu viel Spülmittel benutzt.
    Ich lächelte, als eine der bunten Kugeln sich mir näherte und berührte sie leicht mit meinem kleinen Finger. Sie zerplatzte, löste sich auf in drei kleine Tropfen, die noch kurz bunt erstrahlten und dann verschwanden.
    So klein und hübsch. Und trotzdem so vergänglich, wie so vieles im Leben. Und all das würde ich sehen können. Die Blumen im Norden von Azuria, das Dächermeer von Saffronia, die Sonnenuntergänge im Gebirge von Lavandia.
    Es gab so vieles, auf das ich mich freuen konnte. Und alleine bei dem Gedanken daran sprang mein Herz mir bis zum Scheitel.
    „Einweis’n, hm? Jo, wird erledigt, Gramps.“, ließ Luca verlauten. Er sprang von seinem Stuhl, mit glänzenden, orangenen Augen, baute sich vor uns auf und begann mit fachgerechter Stimme einen scheinbar einstudierten Text aufzusagen:
    „Bevor wir uns auf den Weg durch das Naturwunder, auch bekannt unter dem Namen Vertania Wald, machen, muss ich sie, sehr geehrte Damen und Herren, darauf aufmerksam machen, dass das Gebiet, das wir durchschreiten werden, nicht nur von unschätzbarem wissenschaftlichen Wert ist, sondern auch wunderschön. Aber…“ Ich bemerkte überrascht, dass der merkwürdige Akzent verschwunden war. Daran hatte er mit Sicherheit lange arbeiten müssen. Man legt Angewohnheiten, und dazu zählte ich auch Dialekte, nicht einfach so ab.
    „Aber ich muss sie auch darauf hinweisen, dass unser Vorhaben nicht ungefährlich ist. Die dort heimischen Wesen sind überwiegend friedlich und scheuen menschliche Gegenwart, und solange sie sie nicht provozieren ist es unwahrscheinlich, dass es zu einem Zwischenfall kommt. Nichtsdestotrotz sind Pokemon unberechenbar. Aus diesem Grund wird uns ein freundlich gesinntes Pokemon begleiten, das unserer Familie schon länger beisteht. Es ist zahm, doch bitte ich sie zu ihrer eigenen Sicherheit, es nicht zu reizen.“
    Welches Pokemon es war, verriet er uns nicht. Ich tauschte neugierige Blicke mit Erion, aber wir fragten nicht, wir würden es schon herausfinden.
    Luca sagte und noch ein paar andere Dinge, auf die wir achten sollten.
    Keinen Müll im Wald liegen lassen- Niemals. Ich hatte erlebt, wie ein Raupy fast an einer Plastiktüte erstickt wäre. Nie, niemals. Das furchtbare, hilflose Quieken, erstickt und panisch, wie es mit seinen Beinen gestrampelt hatte… Ich war gerade noch rechtzeitig gekommen. Ich wollte mir nicht ausdenken, was passiert wäre, wenn nicht.
    Keine Feuer ohne seine Aufsicht- Natürlich nicht. Ich kannte mich damit nicht aus, da wäre es dumm, aus Egoismus und Kälte einen Waldbrand zu starten. Und wie ich mein Glück kannte…
    Luca wies uns auch noch darauf hin, dass der Marsch wohl mindestens zwei Tage dauern würde, und nachdem wir ihn aufgeklärt hatten, dass wie uns auch noch die Pokemon anschauen wollte, setzte er unsere Reisezeit auf vier bis fünf Tage hoch. Das schien uns akzeptabel, vor allem, weil die Chance, im Wald gefunden zu werden, vergleichsweise gering war.
    „Und das ist für sie in Ordnung, Joseph? Wir wollen ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, und ihren Enkel so lange bei uns zu behalten…“, wandte ich ein. Ich hatte nichts gegen Gesellschaft, ich war sogar froh darüber, weil Erion und mir sonst irgendwann der Gesprächsstoff ausgehen würde. Nur wollte ich den Jungen nicht in Gefahr bringen.
    Joseph aber lachte nur und meinte, dass wir ohne ihn wohl verloren wären. Er hatte vermutlich Recht, doch meine Bedenken waren noch nicht ganz verschwunden. Erion dagegen sah zufrieden und Aufbruchs bereit aus. Luca stapfte die Treppen hoch und suchte sich die Sachen zusammen, die er brauchte. Sein Rucksack war größer uns unsere und viel mehr gefüllt.
    „Ich kann bissl‘ mehr trag’n, sin ja nur fünf Tage.“, erklärte er entschieden. Er verabschiedete sich kurz und knapp von seinem Großvater. Erst, als ich genau darüber nachdachte, wurde mir bewusst, warum ich es merkwürdig fand. Luca musste nur für ein paar Tage Abschied nehmen.
    Ich für Monate, vielleicht sogar Jahre.
    Und von meinem Vater hatte ich mich nicht einmal verabschieden können.
    Deswegen pochte mein Herz und versagte meine Stimme, als ich das kurze Kopfnicken sah, dass ihren Abschied bedeutete.
    „Bereit?“, fragte der Junge mit dem Strohhut lässig, griff noch nach seiner Jacke über dem Kleiderständer und sah mich dann eingehend an.
    Ich konnte nicht antworten. Der Kummer und das Heimweh schnürten mir die Kehle zu.
    „Gehen wir.“, flüsterte Erion mir ins Ohr. Er stand nah hinter mir und berührte mich sanft am Arm.
    Stimmt. Ich war nicht allein. Keiner von uns hatte Abschied nehmen können. Und deswegen waren wir miteinander verbunden.
    Ich nickte hastig und lächelte wieder.
    Es war kein wirklich aufrichtiges Lächeln, aber ich konnte ohne zu Lügen behaupten, dass ich diesen Schmerz gerne auf mich nahm. Ich würde mich schon an ihn gewöhnen.


    Wir standen vor dem großen Eisentor und überprüften noch einmal unsere Vorräte. Luca wollte das Pokemon rufen, das er als Unterstützung mitnehmen würde, und lief deswegen wie eine kopflose Henne durch die Gegend. Hier und da steckte er seine kleinen Finger in den Mund und begann eine Abfolge von Tönen zu pfeifen. Es war immer wieder dieselbe, aber auch nach fünf Minuten rührte sich nichts.
    „Und du bist dir sicher…“, begann Erion zögerlich, wurde aber mit einem mehr als tödlichen Blick zum Schweigen gebracht. Als Luca sich dann aber mir zuwandte, waren tiefe Zweifel in seinen Augen geschrieben.
    „Versuch es noch einmal.“, ermutigte ich ihn lächelnd. Er zögerte zwar, aber je länger wir Blickkontakt tauschten, desto mehr hellte sich seine Miene wieder auf. Ich konnte es nicht leiden, Kinder unglücklich zu sehen.
    Diesmal stellte sich der Junge mit dem Strohhut genau vor das Gitter. Er holte tief Luft, spreizte die kleinen Finger von seiner Faust ab und legte sie sich so in den Mund, dass ein schrilles Pfeifen ertönte, als er die ganze Luft auf einen Schlag herausließ.
    Für kurze Zeit hörte man nur das Echo seines Signales, dann begann auf einmal der Boden zu virbrieren.
    „Was zum…“, hörte ich Erion hinter mir Raunen. Das Beben kam näher, wurde immer heftiger. Ich hörte in der Ferne das Knacken von Ästen, dicken Ästen, sah, wie Vogelpokemon sich in die Luft erhoben und kreischend das Weite suchten.
    Je länger wir warteten, desto lauter wurde das Schrillen in meinem Kopf. Alle meine Sinne schrien „Flucht“, alle auf einmal, sodass es mein Denkvermögen außer Gefecht setzte. Ich konnte mich nicht bewegen. Bis auf einmal das Tor aufgebrochen wurde und ein gigantischer Felsen geradewegs auf Luca zuraste. Da entschied sich mein Körper dann doch, einzugreifen.
    Er hastete zum Jungen, der Gefahr lief, von dem rollenden Objekt zerquetscht zu werden, merkte, wie ich den Boden unter den Füßen verlor, wie ein Bein sich stark abdrückte und meine Arme sich nach ihm streckten. Es geschah zu schnell, und dann wieder zu langsam. Ich sah, dass Luca lächelte. Er merkte nicht einmal, dass er in Gefahr war.
    Hoffentlich kam ich nicht zu spät.

  • Also, bei mir musst du keine Angst haben, dass ich deine Studien vernachlässigen würde, im Gegenteil. Mit jeder neuen liest man gerne weiter und so bleibt es auch immer wieder spannend zu sehen, was weiter geschehen wird. Und dieses Mal? Das werde ich jetzt versuchen, herauszufinden.


    Hm, da hast du vom letzten Kapitel her gesehen eine gute Finte an den Tag gelegt, denn an Erions Vater hätte ich bei dem nächtlichen Besuch nicht gedacht. Zumal er auch noch am selben Tag in Alabastia ankam, womit ich zu der Feststellung komme, dass ihm eigentlich niemand gesagt haben dürfte, dass sich Erion in dem Ort bzw. in genau diesem Haus aufhält. Durch den starken Regen dürften somit auch kaum Leute in der Lage gewesen sein, Auskunft zu geben, wenn sie nicht gerade nach draußen und die beiden gesehen hatten. Man sagt ja immer, den größten Tölpeln widerfährt das meiste Glück; das scheint hier dann wohl perfekt zuzutreffen. Aber selbst in Momenten wie diesen (gerade, als Sanders gehen wollte) schaffst du es wunderbar, die Charaktere zu präsentieren und sie lebendig erscheinen zu lassen. Überhaupt wurden sehr viele verschiedene Gefühle gezeigt, egal ob nun offen oder eher unterbewusst und das unterstreicht im Großen den gesamten Cast, dass sie in ihren Emotionen wandelbar sind und nicht einfach nur vor sich hin reden. Auch von Ange selbst erfährt man wieder etwas mehr aus ihrer Vergangenheit; dazu äußert sie sich recht selbstironisch, was angesichts der Situation gut gewählt war.
    Nach Erions "Ausbruch" war im weiteren Verlauf aber abzusehen, dass Anges Mutter auch für sie einen Versuch geplant hat, womit sie dem Zorn ihres Vaters geschickt ausweichen würde. Die Wahl war tatsächlich keine leichte, denn man merkte Ange an, wie sie zwischen ihrem Traum, in der Welt herumzukommen, und auch dem Verlangen, ihrer Mutter weiterhin zu helfen, hin und her wankte. Schließlich gab sie doch nach - richtigerweise, denn einen Traum kann man sich möglicherweise nur einmal erfüllen, solange er in Reichweite ist und man ihn erreichen kann. Erion spielt überraschenderweise mit ihr; er scheint also eine neckende Art zu besitzen, wenn er sie so hinters Licht führen konnte und sie das aber nicht einmal merkte.
    Dass plötzlich dieser Mann auftauchte, wirkte etwas random, hatte allerdings genau dadurch einen zwielichtigen Effekt erzeugt, der sich bis zu dem versteckten Laden aufrecht erhalten hatte. Interessant dabei ist, dass es sich hierbei um eine Pokéballschmiede handelt, dessen Inhaber noch dazu sehr großzügig zu sein scheint, da er den beiden seine gefertigten Pokébälle quasi umsonst anbietet. Möglicherweise ein Reflex, da er sah, mit welcher Begeisterung die beiden dazu stehen oder ist vielleicht etwas mehr dahinter? Das wird man wohl nicht erfahren, aber es ist vorerst auch nicht weiter nötig. Man begegnet vielen Menschen auf einer Reise und das gehört nun einmal dazu, dass man nicht die vollen Absichten erkennt (aber ich hoffe doch, dass sie ihm irgendwann wieder einmal einen Besuch abstatten). Die Überraschung angesichts des Effektes für den Pokéball kam auch gut an; etwas anderes hätte ich mir von den beiden nicht erhofft.


    Kapitel Vier, das Aufwachen nach der ersten Nacht, nachdem die Flucht geglückt war. Am Anfang hast du vielleicht einen Tick zu oft das Wort "Ich" am Satzanfang verwendet, aber ansonsten ist mir stilistisch nichts Gröberes aufgefallen, denn du machst nach wie vor alles richtig. Einfühlsame Charaktere, sehr plastisch beschriebene Darstellungen und einfach eine wunderbare Art, das alles präsentieren zu können. Es gibt irgendwie einfach nichts auszusetzen, weil du auf alles eingehst (auch wenn die Verschreiber innerhalb der Kapitel gerne etwas Entlastung finden könnten; bei Bedarf kann ich helfen).
    Besonders der Dialog zwischen Ange und Erion wirkt so natürlich, als würden sie sich schon ewig kennen; das Freundschaftsgefühl hat sich also recht schnell entwickelt. Interessant sind da auch Anges Gedanken zur Pokémonhaltung, die den neueren Spielen in ihrem Grundgerüst recht nahe kommt, da das dort auch hinterfragt wird. Der Wald scheint insgesamt auf jeden Fall noch gefährlicher zu sein, als er heute ohnehin schon ist; anhand der Verwildertheit und der wenigen Trainer und Reisenden ist das allerdings auch nachzuvollziehen. Da wäre es zum Beispiel gut, auch auf die ein oder andere Sache hinzuweisen oder einfach etwas geschehen zu lassen, um die Nervosität zu schüren und damit die anwesenden Charaktere unruhiger werden zu lassen.
    Ich mochte überhaupt die Einbringung dieses Akzentes mitten in der Geschichte, denn so werden auch regionale Unterschiede schnell erkennbar und ehrlich gesagt, ich würde Luca ja gern einmal dabei beobachten, wenn er in seinem Element spricht. Das würde wohl für einige Fragezeichen sorgen, schätze ich, aber es würde auch ihm wieder etwas Individualität geben, wenn man beobachten kann, in welchen Momenten er so reagiert. Der Schluss hingegen wirkt wieder etwas konstruiert; fast so, als wolltest du noch einmal eine bedrängende Situation darstellen, die sich im nächsten Kapitel aber als harmlos herausstellt. Trotz allem bin ich aber auf jede Überraschung gefasst.
    Von daher, danke für diese zwei Kapitel, ich freue mich auf das nächste. Schreib schnell weiter!


    ~蛇

  • Hey Cáithlyn!Späte Uhrzeit für ein Kommentar, aber ich wollte auch mal meinen Senf dazu geben.
    Ich werde aber erstmal nur im Grobem was schreiben, da Snake ja alles immer so schön
    aufgreift. Erwarte also nicht zu viel von mir ;)


    Also...
    Kurz zum Startpost: Er ist wirklich schön gestaltet, strukturiert, angenehme Farbwahl usw.
    Du zeichnest übrigens wirklich gut, ich mag das Aussehen der Charaktere und die Klamotten
    sind auch recht schick.So weiter im Programm...
    Meistens habe ich ja was gegen lange Texte, wie deine es sind, aber du fesselst einen
    mit deinen Kapiteln, da verschlinge ich den Text förmlich. Ich mag deine Schreibweise sie ist so
    angenehm und schön zu lesen.
    Zum Inhalt sag ich nichts, wenn ich schon erwähnt hab, dass er einfach fesselnd ist^^
    Um zwischendurch kurz zu sagen, finde ich die Idee ja klasse, aus deiner Sicht zu sehen wie die Anfänge
    des Trainer-Daseins waren. Wie du die meisten Tücken meisterst die so eine Reise mit sich bringt finde ich recht
    toll.
    Ange als Charakter finde ich so sympathisch. Ich mag ihre Denkweise total und ihre Reaktionen auf die verschiedenen
    Dinge die ihr und Erion passieren. Letzterer ist auch wirklich ein ganz Netter...Ich finde ich wiederhole mich, wenn ich hier
    ganze Zeit Lob ausspreche. Ich bin mir ja zu 100% sicher was dieses rollende Etwas sein soll.
    Naja wie ich schon erwähnt hab, durftest du nicht viel erwarte.Beim nächsten Kapitel werde ich mir aber Mühe geben drauf einzugehen und etwas mehr zu schreiben.


    Mica.

  • [tabmenu]
    [tab= Dubuduu-]
    Yeah, zwei Kommentare, dankesehr. ^_^ Ich geh in den anderen Tabs noch näher darauf ein, aber schon im Vorraus vielen Dank für die Kommentare. Ich hoffe, es werden noch mehr ^_^
    [tab= Als erstes Snake...]
    Bonjour ^__^
    Danke erst einmal für den Kommentar, so wie immer. Ich freue mich, dass es dir noch Spaß macht, die Story zu lesen. Schauen wir mal, was ich dir so antworten kann...


    Ich bin einfach mal davon ausgegangen, dass jemand Erion gesehen hat und Sanders informiert hat. Demnach wäre er dann Richtung Mamoria und von da aus gibt es ja herzlich wenig andere Wege- Die Pokemonliga existierte ja noch nicht. In letzten Kapitel hatte ich glaube ich auch erwähnt, dass Erion länger gereist ist, als er gemerkt hatte. Da hatte Sanders dementsprechend auch mehr Zeit nach ihm zu suchen.
    Zur Beziehung zwischen Ange und Erion. Ange ist es ja gewöhnt sich um einen Jungen zu sorgen, obwohl es bisher immer nur ihr Bruder war. In diesem Kapitel habe ich das auch noch einmal aufgegriffen, vielleicht wird es dann auch noch klarer. Mir gefällt einfach der Gedanke, dass die Beziehung schon ein wenig kumpelhaft ist, aber trotzdem sich noch etwas ernsteres entwickelt xP In solchen Sachen bin ich einfach etwas festgelegt. Für mich sind diese Art Beziehungen und die Hass-Liebschaften am Interessantesten, weil sie einfach ihre Tücken haben.
    Ja, Verschreiber, hehe xD Wenn das in Ordnung ist, würde ich dein Angebot gerne annehmen ^_^.


    ...ich würde Luca ja gern einmal dabei beobachten, wenn er in seinem Element spricht...


    Soon... Very soon. Nein, ehrlich, es ist nächstes Kapitel so weit. Ich wollte es nur nicht einfach so auftauchen lassen, weil es ja eher ungewöhnlich für Leute ist, die längere Zeit in einem fremdsprachigen Gebiet leben, einfach so wieder zu ihrer Muttersprache überwechseln. Da muss schon was besonderes passieren xD /spoil


    Äh, ja, der Schluss. Und zwar ist es so, dass das letzte und dieses Kapitel ursprünglich mal eins waren. Ich war viel zu sehr drinn, dass ich irgendwann 32 Wordseiten hatte, und das wollte ich euch einfach nicht antun xD Deswegen musste ich irgendwo einen Cut setzen, und das war der einzige passende Moment.
    Danke noch einmal und bis bald. <3
    [tab=...und jetzt Mica]
    Konnichi Wa! (Mir gehen die Sprachen aus, Hello ist so random mäßig xP)
    Erst einmal danke für den Kommentar, ich habe mich wirklich über eine dritte Meinung (also meine, Snakes und jetzt deine) gefreut. Und ich bin dankbar über jeden Kommi, dass du nicht viel schreiben kannst ist da absolut kein Problem ^_^
    Danke für das Lob bezüglich meiner Bilder. Ich habe aber überlegt sie neu zu zeichnen, da mir besonders Erions Bild nicht mehr gefällt (die Colo ist sowas von missraten und das mit der Anatomie... Eh, ja, ich hatte es bisher noch nie mit der männlichen. xP)
    Ich habe definitiv ein Problem mit zu langen Texten. Wenn ich einmal drin bin, dann krieg ich es einfach nicht hin dann aufzuhören wann ich es eigentlich geplant hatte.
    Dann kannst du ja jetzt herausfinden ob du richtig langst ^_^ Ist übrigens auch nicht wirklich schwierig, wenn man den Titel des Kapitels im Startpost gesehen hat xD
    Danke und bis zum nächsten Mal ^_^
    [/tabmenu]


    Fünfte Studie- Georok


    Als ich meine Augen öffnete, hatten sich meine Arme um den Jungen geschlossen, und hielten ihn schützend am Boden. Ich kniete über ihm, meinen ganzen Körper wie einen Schutzschild um ihn herum gebeugt. Mein Atem ging nur rasselnd, stoßweise. Ich wusste nicht, was passiert war. Ich wusste nur, dass es ihm gut ging, weil er sich unter mir bewegte.
    „Ange!“ Erions Stimme klang nah und angsterfüllt. Ich spürte seine warmen Hände an meinem Rücken und richtete mich langsam auf. Mir war schwindelig, ich musste mich gegen den Grünhaarigen lehnen, der neben mir hockte. Er sagte nichts, aber ich spürte sein Herz hämmern. Die Welt verschwamm und ich sah nur noch Schemen. Etwas berührte meine Beine. Vermutlich Luca, der sich geradeaufrappelte.
    „Alles okay mit dir?“, hörte ich Erion fragen. Ich nickte langsam. Meine Sicht klärte sich gerade erst wieder und das unangenehme Gefühl von Frühstück, das die frische Luft genießen wollte, verflüchtigte sich. Ich wollte es nicht wieder heraufbeschwören. Ich spürte wieder leichte Beben. Noch nicht vorbei?
    „Keine Sorge.“, besänftigte Luca mich, als ich zusammenzuckte.
    „Das ist nur Anthrazit. Es wird uns begleiten.“
    Ich hob meinen Kopf. Der Felsbrock mit der harten Schale kam mir entfernt aus meinem Lehrbuch bekannt vor.
    „Ein Georok?“, fragte Erion verwirrt. Genau. So hieß es.
    „Wir ham‘s irgendwann ma hier gefund‘n und seitdem kommt‘s immer wieder mit uns. Wir wissen nit warum, aber wir beschwer‘n uns auch nit. Die Bibor könn‘ wirklich garstig sein.“, erklärte Luca. Er rappelte sich auf und strich über den steinernen Körper des gigantischen Wesens. Erion griff mir im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme und zog mich vorsichtig hoch, bis ich wieder auf meinen eignen Füßen stand, ohne jede Sekunde fürchten zu müssen, den Boden zu küssen.
    Das erste Pokemon, von dem ich noch so gut wie gar nichts wusste. Ich sah das Flackern in Erions Augen und wusste, dass er dasselbe dachte.
    Wir wollten alles über es herausfinden. Alles, so schnell wie möglich. Größe, Gewicht, Typ und Art, die Attacken, seine Wesenszüge.
    „Geht’s dir gut? Haste dich auch nit verletzt?“, fragte Luca mich mit leuchtenden Augen. Das Pokemon an seiner Seite verbeugte sich, als wolle es sich damit entschuldigen. Ich nickte Erion dankbar zu, der mich, nicht ganz ohne zu zögern, losließ, und stolperte dann mehr als ich ging auf das Georok zu.
    „Anthrazit, hm?“
    Als ich den steinernen Körper berührte, war ich nicht darauf vorbereitet, dass es doch einen gewissen Grad an Wärme ausstrahlte. Ich hatte gedacht, da es ja aus Stein bestand, müsste es kalt sein. Dafür war sein Körper rau und kantig, wie richtiger Stein eben. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ein Lebewesen dieser Art zu berühren, aber nicht unangenehm. Eher faszinierend. Mein Herz schlug schneller.
    „Dann war das gerade eben wohl Walzer.“, stellte Erion fest. Ich fuhr gerade mit meinen Fingern über zwei der vier steinernen Arme des lebenden Felsens, wandte mich aber dann Erion zu.
    „Es wollte niemanden verletzen.“, wandte ich zu seiner Verteidigung ein.
    „Habe ich nicht behauptet.“, gab Erion zurück. „Aber dafür muss es einen Grund geben. Schau dir seine Beine an. Es ist wohl nahezu unmöglich für ein Georok, normal zu gehen.“
    Er hatte Recht. Die Brocken, die als Stützen für den nahezu runden Körper dienten, waren wohl auch nur das und mehr nicht. Sie waren zu kurz um sich auf ihnen fortzubewegen. Das würde ihnen zu große Mühe bereiten.
    „Das heißt also, sie bewegen sich rollend fort. Das würde die ganzen Kerben erklären.“, fuhr ich fort und strich über eine der Einkerbungen, die ich meinte. Anthrazit war wirklich schnell unterwegs gewesen, da waren Kollisionen mit Bäumen vermutlich nicht vermeidbar. Bei solcher Geschwindigkeit brachen ihnen wohl einige Stücke ihres Körpers heraus. Deswegen waren sie auch so unförmig.
    Erion schien genauso zu denken wie ich auch. Er hockte sich hin und suchte in seinem Rucksack nach dem Pager, den ich ihm überlassen hatte. Die Notizfunktion würde ihm wohl mehr bringen als mir. Er zog den Stift aus der Rückseite des buchgroßen Geräts und begann, eifrig auf dem Bildschirm herum zu tippen.
    „Was machtn‘ der da?“, fragte Luca verunsichert.
    „Er schreibt unsere Ergebnisse auf. Anthrazit wird das erste Pokemon sein, das wir genauer erforschen.“, teilte ich ihm mit. Ich suchte nach noch mehr Hinweisen an dem Körper des Pokemons, das mich bereitwillig gewähren ließ.
    „Forschung, hm?“, murmelte Luca unzufrieden.
    „Erion, können wir das nicht später machen?“, bat ich ihn etwas ungeduldig. Wir würden das auch in einer Pause erledigen können. Anthrazit würde sich schließlich nicht einfach so in Luft auflösen. Erion beachtete mich erst einmal gar nicht und behielt seinen Blick stur auf den Bildschirm, dann grummelte er etwas vor sich hin, beendete aber erst noch den Eintrag. Der Pager wurde wieder in den Rucksack verstaut.
    „Kommt’er?“
    Luca zog mich am Arm auf das aufgesprengte Tor zu, gab keine Rücksicht auf Erion, der gerade erst wieder den Reißverschluss zuzog und hinterhergelaufen kam, als er bemerkte, dass wir bereits verschwunden waren. Anthrazit rollte neben uns und ich stolperte hinter Luca her, der mich noch immer weiter zog, sogar noch beschleunigte, als Erion wieder aufholte. Ich warf meinem Begleiter einen verwirrten Blick zu, und auch er schien nicht genau zu wissen, was da vor sich ging.


    Luca ließ mich nicht los, bis wir tief im Wald beschlossen, eine Pause zu machen. Bisher waren wir keinen Pokemon begegnet, wohl weil das Beben sie alle verscheuchte. Anthrazit war ein Gestein Pokemon, das hieß, dass die meisten hier lebenden Pokemon nicht viel gegen sie ausrichten konnten. Im Gebüsch sah ich hier und da mal einen Schwanz herausschauen. Rattfratz, Raupy, auch ein paar Taubsi. Im Grunde nicht viel anders als bei mir zu Hause.
    Nur die Hornliu und ihre Entwicklung waren neu für mich, und über die lernte man in der Schule. Es würde jedoch nicht schaden, an ihnen zu üben.
    Meine Beinmuskeln zuckten, als ich mich auf einem Baumstumpf niederließ. Wir befanden uns auf einer kleinen Lichtung, fahles Sonnenlicht drang durch das lichte Blätterdach und wärmte mich etwas auf.
    „Wir mach‘n hier unser Lager. Hier inner Nähe gibt‘s nen kleinen Teich, da halt’n sich viel Pokemon auf.“, erklärte uns Luca. Er hatte sein eigenes Zelt mitgebracht und mühte sich gerade damit ab, eine Stange durch die Plane zu schieben. Ich legte meinen Rucksack ab und ging ihm zur Hand, indem ich den Stoff spannte und gerade hielt.
    Ich sah aus dem Augenwinkel wie Erion Anthrazit untersuchte, das missmutig grummelte. Irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass es dem Georok sonderlich gefiel. Kein Wunder, so wie er auf ihm herumklopfte und an seinen Steinen zog. Ich wollte ihn gerade warnen, da rollte sich das Pokemon zusammen und bewegte sich ein paar Meter von ihm weg. Erion wich erschrocken zurück und fuhr sich verwundert durch die Haare.
    „Tja, Erion, sieht so aus, als ob du es mit Pokemon nicht so hast.“, lachte ich, musste aber prompt damit aufhören, weil Luca die Stange zu stark durch die Öffnung schob und sie mir beinahe den Bauch durchstach. Ich zog ihn gerade noch rechtzeitig ein und schob die Stange beiseite.
    „Sorry.“, murmelte Luca mir zu und zog sie wieder etwas heraus. Ich atmete erleichtert aus und begutachtete mein Top, um sicherzustellen, dass wirklich noch alles heile war.
    „Und du mit dem Handwerk.“, konterte der Grünhaarige frech.
    „Dafür hab ich ja dich, wenn du es besser kannst.“, gab ich unbeeindruckt zurück. Erion gab seine Forschung für einen Moment auf und machte sich an unserem Zelt zu schaffen. Er stellte sich besser an als Luca und ich zusammen, was schon irgendwie peinlich war, und musste uns am Ende sogar noch helfen. Keine zehn Minuten später war dann auch das Lagerfeuer für die Nacht bereit und wir saßen auf Kissen, die Luca mitgebracht hatte, rund herum.
    Tsubasa hockte wieder auf meiner Schulter- es hatte sich selbst befreit als ich mit der Dose voll mit Pokemonfutter geraschelt hatte, die wir in Vertania besorgt hatte- und gurrte zufrieden, als ich es streichelte. Erion warf immer wieder Blicke zu Anthrazit, das möglichst viel Abstand zwischen sich und ihm gebracht hatte. Luca suchte Steine zusammen, die er dem Georok zuwarf.
    „Sie essen also Steine…“, murmelte Erion und begann schon wieder, auf dem Pager herum zu tippen. Irgendwann hielt er inne und das Klacken verhallte im Wald.
    „Was ist?“, fragte ich ihn, weil er ein nachdenkliches Gesicht aufgesetzt hatte.
    „Wir können nicht immer alle Pokemon, die wir untersuchen wollen, fangen. Dafür sind die Pokebälle zu wertvoll.“, überlegte er jetzt laut.
    Das stimmte. Takamura hatte uns den Preis für einen genannt, als wir danach gefragt hatten. Er brachte uns beide zum Schlucken.
    „Forschung braucht nun mal Zeit… Wir können nicht erwarten, dass sie so lange stehen bleiben, wenn wir sie darum bitten.“
    „Wenn sie Vertrauen in uns fassen würden, wäre zumindest das kein Problem.“, schlug ich vor. Das wäre dann wohl meine Aufgabe. Jetzt, wo ich gesehen hatte, wie grob er mit seinen Forschungsobjekten umging, war ich mir sicher, dass sie sich garantiert nicht so behandeln lassen würden. Ich nahm es ihm nicht übel. Sein Verhalten gegenüber Tsubasa hatte mir ja gezeigt, dass er es nicht so meinte. Es war der Forscherdrang, die stechende Neugierde, die ihn unvorsichtig werden ließ. Ich würde ihn wohl gelegentlich stoppen müssen. In der Schule hatten wir gelernt, dass viele Pokemon gerade in dieser Zeit aggressiv waren. Das lag vor allem an dem Missbrauch ihrer Kräfte, den Menschen seit neustem immer häufiger ausführten. Macht zu haben war verlockend, und das wahre Potential der Wesen, die seit Jahrtausenden mit uns auf diesem Kontinent lebten und sich ebenso lange schon in Form und Fähigkeiten wandelten, war noch nicht erkannt worden. Genau deswegen wollte ich forschen, und ich glaube, dass es Erion genauso ging.
    „So viel Zeit haben wir nicht.“, gab Erion zurück. „Außerdem wäre das zu gefährlich.“ Er sah mich jetzt wieder an und grinste: „Hab doch versprochen, dich zu beschützen.“
    Wo er Recht hatte, hatte er Recht.
    „Also müssen wir sie außer Gefecht setzen.“, überlegte ich weiter, ohne auf ihn einzugehen. „Für kurze Zeit, und möglichst ohne sie ernsthaft zu verletzen, natürlich.“
    Wir überlegten viel zu lange. Ab einem gewissen Augenblick während eines Denkprozesses drehten sich die Gedanken immer wieder um dieselben Lösungsansätze, auch wenn die schon als unmöglich abgestempelt wurden. Ich strich Tsubasa über das Gefieder.
    „Wie wär‘s mit Schlafen?“, schlug Luca schließlich vor. Er hatte sich bisher nicht an unserem Gespräch beteiligt, aber sobald er geendet hatte, begannen Erion Augen zu glänzen.
    „Das ist genial.“, stieß er aus. „Statusveränderungen, natürlich!“
    „Nicht nur Schlaf, sondern auch Paralyse wird nützlich sein.“, fügte ich hinzu und strahlte Luca an, der meinem Blick auswich.
    „Erst letztens bin ich nem Taubsi begegnet, dass sich nit rühren konnt‘. Ab und an entwickeln sich Safcorn zu Smettbo, und die könn’ Schlafpuder und Stachelsporen.“
    „Das heißt also, unser Ziel ist ein Smettbo.“, stellte Erion fest.
    „Eher nen Raupy. Von denen gibt’s hier nen Hauf’n. Smettbo sin echt seltn.“, erwiderte unser Waldführer.
    „Denk dran, was Takamura uns gesagt hat. Starke Pokemon sind wesentlich schwerer zu fangen. Und weil Smettbo schon zweimal entwickelt ist…“, stimmte ich ihm zu. Erion nickte.
    „Dann also ein Raupy.“, schloss er. Ich wollte aufspringen, aber es war sinnvoller, erst eine Pause zu machen. Luca hatte Recht, hier wimmelte es geradezu vor Raupy, Die Zeit, die wir hier waren, würden wir zahlreichen Raupenpokemon begegnen, die wir alle einfangen könnten.
    „Was für Pokemon könnten sonst noch nützlich sein?“, fragte ich mich schließlich laut.
    Erion fackelte nicht lange: „Sobald Tsubasa sich entwickelt, kann es uns höchstwahrscheinlich auch tragen. Dann kommen wir sehr viel schneller von Ort zu Ort.“
    „Glaubst du echt, dass es uns beide tragen könnte?“ Ich runzelte die Stirn. Natürlich war mir bewusst, dass sich die Form und auch die Größe eines Pokemon veränderten, aber… Zu glauben, dass dieses kleine Wesen, dass sich gerade an mein Gesicht schmiegte, uns tragen könnte, was irgendwie… Abwegig.
    „Vielleicht sollten wir uns ein zweites fangen, nur um sicher zu sein.“, schlug ich ihm vor.
    „Wäre wohl keine schlechte Idee.“, gab er zu. Mal schauen, was sich sonst noch so ergab.


    „Jetzt komm schon!“
    „Pass doch auf, Erion, du tust ihm noch weh.“
    „Es ist ein Felsen! Dem tut gar nichts weh!“
    „Verdammt nochmal, krieg dich mal wieder ein! Es hat keinen Zweck es anzuschreien!“
    „Ja aber-“
    „Nichts aber! Muss ich dir erst eine kleben damit du es begreifst?“
    Jetzt, wo ich ihm Schläge androhte, ließ Erion endlich von Anthrazit ab und entfernte sich etwas von dem lebenden Gestein. Ich starrte ihn strafend und wütend an, und erst jetzt schien er zu begreifen, dass sein Handeln nicht gut war. Der Grünhaarige hatte mit aller Gewalt versuchte, das Georok auf die Waage zu hieven, die wir in Vertania gekauft hatten. Dass Anthrazit das nicht gefiel, war ihm offensichtlich anzusehen. Ich hatte es geahnt. Es lag wohl an mir, seinen Forscherdrang in Grenzen zu halten.
    „Geh weg von ihm.“, befahl ich Erion, der beschämt zu Boden sah, aber tat, was ich sagte. Anthrazit rollte sich wieder auseinander, drehte sich verwundert zu ihm herum. Als er neben mir stand, berührte ich Erions Schulter und murmelte ihm zu, dass er das mir überlassen sollte. Ich griff in den kleinen Steinhaufen, den Luca gesammelt hatte und nahm eine Hand voll davon, dann näherte ich mich dem Georok, so, dass es alle meine Bewegungen sehen konnte. Die anfängliche Nervosität verschwand nach und nach, und von mir ließ sich Anthrazit auch dazu bewegen, auf die Waage zu steigen.
    „Schreib auf.“, sagte ich zu Erion, ohne von dem Display aufzusehen.
    „107 Kilogramm.“, diktierte ich ihm und nahm das Maßband neben dem Gestein auf. „Ein Meter und drei Zentimeter.“
    „Art?“, kam die Frage.
    „Weiß nicht so genau. Ich würde ja lebendes Gestein sagen.“
    „Gestein also.“, gab Erion zurück.
    „Würdest du bitte stillhalten, Anthrazit?“, bat ich das Georok und kramte in meiner Tasche. Ich ertastete den Block anhand der feinen Struktur und den kleinen, runden Drähten, die die Blätter aneinander hefteten. Ich stieß auf Wiederstand, als ich ihn herausziehen wollte und so verteilte ich den gesamten Rucksackinhalt um mich herum über den Boden. Luca eilte herbei und half mir, sie auf dem Baumstamm aufzustapeln.
    „Danke. So ein Mist.“, lachte ich verlegen. Er sagte nichts, sah nur stumm auf den Boden und kehrte zurück zu seinem Kissen um das aufgestapelte Holz. Ich sah ihm kurz hinterher. Seit wir mit der Forschung begonnen hatten, hatte er kaum ein Wort gesagt. Bedrückte ihn etwas? War es ein Fehler gewesen, ihn mitzunehmen? Er fühlte sich nicht wohl, und wir zwangen ihn dazu, fünf Tage seines Lebens mit uns zu verbringen. Ich wusste, wie es war, etwas zu tun, was man nicht möchte, und ich wusste, wie furchtbar das war. Wie lange sich die eigentliche Zeit ausdehnen konnte, sodass einem die Zeit gleich zehnmal so lange vorkam. Es war wie in der Schule. Nur ohne Bücher, die man gegen die Langeweile noch hätte lesen können.
    „Was hast du vor?“, fragte Erion mich. Er setzte sich neben mich auf den Baumstumpf und schaute mir auf den Block. Darauf war bisher nur ein Kreis mit einigen geometrischen Figuren daran.
    „Malen. Es gibt so wenige Bilder von Pokemon. Da dachte ich, es wäre keine schlechte Idee, zumindest ein paar Skizzen anzufertigen.“
    Erion schaute eine Weile zu, dann meinte er: „Du kannst das echt gut. Und wenn wir zu den Daten auch noch Bilder haben, umso besser.“
    Ich reagierte erst spät auf das Lob, weil ich mir bei Malen der Augen leicht auf die Zunge bis. Die Augen waren das Wichtigste, das, was einer Zeichnung das Leben einhauchte. Und die Augen eines Felsens zu zeichnen waren eine Herausforderung für sich. Da der Rest des Pokemon nun mal nicht lebendig schien…
    „Das heißt also, dass du die Bilder malst und die Pokemon versorgst…“, begann Erion.
    „Und du erforschst sie und wertest die Daten aus.“, vervollständigte ich. Er begann zu grinsen, und ich lächelte zurück, und so saßen wir eine halbe Ewigkeit auf dem Baumstumpf und schwiegen uns an. Motiviert, voller Verlangen darauf, endlich anzufangen, aber trotzdem darum bemüht, möglichst entspannt zu bleiben.
    Luca räusperte sich unauffällig und sah nicht auf, als wir ihn beide ansahen. Er reagierte auch nicht, als ich ihn fragte, ob alles in Ordnung sei.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis ich Anthrazit endlich erlösen konnte. Es streckte die steinigen Arme von sich und rollte in den Schatten, wo es in seiner Kugelform verharrte. Erion schien zufrieden, da erschrak das Georok nicht einmal, als er mit seiner Hand über dir raue Oberfläche fuhr und ihm dankte. Ich grinste in mich hinein.
    Ja, Erion war ein wundervoller Mensch. Freundlich, hilfsbereit und höfflich. Er hatte mir aus meiner persönlichen Hölle herausgeholfen und dafür dankte ich ihm. Er hatte mir eine Aufgabe gegeben, die ich noch heute liebe, die ich schon damals mit Enthusiasmus und pochendem Herzen angenommen hatte. Und das wichtigste, er gab mir das Gefühl, dass ich gebraucht wurde.
    Dass er mich brauchte.
    In gewisser Weise erinnerte er mich an Ces. Mein Bruder hatte sich damals immer rührend um mich gekümmert, aber allzu oft brauchte er bei den einfachsten Dingen meine Hilfe. Erion war ihm ähnlich. Aber er war nicht Cesario. Der würde er nie sein. Keiner würde meinen Bruder ersetzen können.

    „Hilfst du mir mal? Ich krieg die Schlafsäcke…“, tönte Erions Stimme aus dem Zelt heraus. Er klang genervt, was ich nur verstehen konnte. Seit knappen zehn Minuten mühte er sich daran ab, das Innere unserer Schlafgelegenheiten ordentlich einzurichten. Das Zelt hatte so seine eigenen Tücken, und ich hatte sie längst herausgefunden, als ich ihm aber anbot, ihm zu helfen, da meinte er nur, dass ich mich ausruhen sollte.
    Männer. Immer alles alleine machen und dann aufs Übelste versagen.
    Ich stand von meinem Kissen auf und sah in den Himmel. Der Nachmittag war längst vorbei, der Himmel färbte sich rosa und violett, errötete mit jeder Sekunde, die verging, etwas mehr. Das Lagerfeuer knisterte hinter mir, wärmte mir meinen Rücken in heißen Wellen.
    „Komm da raus, ich mach das schon.“, flötete ich betont neutral, lachte aber innerlich. Erions Haare waren vollkommen zerzaust, als er seinen Kopf durch den Eingang wieder herausschob. Ich stieß ihn sanft zur Seite und krabbelte hinein. Die Schlafsäcke waren noch nicht einmal richtig ausgerollt und ineinander verworren.
    „Sag mal… Was hast du damit angestellt?“
    Ich versuchte fürs erste, die Schlafsäcke voneinander zu trennen, was gar nicht so einfach war, weil das Innere des Zeltes einfach wesentlich kleiner war als es von außen schien. Ich zog und zerrte, und irgendwann waren sie tatsächlich wieder einzeln zu gebrauchen. Jetzt musste ich es nur noch fertigbringen, sie so auf dem Boden anzuordnen, dass wir beide genug Platz hatten. Nur, jedes Mal, wenn ich versuchte sie glattzuziehen, zog ich sie zu weit.
    „Erion, komm her, hilf mir mal“, bat ich ihn. Am Eingang bewegte sie etwas, grüne Strähnen lugten hindurch.
    „Was denn?“, fragte er, während er mühsam versuchte, sich durch die kleine Öffnung zu zwängen.
    „Wir müssen die Schlafsäcke ordentlich nebeneinander legen“, wies ich ihn an.
    „Warum?“, kam die verwirrte Nachfrage.
    „Damit wir beide genug Platz haben.“
    „Du drehst dich doch eh im Schlaf herum“, antwortete er schulterzuckend.
    Ich runzelte die Stirn.
    „Ehrlich gesagt habe ich vorgestern nicht viel schlafen können. Du… kannst ganz schön hart zuschlagen, auch wenn es nicht absichtlich war“, murmelte er grinsend.
    „Ich hab keinen Plan, wovon du redest.“
    Natürlich wusste ich genau, was er meinte. Ja, ich hatte schon immer einen unruhigen Schlaf gehabt, was zum Teil auch an meinen merkwürdigen Träumen lag. So kam es auch öfters vor, dass ich lange brauchte, bis ich mich aus meiner Bettdecke befreit hatte. Ich tat es nichts extra, und ich hatte Erion auch nicht schlagen wollen, aber ändern konnte ich es auch nicht.
    „Das werde wir dann ja sehen“, lachte er noch.
    Ja, noch. Das Zelt war wirklich eng, definitiv enger als mein Bett, und wenn ich ihn schon da im Schlaf getroffen hatte, würde diese Reise zumindest nachts kein Vergnügen für ihn werden. Es sei denn, er fesselte mich, aber ich glaubte nicht, dass er das tun würde. Ganz davon abgesehen würde ich es auch nicht mit mir machen lassen.
    „Jetzt zieh schon“, wies ich ihn an. Er lachte noch kurz, dann tat er aber, was ich wollte. Wir zogen gleichzeitig an den Enden und legten sie möglichst weit entfernt voneinander weg.
    „Besser“, kommentierte ich zufrieden. Meine Beine schliefen langsam ein, deswegen verlagerte ich meinen Körper lieber auf den Boden, damit ich das unangenehme Kribbeln austreiben konnte. Ich begann unfreiwillig zu kichern. Verdammt, ich hasse es, wenn meine Körperteile einschlafen.
    „Was ist?“, lachte Erion, während ich mein Mienenspiel zwischen Kichern und böse schauen solange weitertrieb, bis das Prickeln nachließ. Meine Beine hörten wieder auf mich, auch wenn sie noch etwas bleich waren, weil erst jetzt das Blut zurück hineinfand.
    „Beine eingeschlafen“, erwiderte ich kurz und sah sie ärgerlich an.
    Er schwieg kurz. Legte den Kopf schief, lächelte, sah dann wieder ernst drein.
    „Angelique-“, begann er, ich unterbrach ihn aber schnell wieder:
    „Ange.“
    „Was?“
    „Nenn mich Ange. Wo ist da das Problem?“
    Erion sah kurz verwirrt aus, vollkommen aus dem Konzept gebracht. Dann brach er wieder in Gelächter aus.
    „Du heißt doch Angelique, oder nicht?“, lachte er, nachdem der erste Schwung von heftigem, kurzem Luftholen vorüber war.
    „Natürlich.“
    „Deswegen nenn ich dich so. Weil das dein Name ist.“
    Ich verzog das Gesicht.
    „Du weißt genau, was ich meine!“, stieß ich genervt aus.
    „Weil ich das Gefühl habe, dass mir das nicht zusteht“, beantwortete er mir schließlich doch noch meine Frage. Erion lachte jetzt nicht mehr. Die Ernsthaftigkeit war in sein Gesicht zurückgekehrt, und das mochte ich nicht. Er sah schon wieder so besorgt aus, aber ich wollte nicht, dass er sich wegen mir irgendwelche Gedanken machen musste. Erion wollte genauso wie ich eine Reise unternehmen, seinen Traum erfüllen, und das ohne Reue. Ich wollte keine Last sein, aber wie es aussah, wollte er mich partout als solche sehen.
    „Warum sollte es dir nicht zustehen?“, fragte ich, weil ich irgendeinen Weg finden wollte, ihm die Sorgen abzunehmen. Er war derjenige, dem ich zu verdanken hatte, dass ich jetzt hier war. Wegen ihm durfte ich reisen, ohne dass ich mich um Mamas Schicksal sorgen musste. Ihr ging es gut, das hatte sie selbst gesagt. Und ich vertraute ihr, so wie sie mir vertraute. So sehr, dass sie mich hatte gehen lassen, auch wenn es ihr unglaublich schwer fiel, ihr verbliebenes Kind genauso, auf die exakt gleiche Art und Weise zu verlieren wie ihren Ältesten.
    „Du… Deine Mutter und du, ihr habt viel für mich getan. Ich stehe in eure Schuld, und das weiß ich“, gab er schließlich nach einigem Zögern zu.
    „Ohne euch hätte ich es nicht weit gebracht. Vermutlich wäre ich jetzt nicht mal mehr am Leben“, grinste er schief.
    Ich setzte mich in den Schneidersitz. Das hier würde wohl noch etwas dauern.
    „Und deswegen willst du mich nicht Ange nennen?“
    „Das hört sich verdammt dämlich an, wenn du es so ausdrückst“, seufzte er. Erion setzte sich ebenfalls hin, die Beine von sich gestreckt. Ich rutschte ein wenig zur Seite, damit er Platz hatte und beugte mich nach vorne, weil das Zelt meinen Hinterkopf streifte.
    „Ist es ja auch. Ich mag meinen Namen nicht. Er klingt so… extraordinär.“
    „Soll das ein Witz sein?“, meinte Erion mit hochgezogener Augenbraue.
    „Ich bin nach einem Sternbild benannt. Wenn das nicht mal extraordinär ist.“
    „Orion, nicht wahr?“, meinte ich.
    „Richtig“, gab er zurück. „Irgendein antiker Jäger oder so…“
    „Genau genommen war er ein Sohn von Zeus oder Poseidon. Orion verliebte sich unsterblich in eine Enkelin von Dionysos, eines weiteren Gottes, deren Vater verbot aber die Liebschaft. Orion konnte sich nicht von ihr fernhalten und verführte sie schließlich. Das gefiel ihrem Vater natürlich nicht so sehr, und aus Rache stach er ihm die Augen aus. Da wiederrum wurde Eos, die Göttin der Morgenröte, auf ihn aufmerksam, und bat Hephaistos ihr dabei zu helfen, ihm sein Augenlicht zurückzubringen. Es gelang, und Orion schwor Rache an dem Vater seiner Geliebten, Eos konnte ihn aber noch dazu bewegen, es sein zu lassen. Er ließ sich auf einer Insel nieder, und die beiden verliebten sich ineinander, das wiederrum gefiel Artemis nicht, die aus Eifersucht Orion tötete. Irgendwann wurde ihr dann klar, Oh, hey, ich habe gerade jemanden wegen einem nicht existenten Grund getötet, und aus Reue verewigte sie ihn am Nachthimmel als Sternenbild.“
    Erion wirkte für einen kurzen Moment erschlagen. Ich wartete, bis er die vielen Informationen verarbeitet hatte, und unsicher einige Wort begann, die er dann aber unvermittelt abbrach.
    „Wow. Woher…?“, fragte er mich mit großen Augen.
    „Meine Großmutter hat mich in allerlei Dingen unterrichtet, als ich klein war.“, erklärte ich ihm wie selbstverständlich.
    „Und dazu zählt auch Mythologie?“, fragte er verdutzt.
    „Gott bewahre, nein. Sie hätte mir den Kopf abgerissen. Wann immer sie mit meinem Bruder beschäftigt war, hatte ich Gelegenheit, das Buch zu lesen, dass ich zwischen den Seiten ihrer Lehrbücher versteckt hab.“
    Hätte sie jemals herausgefunden, dass ich keineswegs die Bergpredigt las, sondern polytheistische Geschichten über Götter, die sich gegenseitig umbrachten und oder auch gerne mal quälten, dutzende Affären hatten und einander das Leben versauten, hätte sie vermutlich sofort durch den Schock das Zeitliche gesegnet. Und mich gleich mitgenommen.
    „Und du kamst auf Mythologie, weil…?“
    „Ich hatte viel Freizeit. Und eine große Bibliothek zur Verfügung. Irgendwann habe ich mich mal dort versteckt, weil ich wütend war und das erst beste Buch herausgezogen. Es langweilig wurde, auf und ab zu laufen.“
    „Wow. Ich meine, ich habe nur einmal kurz über Mythologie in Geschichte gelernt und das war uns schon zu hoch.“ Er rieb sich den Hinterkopf.
    „Du musst dich auch dafür interessieren. Wirklich angefangen hat das auch erst, als ich nach Alabastia gezogen war. Die Langeweile halt“, gab ich ungerührt zurück. Er brummte kurz, dann schwiegen wir.
    „Damit du die Abenteuer erleben konntest, die dir verwehrt waren.“, murmelte Erion plötzlich, seinen Blick in meinen verhakt. „Richtig?“
    Ich antwortete nicht, weil ich eine Weile brauchte, um zu verstehen, dass er mich gerade analysiert hatte.
    „Die ganzen Bücher über ferne Länder und Fantasiewelten… Du wolltest immer ein Abenteuer erleben“, fuhr er fort. Ja, es stimmte. Ich besaß viele Bücher, alle ordentlich aufgereiht in drei deckenhohen Schränken. Nur, wann war ihm das bitte aufgefallen?
    „Ja. Ja, schon.“, gab ich zu. Ich war viel zu verwirrt davon, dass er scheinbar in mir las wie ein offenes Buch. Der Blick aus den braunen Augen sah durch mich hindurch, aber ich fühlte mich wohl dabei. Sie wirkten warm und freundlich.
    „Du wolltest weg von dort, weil du dich nicht wohl fühltest. Aber die Verantwortung gegenüber deiner Familie hat dich dazu gebracht, zu bleiben.“
    „Was hätte ich auch anderes tun sollen?“ Ich grinste schief. „Meine Mutter war krank, musste versorgt werden, mein Vater war den ganzen Tag weg… Ohne mich wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich ihr Zustand soweit verschlechtert hätte…“
    Erion sah mich wachsam an, den Kopf auf seine Arme gestützt, die auf seinen Knien lagen, die er zwischenzeitlich angezogen hatte. Strähnen von grasgrünem Haar fielen ihm ins Gesicht, er war aber zu beschäftigt damit, mich zu analysieren, dass es ihm nicht auffiel.
    „Und dein Bruder?“, fragte er nach endlosem Schweigen. Die Luft im Zelt war fürchterlich stickig. Ich merkte, dass es mir schwerer fiel zu atmen. Wann hatte ich ihn denn in seiner Gegenwart erwähnt?
    „Nicht da“, gab ich stockend zurück. Es konnte nicht über ihn reden. Ich war es einfach nicht mehr gewohnt. Zu Hause hatte ich seinen Namen nicht mehr nennen konnte, weil ich wusste, wie sehr der Gedanke an ihn meinen Eltern wehtat. Und das übertrug sich auch auf mich.
    Ich vermisste ihn schrecklich.
    Aber erst wieder, seit ich Erion begegnet war. Weil er mich an ihn erinnerte.
    Erion wartete, für den Fall, dass ich es ihm erklären wollte. Und ja, das wollte ich. Nur schnürte mir der Kummer, die geballte Sehnsucht nach meiner Familie, mir gerade einfach den Hals zu. Ich biss mir nervös auf die Lippen. Öffnete den Mund, setzte an etwas zu sagen und klappte ihn dann doch wieder beschämt zu.
    Bis ich mich irgendwann überwand.
    „Er ging, als meine Eltern beschlossen, nach Alabastia zu ziehen. Ces… Cesario, das ist sein Name. Cesario war schon immer ein Draufgänger. Das Leben in so einem Kaff kam für ihn nicht in Frage. Da ist er weg, von heute auf morgen.“ Ich unterdrückte das nervöse Zittern in meiner Stimme. Verrückt. Als hätte ich Angst, dass etwas Schreckliches passiert, wenn ich es jemandem erzähle.
    Natürlich passierte etwas. Indem ich es jemandem erzählte, gab ich zu, dass ich mein Leben nicht freiwillig so lebte, wie ich es gelebt hatte.
    Hätte ich es meiner Mutter oder meinem Vater erzählt, wären sie unglaublich traurig geworden.
    Hätte ich es den Leuten erzählt, die mich so sehr für mein Verantwortungsbewusstsein lobten, dann hätte sie mich bemitleidet.
    Aber Erion war anders. Er war keiner von ihnen. Ich wusste, dass ich ehrlich zu ihm sein konnte, vertraute ihm, obwohl ich ihn nicht einmal richtig kannte.
    „Ziemlich selbstsüchtig, dich mit den Problemen alleine zu lassen“, kommentierte er missmutig. Seine Augen funkelten ärgerlich.
    „Es kann es ihm nicht verübeln. Er war für so ein Leben einfach nicht gemacht. Er wäre nur unglücklich gewesen, wenn er mitgekommen wäre.“, nahm ich meinen Bruder in Schutz, verwundert über den heftigen Unterton in seiner Aussage.
    „Und so hat er dich unglücklich gemacht.“, gab er zurück. „Er hat dich zurückgelassen und sich überhaupt nicht darum gekümmert, was aus dir wird. Ich meine, ein großer Bruder muss doch auf seine Schwester aufpassen, oder nicht?“
    Ich legte den Kopf schief. Hatte er mich wirklich im Stich gelassen? War Ces selbstsüchtig gewesen, als er gegangen war?
    Vielleicht. Ja, vermutlich. Aber er hatte er verdient. Als Ältester hatte er den Ansprüchen meiner Großmutter immer gerecht werden müssen. Natürlich war sie stolz auf ihren Enkel gewesen. Nur…


    „Komm schon, Cesario, du weißt die Antwort.“
    „Mensch, Oma, es ist schon nach drei. Können wir nicht Schluss machen?“, seufzte der Junge mit dem violetten Haar erschöpft. Seine Augen fielen immer wieder zu, und die Müdigkeit machten es ihm unmöglich noch einen klaren Gedanken zu fassen.
    „Was ist mit dir, Angelique? Du weißt die Antwort doch sicherlich.“, wandte sich meine Großmutter jetzt an mich. Ich überlegte kurz.
    „Der Autor will damit ausdrücken, dass es wichtig für die Menschen ist, sich nicht auf andere zu verlassen. Man soll selber denken, auch wenn das Handeln, das aus seinem eigenständigen Denken resultiert, Konsequenzen hat.“, antwortete ich ihr, schaute vom Blatt auf in das alte Gesicht, dass mit jedem Wort mehr strahlte.
    „Sehr gut“, lobte sie mich, strich mit ihrer Hand über meinen Kopf. Ich strahlte sie und meinen Bruder an, der matt lächelte.
    „Ehrlich, Cesario, du solltest-“, sprach sie nun ihn an, als er seine Sachen zusammenpackte, mit neuer Energie, weil der Unterricht jetzt endlich vorbei war.
    „Ja, ich weiß. Ich soll mir ein Beispiel an meiner Schwester nehmen“, grummelte er. Ich mochte es nicht, wenn sein Gesicht so düster aussah. Ich rutschte ungeschickt von meinem Stuhl herunter und umarmte ihn von hinten.
    „Was spielen wir jetzt?“
    Er lächelte wieder etwas.
    „Tut mir Leid, Ange. Ich brauche etwas Ruhe, okay? Vielleicht ein anderes Mal.“


    Ich war begabt. Das hatte man mir in meinem Leben schon so oft zugestanden. Meine Oma hatte mir das gesagt, immer mit dem gleichen, stolzen Lächeln, meine Lehrer, verblüfft aber angetan, und auch meine Klassenkammeraden, mit einem Hauch Neid.
    Ich wusste, dass Talent, besonders im Übermaß, schwer zu handhaben war. Sie sagten, man solle sein Talent zeigen. Ich folgte ihrem Rat.
    Und in Null Komma nichts wollte niemand mehr etwas mit mir zu tun haben. Ich war einsam. Begabt, aber einsam.
    Da tat ich das, was jeder tun würde. Genau das Gegenteil.
    Aber seit ich in Alabastia war, machte es keinen Unterschied mehr. Ich lebte meine Talente aus, weil sich eh niemand mit mir anfreunden wollte.


    „Ich habe ihm oft Schwierigkeiten bereitet. Ces hat sich immer um mich gekümmert, hat mich vor den Älteren beschützt, auch wenn sie ihn dann verprügelt haben. Er hat mich gesucht, wenn ich nicht rechtzeitig nach Hause kam, bei Wind und Wetter, und er saß Stunden lang an meinem Bett wenn es mir nicht gut ging und ich nicht schlafen konnte. Wage es ja nicht, ihn einen schlechten Bruder zu nennen!“, fauchte ich ihn ungewollt heftig an. Meine Lippen bebten, und ich merkte, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Erion zuckte zusammen, blieb aber ruhig. Irgendwann schmeckte ich etwas Salziges in meinem Mund. Und da war es mit meiner Selbstbeherrschung zu Ende.
    „Angelique…“
    Es war mir egal, dass er mich so nannte. Wie weit wir von unserem Ursprungsthema abgekommen waren…
    Erion kroch auf mich zu und sah mich entschuldigend an. Hob seine Hand, um mich an der Schulter zu berühren, ließ sie wieder sinken.
    Und griff dann doch zu.
    „Es tut mir Leid. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich weiß im Grunde doch gar nicht…“, flüsterte er mir zu.
    Ich schüttelte den Kopf. Erion wollte mich nicht wütend machen. Er machte sich nur Sorgen um mich. Und das machte die ganze Sache noch viel schlimmer. Irgendwann beruhigte ich mich.
    Und begann zu lachen.
    „Das habe ich noch nie jemandem erzählt“, erklärte ich Erion, als er mich verwirrt ansah. „ Hatte ja keine Freunde in Alabastia.“
    „Warum erzählst du es dann mir?“, fragte er mich leise.
    Ich lächelte, strich mir eine Träne aus dem Augenwinkel.
    „Aus dem gleichen Grund, warum ich auch möchte, dass du mich Ange nennst.“
    „Weil du deinen Namen nicht magst?“, gab er trocken zurück. Ich stockte kurz, dann begann ich zu Lachen. Erion stimmte mit ein.
    „Nein, du Depp, natürlich nicht.“, kicherte ich. Ich verstummte und wartete darauf, dass er auch aufhörte zu Lachen. Er sah mich lange an, mit weichem Blick.
    „Weil wir zusammen reisen, und ich glaube…“ Ich brach ab. Das hier war irgendwie… peinlich. Erion kniff dir Augen kurz zusammen und wartete.
    Ich seufzte. Hoffentlich würde er es nicht falsch verstehen.
    „Ich glaube, dass du… seit langem der Erste bist, dem ich vertrauen will.“
    Seine Augen weiteten sich, wohl ungewollt, und er musterte mein Gesicht jetzt eingehender. Irgendwann fiel sein Blick auf seine Hand, die immer noch auf meiner Schulter lag, tröstend, bestimmt. Er zog sie weg, schaute zu Boden, dachte nach.
    „Du bist nicht der Einzige, der hier jemandem etwas schuldet“, hörte ich mich sagen. Jetzt hatte ich seine Aufmerksamkeit wieder.
    „Wenn du nicht aufgetaucht wärst, dann wäre nicht nie… Ich wäre nie auf die Idee gekommen, wegzugehen.“
    „Weil du mehr an andere denkst als an dich selber.“ Erion nickte ernst.
    „Ich hätte nie die Chance gehabt, das hier zu erleben“, fuhr ich fort, machte eine ausladende Geste.
    „Dann wärst du auch nicht beinahe von einem Georok überrollt worden.“, wandte er mürrisch ein. Ja, er machte sich tatsächlich Gedanken, wenn nicht sogar Vorwürfe.
    „Erion, ich bin beinahe sechzehn, fast so alt wie du. Ich kann auf mich selbst aufpassen“, brummte ich genervt. Er setzte zu einer verzweifelten Erwiderung an, die ich rasch mit einem ‚Halt jetzt bloß den Mund‘ verhinderte.
    „Ich weiß, dass es gefährlich und anstrengend ist, und ich weiß auch, dass ich das kann. Wo ist dein verdammtes Problem?“, fuhr ich ihn an, weil er immer noch nicht überzeugt aussah.
    „Weil ich versprochen habe, dich zu beschützen. Deswegen!“, konterte er mit einem langen, resignierenden Seufzer.
    „Und ich habe dir versprochen, keine Last zu sein. Tu nicht immer so, als wäre ich dir ein Klotz am Bein“, meinte ich. Meine Stimme klang fürchterlich bitter.
    Erion sah mich für eine Weile einfach stumm an, und ich sah, wie es in seinem Kopf arbeitete. Irgendwann ging ihm ein Licht auf. Er verstand, dass mich sein Verhalten wütend machte und verletzte.
    „Angelique, das-“
    „Ange!“, fauchte ich ihn an. Hatte er es immer noch nicht gelernt? Langsam verlor ich die Geduld.
    „Hör mir jetzt mal genau zu! Du hast mir versprochen, mich auf diese Reise mitzunehmen, und mich zu beschützen. Ich habe dir versprochen, dass ich keine Last sein werde. Wo liegen denn da noch die Probleme? Wir werden eine ganze Weile zusammen unterwegs sein. Ich will keine Fremde für dich sein, Erion! Ich will, dass du mir vertraust, sonst kann ich dir nicht vertrauen“, erklärte ich ihm, bemüht, meine Stimme möglichst ruhig zu halten. Meine Tränen waren getrocknet, jetzt verschwendete ich keine Gedanken mehr an die Vergangenheit. Alles, was jetzt zählte, war die Zukunft. Und ich wollte keine Zukunft, wenn er mich nicht als das sah, was ich war.
    Erion rieb sich seine Schläfen. Er war genauso erschöpft von der Reise wie ich. Wir waren beide nicht daran gewöhnt.
    „Ich… Du bist keine Last. Hörst du? Ich…will doch auch nicht, dass wir nur zusammen reisen. Du hast mir das Leben gerettet, zweimal in zwei Tagen. Du hast mehr für mich getan als mein Vater in meinem gesamten Leben.“
    Mir tat es eigentlich schon wieder leid, ihn so niedergeschlagen zu sehen. Ich hatte ihn nicht an seinen Vater erinnern wollen. Für ihn war das genauso schlimm wie für mich der Gedanke an meinen Bruder.
    „Bin ich etwa dann nicht… so etwas wie eine Freundin für dich?“
    Ich hasste mich dafür, dass ich traurig klang. Aber vielleicht brachte gerade das den Ausschlag. Erion schaute geschockt, rang nach einer Antwort, die mich zufriedenstellen würde. Er spielte nervös an seinem Stoffarmband, tauschte Blicke zwischen seinem Handgelenk und meinem Gesicht aus. Sein Kopf rauchte förmlich, und dass er sich so anstrengte… Ich war dankbar und wusste die Antwort auf meine Frage bereits, bevor er sie überhaupt formulierte.
    „Mein Gott… Doch, natürlich. Ich möchte, dass wir Freunde werden“, murmelte er erschüttert.
    „Auch, wenn wir nicht zusammen reisen würden.“
    Ein Stein fiel mir vom Herzen, laut und deutlich. Oder, nein, das war nur Anthrazit, das draußen vor dem Zelt herumrollte.
    „Du weißt sowieso schon zu viel über mich, als dass wir nur Fremde sein könnten“, kicherte ich.
    „Ist das schlimm?“, fragte er mit deutlicher Sorge.
    „Hätte ich es dir erzählt, wenn ich es nicht gewollt hätte?“, konterte ich. Er lächelte dankbar. „Nur, was ich gerne wissen möchte… Wie hast du so viel über mich herausfinden können? Das mit den Büchern zum Beispiel…“
    „Beobachtungsgabe. Ist ziemlich nützlich, wenn man Forscher werden will“, antwortete er mir grinsend. „Außerdem sind wir uns ziemlich ähnlich.“
    „Wie meinst du das?“
    „Wir beide… haben viel für unsere Familie geopfert, Ange. Das meine ich.“
    Endlich.
    Der Anfang war gemacht und mein Herz schlug drei Etagen höher. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lächeln, auch wenn diese Gemeinsamkeit an sich ja nicht so toll war.
    Aber immerhin, als ich ihn ebenfalls lächeln sah, da war mir das egal. Ich war einfach nur… glücklich. So glücklich, wie lange nicht mehr.

  • Heyho Cáithlyn,
    ich liebe ja diesen Abbonier-Button. So komme ich deinen anderen Lesern zuvor xP


    Ich habe ja schon erwähnt das mir die Kapitellänge immer zusagt. Sie ist sehr angenehm. Aber jetzt je mehr Kapitel ich von dir lese
    desto mehr wachsen mir deine Charaktere ans Herz und ich will mehr und mehr lesen. Was ich noch schreiben wollte war, dass ich deine Dialoge einfach liebe. Nicht nur die sondern auch die Reaktionen und Taten wirken auf mich so...echt. Nicht als ob eine kleine Cáithlyn sich vor ihrem PC alles ausdenken würde.
    Haha, meine Vermutung hat sich bestätigt und es ist ein...Georok! Schwer war es nicht wie du es schon gesagt hast.
    Ich lese mir immer deine Kapitelübersicht durch. Was ich letztes Mal vergessen hab anzumerken: Luca hat sich doch in Ange verguckt.
    Man kann es ihm ja nicht verübeln, sie ist ja auch hübsch.
    Ach ja, Erion und Ange kommen sich immer näher. Find ich schön und seine Zweifel sind auch von ihm abgefallen.
    Er sollte Angelique nicht immer das Gefühl geben, dass sie ein Klotz am Bein ist. Hat sie ihm ja schon erklärt, sollte er sich merken^^
    Ich freue mich schon auf die "Jagd" nach den Raupy. Wie Ange sich wohl in einem Kampf schlagen wird?
    Wird bestimmt interessant zu lesen sein.
    Und noch am Schluss: Erion finde ich einfach nur toll. Er ist mein Liebling von allen. Ich mag sein Tatendrang und seine Neugierde. Wie er das arme Georok "gequält" hat :D Zum Glück ist Angelique ja noch da um ihn zurechtzuweisen.


    Freue mich schon auf das nächste Kapitel,
    Mica.

  • Bonjour,


    endlich geht es weiter und wie es scheint, hat sich die nun erste Studie abseits des bekannten Taubsis Tsubasa dazugesellt. Wie sie geworden ist? Das bedarf eigentlich keiner Worte, denn gerade, wenn man anfängt, mit Freunden sein Hobby zu leben und sich weiterzubilden, kommt es meist immer zu Problemen. So auch bei Ange und Erion, wobei sich letzterer kaum beherrschen kann, mehr über Georok herauszufinden und dieser Forscherdrang macht ihn einzigartig. Nicht viele Charaktere, die ich bisher gesehen habe, werden so grob wie er, aber ich hoffe doch, dass sich das mit der Zeit noch geben wird. Hier handelt es sich immerhin um ein Pokémon, das schon mit Menschen Vertrauen gefasst hat und so zieht es sich eher zurück, ohne aggressiv zu werden; nicht wie bei in der Wildbahn lebenden. Gerade dann kann es nämlich zu Problemen führen und ich würde mich nicht wundern, wenn die drei ebenso von einer Meute Bibor angegriffen werden würden. Schade ist in der Hinsicht dann eigentlich nur noch, dass Ange ihr Werk am Ende nicht präsentiert hat, sodass Erion seine Meinung sagen soll. Ich denke, das hätte abermals eine recht witzige Situation ergeben.
    Ich war aber verwundert, dass der Rest dann eher wieder auf zwischenmenschliche Beziehungen eingeht und ganz ehrlich? Genau das macht deine Charaktere auch so sympathisch und lebensecht. Man glaubt wirklich, dass sie ihren eigenen Willen haben und nicht einfach nur durch die Geschichte gescheucht werden. Überhaupt Erion ist mit seinen Zweifeln ein sehr nachdenklicher Mensch, der gerne einmal über die Stränge schlägt und dabei trotzdem freundlich bleibt, solange er sich nicht seinem Hobby hingibt und gerade die Beziehung zwischen den beiden arbeitest du hervorragend aus. Das macht das Ende in gewisser Hinsicht sogar süß anzusehen, wie sie sich necken und näher kommen und lässt eine tolle Zukunft erahnen.
    Einziger Kritikpunkt hier wäre, dass du dich mit der Mythologie an unsere Welt gehalten hast, wobei es fraglich ist, ob man die nicht auch für die Pokémonwelt geltend machen kann. Ich persönlich finde es nur merkwürdig, wenn ich in einer Pokémongeschichte plötzlich von griechischen Sagengestalten und Göttern lese, die hier eigentlich wenig verloren haben.


    Mach weiter so. ;D
    ~蛇

  • [tabmenu]
    [tab=Mica]
    Heyho ^_^
    Danke für deinen Kommentar und dein Lob, erst einmal. Ich bin froh, dass dir die Story so gut gefällt. Bei den Dialogen bin ich mir nicht immer sicher, aber gut, dass du sich natürlich findest. Darauf kommt es meiner Meinung nach auch an. Eine gute Geschichte sollte, zumindest von den Handlungen der Personen her, realistisch und nachvollziehbar sein.
    Ja, Erion bekommt seinen ersten Konkurenten und aktuell (also,bis zu diesem Kapitel) ist sie auf Luca wohl auch etwas besser zu sprechen xD
    Ange und Erion sind auch meine Lieblinge, wobei ich Ange wohl noch etwas vorziehe, ich weiß nicht, warum. Nur habe ich die Angewohnheit, meine Lieblingscharas ein wenig zu quälen xD
    Und der erste Kampf wird bald kommen, keine Sorge. Nur noch nicht jetzt. Das dauert noch mindestsns ein Kapitel ^_^
    Caithy
    [tab=Snake]
    Hi ^_^
    Okay, das ist gruselig xD In einem deiner Kommentare weißt du auf etwas gefährliches im Wald hin, um jetzt schreibst du etwas von einer Meute Bibor. Nur um das klarzustellen, den Teil des Kapitels hatte ich schon fertig, als du deinen Kommentar gepostet hattest xD Die Bibor Meute kommt übrigens noch einmal vor, auch etwas, was ich mir vorgenommen hatte, bevor ich deinen Kommi gelesen hatte xD
    Zu den Religionen, ich bin mir nicht sicher (um die Pokemonmythologie habe ich mich nie wirklich gekümmert) aber ich glaube, dass in den ersten Editionen nie wirklich darauf eingegangen wird. Zusätzlich bin ich davon ausgegangen, dass es, genauso wie bei uns, unterschiedliche Religionen gibt. Einige Religionen haben ja Götter in Tieroptik, das wäre in der Pokemonwelt dann eben die Götter mit Pokemonoptik. Gleichzeitig haben wir ja aber auch Religionen mit Göttern, die wir uns in Menschengestalt vorstellen, das wäre dann zum Beispiel die griechische Mythologie. Zusätzlich dazu faszinieren mich diese Sagen,ich denke, dass ich sie deswegen eingebracht habe.
    Danke für dein Lob und deinen Kommentar, ich freue mich jedes Mal darüber, von dir /euch zu hören ^.^
    Caithy
    [/tabmenu]



    Sechste Studie: Hornliu


    „Kann ich noch etwas Brot haben?“
    Ich griff in die Schale, holte den Laib heraus und zog an ihm, bis zu in einen kleineren und einen größeren Teil auseinander riss. Den kleineren gab ich Erion, der sich kurz bedankte. Es war kalt geworden, und plötzlich sehr dunkel. Joseph hatte Recht gehabt, ohne ein Lagerfeuer wäre es uns unmöglich gewesen, weiter als zwei Meter zu sehen. Die Lichtung glühte rot, die Flammen züngelten genüsslich an den Holzscheiten, die wir immer wieder auflegten, und im Topf blubberte ein Eintopf vor sich hin, den ich mit dem Gemüse, das Luca, mitgenommen hatte, gezaubert hatte. Ich atmete den Geruch von Wald und Pflanzen, von brennendem Holz und meiner Kochkünste ein, seufzte zufrieden. Anthrazit hatte sich etwas weiter vom Feuer entfernt zu einer Kugel gerollt niedergelassen und gab keine Geräusche mehr von sich.
    Auch mir steckte die Müdigkeit wieder in den Knochen. Jetzt, wo ich nicht mehr hungrig und durstig war, fühlte ich mich wohl und mein Körper meldete sich jetzt etwas schläfrig zu Wort.
    „Schmeckt es dir, Luca?“, fragte ich unsere Führer. Er war recht ruhig, seit wir die Lichtung betreten und unsere Zelte aufgestellt hatten. Die waren jetzt eingerichtet und erwarteten uns förmlich. Nur wollte ich meine erste Nacht genießen, so lange es ging. Bis auf ein paar kleine Wolken war der Himmel sternenklar. Nur Orion konnte man nicht sehen. Der tauchte nur im Winter über uns auf und spendete uns Gesellschaft. Gerade war aber Sommer, und schon jetzt fand ich es beschwerlich, zu reisen. Was sollte denn erst werden, wenn der erste Regen kam?
    Ich wollte reisen. Und ich würde es tun. Auch wenn ich jetzt merkte, dass ich vieles nicht bedacht hatte…
    Ich schüttelte den Kopf um die Gedanken zu vertreiben und lächelte Luca an, als er matt bejahte. Gleichzeitig machte ich mir Sorgen. Bei Joseph war er noch so lebendig gewesen. Und jetzt? Ich hatte das Gefühl, als hätte ich ihm etwas Unverzeihliches angetan.


    Wir beschlossen es heute gut sein zu lassen und stellten den Topf einfach auf einen Stein, damit er das Gras nicht verbrannte, und dämmten das Lagerfeuer etwas ein, so konnte es nicht auf die Äste übergreifen und den ganzen Wald in Brand setzen.
    Ich verschwand zuerst im Zelt und zog mich um, was im Sitzen komplizierter war als ich gedacht hatte. Das Shirt auszuziehen war ja noch einfach, aber spätestens bei der Hose, die mir mittlerweile an den Beinen klebte, gestaltete es sich als schwierig. Ich stieß einige Flüche aus, riss die Schlafsäcke auseinander und kippte nach hinten um, bis ich sie endlich falten und in eine Ecke legen konnte. Da fiel mir auf…
    „Mist.“ Mein Rucksack lag noch draußen.
    „Luca..?“, flüsterte ich. Ich konnte einen Schatten vor dem Zelt huschen sehen, der verhältnisweise klein war.
    „Luca, neben dem Zelt liegt mein Rucksack. Kannst du ihn mir geben?“ Ich wollte wirklich nicht in Unterwäsche herausspazieren und so tun, als wäre nichts. Es raschelte etwas, dann streckte eine Hand das Gepäckstück hinein. Ich seufzte erleichtert.
    „Warum holst du ihn dir nicht?“, hörte ich ihn fragen. Ich antwortete nicht, bevor ich meinen Schlafanzug herausgeholt hatte und die kurze Hose über die Beine streifte. Dann gab ich ihm eine Ausrede als Erwiderung und beließ es dabei. Als ich schließlich auch noch das Oberteil anhatte, steckte Erion seinen Kopf hinein.
    „Hey!“, fauchte ich ihn.
    „Ach komm. Ich wollte nur mal nachschauen, ob mit dir alles in Ordnung ist. Hast du hier drin Yoga gemacht, oder dich umgezogen?“, zog er mich jetzt auf. Ich sah mich um und warf ihn dann mit meinem Shirt ab, dann mit meiner Hose, und als ich schließlich die Schuhe aufhob, kapitulierte er lachend.
    „Lass sie in Ruhe!“, hörte ich Luca draußen fauchen.
    „Was mach ich denn?“ Erion war die Verwirrung förmlich anzuhören. Ich hörte ein angriffslustiges Knurren und das reichte mir. Schnell krabbelte ich zum Eingang und streckte den Kopf heraus. Luca stand, vorgebeugt und alle Muskeln angespannt, bedrohlich nah vor Erion, der sich nur etwas nach hinten gebeugte, aber ansonsten keine Anstalten machte, zurückzuweichen.
    Luca Augen glühten rot vom Feuer, dass flackerndes Licht in sein Gesicht warf, und Erions Augen verwandelte es in Bernstein.
    „Jetzt hört schon auf, alle Beide!“, kommandierte ich. Die beiden warfen sich noch einen kurzen, intensiven Blick zu, dann marschierte Luca schnurstracks zu seinem Zelt, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich verstand es nicht. Was hatten wir ihm getan?
    „Da hat wohl einer nen‘ Beschützerinstinkt…“, murmelte Erion und fuhr sich durch das grasgrüne Haar.
    Jetzt wo er es sagte. Ja, er hatte mich verteidigt. Aber warum? Und vor allem, wovor? War ja nicht so, als hätte Erion mich beleidigt, oder angegriffen. Er hatte nur Spaß gemacht, nichts Ernstes.
    „Darf ich?“, fragte mein Begleiter mich jetzt etwas missmutig. Ich schaute noch kurz zum anderen Zelt herüber, nickte dann und krabbelte heraus, damit er sich umziehen konnte.
    Fast sofort meldete sich mein Körper und verpasste sich selbst eine Gänsehaut. Der Boden unter meinen nackten Füßen war kalt und ich rieb mir die Arme, die ich vor der Brust verschränkt hatte. Das Lagefeuer war schön warm, aber nach einer Weile war die Vorderseite zu warm und mein Rücken immer noch tiefgefroren. Ich drehte mich langsam um, wie ein Fleischspieß und seufzte zufrieden, als mein Körper wieder zu kribbeln begann. Mein sehnsüchtiger Blick fiel auf das Zelt. In meinem Schlafsack würde ich es schön warm haben… Aber den Teufel würde ich tun, jetzt hineinzugehen.
    Licht fiel auf die grüne Oberfläche des Zeltes und durchleuchtete es förmlich. Jetzt sah ich, was Erion gemeint hatte. Seine Silhouette zeichnete sich darin ab, ein wenig flackernd, wenn die Flammen züngelten. Ich beobachtete den merkwürdigen Tanz von Licht und Schatten. Zwischendurch konnte ich sein Gesicht im Profil erkennen, oder den breiten Rücken…
    „Ange?“
    Ich brauchte einen Moment um zu realisieren, dass ich gemeint war, und noch einen Moment, um mich endlich losreißen zu können. Luca stand neben mir, fingerte an seinem Hut herum.
    „Alles okay?“
    Ich nickte verwirrt.
    „ Du sahst‘n bissl abwesend aus.“, klärte er mich auf. Ich schüttelte peinlich berührt den Kopf, fuhr mir durch die Haare und meinte, dass ich nur nachgedacht hätte. Hatte ich ja auch. Über was wusste ich nur gerade nicht mehr. Er sah mich aus seinen orangenen Augen an, lange und wachsam, und ich wusste nicht, ob ich den Blick erwidern sollte. Bisher schaute ich ihn nur aus dem Augenwinkel an und ließ meine Augen immer dann nach vorne schnellen, wenn er es bemerkte.
    „Also, Luca, wie…äh… wie geht es dir?“ Ich überwand mich schließlich doch und drehte mich zu ihm um, schenkte ihm ein Lächeln.
    „Wie lange kennt‘n ihr euch?“, antwortete er stattdessen. Ich blinzelte überrascht. Okay, dann eben kein Smalltalk.
    „Ich… W-Wie bitte?“
    „Erion un du. Wie lange?“, beharrte er.
    „Heute ist… Der dritte Tag. Glaube ich.“
    Ja, stimmt, drei Tage erst. Es kam mir viel länger vor. Vielleicht weil in dieser Zeit so viel passiert war, Schönes und Schreckliches. Mein ganzes Leben hatte sich verändert.
    Zum Guten, oder zum Schlechten? Das würde ich noch herausfinden können.
    „Aha.“ Mehr sagte Luca nicht. Er drehte sich einfach um und verschwand wieder in seinem Zelt. Ich murmelte ihm ein halbherziges „Schlag gut“ hinterher und wunderte mich noch immer. Was wollte er mit diesem Wissen anfangen? Ich fuhr mir nervös durch die Haare. Irgendetwas stimmte mit diesem Jungen einfach nicht!
    Ich spürte etwas Warmes über meinem Rücken. Es legte sich über meine Arme und wärmte mich etwas.
    „Besser?“, fragte Erion mich, streckte seinen Kopf über meine Schulter.
    „Ja…“, murmelte ich, strich die Jacke glatt, die er mir über die Schulter gehangen hatte. Das war die, die er angehabt hatte, als ich ihn vor drei Tagen fand. Sie war nicht besonders dick, aber dafür schon vorgewärmt.
    „Was wollte er?“, Erion stand jetzt neben mir, vor dem Lagerfeuer.
    „Bin mir nicht sicher“, nuschelte ich und zog die Schultern an. Ich verschränkte die Arme und rieb sie mir mit den Händen etwas warm.
    „Frostbeule!“, zog er mich lachend auf. Ich schnaubte und schlug ihm leicht in die Seite. Er lachte nur noch mehr.
    „Meinst du, wir schaffen es durch Azuria?“, fragte ich ihn unvermittelt. Das brachte ihn zum Schweigen und Nachdenken. Er hatte die Angewohnheit, in die Ferne zu starren, wenn er nachdachte. Jetzt blickte er ins Feuer, mit seltsam abwesenden Augen.
    „So weit sind wir noch gar nicht“, gab er schließlich zurück. „Lass es uns erst einmal bis dahin schaffen.“
    Ich nickte stumm. Wir hatten noch einiges an Weg vor uns, da würde es nichts nützen, sich jetzt schon Sorgen zu machen. Dafür hatte ich später schließlich noch reichlich Zeit.
    „Und selbst wenn wir es nicht schaffen… War schön, dich kennengelernt zu haben.“
    „Du tust so als ob er dich in Stücke reißen wird!“, stieß ich entsetzt aus.
    Erion lächelte schwach und murmelte leise: „Weißt du denn sicher, dass er es nicht tun wird?“


    Ich lag an diesem Abend noch lange wach. Jetzt, wo ich eigentlich hätte schlafen sollen, hörte ich all die Geräusche, die kleinen Lebenszeichen des Waldes, sehr viel lauter. Das Feuer knisterte leise, und selbst Erions Atmen kam mir vor wie Sturmwinde. Ich seufzte oft, drehte und wälzte mich im dünnen Schlafsack herum. Das war nämlich das zweite Problem. Ich war das hier einfach nicht gewohnt. Mir war noch etwas kalt, und am Anfang zitterte ich wie Espenlaub, mittlerweile beschränkte sich mein Körper dank Müdigkeit nur noch auf gelegentliches Schütteln und Zucken.
    Ich brauchte eine lange Weile um zu verstehen, warum mir das Schlafen so schwer fiel. Sicher, harter Boden und wenig Platz taten ihr Übriges, aber am schlimmsten war die Angst.
    Ich hatte noch nie draußen übernachtet, vom Wald mal ganz abgesehen. Und jetzt zischte und rauschte alles, Schatten tanzten in der Gegend umher, als würden sie ein Opferritual begleiten. Ich zitterte wegen der Kälte, aber auch wegen der Angst. Und mein Herz hüpfte Trampolin.
    Beim Knacken eines Astes zuckte ich schließlich zusammen. Ich verharrte reglos und verfluchte Erion, der sich ausgerechnet diesen Moment aussuchte, um einen schlaftrunkenen Seufzer auszustoßen. Er zog die Aufmerksamkeit auf sich… Und gerade das konnte ich gerade absolut nicht gebrauchen.
    Da, schon wieder. Diesmal näher. Noch eins.
    Rauschen von Blättern im Wind. Knistern von Feuer. Knacken von einem Ast. Es kam näher.
    Warf Schatten auf die Zeltwand, groß und deformiert. Ein langes Wesen.
    Groß.
    Gefährlich.
    Ich sah, dass es sich umwandte und mein Herz blieb stehen, als es mich ansah.
    Nein, das stimmte nicht. Sein Schatten fiel nur so unglücklich, dass es so aussah, als würde es hierherschauen.
    Tat es aber nicht.
    Mit Sicherheit nicht.
    Etwas streifte das Zelt. Stoff raschelte, und ich hielt den Atem an. Mein Herz ließ meinen Brustkorb fast explodieren. Hätte ich es gekonnte, hätte ich die Arme rechtzeitig aus dem Schlafsack ziehen können, hätte ich Augen und Mund damit verdeckt. Stattdessen presste ich Ersteres so fest ich konnte zusammen, dass Sterne vor schwarzem Hintergrund erschienen und mir schwindelig wurde.
    Schon wieder ein Knacken.
    Diesmal weiter weg.
    Erion wandte sich im Schlaf um.
    Ich musste ihn wecken.
    „Erion!“, fauchte ich so leise, dass es kaum hörbar war. Er reagierte nicht.
    Würde ich lauter rufen, dann würde dieses Ding es hören. Ich zitterte am ganzen Leib und meine Gedanken brachen unvermittelt ab.
    Nachdenken, Angelique. Immer mit der Ruhe. Solange du nur leise bist-
    Knacken. Lauter als zuvor.
    Mein Kopf hatte einen Kurzschluss. Ich trat in Erions Richtung, die Ohren rauschten. Er schreckte ruckartig auf und begann einen Satz mit viel zu vielen Fragepronomen am Anfang, schaute sich verwirrt und erschrocken um, bis sein Blick auf mich fiel.
    Er seufzte und entspannte sich ein wenig.
    „Was ist denn-“, begann er, ich trat ihn aber erneut, diesmal sanfter und schüttelte den Kopf. Er fuhr mit seinen Fingern durch die zerzausten Haare, runzelte leicht genervt die Stirn.
    „Was ist?“, flüsterte er eindeutig schlecht gelaunt.
    Draußen krachten schon wieder die Äste. Jetzt zuckte auch er zusammen.
    „Was ist das?“, fragte er mit finsterem Blick. Ich hob, so gut das in meinem Schlafsack ging, die Schultern an. Woher sollte ich das denn bitte wissen?!
    Ich stieß einen erstickten Laut aus, als er sich mit einem Male aufrappelte, aus seinem Schlafsack pellte und nach der Taschenlampe griff, die Luca uns für die Nacht überlassen hatte. Sie war groß und klobig, und auch nicht gerade das, was man leicht nennen konnte, aber…
    „Bist du verrückt?“, hauchte ich entsetzt. Nein, verrückt traf es nicht ganz. Eher suizidgefährdet. Erion hielt sich den Finger vor den Mund und zog seine Jacke an, alles leise und vorsichtig, damit das- oder der oder die, je nachdem- was da draußen herumschlich, nichts davor mitbekam. Ich versuchte angestrengt, mich aus meinem flauschigen Gefängnis zu befreien, aber eben dieser Plüsch hielt mich völlig wehr- und bewegungslos gefangen. Die Panik tat ihr übriges. Ich hatte keine Ahnung, ob ich Arm oder Bein bewegte. Und in welche Richtung schon mal gar nicht.
    So konnte ich also nur hastig den Kopf schütteln und austreten, als Erion den Reisverschluss aufzog, und vorsichtig aus dem Zelt kroch, die Taschenlampe in der Hand wie einen Knüppel.
    Sobald er ganz verschwunden war, machte ich noch einmal Randale. Ich rief leise nach ihm, bis ich dann endlich begriff, dass es keinen Zweck hatte. Mir ging die Puste und die Sicht aus und meine Beine wurden lahm. Also konnte ich nichts anderes tun als lauschen. Lauschen, und hoffen, dass ihm nichts passierte.


    Es passierte vorerst auch nichts. Keine Geräusche, nicht einmal einen Mucks. Je länger ich im Zelt saß, desto nervöser wurde ich. Irgendwann fanden meine Finger dann den Reißverschluss. Und gerade, als ich ihn nach unten zog, da hörte ich einen ungehaltenen Fluch.
    Erion.
    Erion.
    Erion war in Gefahr.
    Ich merkte nicht mal mehr, dass der Schlafsack endlich offen war. Ich stolperte nur noch ungeschickte aus dem Zelt heraus, knallte auf die Knie, weil ich am Eingang hängen blieb, wagte aber nicht zu fluchen. Andererseits war das jetzt auch egal.
    „Erion?“
    Keine Antwort.
    Ich kam mir wieder so verloren vor. Wie zu dem Zeitpunkt, an dem Sanders an der Tür geklingelt hatte…
    Sanders. Sanders? Konnte das sein?
    Nein, das-
    „Ange!“
    Ich hörte es nur als Flüstern, und nahm es auch erst nicht wirklich wahr. Die Stimme rief noch einmal nach mir. Nein, niemals. Ich würde nicht in mein Verderben hineinlaufen. Nein, nein, nein!
    „Ange, komm her!“
    Nein…
    „Jetzt komm schon!“
    Ich will aber nicht! Muss das denn sein? Meine Beine zitterten schrecklich, und diesmal hatte das rein gar nichts mit der Kälte zu tun. Mir war schlecht. Eigentlich dürfte ich nicht einmal darüber nachdenken.
    Erion war in Gefahr, und ich bewegte mich nicht von der Stelle.
    Ich wollte ihm ja wirklich helfen! Ja, wollte ich, aber… Warum musste es ausgerechnet so eine Situation sein? Konnte uns nicht einfach jemand in einer Seitengasse überfallen?
    „Ange!“
    Ich bewegte mich von selber. Bog um das Zelt, weg vom Feuer, das mir zumindest noch etwas Licht spendete.
    Schatten und Dunkelheit. Alles war ruhig.
    Ich wusste nur eins. Ich wollte nicht hier sein. Definitiv nicht.
    Ich hörte etwas summen. Es wurde lauter, dann mal wieder leiser. Hörte kleines Getrippele auf dem Boden, wie von hunderten von Füßen. Das Sirren von schnellen Flügelschlägen.
    Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Ich blinzelte schnell, bis ich endlich erkennen konnte, was dort, keine fünf Meter weit entfernt, vor sich ging.
    Ich öffnete den Mund und stieß einen erstickten Schrei aus, den man mir unterband, indem sich eine Hand darüber legte.
    Ich wurde nach hinten gezogen, etwas weg von dem Gewusel aus Schatten, umfasst von starken Armen.
    „Psht!“, machte es neben meinem Ohr. Ich strampelte und wollte mich freikämpfen, bis ich auf die naheliegende Lösung kam. Mein Mund füllte sich mit dem metallischen Geschmack von Blut als ich meine Zähne in die Hand grub, die mich festhielt.
    Er fluchte, ließ mich aber nicht los.
    „Ange, komm runter!“, zischte er mir zu. Ich erstarrte, als Erions Gesicht neben meinem auftauchte und beruhigte mich langsam. Mein Herz pochte immer noch wie verrückt, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, warum der Geschmack nicht nachließ. Ich lockerte meinen Biss und spuckte den letzten Rest von Blut aus.
    „Warum-“, begann ich halb wütend, halb erleichtert darüber, dass er unversehrt war. Diesmal war er derjenige, der mich zum Schweigen brachte. Er zischte mich kurz an und deutete dann mit dem blutenden Finger in den Schatten. Das Brummen wurde lauter.
    Und aggressiver.
    Und diesmal konnte ich ohne Probleme erkennen, was wir da hatten.
    Einen Haufen unerfreuter Bibor, einige Kokuna, die vibrierten als ständen sie unter Strom, und natürlich Hornliu, die den Stachel angriffslustig in unsere Richtung hielten. Ich erstarrte wieder.
    Hätte ich jetzt die Wahl zwischen psychisch gestörtem Axtmörder und dieser aufgebrachten Horde an höchst aggressiven und höchst giftigen Pokemon… Ich wusste nicht, was ich wählen würde. Zumal die Bibor uns jetzt erst zu bemerken schienen.
    Es waren drei an der Zahl, schützend um die Kokuna aufgereiht, die wiederrum die Hornliu umringten. Eine ausgeklügelte Technik. Als letzte Entwicklung waren Bibor starke Wesen, und mit so einer Aufstellung schützte man die Hornliu ideal. Die Riesenwespen konnten angreifen, während die Kokons mit ihrer Standhaftigkeit die Schwachen beschützten.
    Das Summen wurde unerträglich laut. Selbst in dieser Dunkelheit stachen die blitzenden Stacheln, die sie an den Armen trugen, bedrohlich heraus. Ich schluckte, synchron mit Erion, der seinen linken Arm noch immer um meine Taille geschlungen hatte und mich langsam und vorsichtig zurückzog. Mit etwas Glück könnten wir zum Feuer kommen.
    Diese Wesen hassten Feuer, und das konnten wir zu unserem Vorteil nutzen.
    Naja. Zumindest wenn wir es bis in die Lagermitte schafften.
    Und davon ging ich nicht aus, weil die Bibor weiter vorrückten. Wir mussten uns beeilen, aber jede zu schnelle Bewegung würde sie nur noch aggressiver machen. Wir steckten in der Klemme.
    „Scheiße.“
    Erion sah das scheinbar genauso. Und war von dem Anblick so eingenommen, dass er den Stein, auf den er im Rückwärtsgang zusteuerte. Und weil sein Arm mich noch immer festhielt, konnte er auch die Balance nicht wiederfinden.
    Er kippte nach hinten, ich mit ihm. Oder besser auf ihm. Und in dem Moment wussten wir beide, dass wir geliefert waren.
    Die Bibor stoben auseinander, eines griff von vorne, die anderen zwei von der Seite an. Sie schoben die Stacheln nach vorne und flogen in halsbrecherischem Tempo auf und zu.
    Das wars. Eine Giftladung war in Ordnung.
    Aber drei auf einmal?
    Wir hätten keine Chance.
    Ich spürte Druck gegen meinen Arm, merkte, wie ich gedreht wurde, und Erions Gewicht plötzlich auf mir ruhte. Er drückte meinen Kopf herunter, so wie ich es mit Luca getan hatte, und bot seinen eigenen Körper somit als Schutzschild dar.
    Ich konnte nicht reagieren.
    Ich war viel zu verwirrt und perplex und angsterfüllt. Es ging einfach viel zu schnell.
    Sollte es das schon gewesen sein?
    Mein letzter Gedanke galt nicht meinen Eltern. Auch nicht meinen Nachbarn und alten Freunden. Ich sah Ces vor mir, als er noch ein Kind war und mich mahnend ansah. Ich hatte Mist gebaut, nur wusste ich gerade nicht mehr, was ich getan hatte. Seine Arme waren mit Schürfwunden übersäht und die Knie bluteten.
    Und dann wurden die violetten Strähnen plötzlich grün. Nach und nach zogen sich Grassträhnen durch seinen Schopf. Er wuchs stetig, schneller und schneller. Die Hand, die er mir entgegenstreckte blieb dieselbe.
    Nur war die Person eine andere.
    Und diese Person war gerade im Inbegriff, das Zeitliche zu segnen, weil er mich beschützte.
    Ich wollte mich aufbäumen, seinem Griff entziehen, als das Beben wieder anfing. Ich erstarrte erschrocken, und spürte, dass Erion den Kopf hob um nachzusehen, was da vor sich ging.
    Die Bibor bremsten ihren Flug ab und flogen wieder zusammen. Sie spürten die Gefahr. Die Vibrationen des Bodens gingen auch in die Luft ab, wenn auch wesentlich geringer. Dass sie diese spüren konnte war unglaublich.
    Aber gerade war einfach nicht der Moment, sich über die neuen Erkenntnisse zu freuen.
    Das Beben kam näher und ich bekam zum zweiten Mal plötzlich Panik. Bis ich die Ursache sah und erleichtert aufatmete.
    Ein riesiger, rollender Felsen, der direkt auf die Bibor zusteuerte.
    „Anthrazit.. Oh Gott sei Dank“, seufzte ich auf. Erion hielt mich trotzdem am Boden und schien nicht wirklich erleichtert. Er beobachtete das Gewusel mit zusammengekniffenen Augen, und erst jetzt merkte ich, dass er zitterte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, die er neben meinem Gesicht auf dem Boden drückte. Und er war kreidebleich. Ich wollte ihn gerade fragen, ob alles in Ordnung ist, als das Summen wieder lauter wurde und die Kokuna zu kreischen begannen. Erschrocken heftete ich meinen Blick wieder aufs Geschehen.
    Anthrazits Attacke hatte zwei der Bibor schwer verwundet. Sie hielten sich nur noch mühsam in der Luft und versuchten mit wilden, verzweifelten Schreien ihre Gefährten zum Fliehen zu veranlassen. Die Hornliu bewegten sich nur langsam voran, weswegen die Kokuna immer wieder stehen bleiben mussten. Anthrazit zog immer noch seine Kreise, kam jedes Mal näher an die Käfertruppe heran. Er wollte ihnen nur drohen, und das zeigte Wirkung. Die Bibor waren weiterhin aggressiv, und das einzige, das noch unverletzt war, hielt die riesigen Stacheln an seinen Armen dem Felsen entgegen, als könnte es etwas damit ausrichten. Es war ein verzweifelter Versuch, die Jungen zu beschützen, aber die Verzweiflung und die Liebe waren Dinge, die Berge versetzten. Ich wollte Anthrazit gerade zurückpfeifen, aber das war nicht nötig. Die Hornliu waren im Gebüsch verschwunden, ein letztes Kokuna sah sich noch einmal um. Nur die Bibor, das unverletzte vor den beiden angeschlagenen schwebend, betrachteten den Felsen argwöhnisch und panisch. Unser Retter positionierte sich vor dem Trio, rollte auf der Stelle und wirbelte eine Menge Staub auf. Die hintere Reihe summte nervös und laut auf, aber das Vordere Wespenpokemon beharrte stur darauf, der Gruppe Vorsprung zu verschaffen. Anthrazit wurde ungeduldig.
    Und rollte los.
    Ohne das Hornliu zu sehen, das sich mutig, aber töricht in den Weg stellte, um die älteren Pokemon zu beschützen. Anthrazit war zu schnell und bemerkte die kleine Raupe vermutlich nicht einmal. Ein Zusammenstoß bei diesem Tempo würde sie nicht überleben. Die Bibor kreischten entsetzt auf, genauso wie ich.
    „Stopp!“, schrie ich so laut ich konnte. „Stopp Anthrazit! Halt an!“
    Mein Herz setzte aus. Anthrazit verlangsamte zwar, aber das Tempo war viel zu hoch um zum Stehen zu kommen.
    Es konnte nicht anhalten.
    Und das Hornliu bewegte sich nicht zur Seite.
    Fünf Meter noch. Keine Zeitlupe diesmal. Keine überraschende Rettung.
    Ich schrie entsetzt auf, die verletzten Bibor hielten das Gesunde auf, das immer wieder Rufe ausstieß.
    Zu spät.
    Das Hornliu bäumte sich in einem Anfall von stupidem Kampfgeist auf. Begriff es denn nicht, dass es keine Chance hatte? Erion schnappte nach Luft und bei mir sammelten sich schon wieder die Tränen.
    Der Felsen überrollte es nicht. Die Ecken und Kanten erfassten das weiche Untere seines Körpers, schleuderte es hoch in die Luft, in rasender Geschwindigkeit, mit der das bewegungslose Pokemon gegen den nächsten Baum geschleudert wurde. Das unverletzte Bibor kreischte und wollte sich auf Anthrazit stürzen, das zum Stehen gekommen war und sich jetzt verwirrt umsah. Es war sich nicht bewusst, dass das kleine Wesen seinetwegen verletzt, wenn nicht sogar tot war. Ich hatte nicht lange Zeit, den regungslosen, kleinen Körper anzuschauen, der im Gras vor dem Baum lag. Erions Arm drückte mich auf einmal an sich. Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Augen blickten starr und panisch auf das vor Wut vollkommen benebelte Bibor, das sich gegen den Griff der beiden verletzten Hornissen wehrte. Die Rubinaugen heftete es dabei unentwegt in die Richtung, in der das Hornliu lag.
    Das war ihr Hornliu, ihr Junges, das sich so todesmutig in den Weg gestellt hatte. Es kostete die beiden Bibor Unmengen an Kraft, aber sie schafften es, das wütende Pokemon in das Gebüsch zu ziehen, wo die Gruppe zuvor verschwunden war. Das Summen wurde leiser, mit jeder Sekunde die wir still verharrten. Ich konnte endlich aufatmen, aber Erions Griff wurde nicht lockerer. Er starrte noch immer hektisch atmend in die Richtung, in der die Käfer verschwunden waren. Erst als ich besorgt seinen Arm berührte, schüttelte er verwirrt den Kopf und schien sich etwas zu beruhigen. Er sah aus, als wäre er dem Tod knapp entronnen, kreidebleich und mit Panik in den Augen.
    „Sie sind weg, Erion, alles okay“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Meine Stimme zitterte aber immer noch und machte meine Beschwichtigung vollkommen unwirksam. Mein Herz pochte mir noch bis zum Hals und die Kehle war noch zugeschnürt. Erion nickte mit einem unsicheren Blick zum Gebüsch und dann zu mir und setzte sich geschafft auf den Boden. Er vergrub das Gesicht in den Händen, fingerte an den Haarsträhnen herum, die lang genug waren. Ich rief Anthrazit zu uns damit es auf Erion aufpassen konnte.
    Ich glaubte nicht, dass das Bibor einfach so aufgeben würde. Der Familiensinn war bei diesen Wesen genauso ausgeprägt wie bei Menschen.
    Und die Mutterliebe machte alles möglich.
    Ich rappelte mich mit zitternden Beinen auf und stolperte mehr als ich ging auf den Baum zu. Das hohe Gras verschluckte den Körper, sodass ich ihn erst sah, als ich nah dran war. Die braune Raupe lag zusammengerollt, mit geschlossenen Augen an den Wurzeln und bewegte sich nicht. Es schien auf den ersten Blick unverletzt, aber sobald ich die grüne Flüssigkeit sah, die sich auf seinem Bauch entlang zog, wusste ich, dass ich falsch lag. Anthrazits Kanten und Ecken hatten der kleinen Raupe die empfindliche Unterseite aufgerissen.
    Normalerweise war das Blut von Käfern farblos. Sie hatten nicht die gleichen Bestandteile im Blut wie wir Menschen, die unserem die dunkelrote Färbung verliehen. Dadurch, dass die Pokemon jedoch Pflanzen fraßen, übertrug sich ein wenig des Chlorophylls in die Blutbahn und färbte es grünlich oder gelblich.
    Die Innenseite des Hornliu jedenfalls schimmerte hellgrün, was nichts Gutes bedeutete. Bei der wenigen Menge Blut, die ein kleines Wesen besaß, war jeder Milliliter, den sie verloren, eine Gefahr.
    Ich zog den Körper vorsichtig auseinander, sodass ich feststellen konnte, ob es noch atmete. Ich hatte nicht viel Hoffnung, die Attacke hatte sie voll getroffen, aber vielleicht hatte Fortuna ja Erbarmen gehabt.
    Es blieb still, eine ganze Weile lang.
    Dann bewegte es sich plötzlich.
    Unregelmäßiges Zucken. Postmortal vielleicht. Aber nein, es war der Teil des Körpers, der sich hob und senkte, wo das Herz sich befand.
    Ich atmete erleichtert aus.
    „Es lebt“, hauchte ich. „Es lebt!“, rief ich Erion zu, der auf den Boden sah und nur mit einem knappen Nicken bestätigte, dass er verstanden hatte. Meine Fröhlichkeit trübte sich aber schnell.
    Erion stand unter Schock, der Hornliu war schwer verletzt.
    Was sollte ich denn jetzt tun? Ich hatte keine Ahnung von Pokemonmedizin! Das war Erions Gebiet!
    Ich riss etwas Gras aus und drückte es gegen die Wunden des Pokemons. Ich wusste einfach nicht, was zu tun war. Ich konnte weder Erion noch das Hornliu in diesem Zustand zurücklassen.
    „Wasn‘ hier los?“ Luca stolperte schlaftrunken um die Ecke. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie weit wir vom Lager entfernt waren. Das Feuer war nur ein leichter Hauch von Licht. Ich hob hilflos den zitternden, kleinen Körper in meinen Händen hoch.
    „Ach du… Merdre!“, stieß Luca aus, lief auf mich zu, betastete den Wurm kurz, drehte dann um und ließ mich wieder alleine. Mein Herz beruhigte sich zwar wieder, aber meine Gedanken liefen Amok. Ich konnte nicht mehr ruhig bleiben, meine Finger zitterten und aus Angst, das Wesen noch mehr verletzen zu können, legte ich es sanft ab, riss etwas mehr Gras aus und formte ein kleines Nest daraus, in das ich die Raupe sanft bettete.
    „Va-t’en!“, hörte ich Luca laut ausrufen. Ich brauchte eine Weile um meine Fremdsprachenkenntnisse zusammen zu kramen. Va bedeutete geh, und das en… Geh weg!
    Ich stolperte in der Hocke zurück und schaute hoffnungsvoll zu dem Jungen hoch, der in seiner Tasche kramte, die er gerade geholt hatte und ernst aus der Wäsche schaute. Er murmelte ein paar ausländische Schimpfwörter vor sich hin, die ich in dieser Situation nicht richtig übersetzen konnte, oder gar wollte. Ich wusste einfach nicht, was jetzt wichtiger war. Erion, der immer noch wie ein lebender Toter vor sich hinstarrte und zitterte, oder das Hornliu, das bald von den Lebenden zu den Toten überwechselte.
    „Kann ich dir… helfen?“, fragte ich den Aushilfsarzt unbeholfen. Er antwortete mir zuerst nicht und fuhr sich durch die Haare, dann sah er zu Erion herüber.
    „Aides-lui. Tu ne peux pas m’aider.“, meinte er ohne mich anzusehen. Aider hieß „helfen“.
    Ich nickte, sah aber noch einmal unsicher zum verletzten Hornliu. Es atmete immer noch unregelmäßig, aber Lucas Bewegungen sahen gekonnt aus. Ich wusste, dass ich ihm nicht beistehen konnte und er ihm besser helfen könnte. Also schluckte ich die Sorge herunter und bewegte mich erst rückwärts von ihnen weg, auf Erion zu.
    Der Grünhaarige saß auf dem Boden und starrte seine Finger an, als gehörten sie nicht ihm. Still kehrte auf der Lichtung ein, nur unterbrochen durch gelegentliches Murmeln von Luca und das Geräusch von Steinen, die aufeinander trafen, wenn Anthrazit sich fortbewegte.
    Ich hockte mich neben Erion.
    „Hey“, sprach ich ihn hilflos an. Ich wusste nicht, was zu tun war. Ich konnte noch nie mit solchen Situationen umgehen. Sicher wollte ich immer helfen, aber niemals fand ich die richtigen Worte. „Alles okay mit dir?“, war mein unbeholfener Ansatz. Er nickte stumm.
    „Siehst aber nicht danach aus.“ Ach, ehrlich Angelique? Streu noch Salz in die Wunde, sicher. Ich seufzte, weil er nicht antwortete. Wirklich, das hier war einfach nicht mein Ding. Ich fühlte mich vollkommen hilflos.
    „Was ist mit dir?“, probierte ich es noch einmal. Erion atmete langsam und gedehnt aus, dann hob er endlich den Kopf. Die ganze Zeit über hatten seine Haare das Gesicht verdeckt. Jetzt sah ich, dass seine Augen trüb und gerötet waren. Und wie blass er war. Der Vergleich mit dem lebenden Toten passte dummerweise mehr, als ich beabsichtigt hatte.
    „Alles okay. Ich bin nur… ein bisschen durch den Wind“, murmelte er wenig überzeugend. Ich schenkte ihm einen mahnenden, aber besorgten Blick. Erion sagte nichts mehr. Wir schwiegen einfach vor uns hin, bis Anthrazit her rollte und einen irritierten Blick in Lucas Richtung warf. Er war immer noch beschäftigt und die zunehmende Anzahl an Flüchen pro Minute ließ mich nichts Gutes erahnen. Ich strich mir die grünliche Flüssigkeit am Gras ab. Es kam mir nicht wie Blut vor, vermutlich, weil es einfach nicht rot war. Das machte es aber nicht besser. Wenn ich mir vorstellte, dass das Zeug, das an Hornlius Bauch geklebt hatte, tatsächlich nichts anderes war… Mir wurde leicht schlecht.


    Irgendwann, ich wusste nicht, wie lange wir einfach so verharrten, da kam Bewegung auf die Lichtung. Luca stieß einen langen, nichtssagenden Seufzer aus und streckte die steifen Glieder von sich, als er aufstand. Ich rappelte mich mühsam auf und half Erion, dasselbe zu tun. Vorsichtig näherten wir uns meinem provisorischen Grasnest. Ich streckte meinen Kopf, damit ich einen Blick über Lucas Schulter erhaschen konnte.
    Das Hornliu schlief selig, mit einem dicken, weißen Verband um den Körper. Es war wieder zusammengerollt und schien keine Schmerzen mehr zu haben. Die Raupe atmete gleichmäßig.
    Alles war okay. Luca hatte es geschafft.
    „Ich hab ihm nen paar Beeren gegebn. Es schläft jetzt ne Runde“, erklärte er. Luca rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. Wind strich durch die Bäume, erschuf mit ihren Blättern das harmonische Naturkonzert.
    Ja, alles war okay.
    Die erste Gefahr war überstanden.
    „Was machen wir jetzt?“, fragte Erion erstaunlich nüchtern. Er beäugte das Pokemon misstrauisch, als würde es jede Sekunde aufspringen und über ihn herfallen. Ich hockte mich herunter und strich über die große Nase das Käfers. Es zuckte kurz zusammen, wachte aber nicht auf.
    Ich erwartete eigentlich, dass Luca eine Antwort gab, aber genauso wie Erion sah er mich an und erwartete eine Reaktion. Ich sah leicht verwirrt zwischen den Beiden hin und her.
    Seit wann war ich hier bitte die Anführerin?
    Ich rang ein wenig mit meinen Worten, räusperte mich dann aber und sagte, so selbstverständlich wie möglich: „Wir kümmern uns um das Hornliu. Das ist ja wohl klar.“
    Luca schien meine Antwort zu gefallen.
    Erion hingegen…
    „Bist du dir sicher? Ich meine, was ist, wenn die Bibor zurückkommen? Die waren ja nicht gerade begeistert“, murmelte er mit einem Hauch Angst in der Stimme.
    „Es is unsre Schuld, dass das Hornliu verletzt is. Wir müssn uns drum kümmern!“, wiedersprach Luca heftig.
    Deswegen hatten sie auf meine Meinung gewartete. Weil beide wussten, dass sie genau das Gegenteil vom jeweils anderen wollten. Und, um der Demokratie Willen, war ich jetzt also die, die entscheiden musste.
    Nur hatte ich das ja längst. Erion versuchte zwar, mich mit eindeutigen Blicken zu überzeugen, ich schüttelte aber nur den Kopf.
    „Er hat Recht, Erion“, meinte ich entschieden. „Wir dringen schließlich in ihr Territorium ein, nicht andersherum. Es ist doch klar, dass sie sich angegriffen fühlen.“
    „Sie haben uns angegriffen!“, schnaubte Erion wütend.
    „Es bleibt dabei. Wir kümmern uns um das Hornliu, Punkt.“


    Ich war mir im Anschluss wirklich nicht sicher, ob diese Entscheidung gut war. Sicher, moralisch war es ganz sicher das Richtige gewesen. Und auch gutes Karma würde ich damit sammeln. Zusätzlich hätte mir das kleine, böse Wesen in meinem Hinterkopf niemals Ruhe gelassen, wenn es nicht so gehandelt hätte, wie ich es getan habe, aber…
    „Du benimmst dich wie ein Kleinkind!“, fauchte ich.
    „Und du wie die Barmherzigkeit in Person!“, konterte Erion entnervt.
    Wir standen vor unserem Zelt, das Feuer flackerte nur noch leicht. Ich hatte darauf bestanden, dass ich in dem kläglichen Rest dieser Nacht um das Hornliu kümmerte. Luca weihte mich kurz in die hohe Kunst der Pokemonmedizin ein und gab mir ein paar Beeren, die es weiter zum Schlafen bringen würden, wenn es aufwachte und Schmerzen hatte.
    Nur war Erion strickt dagegen sich ein Zelt mit mir und dem Pokemon zu teilen.
    Ich fragte mich gerade nur, ob das wirklich nur an der Raupe lag, oder ich irgendetwas getan hatte, um ihn gegen mich aufzubringen. Sobald wir uns zu streiten begannen, war die letzte Frage zweifelfrei beantwortet.
    Ja, er war wütend auf mich. Weil ich nicht auf seiner Seite gewesen war.
    Und ich war wütend auf ihn, weil er sich benahm wie ein Trottel. Und das sagte ich ihm auch, in zahlreichen Variationen, die im Grund doch alle das Gleiche bedeuten.
    „Na gut!“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme einen leichten, hysterischen Unterton annahm. „Dann schlaf ich eben draußen!“
    Erion wirkte für einen Moment völlig aus dem Konzept gebracht. Ich drückte das Grasnest näher an mich und kroch ins Zelt, holte meinen Schlafsack heraus. Erst als ich ihn so weit wie möglich von ihm wegzog, schien er zu verstehen, was ich vorhatte.
    „Jetzt mach aber mal halblang!“ Er kam hinter mir hergelaufen und griff mein Handgelenk. Ich riss mich frei, hatte überhaupt eine Lust weiter zu diskutieren. Er würde sich schon irgendwann damit arrangieren, aber bis dahin wollte ich nicht weiter diskutieren.
    Luca streckte seinen Kopf aus dem Zelt heraus und sah mich dankbar an. Ich ignorierte ihn ebenfalls. Ernsthaft, wenn sich mir in den nächsten paar Stunden jemand, egal wer, genähert hätte, dann hätte der Bekanntschaft mit Petrus gemacht.


    Ja, es war kindisch, dumm, und sowieso saukalt. Ich zitterte am ganzen Leib, und obwohl ich noch etwas Holz auf die restlichen Funken gelegt hatte, wurde es einfach nicht wärmer. Sie züngelten gierig, aber waren egoistisch genug, ihre Wärme für sich zu behalten.
    Das Hornliu hatte ich mit vielen Blättern vor der nächtlichen Kälte geschützt, nur mein Schlafsack war für so etwas einfach nicht konstruiert. Durch die Nähte zog der Wind hinein und meine Finger wurden taub. Ich zitterte schrecklich und merkte, wie meine Nase zu laufen begann. Das war gar nicht gut. Hatte ich erwähnt, dass ich anfällig für Krankheiten war?
    So würde das mit unserer Reise einfach nichts werden.
    Wobei ich mir aktuell nicht einmal sicher war, ob Erion noch mit mir reisen wollte.
    Ich verstand ihn einfach nicht. Tsubasa und selbst Anthrazit hatte er gut behandelt, und ausgerechnet gegenüber einem kleinen, hilflosen und dem Tode gerade mal eben von der Schippe gesprungenen Hornliu zeigte er sich so feindselig.
    Ich rollte mich, so gut es ging, zusammen und drehte mich auf die Seite. Es schlummerte friedlich. Die Verbände verdeckten den aufgeschlitzten Bauch und ließen an sich nicht erahnen, was passiert war. Ich seufzte auf. Wie hatte es eigentlich so weit kommen können?
    Diese Welt war gefährlich, viel gefährlicher als ich es geahnt hatte.
    Und dieser neue Trend… Trainer. Trainer bildeten sich ein, diese Gefahr bändigen zu können, aber die Instinkte der Pokemon sind gewaltig. Genauso wie ihre Kräfte. Während wir Menschen die Intelligenz als Waffe besaßen, konnten Pokemon physisch angreifen. Beides ist mächtig, nur kann Intelligenz alleine niemanden verletzen.
    Tsubasa vertraute mir, aber auch nur, weil ich es gut behandelte. Was war mit den Wesen, die gegen ihren Willen gefangen wurden? Würden sie nicht innerlich vergehen? Ihr Leben in Gefangenschaft zu leben war sicherlich nicht gerade Nummer eins auf ihrer Wunschliste. Und genauso wie es brutale Menschen gibt, würde es auch brutale Pokemon geben.


    Ja, diese Welt ist voller Gefahren, und im Laufe meiner Reise geriet ich in zahlreiche davon. Es hielt mich dennoch nicht auf. Egal wie viel Negatives ich erlebte, der Spaß mit meinen Pokemon und mit Erion überwog, und auch wenn ich zeitweise einfach aufgeben wollte, ich tat es doch nicht. Gefahren gehören zum Leben genauso wie Freude. Und ich bin stolz darauf, diese Gefahren auf mich genommen zu haben, weil ich damit anderen ermöglicht habe, ihre Träume zu leben.


    Ich spürte über all meine Gedankengänge nicht einmal mehr, dass die Müdigkeit mich oft übermannte. Ich wachte auf und führte sie einfach weiter, als wäre nie etwas geschehen. Und wenn ich schlief, dann traum- und nahtlos. Die Kälte spürte ich irgendwann nicht mehr. Ich war einfach nur müde und erschöpft und ausgelaugt; Froh über den Schlaf, den man mir schenkte.

  • Bonjour Caithy,


    in den ersten Editionen gab es so etwas wie eine Mythologie noch nicht wirklich, wenn man von Mew und den drei Vögeln absieht, da hast du so gesehen recht. Ich schätze, über die Religionen könnte man ebenfalls Stunden erzählen und wenn es nur bei solchen kleinen Einwürfen mit den Sternen und ein paar Geschichten aus der Mythologie bleibt, dann ist das auch in Ordnung. Anders, wenn die Religionen auch eine große Rolle innerhalb der Geschichte spielen (Rassentrennung und dergleichen), aber das weißt du selbst sicher am besten.



    Jetzt nach dem Lesen des Kapitels wird mir auch klar, warum die Bibor noch einmal auftauchen werden. Wobei ich mich ja insgesamt wundere, dass sie mitten in der Nacht noch wach bzw. unterwegs waren, da das normalerweise eher nicht der Fall ist, wenn ich mich nicht täusche. Ich muss dir allerdings in dem Punkt widersprechen, in dem die Kokuna kreischen und davonhüpfen. Zumindest letzteres sollte aufgrund der Kokonform gar nicht möglich sein und wenn, dann sind nur minimalste Bewegungen möglich. Insofern müssten sie eigentlich herumgetragen werden. Aber wenn man davon absieht, ist diese Szene in der Nacht, schon bei dem seltsamen Geräusch beginnend, das Ange hörte, absolut herausragend. Es wurde zwar nicht geklärt, was das denn nun genau war, aber ich konnte nicht aufhören zu lesen, weil die Spannung mit fortlaufender Zeit immer mehr und mehr wurde, sodass in jedem Moment etwas Unvorgesehenes passieren könnte. Gerade der Gang im nächtlichen Wald, noch dazu allein und mit verloren gegangener Begleitung, ist ein tolles Stilmittel für die Situation und die Entdeckung der Bibor noch das kleinere Übel, wie sich herausstellen musste. Die ganze Spannung hat sich mit Erions Umkippen explosionsartig entladen und mit dem nachfolgenden "Kampf" den Höhepunkt des Kapitels gebildet. Tolle Leistung!
    Dass Hornliu noch leben würde, war fast abzusehen und jetzt steht natürlich offen, was mit ihm weiter passieren wird. Kommen die Bibor zurück oder wird es Ange begleiten? Das wird sich noch im weiteren Verlauf herausstellen; auf jeden Fall kam es durch die Verarztung wiederum zu Unstimmigkeiten in der Gruppe (und da wird unter anderem klar, dass Luca wohl gut Französisch kann, wenn ihm in diesem Moment nichts anderes einfiel). Zusätzlich erfährt man hier wohl oder übel, dass Erion ein Problem mit Hornliu zu haben scheint. Ob da wohl etwas aus seiner Vergangenheit an die Oberfläche kam, weil er ihm nicht weiter helfen wollte oder hat er in seinem Forscherdrang kein Mitgefühl, falls jemand verletzt ist? Letzteres würde anhand seiner groben Art bei Anthrazit sogar Sinn machen, aber ich bin gespannt, wie sich dieser Strang weiterentwickeln wird. Vor allem auch, wie sich die Gruppe nach dieser Anspannung am Morgen verhalten wird (dir ist das Zusammenspiel der Charaktere im Übrigen wieder äußerst gut gelungen).
    Ansonsten hoffe ich wie immer, dass ich dir helfen konnte und freue mich auf die weitere Ausarbeitung. Bis dann!


    ~蛇


  • Siebte Studie: Phobien


    „Ange? Ange, wo bist du? Komm schon, das ist nicht mehr lustig.“
    Ich kichere in mich hinein. Er war schon immer wirklich grottenschlecht im Versteckspielen.
    Pscht! Er kommt näher. Ich muss still bleiben, sonst findet er mich. Ganz, ganz still. Ich kann nicht anders, ich muss lachen. Die Geräusche hören plötzlich auf. Er horcht. Ich halte den Atem an.
    „Jetzt hab ich dich.“
    Ich zucke zusammen.
    Nein. Ces? Das war gerade nicht Ces. Das ist jemand anderes, da vorne, vor der Türe. Ich schlinge meine Arme um die angezogenen Knie. Mein Herz pocht wie verrückt. Der Raum wird kleiner.
    Immer enger und kleiner.
    Ich werde zerquetscht! Muss hier heraus!
    Kann nicht, da wartet er!
    Ich beginne zu weinen. Mein Schluchzen ist viel zu laut, er wird mich hören! Meine Arme werden schon taub. Ich fühle den Druck gegen meinen Körper.
    „Ge-fun-den!“, flüstert er mir ins Ohr.
    Ich kann nichts sehen. Es ist zu dunkel, zu eng, zu nah bei ihm!
    Summen und Poltern! Ich will nicht mehr hier sein! Weg, weg, bloß weg!
    Da, der Knauf. Ich fasse ihn und drehe, aber er bewegt sich nicht. Er wird rutschig, ich kann ihn nicht richtig packen! Verdammt! Er bewegt sich nicht! Verdammt, verdammt, verdammt!
    Ich… will… raus hier!


    Ich stand schon halb, als ich wieder normal sehen konnte. Mein Schlafsack war wieder verdreht und schnürte mir meine Beine ab. Ich schüttelte ihn panisch von mir und schlüpfte heraus.
    Es war so eng gewesen.
    Mein Herz drohte zu explodieren.
    Und als ich etwas auf meiner Schulter spürte, da war es vorbei. Ich stieß einen unmenschlichen Schrei aus und versuchte irgendwie da wegzukommen. Alles in mir schrie Flucht.
    Ich wusste nicht, ob ich noch immer träumte oder nicht. Erst als mir jemand gewaltsam mit einer Hand den Kopf und mit der anderen die Arme hinter den Rücken fixierte, da spürte ich Schmerz. Ich konnte nicht träumen. Nur wusste ich gerade nicht ob das besser oder schlechter war.
    Diesmal biss ich nicht zu, wohl weil ich immer noch damit beschäftigt war, gegen den Arm zu schreien, der sich um meinen Kopf schlang. Irgendwann hörte ich auf zu strampeln. Ich zwang mich, durch die Nase ein und auszuatmen, im nicht zu ersticken und gab die Gegenwehr auf.
    „Alles okay? Beruhig dich, ja?“
    Ich nickte mit Tränen in den Augen. Langsam ließ der Druck auf meine Arme ab, dann verschwand auch das Hindernis vor meinem Mund. Kalte Luft füllte meine Lungen, und nach und nach hörte auch mein Herz auf, gegen meine Brust zu hämmern.
    „Tief Luft holen, Ange“, befahl man mir. Erion setzte sich neben mich, legte seinen Arm um meine Schultern und drückte mich an ihn. Ich war zu perplex um mich zu wehren. „Was ist denn passiert?“
    Ich schüttelte schnell den Kopf. So auszuflippen, nur wegen einem dummen Traum. Ich konnte es selber nicht fassen, aber wenn ich ihn mir noch einmal vor die Augen rief, da begannen meine Finger zu zittern.
    Warum war mir so schlecht?
    „Himmel, du hast uns nen Mordsschreck eingejagt“, seufzte Erion mit einem leichten Lächeln.
    „Tut mir Leid. Hab wohl überreagiert“, nuschelte ich peinlich berührt. Ich sah auf und entdeckte Luca, in den Armen das schlummernde Hornliu. Er wirkte erschrocken, aber auch schuldbewusst.
    „‘Tschuldige. Ich hätte mich nit so anschleichen soll‘n“ Er wagte es nicht, mir in die Augen zu sehen. Aber das war mir gerade eher egal. Was mich mehr interessierte war das kleine Pokemon. Oder, um genau zu sein, den Verband, der sich etwas grünlich gefärbt hatte.
    „Was ist mit ihm?“ Ich befreite mich aus Erions Griff und rappelte mich hastig auf, nur um von meinem Gleichgewichtssinn sofort dafür bestraft zu werden. Die Welt verschwamm kurz, und wieder musste Erion mir zu Hilfe eilen.
    „Nicht so schnell, Ange.“
    Ich wusste nicht warum mir mein Kopf ausgerechnet jetzt noch einmal vor Augen führte, wie unser Gespräch am Vortag verlaufen war. Und mein Mundwerk schloss sich gleich noch an.
    „Muss meinem Ruf als Barmherzigkeit in Person ja schließlich gerecht werden“, hörte ich mich unnötigerweise aggressiv zischen. Erion zuckte zurück und schien sich jetzt auch wieder zu erinnern. Er drehte sich postwendend um und würdigte mich keines Blickes mehr.
    Für den Moment setzte mein Herz aus, aber sobald Luca mich am Arm berührte, galt dem Hornliu wieder meine Aufmerksamkeit.
    Der Junge mit dem Strohhut wartete kurz, dann lächelte er zufrieden.
    „Es geht ihm gut“, versicherte er mir strahlend. Dann runzelte er aber die Stirn und murmelte: „Zumindest geht‘s ihm besser als du aussiehst.“
    Ich musterte ihn verwirrt. Ja, sicher, mir war etwas schwindelig, und mein Herz pochte unnatürlich schnell. Bisher hatte ich es auf die Aufregung geschobene, aber jetzt…
    „Bin ich blass?“, fragte ich Luca.
    „Schwer zu sag‘n… Ein Bissl, denk‘ ich“, antwortete er mir, nachdem er mein Gesicht eindringlich betrachtet hatte.
    Nein, nein, nein. Das war gar nicht gut. Ich fasste mir an die Stirn und stellte entnervt fest, dass die tatsächlich wesentlich heißer als meine Hand war.
    „Is‘ was nich‘ in Ordnung?“ Luca war ganz offensichtlich ziemlich besorgt.
    „Nein“, murmelte ich. „Alles okay.“


    Lügen haben kurze Beine. Und meine tendieren dazu, mir noch zusätzlich Gewichte an den Körper zu hängen, oder mir nonstop mit einem Vorschlaghammer auf den Schädel einzuprügeln. Meine Nase begann zu laufen und als ich das Brot fürs Frühstück aufschnitt, gähnte ich alle paar Sekunden. Erion kehrte die nächste halbe Stunde nicht mehr zurück, dafür legte sich unser junger Führer ordentlich ins Zeug, mir zu helfen. Ich räumte im Zelt auf und zog mir meine neue Reisekleidung an, ein simples, dunkelrotes Top, darüber eine weiße Bluse, beige Hose und Turnschuhe. Für mehr Platz und für Tsubasas Pokeball hängte ich mir noch eine Hüfttasche um, an der sechs kleine Haken befestigt waren. Dort befestigte ich die rotweiße Kapsel, nachdem ich Tsubasa wieder herausgerufen hatte.


    „Ich glaub‘ es wacht auf, Ange!“
    Ich richtete mich wieder viel zu schnell auf, sank noch einmal zurück, spornte meinen Kopf an, endlich wieder klar zu werden und krabbelte dann auf Luca zu, der seinen Blick auf die kleine, braune Raupe geheftet hatte. Tatsächlich bewegte sie sich etwas störrisch. Als ich mich über sie beugte, riss das Pokemon die schwarzen Perlaugen auf und rollte sich sofort in Angriffsposition, als es zu realisieren schien, was hier vor sich ging. Zwei Riesen, die gerade eben noch seine Familie bedroht hatten, waren da über ihm, ganz offensichtlich nicht gerade die beste Situation um verwundet zu sein.
    Ein Stachel zischte knapp an meinem Ohr vorbei, der nächste traf meine Tasche, dann drückte Luca den Schwanz des Käfers herunter und hinderte ihn daran, weiter zu attackieren.
    „Ganz schön aggressiv, hm?“, grummelte der Junge missmutig. „Könntest ruhig ein bissl‘ dankbarer sein.“
    Ich zupfte den kleinen, schwarzen Stachel aus dem Stoff heraus und warf ihn entsetzt ins Gebüsch, als auf einmal eine violette Flüssigkeit daraus hervortrat. Das Hornliu quiekte entsetzt, aber kämpferisch, und versuchte verzweifelt sich aus Lucas Griff zu befreien. Ich nahm die Beeren, die neben dem Junge lagen, in die Hand, zerkleinerte das zarte, rosa Fruchtfleisch mit dem Messer, das ich noch in der Hand hielt.
    Erst drehte es seine Schnauze weg, doch bald schon gewann der Hunger gegen den Starrsinn, und das Hornliu begann, die Bröckchen, die vor ihm lagen, zu fressen. Irgendwann war es so beschäftigt, dass es nicht einmal bemerkte, wie Luca die Hand von ihm herunter nahm, aufstand und ging, um neue Beeren zu sammeln. Wenn man verwundet war, da brauchte der Körper viel Energie um sich selbst zu heilen. Meine Mutter hatte immer einen Bärenhunger gehabt, wenn sie sich von einer schlechten Phase erholt hatte. Scheinbar ging es den Pokemon da auch nicht anders als uns.
    Ich versorgte die Raupe so lange mit Nachschub, bis sie sich zufrieden zusammenrollte, die schwarzen Augen aber auf mir haften blieben. Ich legte meine Hand vorsichtig neben es.
    So hatten die Raupy angefangen, mir zu vertrauen. Essen und Ruhe, viel mehr brauchte es nicht.
    Das Pokemon zögerte erst, dann begann es zu schnüffeln. Es verharrte, kurz, dann wandte es sich wieder von mir ab. Ich war nicht länger eine potentielle Gefahr. Es war sicher und dementsprechend auch nicht aggressiv.
    Bis Erion auf die Lichtung preschte, vorbei an dem verletzten Wesen und mir, wobei er dem Pokemon so nah kam, dass es zurücksprang und sofort mit einem Stachel konterte, der aus seinem Schwanz geschossen kam. Er traf den Grünhaarigen genau im Nacken, was das Hornliu mit einem zufriedenen Zischen quittierte. Zumindest Zielen konnte es erstaunlich gut.
    „Verdammt!“, fauchte Erion entsetzt, fand aber nicht auf Anhieb die Stelle, wo der Stachel noch im Fleisch steckte.
    Drei, Zwei, Eins.
    Das Gift trat zehn Sekunden nachdem er abgefeuert wurde, aus. Woher ich das wusste? Erions Haut um die Stelle herum färbte sich unnatürlich bläulich. Ich sprang auf, zog den schwarzen Stachel schnell heraus und versuchte das Gift herauszupressen. Erion stieß Flüche aus, ich musste aber verhindern, dass es sich weiter ausbreitete.
    Das war nicht gut. Alles war hervorkam war ein kleines Tröpfchen Blut. Wie Risse in Glas zogen sich die Giftspuren unter der Haut durch seinen Körper, und leuchteten auch außerhalb gefährlich dunkel.
    „Was‘ passiert?“
    Oh Gott sei Dank. Luca kam gerade rechtzeitig wieder zurück.
    „Das Hornliu hat nen scheiß Stachel auf mich gefeuert! Direkt in den Nacken! Kacke verdammt!“, fauchte Erion geradezu hysterisch. Das Gift glitt schon den Hals hinauf. Er bearbeitete nervös seine Finger und keuchte wie verrückt.
    Er hatte unglaubliche Angst.
    „Merdre!“, fluchte Luca jetzt auch noch, als er Erions Nacken sah. „ Warum hast‘n du nich direkt Pirsifbeeren gegessen? Die lieg‘n doch direkt neben dir!“
    Ich drängte Erion dazu, sich zu setzen, während Luca ihm immer mehr von den kleinen, rosa Beeren reichte, die er sich eine nach der anderen in den Mund schob und eilig zerkaute.
    Irgendwann atmete Luca erleichtert auf.
    „Das sollte eigentlich reichn“, erklärte er. Das Hornliu hatte sich wieder zusammen gerollt, musterte die beiden Jungen aber weiterhin angriffslustig. Ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu, der es zusammenzucken ließ. Ganz recht! Du hast etwas Schlechtes getan und du solltest dich schlecht fühlen!
    „Kapierst du jetzt warum ich dagegen war? Diese blöden Viecher sind scheiß gefährlich!“, schnauzte Erion mich schwer atmend an. Die Färbung, die sich ihren Weg auch schon bis zu seinem Schlüsselbein gebahnt hatte, nahm schon wieder ab. Ich hätte nie gedacht, dass er so wütend sein konnte. Traurig und fröhlich, ja, aber er schien mir einfach nicht der Typ sein, der sich über etwas übermäßig aufregte.
    Ich wich stumm zurück und überlegte mir eine Erwiderung.
    „Wärst du nicht so… Du hättest nur etwas aufpassen müssen, dann…“, begann ich. Ja, er hatte viel Lärm gemacht und das Wesen erschrocken, jemandem aber gleich einen tödlichen Giftschock zu verpassen war trotzdem leicht übertrieben.
    „Jetzt krieg dich ma‘ ein! Du warst doch nit in Lebensgefahr!“, fuhr Luca ihn jetzt an.
    „Nicht?“, fragte ich halb überrascht, halb erleichtert.
    „Das Gift von nem Hornliu is nit so stark. Es wär nur nit so gut gewesen, wenn‘s ihm in den Kopf gestiegen wär“, erklärte er ruhiger. „Obwohl ich grad nit wirklich denk, dass es da viel zum Vergiften gegeben hät!“
    Erion fauchte den Jungen mit dem Strohhut wütend an, hielt sich aber zurück, nachdem ich ihm einen eindeutigen Blick zugeworfen hatte.
    „Diese Dinger sind gemeingefährlich…“, beharrte der Älteste noch einmal und warf der Raupe, die mittlerweile auf mein Bein krabbelte einen warnenden Blick zu. Sie ließ sich aber nicht beirren und nahm sogar noch den Weg meinen Arm hoch in Angriff. Irgendwann rutschte es ein Stückchen ab, ich fing es in der anderen Hand auf und hielt es mir direkt vors Gesicht. Jetzt ignorierte es Erion, der erschrocken die Luft einzog und ein Stück von mir wegrutschte.
    Das Hornliu schnüffelte an meiner Handfläche, und ich hielt ihm wieder einen Finger vor die Nase.
    Es schnüffelte, hielt Inne… Und biss zu.
    Ich unterdrückte eine Bewegung, verzog aber das Gesicht. Die Raupe ließ los, sah mich prüfend an… Und biss noch einmal zu.


    Nach der vierten Wiederholung schien das Hornliu genug zu haben. Es rollte sich auf meiner Hand zusammen und begann zu dösen. Ich sah mir meinen malträtierten Finger genauer an. Himmel, hätte nicht gedacht, dass so kleine Zähne so sehr wehtun können.
    „Siehst du? Gefährlich!“, murrte Erion, als er zu allem Überfluss auch noch zu bluten begann.
    „Jetzt hör aber mal auf. Es ist doch eigentlich ganz friedlich!“, antwortete ich.
    „Ja, wenn es schläft. Mörder sind auch friedlich, wenn sie schlafen!“
    „Erion!“
    „Was?!“


    Wir aßen nahezu stumm und weit weg von Hornlius neuer Schlafstätte. Nur wenn jemand noch ein Sandwich haben wollte, tauschten wir kurze Sätze ohne Prädikate aus.
    Erion warf immer wieder prüfende Blicke zur schlummernden Raupe herüber. Er würdigte mich jedoch keines Blickes. Wir hatten uns wieder fürchterlich gestritten, und nur weil ich darauf bestand, dass er hier blieb und zumindest etwas aß, war er geblieben. Luca schaute angespannt zwischen uns hin und her, und ich starrte stur auf mein Sandwich. Der Appetit war mir zwar schon vergangen, aber ich musste zumindest so tun, als würde mich das nicht halb so viel belasten, wie es in Wirklichkeit tat.
    Es fühlte sich einfach falsch an, wütend auf ihn zu sein und nicht mehr mit ihm zu reden. Irgendwie kindisch, dumm und einsam, vor allem aber falsch. Ich überlegte, wie ich ein klärendes Gespräch einleiten könnte, aber mir fiel einfach nichts ein.
    Irgendwann meldete sich das Hornliu wieder. Es krabbelte auf mich zu, kletterte meine Beine hoch und blieb erwartungsvoll auf meinem Schoß stehen, den Körper erhoben. Ich brach einen Brocken vom Brot ab und legte es auf meinen Finger, den ich dem Pokemon vors Gesicht hielt. Es schnüffelte wieder, dann fraß es, verlangte mehr, und hatte in null Komma nichts die Hälfte meines Frühstücks verputzt. Dann rollte es sich zufrieden seufzend wieder zusammen und richtete jedes Mal, wenn ich mich zu viel bewegtem drohend den Stachel auf mich.


    Für den Rest des Tages war ich also zur persönlichen Assistentin der Raupe degradiert worden. Wenn es seinen Willen nicht bekam, klagte es, oder drohte uns mit seinem Stachel, und jedes Mal, wenn Erion ihm zu nahe kam, da begann es zu fauchen und Drohschüsse abzufeuern. Ein oder zwei Mal traf es, aber wohl beabsichtig nur seine Tasche, oder Falten in seiner Kleidung, die den Flug stoppten.
    Gegen Mittag überwand ich mich und sprach Erion an, der sich gerade um Anthrazit kümmerte.
    „Erion?“
    Erst reagierte er nicht. Ich dachte schon, dass er sich nun wirklich tief hinabbegeben hatte, mir nicht einmal mehr zu antworten, aber tatsächlich drehte er sich zu mir um, als wäre nichts geschehen. Erst als er „Was ist denn?“ gefragt hatte, verfinsterte sich sein Gesicht wieder etwas.
    „Du… Wolltest doch ein Raupy fangen, oder nicht?“
    Erion nickte stumm und drehte sich dann wieder um.
    „Ähm… Willst du es nicht versuchen?“
    „Und dich mit diesem Viech hier alleine lassen? Vergiss es“, gab Erion zurück.
    Ich brauchte eine Weile um dieses Argument zu verstehen.
    „Du machst dir trotzdem noch Sorgen um mich?“, stieß ich halb verwirrt, halb glücklich aus.
    „Was denkst du denn? Ich habe dir versprochen auf dich aufzupassen und das werde ich auch.“, antwortete er neutral. „Nur machst du es mir nicht gerade leicht wenn du so ein aggressives Viech in deine Nähe lässt.“
    „Wir sind nun mal daran schuld, dass es verletzt ist. Ich möchte es ja auch nur pflegen, bis es wieder alleine klar kommt“, erklärte ich versöhnlich.
    Irgendwie machte es mich froh, dass er zwar wütend war, sich aber dennoch um mich sorgte. Ich konnte nicht anders als zu lächeln.
    Erion seufzte und ließ die Schultern hängen.
    „Was hast du gegen Hornliu?“, fragte ich bevor ich richtig nachdachte.
    Er sah mich lange und eindringlich an, dann seufzte er, setzte sich neben mich und zog seine Kette aus.
    „Die war von meiner Mutter.“
    Der violette Stein glänzte im fahlen Sonnenlicht. An dieser Stelle waren die Äste über uns noch recht dicht. Trotzdem schien der Anhänger zu leuchten.
    „War?“ Ich überlegte kurz. Doch, ich meinte mich erinnern zu können, dass er erwähnt hatte, dass sie gestorben war.
    „Sie ist gestorben, als ich etwa sieben war. Wir sind in den Wald gegangen, weil sie mit mir spazieren gehen wollte. Ich habe Mist gebaut und ein Bibornest kaputt gemacht. Meine Mutter hat mich noch wegziehen wollen, nur haben sie sich dann auf sie gestürzt. Später haben sie gesagt, dass ich Glück gehabt habe, nur ein paar Kratzer abbekommen zu haben. Nur meine Mutter hat‘s nicht geschafft. Ich wusste nicht, dass es Pirsifbeeren in der Nähe gab, bin losgelaufen und habe Hilfe geholt. Als Papa mit mir zurückkam, da war sie bewusstlos. Im Krankenhaus war es dann aus für sie. Das Gift hatte sich schon zu weit verbreitet“, gab er monoton von sich.
    Ich legte meinen Arm um seine Schulter und drückte ihn an mich.
    „Ich habe nichts gegen Pokemon im Allgemeinen, nur…“, versuchte Erion sich zu verteidigen. Ich schüttelte traurig den Kopf.
    Nein, das hatte ich nicht gewusst. Es hätte nichts daran geändert, dass ich mich um die verwundete Raupe gekümmert hätte, aber ich hätte verstanden, warum er so dagegen war. Wir hätte uns nie streiten brauchen.
    „Ich liebe Pokemon sogar. Ich habe lange mit ihnen zusammen gelebt und ich habe für sie meine restliche Familie aufgegeben. Ich will sie erforschen, damit so etwas nicht wieder passiert. Ich will, dass die Menschen lernen, sie zu verstehen…“, fuhr er fort, starrte dorthin, wo das Hornliu sich gerade wieder auseinander rollte.
    Ich strich ihm über den Rücken und zog ihn enger an mich.
    Er machte sich Sorgen, und ich war auch noch wütend auf ihn. Irgendwie fühlte ich mich schlecht.
    „Warum hast du mir das nicht erzählt?“, fragte ich ihn leise. Eigentlich wusste ich die Antwort schon.
    Weil er genauso wie ich nicht wollte, dass ich mir Sorgen um ihn mache.
    Weil er sich bisher immer um seinen Vater gekümmert hat und seine eigenen Bedürfnisse zurückgesteckt hatte.
    „Hör mal, wenn dich etwas stört, dann musst du es mir doch sagen“, meinte ich lächelnd. Erion sah mich von der Seite an und tat es mir nach.
    „War echt ätzend nicht mehr mit dir sprechen zu können“, gab er zu.
    „Dito.“
    „Na gut“, seufzte er. „Ich höre auf, Morddrohungen auszustoßen, im Gegenzug hältst du mir das Hornliu vom Leib.“
    Ich begann zu lachen: „Du hast ihm gedroht?“
    „Nur wenn du nicht dabei warst“, grinste er.
    „Hört sich nach einem Kompromiss an“, schloss ich, nachdem wir uns eine Weile stumm angelächelt hatten, und legte ihm meine Hand auf den Kopf, zerstrubbelte seine Haare.


    Wie versprochen blieb Erion jetzt ruhiger, obwohl er immer noch argwöhnisch in Hornlius Richtung sah, wenn es mich wieder einmal biss. Er ließ mich eine Weile mit der Raupe alleine, nachdem ich Luca darum gebeten hatte, ihn zum See zu begleiten, an dem es laut ihm die Taubsi und Raupy gab. Tsubasa schickte ich ihnen nach, als mir auffiel, dass sie ja gar kein Pokemon zum Kämpfen dabei hatten. Anthrazit hatten sie mir hier gelassen, für den Fall das etwas passierte. Der Vogel machte sich schnell auf den Weg, holte sich aber noch eine ausgiebige Streicheleinheit von mir ab, auch wenn dem Hornliu das nicht zu gefallen schien. Es biss mir immer wieder in die Hand, sobald ich mich von ihm abwandte und über Tsubasas Gefieder strich, ich kümmerte mich aber nicht darum.
    Schon damals fiel mir auf, dass die Raupe in vielerlei Hinsicht einem Kind glich. Es verlangte ständig Aufmerksamkeit und Essen, und sobald diese Gier befriedigt war, ignorierten es die Person, die es ihnen gab. Dieser kindliche Egoismus hielt seit Jahrhunderten den Nachwuchs am Leben. Nur schien mir dieses Benehmen für ein Pokemon nicht angebracht. So oder so, ich würde ja nicht mehr lange unter seinen Bissen leiden müssen.
    Die Wunde schien schließlich gut zu heilen, sonst könnte es nicht alle paar Sekunden meine Beine hoch und herunter klettern. Ich beließ es dabei, einfach abzuwarten, konnte aber leider keinen Tee trinken, obwohl ich den wohl ziemlich nötig hatte. Mir war kälter als es eigentlich hätte sein sollen. Stattdessen, um mich irgendwie abzulenken, holte ich vorsichtig, damit ich mir nicht noch mehr Bisswunden einfing, meinen Zeichenblock hervor. Es gab genügend Bilder von Hornliu, aber als Übung sollte es dennoch taugen. Bisher hatte ich ja schließlich keine Gelegenheit gehabt, eines in seinem natürlichen Lebensraum zu malen.
    Die Anatomie einer Raupe war nicht gerade kompliziert. Ich begann mit einem großen Kreis als Kopf, einem Oval für die Nase, und kleinen Kugeln für den restlichen Körper. Die Details einzeichnen, einfärben und voilá. Fertig.
    So vertrieb ich mir also die Zeit. Ich vergas bald, warum ich überhaupt hier wartete und verstand plötzlich, was Erion daran so reizte. Das Hornliu ließ mich gewähren, schnupperte ab und an interessiert am Block und setzte sich in Pose, wenn ich es darum bat. Sogar einen Fußabdruck konnte ich ihm entlocken.
    Gerade, als ich eine neue Seite aufschlug, hörte ich es.
    Ein Knacken im Gebüsch, ein verheißungsvolles Brummen. Ich erstarrte mitten in der Bewegung.
    Nein, nicht schon wieder.
    Hilfesuchend sah ich zu Anthrazit herüber, aber der große, lebende Felsen war einfach weg. Vielleicht auf Futtersuche.
    Das Summen kam näher. Ich hörte das Sirren von dünnen Flügeln, das Rascheln von Blättern.
    Ich hatte damit gerechnet. Aber so früh? Sie mussten doch noch verwundert sein!
    Für kurze Zeit verstummten die Geräusche. Und dann brachen die Insekten aus dem Gebüsch heraus, versammelten sich vor mir. In Erster Reihe die Hornliu, die Stachel auf mich gerichtet, in zweiter Reihe die Kokuna, bedrohlich vibrierend, und über ihnen die drei Riesenwespen.
    Das mittlere Bibor kämpfte mit sich selbst, die riesigen Facettenaugen auf die kleine Raupe in meinem Schoß gerichtet.
    Ich war alleine mit Pokemon, die ganz offensichtlich nicht gut auf mich zu sprechen waren. Und die Stachel, die sie auf mich richteten, schienen mir ebenfalls nicht gerade ein gutes Zeichen zu sein.
    Himmel, ich komme.

  • Hallo Cáithlyn,


    Habe ich doch aus Neugier,gleich mal einen Blick auf deinen Fanfiction geworfen und muss sagen, dass ich bisher einen sehr positiven Eindruck habe. Fangen wir aber erst einmal beim deinem Startpost an, über den es im Grunde aber auch nicht so viel zu sagen gibt. Insgesamt ist er ja sehr schlicht gehalten, was hier keinesfalls schlecht ist. Ein hübscher, ebenso im einfachen Stil gehaltener Header und darunter alle Informationen die den potenziellen Leser interessieren. Insbesondere auch, dass die Welt in der die Fanfiction spielt noch nicht so fortgeschritten ist, ist eine wertzuschätzende Information und macht irgendwie noch etwas mehr Lust auf das ganze. Zu mindestens meiner Meinung nach. Mehr brauche ich in einem Startpost erst Mal nicht und bin daher sehr zufrieden damit. Der gewählte rosa Farbton sieht des übrigen ungemein schick aus. ;)


    Ehrlich gesagt möchte ich mich gar nicht solange an jedem einzelnen Kapitel, vom aktuellen siebten abgesehen, aufhalten und schreibe daher nur eine kurze Zusammenfassung von meinem bisherigen Eindruck dazu auf, der, wie bereits oben erwähnt, sehr positiv ausfällt. Vor allem der Prolog hat mich wirklich dazu motiviert deine Fanfiction gelesen, da mir deine Protagonistin mal nicht dem Archetypen der aufdrehten, Dauer positiven Heldin zu angehören zu schien. Nein, ganz im Gegenteil. Angelique hat sofort Eindruck bei mir hinterlassen, mit ihrer leicht melancholischen Erzählung im Prolog und nach dem Lesen des ersten Kapitels konnte ich sie sofort ins Herz schließen. Erion hatte es ehrlich gesagt bei mir etwas schwerer zu Anfang, weil er mir da noch etwas blass vorkam. Das könnte ich mir allerdings auch nur eingebildet haben, denn nach ein paar Kapiteln hat er dann doch noch die Kurve gekriegt und bei mir einige Sympathiepunkte gesammelt. Allgemein wirken deine Figuren wirklich unglaublich lebendig und menschlich für den Leser, was ja auch schon von anderen hier geschrieben wurde. Charaktertechnisch hast du hier wirklich volle Arbeit geleistet, schlicht und ergreifend weil sie so realistisch rüber kommen. Ein wenig schwieriger hatten es jedoch die ersten beiden Kapitel bei dir. Am Schreibstil lag es nicht, der ist nämlich sehr angenehm und flüssig zu lesen, trotz seiner Einfachheit. Viel mehr hat es in Sachen Inszenierung nicht ganz in mein Schemata gepasst. Es fiel mir Anfangs etwas schwer mich für das Geschehene zu interessieren, so sehr ich Angelique auch mochte, was vielleicht auch daran lag dass Erion es, wie gesagt, etwas schwer bei mir zu Anfang hatte. Prinzipiell war er nicht unsympathisch, aber es fehlte mir noch dass gewisse Etwas, was mich für ihn Interesse aufbauen ließ. Das war dann insofern problematisch, weil die ersten beiden Kapitel sich ja besonders stark auf ihn fokussierten. Aber nun gut, das Problem wurde ja danach schon wieder behoben, von daher mach dir da mal keine Gedanken. Als Angeliques und Erions Reise begonnen hatte, ging es für mich nämlich steil in die Höhe und ich konnte kaum aufhören zu lesen. Musste das aber tun, weil das achte Kapitel ja leider, leider noch nicht online ist.


    Das aktuelle Kapitel war dann ebenso stark, wie die vorigen Kapitel, auch wenn man sich insgesamt eher auf Erions Vergangenheit und den Grund für seine Phobie konzentriert hat. Der war zwar etwas generisch, ging aber soweit in Ordnung. Das hat der kleine Dialog zwischen Angelique und Erion auch wieder wett gemacht, diese sind nämlich auch eine Stärke deiner Fanfiction. Sie kommen genauso ungezwungen und natürlich rüber, wie die Charaktere selbst und dadurch konnte sich das "Beinahepaar" ja auch wieder versöhnen. Wurde auch Zeit, denn wenn die beiden so am rumzickeln sind, werde ich ja selbst schon ganz launisch. Ansonsten... Sonderlich viel passiert ist ja nicht, dafür war der Cliffhanger am Ende umso gemeiner. Von daher freue ich mich aufs nächste Kapitel.


    Was mich übrigens noch interessieren würde, wäre ein Begegnung Angeliques und Erions mit einem Trainer, die ja bisher in deiner Geschichte als recht negativ von der Heldin gewertet wurden. Von daher wäre es sicherlich interessant zu sehen, wie Angelique auf ein Treffen mit einem solchen reagiert, falls du so etwas in die Richtung nicht ohnehin schon geplant hast.


    Yura

  • Hallo Cáithlyn,
    Ich hatte mir ja schon länger vorgenommen dir mal einen Kommentar zu hinterlassen, aber irgendwie schaffe ich es erst jetzt. Naja besser spät als nie, nicht wahr?
    Ich werde jetzt nur mal etwas zu deinen Kapiteln im Allgemeinen sagen, weil jedes einzelne noch einmal zu lesen und ein Fazit zu geben würde doch etwas dauern *sich dummerweise keine Notizen gemacht hatte*. Also dann will ich mal.


    Dein Schreibstil an sich gefällt mir gut. Die Beschreibungen vom Ort und von Gefühlen sind schön ausgeglichen und auch Gedanken sind mit drin. Auf Körperhaltung und Mimik gehst du auch schon gut ein, wobei du beim letzteren teilweise ruhig noch mehr miteinbringen könntest. Generell werde ich dir sonst eigentlich wenig Kritik geben können da du wirklich sehr gut schreibst. Teilweise sehe ich hier und da noch einige Verschreiber die doch eigentlich das störendste sind da sie manchmal den Lesefluss einfach unglaublich unterbrechen oder erschweren. Lies dir das Kapitel ruhig noch einmal in Ruhe durch bevor du es online stellst, dann dürften dir einige Fehler auffallen. Wenn nicht kannst du auch vorher jemanden drüber lesen lassen was ich dir nahe legen würde. Sonst kann ich dir eigentlich nur noch ein Lob nach dem anderen Aussprechen. Beschreibungen sind ausgewogen und schön formuliert, du benutzt nicht zu viel Umgangssprache und was ich interessant finde ist die Verbindung mit Fremdsprachen. Luca hat soweit ich weiß französisch im letzten Kapitel gesprochen, oder? Finde ich auf jedenfall eine sehr nette Idee. Deine Charaktere kommen natürlich rüber und auch so die Dialoge, welche mir gefallen und mich auch schon das ein oder andere mal zum Lachen gebracht haben. Am Ende deiner Kapitel findest du immer ganz schöne Cliffhänger sodass man weiterlesen will und nimmst diese im darauffolgenden Kapitel gut auf. Bei der Länge der Kapitel dachte ich am Anfang zehn Word Seiten sind ja echt ne Menge. Ich glaube einige schreckt dies vielleicht auch ab, aber ich denke die Länge der Kapitel passt zu dem was passiert. Also das Verhältnis Länge und Menge was passiert passt gut zusammen und man kann sich genug Zeit nehmen um ein bisschen in Angeliques bzw. der Welt die du uns zeigst zu versinken. Auch die Thematik bezüglich der Pokebälle und die Ansicht das einige Trainer dann zu "Sklaventreibern" mutieren finde ich gut und bin gespannt wie du es darstellst, sobald Angelique mal einem Trainer begegnest. Allerdings freue ich mich im Moment eher auf das nächste Kapitel, denn ich würde gerne wissen ob meine Vermutung diesbezüglich zutrifft, haha. Tut mir leid das ich jetzt nicht so viel gesagt habe, nächstes Mal gehe ich mehr auf dein neues Kapitel ein. ^^


    LG
    Noel

  • [tabmenu]
    [tab=.]
    Bonjour~
    Yeah, gleich zwei Kommentare. Man, hab ich diesmal lange gebraucht... Irgendwie hatte ich einfach zu viel zu tun. Das Kapitel hatte ich zwar schon geschrieben, nur möchte ich eigentlich immer ein Kapitel im Vorraus haben, damit ich im Notfall noch Reserve habe. Ich hoffe, das mit dem Zeitmangel ändert sich noch =/
    [tab=Yura]
    Schön, dass du hier reinschaust. ^_^ Tut mir übrigens Leid, dass ich dir bisher noch keinen Kommentar in deiner Story schrieben konnte, wie gesagt Zeitmangel, und irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dich noch viel verbessern zu können. Naja, ich schau heute noch mal.
    Jetzt aber zurück zu deinem Kommi.
    Ja, das Rosa ist eine meiner Lieblingsfarben hier im Board xD Eigentlich ziemlich klischéehaft, aber wayne. xD
    Ich finde es immer lustig, das bei mir vor allem die Dialoge gelobt werden. Gerade die bereiten mir nämlich immer ziemliche Sorgen. Manchmal lese ich sie mir durch und denke nur "Oh Gott, fürchterlich Wortwahl, absolut unrealistisch, blah!" xD Um so froher bin ich, dass sie trotzdem vielen zu gefallen scheinen.
    Als ich mir meine ersten Kapitel durchgelesen habe, ich mir das auch aufgefallen. Erion sollte noch nicht ganz offen sein, weil das zu plötzlich kommen würde. Er sollte sich bedeckt halten und noch nicht zu viel von sich preisgeben, damit die Spannung ein wenig aufrecht erhalten hat. Das dadurch sein Charakter flach wurde, ist etwas schade, ließ sich aber schwer anders umsetzen. Ich hoffe, du verstehst, was ich meine.
    Das Zusammentreffen mit einem Trainer kommt gerade in dem Kapitel, an dem ich schreibe. Leider, leider wird das definitiv nicht positiv ausfallen, ganz einfach, weil sie schon das schlechteste Beispiel vorgesetzt bekommen, das es gibt, hehe xD
    Danke für deinen Kommentar, hat mich sehr gefreut ^^
    [tab=Noel]
    Auch bei dir, danke für deinen Kommentar ^_^
    Ja, das mit den Verschreibern. Ich glaube, ich habe das Snake gegenüber mal erwähnt, dass Word mir gerne mal die Wörter auf dem Blatt umdreht und ich die Verschreiber, die ich selbst verschulde, gerne Mal überlese. Ich versuche wirklich, mich zu bessern, nur klappt sowas nie so, wie ich es will xDD ^^
    Danke für das viele Lob, und was das letzt betrifft, kann ich auch wieder das gleiche sagen, wie bei Yura. Im übernächsten Kapitel kommt es gleich sehr dicke für die Armen.
    Caithy
    [/tabmenu]


    Achte Studie: Lebensretter


    Ich hätte nie gedacht, dass ich tatsächlich mal ernsthaft beten würde. Ich betete nicht einmal für mich selbst, eher für Erion und Luca. Sie sollten doch bitte erst zurückkommen, wenn die Bibor sich verzogen hatten. Und ich betete dafür, dass ich nicht allzu schrecklich aussah. Ein paar Stichwunden und Schwellungen würden sich wohl nicht vermeiden lassen.
    Die Mutter der Raupe, die noch immer auf meinem Schoß saß, schwebte mit aggressivem Brummen auf mich zu und blieb keinen halben Meter vor mir stehen. Dort hob sie den Arm mit dem gigantischen Stachel und richtete ihn direkt auf mein Gesicht.
    Wenn die Riesenbiene tatsächlich vorhatte, mir ihren Stacheln direkt ins Gesicht zu jagen… Naja, dann hatte sich die Sache mit dem „nicht allzu schrecklich aussehen“ wohl erledigt.
    Ich unterdrückte ein zu schnelles Atmen, sah aber ein, dass nichts, was ich jetzt noch tun könnte, mich vor meinem Schicksal retten könnte. Ich würde also hier sterben. Zumindest hatte ich meine Schuld zurückgezahlt. Das konnte ich dem Bibor noch klar machen.
    Ich hob das Hornliu vorsichtig von meinem Schoß. Seine Mutter kam noch näher, vermutlich fürchtete sie, dass ich ihrem Kind noch etwas antat. Ich dachte nicht daran. Ich hielt es ihm nur entgegen und wartete, schaute dem aufgebrachten Käferpokemon in die Augen. Erst beobachtete es mich eindringlich. Ich rührte mich nicht. Pokemon tendierten dazu, einen als geringere Gefahr einzustufen, wenn man sich nicht bewegte.
    Es dauerte eine Weile, aber schließlich beugte sich die Biene zu ihrem Kind herunter und summte ihm etwa zu, beäugte die kleine Raupe von allen Seiten.
    Ich verharrte still, bis das Hornliu sich von seiner Mutter abwandte und mich in den Daumen biss.
    Verdammt, gerade jetzt! Eine falsche Bewegung und ich war Pokemonfutter!
    Mit zusammengepressten Lippen ertrug ich den Schmerz, aber Hornliu ließ nicht locker. Was wollte es denn bitte von mir? Ich verstand die Welt nicht mehr!
    Erst als es losließ und auf den Boden unter uns sah, begriff ich es. Langsam und gleichmäßig glitt ich vom Baumstamm, der mir als Hocker gedient hatte, auf die Knie herunter. Sobald ich die Hände dem Boden nahe genug hinhielt, sprang es von ihnen herunter, als wäre es niemals verletzt gewesen. Doch anstatt sich der Gruppe anzuschließen, tat es etwas, was ich niemals angenommen hätte.
    Das kleine Hornliu positionierte sich so vor mir, wie es sich vor seiner Mutter aufgebaut hatte, als diese in Gefahr schwebte.
    Diesmal beschützte es mich mit seinem Leben.
    War das seine Art und Weise, sich bei mir zu bedanken? Ich wusste nicht ob ich dankbar sein und mich geehrt fühlen sollte… Oder vielleicht besorgt, weil es sich schon wieder in tödliche Gefahr brachte!


    Bibor indes schien die Welt nicht mehr zu verstehen. Es summte aufgebracht und verzweifelt, schien sein Kind mit allen Mitteln überzeugen zu wollen, mitzukommen. Doch Hornliu dachte nicht dran. Es hielt stur seine Stellung vor mir, wie eine undurchdringliche Mauer.
    Lustig, wenn man bedachte, dass es mir nicht einmal zu den Kniekehlen reichte. Ich schluckte meine Angst herunter und bedankte mich innerlich überschwänglich. Vielleicht konnte es seine Mutter ja so überzeugen, dass ich ihm nichts getan hatte. Für eine Sekunde glaubte ich tatsächlich, dass ich unbeschadet hier herauskommen würde…
    Wie gesagt, nur für eine Sekunde.
    „Hey, Ange, rate mal, wer seine ersten beiden Pokemon gefangen hat!“
    Ich riss entsetzt die Augen auf. Bibor und Co wandten sich genauso wie ich auch dem Gebüsch zu, aus dem der Ruf gekommen war. Oh bitte. Bitte dreh dich einfach um und geh. Bitte, bitte, bitte!
    Dummerweise konnte Erion keine Gedanken lesen. Und es ihm zurufen konnte ich auch nicht, sonst wäre ich geliefert gewesen. Die Äste raschelten ein wenig, als er sie zur Seite bog und strahlend hervortrat. In der Hand hielt er einen der grünen Pokebälle.
    Erion brauchte eine Weile um die Situation zu erfassen. Und als er begriffen hatte, was da vor sich ging, erstarrte er mitten in der Bewegung. Hinter ihm raschelte es erneut.
    Luca! Luca würde wissen, was zu tun ist. Luca würde es bestimmt schaffen…
    „Jetzt beweg‘ dich, Erion! Ich hab nen‘ Mordshunger!“, beschwerte sich der Jüngste unserer Gruppe. Er suchte sich einen eigenen Weg neben Erion, und als er die Situation betrachtete, kommentierte er sie meiner Meinung nach äußerst passend: „Merdre!“
    Weil ich gerade nicht im Fokus der Aufmerksamkeit der rachelüsternen Gruppe stand, schüttelte ich hektisch, aber so abgehakt wie möglich meinen Kopf. Erion Gesicht wurde schon wieder weiß. Wenn er jetzt in Panik geriet…
    Mein Kopf spielte mir die blutrünstigsten Szenen vor, was nicht wirklich hilfreich war, weil ich jetzt fürchterlich nervös wurde. Mein Herz pochte mir bis zum Hals und alles in mir schrie nach Flucht.
    Gleichzeitig wusste ich aber, dass ich keine Chance hatte. Jetzt loszulaufen wäre mein Todesurteil, wäre Hornlius Mutter auch nur halb so treffsicher wie ihr Kind.
    Hornliu gab zum ersten Mal einen Laut von sich. Es richtete den vorderen Teil seines Körpers auf und brummte etwas, was die Aufmerksamkeit der Käfer wieder auf es zog. Die Kokuna drängten die Hornliu weiter von ihren finalen Entwicklungen zurück, als wüssten sie genau, dass es dort vorne nun gefährlich wurde. Die Raupen protestierten zwar, aber schon bald waren zumindest die lebenden Kokons und sie im Gebüsch verschwunden. Nur noch die drei Bibor waren auf der Lichtung. Aber die waren sowieso schon gefährlich genug.
    Ich sah aus dem Augenwinkel, dass Luca Erion vorsichtig am Arm zurück in Deckung zog. Als er verschwunden war, bewegte sich der Junge mit dem Strohhut langsam und gleichmäßig auf mich zu, leicht vorgebeugt, einen intensiven Blick mit den Bibor in hinterer Reihe wechselnd. Die Mutter meines kleinen Retters hingegen wechselte noch immer schnelle Worte- oder Gesumme, je nachdem, wie man es denn betitelt- und schien von Wechsel zu Wechsel immer aufgebrachter zu werden.
    Luca stand irgendwann direkt neben mir. Er beugte sich zu mir herunter, ohne die Gruppe aus den Augen zu lassen und murmelte mir eindringlich zu.
    „Bleib ruhig. Ich glaube, Hornliu will dich beschützen.“
    Ich nickte mit kurzen Bewegungen.
    „Was ist mit Erion?“, fragte ich nicht weniger leise. Luca warf mir einen kurzen, eindeutig Blick zu. Klar, der Grünhaarige schob wohl gerade Panik. Aber zumindest war er aus der Schussbahn.
    Wo wir gerade von Schussbahn sprachen…
    Der Mutterbiene schien es zu reichen. Sie flog einfach über das Hornliu hinweg und richtet ihren gigantischen Stachel direkt auf meine Stirn. Luca, der mir eigentlich noch etwas hatte erklären wollen, verstummte rasch und erstarrte, genauso wie ich.
    Ich atmete nur stoßweise und schielte zum Stachel hoch. Meine Gedanken liefen Amok. Das wars. Ja, das wars.
    Keine Woche unterwegs und schon von einer riesigen Biene vorzeitig Richtung Himmel geschickt. Ich wagte es nicht herunterzuschauen, als ich etwas an meinem Bein spürte. Erst, als es meine Bluse hoch, auf meine Schulter krabbelte, da erkannte ich das glänzende Horn von Hornliu. Nur verstand ich nicht, was es damit bezweckte. Ich musste mich arg zusammenreißen, nicht zu lachen anzufangen, als es mit seinen kleinen, leicht beharrten Füßen über meine Augen krabbelte, die ich vorsichtshalber schloss. Denn Lachen wäre jetzt wohl die denkbar unpassendste Reaktion für so einen Moment.
    Hornliu krabbelte noch etwas höher und als ich verstand, wohin es wollte, da legte ich vorsichtig den Kopf in den Nacken, damit es mehr Halt hatte.
    Die kleine Raupe platzierte sich genau unter dem Stachel seiner Mutter.
    Es wollte mich tatsächlich beschützen.
    Es wollte sein Leben für mich geben.
    Waren die Bisse etwa seine Art gewesen, seine Zuneigung mir gegenüber auszudrücken? Oder hatte es mich bloß damit geprüft? Viellicht machte es mir ja auch so nur klar, dass es etwas von mir wollte?
    So oder so… Das war jetzt gerade nicht wichtig.
    Jetzt verstand ich, warum Erion so eine Angst vor Bibor und Horliu hatte. Sie waren gefährlich, definitiv. Sie hatten Menschen getötet, und das würde auch wieder vorkommen, mit etwas Pech früher als ich gehofft hatte.
    Aber sie waren uns Menschen fürchterlich ähnlich! Dieses Bibor, das gerade ganz offensichtlich mit sich haderte, kämpfte doch nur für sein Kind. Der gelb-schwarze Körper war noch voller Blessuren, verursacht durch Anthrazits Attacken, und obwohl diese schrecklich schmerzen mussten, es kam her, wohlwissend, dass das Georok noch immer bei uns war. Es war Glück, vielleicht auch Pech, auf jeden Fall aber purer Zufall, dass es gerade jetzt nicht hier war und uns beschützte.
    Diese Wesen fühlten genauso wie wir! Würden wir denn nicht kämpfen, wenn eine uns wichtige Person in offensichtlicher Gefahr steckt? Natürlich würden wir! Keine Mutter dieser Welt würde sich davon abhalten lassen, dass sie eventuell verwundert werden würde! Wunden heilten, doch sein eigenes Kind zurückzulassen… Dieser Schmerz wäre unerträglich und durch keine Medizin der Welt heilbar.
    Und gerade als ich das dachte, da erinnerte ich mich an den Gesichtsausdruck meiner Mutter. Wie sehr sie geweint hatte, als ich ging… Ja, es war der gleiche Schmerz gewesen. Dieses Bibor und meine Mutter waren sich ähnlicher, als man hätte meinen können.
    Mein Puls beruhigte sich, je länger diese kleine Erkenntnis anhielt. Ich musste keine Angst vor einer Mutter haben, die ihr Kind retten wollte. Ich hatte ja schließlich auch keine Angst vor meiner eigenen.
    Meine Hände umfassten sanft den Körper von Hornliu, das sich noch immer stur auf meiner Stirn breit machte, gefasst darauf, die Attacke für mich abzufangen.
    Ich zog es vorsichtig und langsam herunter, ignorierte, dass Bibor gefährlich laut brummte, und legte den Käfer vor meinen Füßen ab. Es drehte und wendete sich, biss mir in die Finger, aber ich ließ nicht eher locker, bis seine Beine auf dem Gras Halt fanden. Hornliu sprang herum und quietschte wütend, aber ich schüttelte nur den Kopf.
    Bibor wollte uns nicht verletzen. Es wollte nur sein Kind zurück, das war alles. Und ich wollte es ihm zurückgeben.
    Ich sah der Mutterbiene tief in die Augen und bewegte mich langsam von Hornliu zurück. Sie sollte verstehen, dass ich nichts Böses im Sinn hatte. Und nach einigen Sekunden erschreckender Stille, in der auch Luca sich entfernte, schien selbst der Wind den Atem anzuhalten. Nur das Sirren der dünnen Flügel der Insekten war zu hören.
    Bibor sah herunter, dann zu mir auf. Es schien eine Weile zu überlegen. Jetzt kam es darauf an. Es hatte sein Kind zurück, und somit keinen Grund mehr mich zu attackieren. Aber Pokemon waren mit ihrer beängstigenden Macht auch unberechenbar. Soviel war sicher.
    Ich bemerkte das Beben erst, als es schon beinahe zu spät war und die Bibor in hinterer Reihe plötzlich zu kreischen begannen. Sie stoben auseinander und wollten ins Gebüsch verschwinden, sobald sie es wahrnahmen, versuchten noch die Bibormutter zu warnen, aber die bewegte sich nicht, schien nicht einmal wahrzunehmen, dass ihr Gefahr drohte.
    In der Ferne knickten Bäume ein, fielen einfach so um, und Taubsi lösten sich als den fallenden Baumkronen, flohen um ihr Leben kreischend. Hornliu und Bibor lieferten sich noch immer ein Blickduell, und je länger wir warteten, desto näher kam das Beben.
    Nein, nicht schon wieder. Ich durfte nicht zulassen, dass das schon wieder geschah!
    Ohne groß nachzudenken sprang ich aus meiner hockenden Haltung auf, brachte die paar Meter zwischen mir und den Pokemon hinter mich und positionierte mich zwischen dem lärmenden Beben und den Käfern.
    Noch bevor Anthrazit aus dem Gebüsch herausbrach, schrie ich aus vollem Leibe: „Stopp!“
    Es hatte keinen Zweck. Anthrazit hörte mich nicht, es war zu schnell und machte beim Rollen zu viel Lärm. Ich versuchte es noch einmal, und noch einmal, aber je länger ich wartete, desto näher kamen die Geräusche, desto stärker bebte der Boden! Ich hatte nicht mehr viel Zeit!
    Die Bibor waren inzwischen geflüchtet, schienen eingesehen zu haben, dass es keinen Zweck hatte. Hornliu würde sich nicht von dieser Lichtung bewegen, und seine Mutter dementsprechend auch nicht, aber langsam mussten sie doch mitbekommen, dass sie in Gefahr waren! Wenn sie hier blieben…
    Ich schüttelte verzweifelt den Kopf um die schrecklichen Bilder aus ihm heraus zu bekommen. Keine Zeit, jetzt Panik zu schieben!
    „Stopp, Anthrazit!“, rief ich noch einmal so laut ich konnte. Es war alles, was ich für den Moment tun konnte. Nur wirklich helfen tat das nicht. Ich hatte gerade noch Zeit einen Atemzug zu tun, da krachte der rollende Felsen aus dem Gebüsch hervor, steuerte direkt auf die Käfer zu. Und damit auch auf mich.
    „Stopp!“, rief ich jetzt hysterisch.
    Es hielt nicht an. Es wurde nicht einmal langsamer! Verdammt, verdammt, verdammt!
    „Arrtez!“, hörte ich jetzt auch Luca. Ich schwankte und dem ständigen Beben, zitterte wie verrückt. Das wars. Ich wollte es nicht sehen. Mit zusammengepressten Augen und Fingernägel, die sich in mein Fleisch bohrten, versuchte ich es noch mal. Aus voller Kehle, so laut und autoritär wie ich konnte, schrie ich: „Halt an!“


    Ich erwartete, dass ich im hohen Bogen durch die Luft flog. Ich erwartete, dass ich fürchterliche Schmerzen hätte. Ich erwartete, dass sich Steine in mein Fleisch bohrten und mir die Haut aufrissen, dass Blut überall auf meiner Kleidung war, dass ich meinen letzten Atemzug in Erions Armen tat und…
    Okay, langsam wurde es kitschig. So etwas passierte nicht einmal in den schlechtesten Romanen.
    Nein, gar nichts davon oder in dieser Art passierte. Das Beben hörte auf, der Lärm verklang in der Ferne. Kein Rattern mehr, kein Knacksen. Nur totale Stille.
    Ich wagte nicht, meine Augen aufzumachen. Ich war wie zu Stein erstarrt, weil ich Angst hatte, herauszufinden, was passierte, wenn ich mich bewegte oder einen Blick riskierte. Aber es half nichts. Für immer in der Weltgeschichte herumzustehen brachte keinem etwas.
    Als ich meine Augen öffnete, tauchten viele, kleine Sternchen auf. Es schmerzte etwas, die Lieder zu bewegen, aber das lag wohl daran, dass ich sie so sehr aufeinander gepresst hatte. Ansonsten spürte ich keinen Schmerz. Ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, wusste ich in dem Moment noch nicht.
    Mein kleines Sternenmeer lichtete sich nach ein paar Sekunden, die ich mit Blinzeln verbrachte. Und als ich wirklich verstand, was ich da vor mir sah, knickten mir die Beine weg und ich landete plump auf meinem Hintern.


    Zwei, vielleicht drei Zentimeter vor mir war Anthrazit tatsächlich zum Stehen gekommen. Ein tiefer Graben zeigte, auf welchem Weg es zu dieser Position gelangt war, und je näher er mir kam, desto flacher schien er zu werden. Ich wusste nicht wie der lebende Felsen es geschafft hatte, aber gerade noch rechtzeitig hatte er anhalten können. Luca eilte zu mir, sobald ich halb lachend, halb heulend zusammenbrach und legte seinen Arm um meine Schultern.
    „Ich lebe noch“, hauchte ich leicht unbeholfen. Anthrazit schwang sich auf, streckte seine Steinarme von sich und sah mich aus großen, schwarzen Augen an. Ich kicherte leicht hysterisch, mit Tränen in den Augen und legte meine zitternde Hand auf seinen felsigen Körper, strich ein wenig darüber.
    In diesem Moment war es das Wundervollste für mich, die raue Oberfläche spüren zu können, mit all den Erhebungen und Einkerbungen.
    Dass ich überhaupt noch etwas spüren konnte…
    Ein Wunder? Ein göttliches Zeichen? Glück?
    Ich wusste es nicht, es war mir aber auch völlig egal, Hauptsache ich war noch am Leben!
    „Alles okay mit dir?“, fragte Luca mich mit leichenblassem Gesicht. Ich blinzelte die Tränen weg und nickte. Und überschwänglich wie ich war, packte ich ihn an den Schultern und drückte dem perplexen Jungen einen Kuss auf die Wange auf.
    „Ich lebe noch!“, frohlockte ich laut, sprang auf und vollführte ein kleines Freudentänzchen.
    Oui…“, stammelte Luca langsam vor sich hin, fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Stelle an seiner Wange. Ich kümmerte mich nicht weiter drum. Ich war so froh, dass mich nicht mal mehr das laute Summen des Bibors, das mich milde gesagt völlig perplex ansah, noch sonderlich interessierte. Ich hatte das hier überlebt, mein Gott, da würde ein Stich auch nicht mehr viel ausmachen. Erst als es im Gebüsch raschelte, und grüne Haarsträhnen hervorkamen, riss ich mich wieder etwas am Riemen.
    „Erion!“, stieß ich erschrocken aus. Ich hätte ihn vergessen! Und das, nachdem ich mir gerade vor ein paar Sekunden erst ausgemalt hatte, wie ich in seinen Armen… Nein, stopp, keinen Gedanken mehr daran verschwänden! Das war ein dummes Bild, ich war panisch gewesen und hatte gedacht, dass ich schon das Zeitliche gesegnet hatte! Adrenalin stellte bekanntlich das merkwürdigste mit unseren Hirnen an! Das hatte nichts zu bedeuten gehabt!
    Wollte ich mir einreden. Wurde bei diesem Gedankengang aber dummerweise abrupt unterbrochen, als Erion auf mich zulief und mich an sich drückte. Und das irgendwie so fest, dass mir beinahe die Luft ausging. Ich ließ es aber über mich ergehen, weil…
    Weil mein Herz mir bis zum Hals pochte und ich nicht protestieren konnte, selbst wenn ich gewollt hätte. Und weil ich es tatsächlich genoss, ihm so nahe zu sein. Das war das sichere Anzeichen, dass wir tatsächlich mehr als Fremde waren. Denn obwohl das heute erst der vierte Tag war, an dem wir reisten… Waren wir bereits Freunde.
    „Erion?“ Ich zog meinen Kopf irgendwie aus der Umklammerung und röchelte mehr als ich sprach. Er antwortete erst nicht, dann grummelte er etwas Unverständliches.
    „Du, Erion?“, versuchte ich es noch einmal.
    „Was ist denn?“, murmelte er leise.
    „Es ist ganz schön schwer zu atmen, wenn du mich beinahe erdrückst“, keuchte ich hilflos. Er schnappte kurz nach Atem, drückte mich dann von sich weg und hielt mich eine Armlänge von ihm entfernt. Erion sah mich von oben bis unten an, als wollte er nachschauen, ob wirklich noch alles an mir dran war. Mit einem Lächeln versuchte ich, ihn zu beruhigen, und das schien zu wirken, zumindest für einen Moment.
    Dann verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck. Er biss sich auf die Zähne und murmelte: „Es tut mir Leid, Ange. Ich… Ich konnte dir nicht helfen, ich war wie angewurzelt und… Wenn dir etwas passiert wäre, dann…“
    Ich legte den Kopf etwas schief.
    „Red doch keinen Unsinn“, antwortete ich lächelnd. „Es ist doch alles in Ordnung!“
    „Aber… Was wäre wenn-“, wollte er mir widersprechen, ich unterbrach ihn aber schnell wieder.
    „Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, gäb‘s die ganze Welt nicht mehr!“, flötete ich amüsiert. Erion sah mich verwirrt an.
    „Hat meine Oma immer gesagt.“ Ich zuckte mit den Schultern und grinste, als Erion zu Lachen begann. Ein wenig Ablenkung würde ihm wohl nicht schaden.
    „Ich stör ja nich‘ gern…“, riss Luca uns aus den Gedanken, musterte uns streng, aber irgendwie auch resignierend. „Was machen‘ wir‘n jetzt mit den Beiden da?“
    Er deutete auf Bibor und Hornliu, die beide Anthrazit argwöhnisch ansahen und Abstand zu ihm aufbauten, aber scheinbar nicht gewillt waren, die Lichtung zu verlassen. Erion schluckte hörbar laut und wurde schon wieder einen Ticken blasser.
    Sobald es meine Aufmerksamkeit hatte, glitt Hornliu auf seinen kleinen Füßen auf mich zu. Es richtete sich auf, sah mich aus seinen großen, schwarzen Perlaugen an… Und biss mich ausnahmsweise mal nicht, als ich mich herunterbeugte und ihm meine Hand hinhielt. Nein, diesmal stieg es nur auf seine persönliche Transportmöglichkeit und dirigierte mich zu seiner Mutter.
    Ich näherte mich erst ein wenig zögerlich.
    Vielleicht war das Bibor jetzt aufgebracht? Immer war Anthrazit auf der Lichtung, und das stellte ohne jeden Zweifel eine Gefahr dar. Aber nein, sie brummte nicht einmal als ich mich ihr näherte. Alles was ich hörte war das Sirren der Flügel der schwarz gelben Riesenbiene. Die senkte die Stacheln an ihren Armen, sobald ich vor ihr stand und wandte sich Hornliu zu.
    Natürlich verstand ich nicht, was die beiden sich zu summten. Ich hatte keine Ahnung, aber es hörte sich an, als würden sie sich versöhnen. Nach einer kurzen Weile munteren Kommunizierens, in der ich starr in der Gegend stand und lauschte, wandte sich das Bibor mir schließlich zu. Es schenkte erst mir, dann Luca und schließlich auch Erion einen kurzen Blick, dann wandte es sich um und flog Richtung Gebüsch. Bevor es aber verschwand, drehte es sich noch einmal um und deutete auf uns. Erion zuckte zusammen, das konnte ich aus dem Augenwinkel sehen, aber ich sah der Biene an, dass sie nicht mehr feindselig und aggressiv war. Sie wirkte eher als…
    „Ich glaub‘, es will uns was zeig‘n“, vermutete Luca und richtete sich seinen Strohhut. Bevor er ihr aber folgte, wartete er erst noch auf meine Zustimmung. Ich warf Erion einen Blick zu und nickte dann entschlossen. Was auch immer sie uns zeigen wollte, es musste der Biene sehr wichtig sein.


    Je länger wir wanderten, desto dunkler wurde es im Wald. Wir gerieten wohl immer tiefer hinein und verließen somit die eigentliche Route, blieb nur noch zu hoffen, dass wir auch wieder zurück fanden.
    Der Wald war hier sehr viel dichter bewachsen. Nur noch ab und an fanden kleine Lichtpunkte auf den Boden. Es war schwer, sich durch das Gebüsch aus Dornen- und giftigem Gestrüpp zu kämpfen, denn jedes Mal blieben wir mit unserer Kleidung hängen. Luca tat mir dabei am Meisten Leid, mit seinen kurzen Shorts mussten seine Beine längst völlig zerkratzt sein. Er murrte jedoch nicht einmal. Unser jüngstes Truppenmitglied war schon wieder ungewöhnlich still. Genauso wie Erion. Der beklagte sich auch nicht, aber wohl aus völlig anderen Gründen. Er lief so dicht wie möglich hinter mir und warf immer wieder argwöhnische Blicke auf Hornliu, dass es sich mittlerweile auf meiner Schulter gemütlich gemacht hatte, und das Bibor, dass alle paar Meter anhielt und sich nach uns umsah. Es hatte keine Anstalten mehr gemacht, uns in irgendeiner Art und Weise zu bedrohen, ganz im Gegenteil. Die wenigen, mutigen Pokemon, die sich uns in den Weg stellten, jagte es mit einigen gut platzierten Giftstachelattacken zurück ins Gebüsch, sodass Anthrazit, dass hinter der Gruppe her rollte, herzlich wenig Arbeit hatte.


    Ich wusste nicht, wie lange wir dem Bibor folgten. Ich wusste auch nicht, in welcher Richtung Vertania City lag, oder unser Lager. Langsam begann ich mir Sorgen zu machen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Riesenhornisse es mit Absicht machte, oder uns gar in einen Hinterhalt lockte, aber die Zweifel nagten trotzdem an mir.
    Und kaum hatte ich eine Sekunde nicht aufgepasst, da war Bibor plötzlich verschwunden. Ich blieb stehen und Erion rannte prompt in mich hinein, genauso wie Luca.
    „Was ist?“, murmelte er mir zu.
    „Wo ist das Bibor hin?“, fragte ich stirnrunzelnd.
    „Einfach geradeaus weiter. Da scheint es heller zu werden“, wies Erion mich an. Er nickte mir zu, schluckte aber im selben Moment etwas nervös.
    Tatsächlich, als ich mich in die Richtung umwandte, bemerkte ich tatsächlich, dass es dort mehr Licht gab. Aber was sollte dort bitte sein?
    Nicht, dass ich der Biene nicht über den Weg traute, aber…
    Unsicher setzte ich einen Schritt in die Helligkeit hinein, verdeckte meine Augen mit dem Arm, weil sie unangenehm in den Augen stach. Hier schien der Weg breiter zu werden, zumindest war genug Platz für Erion und Luca, sich neben mich zu stellen.
    „Boah“, stieß der Älteste aus.
    „Schau dir das an!“, rief auch unser Führer.
    Ich zögerte erst ein wenig, aber sobald ich spürte, dass die Helligkeit nicht mehr so brannte, nahm ich meinen Arm vor dem Gesicht beiseite.
    Oh ja. Jetzt verstand ich, warum die Beiden so begeistert waren.

  • Ciao Cáithlyn,


    Eine neues Kapitel, eine neue Meinung. Letzteres eher nicht, aber irgendeinen hübschen Start für meinen Kommentar muss ich ja schließlich finden, denn soweit kann ich eigentlich nichts an dem aktuellen Kapitel aussetzen. Nachdem dem gemeinen Cliffhanger vom letzten Mal, sieht sich Angelique mit der Mutter der Bibor und einigen ihrer Kumpanen konfrontiert, als Hornliu sich plötzlich schützend vor sie stellt. So eine Entwicklung hatte ich mir im Angesicht, dass Angelique sich so fürsorglich um das Kleine gekümmert hatte, schon gedacht, von daher war die Aktion des Hornlius wohl keine große Überraschung. Genauso wenig wie die Tatsache, dass Angelique sich, nachdem Anthrazit den Bibor gefährlich nahe kommt, schützend vor diese stellt, um ein zweites Massaker zu verhindern. Normalerweise würde ich mich wohl selbst versuchen in diese Situation hinein zu versetzen und in einer solchen auch den Schluss ziehen, dass ich lieber ein paar Bibor überrollt sehen würde, als mich selbst, aber hier empfand ich Angeliques Reaktion durchaus nachvollziehbar. Insbesondere weil du ihre Gedankengänge davor logisch und Angeliques Persönlichkeit entsprechend beschrieben hast, weswegen die Situation in meinen Augen durchaus glaubwürdig herüberkam, wenn auch immer noch ziemlich todesmutig und nur von der Heldin einer Geschichte durchführbar ;). Dank geschickter Beschreibungen und dem richtigen Tempo, war das Kapitel sehr packend und ließ sich flüssig lesen, sodass ich auch kaum von Text aufschauen konnte, trotz der schon erwähnten leichten Vorhersehbarkeit. Süß fand ich noch wie Angelique sich vorgestellt hat, wie sie in Erions Armen liegen würde und selbst sie persönlich den Gedanken für viel zu kitschig empfand. Umso lustiger das Erion sie dann tatsächlich doch fest an sich gedrückt hat hinterher. Die beiden kommen sich also näher. Gut so, gut so. Dafür war der Cliffhanger sogar noch fieser als letztes Mal. Möchte man doch erfahren, was es da so Erstaunliches zu sehen gab und du beendest das Kapitel einfach.


    Dann freue ich mich mal brav auf das nächste Kapitel und eine baldige Begegnung mit dem bösen, bösen Pokemontrainer. Den beiden sofort das schlechteste Beispiel eines solchen vorzuführen ist ja auch irgendwie gemein von dir ;D


    Gruß Yura