Pandemie - Die Flucht

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  • Pandemie - Die Flucht



    Mauern werden mich nicht binden +++ Gift wird mich niemals zerfressen



    Informationen


    • Willkommen zu meiner neuen Geschichte Die Flucht
    • Behandelt diesen Startpost bitte wie ein Buch, jedoch ohne sonderliche Extras (wie man sie hier so schön in vielen Topics vorfindet). Ich hoffe, man versteht was ich meine.
    • Die Inspiration zur Geschichte kam mir ganz plötzlich. Ich wollte einfach wieder etwas Zeit in das Verfassen einer Fanfiktion investieren und wartete, bis mich die Muse geküsst hat.
    • Eine Danksagung finde ich an diesem Punkt zwar relativ unnötig, da ich mittlerweile mit fast niemandem in diesem Forum mehr Kontakt habe und mich auch sonst niemand inspiriert hat. Ich freu mich aber trotzdem über die Möglichkeit, hier meinem Geist freien Lauf zu lassen und möchte gerne Danke sagen. An Woelfin Akira, die mich gerne mal (trotz unregelmäßiger, urplötzlicher und ewig langer Unterbrechungen) während des Geschichtenschreibens begleitet hat und an Iver, der ab und zu doch noch ein Wort hier mit mir wechselt.
    • Es kann und wird durchaus vorkommen, dass Soundtracks in Spoilern zu den jeweiligen Kapiteln hinzugefügt werden, wenn sie denn dazu passen. Genaue Beschreibung findet man dann noch im Spoiler.
    • Textformen: Gedankenpassagen und manch betonte Bemerkung werden kursiv gepostet, der Rest bleibt unformatiert.
    • Erzählt wird aus der Perspektive des Protagonisten.
    • Zeitform: Ich möchte mich gerne an der Gegenwartsform versuchen. Da ich jedoch nie ein Meister in Grammatik war, bitte ich euch, mich nicht auseinander zu nehmen, solltet ihr Fehler finden.
    • Genres: Sci-Fi, Abenteuer, Drama, Dystopie



    Inhaltsangabe



    Seit zehn Jahren lebt Pethar in der Welthauptstadt Sinensis.
    Was damals als Wien bekannt war, ist nun der Heimatort für Millionen. Hinter den holografisch getarnten und hermetisch abgeriegelten Schutzmauern ist einem ein halbwegs gutes Leben bestimmt. Doch selbst der Versuch zu fliehen bringt die Todesstrafe mit sich. Manipulation verbreitet sich in der angeblich schönen Welthauptstadt.
    Die Regierung herrscht über rund zweiundzwanzigtausend Quadratkilometer. Was sich hinter den Stadtmauern befindet, wird streng geheim versiegelt gehalten.
    Und obwohl bekannt ist, dass beinahe die gesamte Menschheit durch einen infektiösen, giftigen Virus, eine uneindämmbare Pandemie, ausgelöscht wurde, will Pethar fliehen. Weg von diesem vollgestopften Ort. Bis an die entlegensten Ecken von Europa, wenn es sein muss. Dorthin, wo seine Eltern vielleicht noch leben.




    Inhaltsverzeichnis



    Die Flucht


    +


    Meine Welt
    Die Stadt
    Funkelnde Schönheit


    +



    Soundtracks:




    +


  • +++


    Die Flucht




    Meine Welt



    Mein Name lautet Pethar.
    Ich besitze dunkelbraune Augen, schwarzes Haar und bin hundertachtzig Zentimeter groß. Seit zehn Jahren lebe ich hinter den Mauern von Sinensis, der Welthauptstadt. Wir schreiben das Jahr Zweitausendeinhundertdreiundsiebzig. Es ist Sommer, ein recht angenehmer Tag. Der einzige Unterschied, hier gibt es keinen Himmel. Zumindest ist er nicht real.
    Mit freiem Auge kann man es nicht erkennen, doch was einst Wolke, Horizont und Sonnenlicht über Sinensis war, besteht heute aus einem gigantischen, erleuchteten Kraftfeld und weiteren holografischen Bildern eines blauen Himmels, den es schon lange nicht mehr gibt.
    Ich sitze im Gras, welches zumindest noch echt ist, beobachte ein paar schlummernde Hunde und grüble vor mich hin. Hier draußen ist es zumindest noch ruhig.
    Jetzt gerade befinde ich mich im Park eines äußeren Bezirks. Unsere Welthauptstadt Sinensis war einst bekannt als Wien. Aber auch das sogenannte Österreich oder Deutschland sowie die Schweiz gibt es nicht mehr, schon lange. Jetzt existiert nur mehr die Hälfte Europas, doch was sich hinter den undurchdringlichen Mauern von Sinensis abspielt, ist mir nicht bekannt. Unsere Stadt besteht aus vierzehn gigantischen Bezirken, fast hundertsechzig Untergrundlinien, auf einer Fläche von rund zweiundzwanzigtausend Quadratkilometern und beherbergt, stetig wachsend, zirka fünfzig Millionen Menschen. Ob es darunter überhaupt noch viele Einwohner mit wienerischen oder europäischen Wurzeln gibt, ist unwahrscheinlich. Ich selbst weiß nur, dass meine Vorfahren vor mehr als hundert Jahren aus Amerika geflüchtet sind.
    Damals brach dort durch chemische Unfälle, vermischt mit aggressiven Viren, eine Pandemie aus und darum ist es nur verständlich, weshalb meine amerikanischen Eltern und ich in Europa leben.
    Heute herrschen strenge Regelungen. Die Stadt ist zwar modernisiert und mit Wien nicht vergleichbar, allerdings wird man hier von Gehirnwäschen nahezu überflutet. Ein schönes Leben wird einem vorgegaukelt – und so lebt es sich hier auch.
    Doch ich hasse diese Stadt. Ich weiß, dass meine Eltern noch irgendwo da draußen leben. Sie werden zwar leider nicht das gesundeste Dasein fristen, doch sie leben.
    Als ich acht Jahre alt war, setzten die Köpfe der Regierung von Sinensis Maßnahmen. Die Pandemie erreichte langsam auch die sicher geglaubten Teile von Europa. Deshalb entwickelten die Chefs von Sinensis einen Plan, um den verbliebenen Rest der Welt aufrecht zu erhalten.
    Sie entführten, entrissen mich meinen Eltern und sperrten noch tausend andere wie Tiere in einen Käfig. Kinder wurden weggenommen, doch ihre Erzeuger ließen sie draußen im Gift verrecken.
    Ich kann mich nicht genau an meine Eltern erinnern. Ich denke mal, dass ich äußerlich meiner Mutter ähnle. Ich weiß auch, dass die zwei stark sind, sie haben überlebt.
    Da bin ich mir sicher.


    Ich betrete ein graues, mehrstöckiges Apartmenthaus, tummle mich durch einen Haufen Leute, hier wohne ich, im elften Bezirk. Der elfte Bezirk ist einer der Größten, hier gibt es besonders viele Wachposten. Bezirk Elf bildet mit Neun, Zehn, Zwölf, Dreizehn und Vierzehn den äußeren Stadtring, welcher an den Wachmauern angrenzt.
    Unsere kleine Wohnung ist erleuchtet. Die Schuhe meiner Mitbewohnerin liegen auf einer braunen Matte. Zwecks Sicherheitsgründen und da sonst eine Kontrolle über die rund fünfzig Millionen Einwohner von Sinensis unmöglich wäre, sind Stempeluhren in allen Häuslichkeiten und an fast jeder Straßenecke angebracht. Wir haben eine gleich neben der Eingangstür.
    Bei allen Einwohnern, den Neugeborenen sowie selbstverständlich auch den Flüchtlingen und entführten Kindern werden umgehend Aufspürradare in Form von kleinen Kapseln ins Handgelenk eingepflanzt. Unsere Welthauptstadt bietet in vielen Ecken kaum noch Platz und ist tagsüber fast überall randvoll, doch auch für die ärmsten Schluckspechte gibt es ein Dach über den Kopf und wenn sie sich einen Raum in Größe einer Nussschale mit zwanzig anderen teilen müssen, muss es so sein. Die Stempeluhr dient nämlich zur Überwachung. Alle sechs Stunden muss man sich an einem dieser Geräte registrieren oder zumindest alle zwölf Stunden an der hauseigenen. Sollte man dies nicht tun, werden umgehend polizeiliche Maßnahmen gesetzt. Die Radare sind nämlich nullachtfünfzehn Gerätschaften der modernen Technik und bekommen durch diese Registrierungen ihren Saft. Und würde man sich dem widersetzen, den Aufenthalt verbotenerweise geheim halten und die Radare nicht wiederaufladen, nehmen diese Schweine ganze Häuserblocks und die halbe Stadt auseinander, um einen wiederzufinden. Ich verstehe bis heute nicht, warum sie so handeln. Viel weniger will ich aber an die bis obenhin angefüllten und verdreckten Blocks in den heruntergekommenen Teilen von Bezirk Elf und der Stadt denken, die bei solchen Zwischenfällen meist noch um drei Uhr morgens auf den Kopf gestellt werden.
    „Warst du wieder draußen, Pethar?“
    Tagsüber arbeite ich in einem Laden für alle möglichen Jagdutensilien. Ich bin wahrlich ein Meister im Bogenschießen und zumindest gibt die Stadt ordentliche Ausübungsplätze für alle möglichen Sportarten her.
    Doch wenn ich mal frei habe, vertreibe ich mir die Zeit lieber damit, bis ans Ende der Stadt zu düsen. Führerschein habe ich nicht, doch die öffentlichen Verkehrsmittel bringen mich zum Glück dorthin, wo ich will. Am Rande gibt es dann nicht mehr viel zu sehen, doch ich liebe das bisschen natürliche Grün, welches man innerhalb der Stadtmauern überhaupt noch sehen und riechen kann. Dort begutachte ich dann immer die holografischen, scheinbar mauerlosen Grenzen, die ein endlos grünes Feld projetzieren. Genau an dem Ort versinken meine Gedanken stets stundenlang.
    Daneben wohne ich noch in einem Jugendgebäude mit schätzungsweise zwanzig Stöcken und unzähligen Wohngemeinschaften. Mit mir in einer WG leben ein Junge und ein Mädchen.
    „Klar, Geraldine.“ Unsere Wohnung ist nichts Besonderes. Wir leben in einer hochmodernisierten Stadt, doch das bedeutet nicht, dass die Menschen von Robotern bedient werden oder der Himmel mit Flugschiffen übersät ist. Auch mein täglicher Ritt in der U-Bahn findet lediglich in einer verchromten und wahrscheinlich nur schnelleren Version von der Damaligen statt.
    Der Virus ist so aggressiv, dass ich heute gar nicht mehr leben dürfte. Es handelt sich um pures Glück, dass Europa so lange unversehrt geblieben ist, bis eine Lösung gefunden wurde – mir leider unbekannt, ich würde es zu gerne wissen. Doch durch die kettenreaktionsähnlich schnelle Ausrottung der Menschheit brach ein sehr großes Netz an Technologie zusammen, welches sich wohl gerade in der Evolution zur nächsten Stufe befand. Es kostete sehr viel Zeit, die verbliebenen Menschen zu schützen und im Endeffekt einzusperren, als dass man an einer hochtechnisierteren Welt arbeiten konnte.


    „Lass mich raten, deine Gedanken haben dich dort wieder stundenlang an eine Parkbank gefesselt, nicht wahr?“, witzelt sie und balanciert ein paar Pfannkuchen auf meinen Teller. Geraldine ist wie eine große Schwester für mich.
    Geraldine - braunhaarig, mit Zöpfen, die sie sich nach hinten gebunden hat, smaragdgrünen Augen und den vollen Lippe. Seit neun Jahren kenne ich sie nun, ihre Eltern wurden damals inhaftiert.
    Und bis wir beide fünfzehn geworden sind – wir sind gleichaltrig – verbrachten wir eine, meines Erachtens, ähnliche Gefangenschaft in einem Waisenhaus. Bis obenhin vollgestopft mit Rabauken war es dort. Doch von diesem Ort kenne ich heute noch einige Leute, die mir womöglich bei meiner Flucht helfen könnten.
    „Du kennst mich zu gut“, antworte ich und versuche dabei zu lächeln. Geraldine legt ihre Kochschürze ab und setzt sich ebenfalls an den Tisch. Der Tisch ist verchromt, in unserer Zeit gilt dieses Material allerdings bereits altmodisch und passt nur zur Mittelschicht oder den armen Haushalten. Das Chrom sieht schon dezent heruntergekommen aus, Spiegelungen erkennt man durch die vielen Kratzer fast gar nicht mehr.
    „Hast du eigentlich immer noch vor, von Sinensis abzuhauen?“ „Geraldine, der Gedanke daran erhält mich am Leben. Du weißt doch, warum ich hier weg will“, antworte ich schmatzend.
    Ich habe Hunger und stopfe mir die leckeren Pfannkuchen gierig in den Mund. „Hm, das ist fast unmöglich. Heute Morgen habe ich einen Bericht in der Zeitung gelesen, dass die Wachen erneut ein paar Einwohner dabei erwischt haben. Sie wurden unverzüglich ins Gefängnis gebracht und…“ Sie unterbricht für einen Moment, da unser Mitbewohner gerade durch die Küchentür kommt. „Hingerichtet“, fügt er hinzu. „Fynnus, da bist du ja endlich!“ Geraldine springt förmlich aus ihrem Stuhl und bereitet auch ihm einen Teller mit Pfannkuchen zu. „Das ist allerdings nur ein Gerücht, Geraldine. Ach und für mich bitte ohne Marmelade, nur etwas Zucker, ja?“
    Er lässt sich müde auf einen Stuhl nieder und seufzt. Sein weißblaues, kariertes Hemd liegt in Falten und riecht verschwitzt – ganz im Gegensatz zu meiner Lederjacke und dem weißen T-Shirt darunter. „Na, etwas Neues rausgefunden, müder Herr Fynnus?“ Hämisch grinsend spiele ich darauf an, dass heute mein freier Tag war, während er gearbeitet hat und schiebe mir wieder ein Stückchen Pfannkuchen zwischen die Zähne.
    „Ach, nur das Übliche“, antwortet er und nimmt seine Mahlzeit entgegen. „Geraldine dein Essen schmeckt wie immer toll aber…“ Er hält kurz inne, wir blicken ihn fragend an. „Bei den überfüllten Straßen könnte ich dennoch kotzen“, schmunzelt er.


    Nachdem wir gegessen haben und ich den Abwasch erledigt, lassen wir uns auf das kleine rote Sofa im nicht viel größeren Wohnzimmer fallen. Jeder von uns hat außerdem seine eigenen vier kleinen Wände, doch bei unseren Gehältern und den massig teuren Quadratmeterpreisen springt nun mal nicht mehr heraus. Da ich ohnehin lieber etwas Gesellschaft in Form von Freunden um mich habe, gefällt es mir zumindest in unserer Wohnung, wir sind wie eine kleine Familie.
    „Wieder nur Schwachsinn im Fernsehen.“ Fynnus beschwert sich täglich über das Fernsehprogramm. Er ist ein kleines Genie, kennt sich vorzüglich mit Technik aus und vergeudet trotzdem seine Zeit als Krankenpfleger in einem schmutzigen Krankenhaus. „Ich stimme dir zu“, äußert sich Geraldine.
    Doch bei der Auswahl kann man es niemandem verdenken. Drei Sendestationen zur täglichen Manipulation der Menschheit. In der einen berichten zweitklassige Reporter und Redakteure quasi rund um die Uhr von dem tollen Leben und den glücklichen Einwohnern in Sinensis. Die Zweite zeigt laufend Dokumentationen der neuesten und auch ältesten Fälle von Kriminalität und deren Eindämmung durch polizeiliche Brutalität. Im dritten Fernsehprogramm zeigen sie neu gedrehte Spielfilme von damals, deren Manuskripte noch gerettet werden konnten – in geschnittener Fassung. Wie im ersten Sender wird nur Gutes gesendet, die rebellischen Szenen gestrichen. Einige der Filme müssen meines Erachtens bereits antik sein, bei den ganzen naiven Vorstellungen und Ideen.
    Man muss wissen, da der Virus die Leute zur Anarchie getrieben und somit auch die klügsten Köpfe der Medien durchdrehen gelassen hat, ist nicht viel übrig geblieben. Mir ist es ziemlich gleich, doch etwas neuwertigeres Programm, das zum modernisierten Dasein wie Pech sprichwörtlich zu Schwefel passen sollte, könnte so manch harten Arbeitstag mit einem tollen Fernsehabend besser ausklingen lassen. Was damals New York war, gibt es nicht mehr. Die NASA, Weltraumtechnologie, Gesundheitswissenschaften, unzählige Dokumente, Aufzeichnungen und Lehrfilme, die uns jetzt helfen und das Leben erleichtern würden, sind für immer zerstört worden.

    „Igitt, ein bedientes Mädchen, das sich in einen Vampir verliebt, grässlich“, kommentiert Fynnus. „Und dann auch noch diese peinlichen Dialoge.“ Ich muss lachen, doch auch die beiden anderen können sich zumindest ein Grinsen nicht verkneifen.
    Nach etwa anderthalb Stunden ist Geraldine kurz davor, an Fynnus‘ Schulter einzupennen. Wir haben keine Lust auf manipuliertes Zeug im TV, das benannte Mädchen aus dem Film ist beinahe von einem anderen Blutsauger getötet worden und liegt im Krankenhaus. „So, Schluss damit“, meint Fynnus und macht den Fernseher aus. Man möchte meinen, wir hätten schon etwas das Heimkino ähnelt, wie es die Menschen damals mit ihren Flachbildschirmdingern nachahmen wollten. Doch vor uns steht nur eine runtergekommene Version dessen, was die vor hundert Jahren vielleicht schon hatten, keine Ahnung.


    „Mich würde ernsthaft interessieren, wann wir endlich von hier verschwinden werden…“ Ich stehe auf, strecke genüsslich meine Gliedmaßen und offenbare, was mir schon den ganzen Tag und während dieses schwachsinnigen Films im Kopf herum spukt. „Wir?“ Geraldines betont das Wort, indem sie ihre Stimme eine Oktave höher wandern lässt. Ich weiß selbstverständlich, dass sie tendenziell eher dazu neigen würde, in Sinensis bis an ihr Lebensende zu bleiben. Darum haben wir Geraldine auch gar nicht erst in unser Geheimnis eingeweiht. Fynnus arbeitet als Krankenpfleger, das stimmt.
    Doch wenn er sich nicht für eine Sekunde zwischendurch auch Zeit nimmt um einmal zu entspannen oder heimlich Pläne für fantastische Erfindungen zu kreieren, macht er Überstunden im Krankenhaus. Fynnus versteckt sein besonderes Talent durch Arbeit in der untersten Schublade. Seine offizielle Tätigkeit besteht darin, sich einfach den ganzen Tag um verwahrloste und kranke Menschen zu kümmern, sie etwas zu pflegen und mit ihnen zu reden.
    Außerdem sind Arbeitsplätze heutzutage Gold wert und alle Jobmöglichkeiten randvoll. Bei dem Gewusel fällt es nicht auf, wenn er sich mal Überstunden nimmt, in Wahrheit aber einen leeren Fahrstuhl schnappt und damit ins Erdreich schlüpft.
    Unter vielen Krankenhäusern gibt es nämlich Schutzbunker, angereichert mit allen möglichen Dokumenten, Waffen und Schrottteilen die zur Mechanik und natürlich auch Wissenschaft dienlich sein können.
    So viel wert wie Diamanten ist das alles, sagt Fynnus immer und ich verstehe was er meint. Mein Kollege hat tagelang an der Identifikation des Zahlencodes zum Zugang der Bunker gearbeitet, doch fragt mich nicht, wie er ihn am Ende herausgefunden hat. Hohe Mathematik, denke ich.
    Auch er hegt großes Interesse daran, die unschuldig wirkenden, hinter Hologrammen versteckten Mauern von Sinensis hinter sich zu lassen und in Freiheit zu forschen.
    Die Wissenschaftler der Stadt analysieren Tag für Tag wie sie die Menschenmassen unter Kontrolle halten können – mit ihrer manipulativen Propaganda über ein schönes Sinensis und der unduldsamen Gesetzesregeln punkto Überwachung. Zudem kämpfen sie immer noch an weiteren Maßnahmen gegen den Virus. Woraus die Wände der Stadt bestehen könnten, nur Gerüchte werden Auskunft geben. Das Gegenmittel besteht aus einer ebenso anonym gehaltenen Substanz. Fynnus meint immer (er untersuchte den im Handel billig zu erwerbenden Impfstoff und war damals bei der Erkenntnis ziemlich überrascht), dass es sich dabei um eine Fusion zwischen der abgeschwächten Wirkung von Eisenhut und einer weiteren, künstlichen Eigenschaft handeln muss.
    Eisenhut klingt lustig. Es soll ein giftiges Gewächs und Mordwaffe in damaligen, nicht technisierten Kriegen gewesen sein, das es heutzutage gar nicht mehr geben dürfte. Durch seine Überstunden lernt Fynnus jedoch viel über die Heilmittel von vor über hundert Jahren.
    „Würdest du uns echt alleine ziehen lassen, Geraldine?“ Fynnus kuschelt sich brüderlich an ihre Seite, zum Glück trägt er seit Filmbeginn saubere Schlafkleidung. „Natürlich nicht, ich würde euch aufhalten.“ Die zwei bewerfen sich immer gerne mit dezent sarkastischen Kommentaren, meinen es aber glücklicherweise nie böse. „Da gibt’s aber kein Aufhalten“, kontere ich.
    Meine Augen blicken aus dem Fenster, folgen künstlichen Sternschnuppen auf dem Firmament. Ich beobachte das Treiben der Stadt, in finsterer Nacht getaucht. Obwohl wir hier in einer nicht ganz so modernen und sehr verkorksten Welt leben, könnte man die echten Sterne am Himmel wegen der vielen Lichter und Leuchtreklamen wahrscheinlich gar nicht erleben.



    +++

  • Huhu Android :3


    Ich hab heute morgen schon deine FF gesehen und ich konnte es irgendwie überaupt nicht abwarten, dass du das erste Kapitel postest. Ich hab wirklich irgendiwe alle paar Minuten geschaut - wie krank ein Mensch doch sein kann :D
    Nunja, aber genug dumm herumgefaselt, ich bin ja hier um etwas konstruktives zu schreiben, höhö


    Startpost/Titel
    Also, dein Startpost gefällt mir wirklich sehr. Du hast alles schön aufgebaut und meines erachtens auch alles wichtige darin stehen.
    Was mir wirklich sehr gefällt, ist der Header. Irgendwie zeigt er halt so eine große moderne Stadt und dieses großes Gebäude sieht halt auch irgendwie so aus, als ob dort nur die wichtigen Leute sitzen würden und drum herum die kleinen Menschen, die gegen die Großmacht nichts anrichten können.
    Ich mein, in so ein Bild kann man total viel hineininterpretieren, aber ich glaube das Bild passt, denn sonst hättest du es ja wohl auch nicht ausgewählt.
    Auch der Spruch darunter gefällt mir sehr. Wenn man dein Kapitel noch nicht gelesen hat, weiß man halt nicht wirklich, was es zu bedeuten hat.
    Allein anhand des Headers und der kleinen Sprüche, scheint deine Geschichte schon spannend zu werden. Zumindest wirkt es so auf mich.


    Was man so auch nicht jedes mal sieht ist, dass du extra noch einmal schreibst, dass man den Startpost wie den Anfang eines Buches sehen soll. Viele nutzen ja den Startpost um wichtige Texte, wie die Charakterbeschreibung hinzu zu fügen, aber dadurch, dass du das geschrieben hast, nimmt man es hin und man hat nicht das Gefühl, dass irgendetwas fehlt.
    Na klar muss man dann davon ausgehen, dass du in deinen Texten die Charaktere gut beschreibst, sonst hat das eher einen negativen Effekt.
    Ansonsten hast du wirklich alles wichtige, was so für ein "Buch" vorhanden sein muss drin.
    Man weiß jetzt welches Genre es ist, und sogar aus welcher Perspektive - ich mags total.
    Was wirklich am besten an deinem Startpost finde, ist die Inhaltsangabe. An isch hat mich der Text total an das Buch 'Die Tribute von Panem' erinnert. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich den Text erst gesehen habe, nachdem ich das Kapitel gelesen habe und das somit irgendwie verbunden habe. [Diese verschiedenen Distrikte bei dir, ähneln irgendwie der Art wie in der Trilogie]
    Und dadurch, dass du den Text so geschrieben hast, dass man das Ende noch nicht wirklich erahnen kann, hast du das so geschickt eingefädelt, dass die Leser[ich] nur zu gerne die Geschichte zu Ende lesen wollen D:


    Nunja, also dein Startpost kann ich wirklich nur loben.


    Zum Titel kann ich sagen, dass es der Hauptgrund war, warum ich auf deine Story geklickt habe. Er klang für mich einfach nur spannend. Als ich das gelesen habe, habe ich nur überlegt, wovor man Flüchten könnte und um dieser Frage auf den Grund zu gehen, hab ich halt mal einen Klick gemacht.
    Und ich weiß auch nicht warum, aber Pandemie erinnert mich an Pandas o.o
    Zwar kenne ich das Wort, aber irgendwie musste ich erst an Pandas denken, als mir dann wieder eingefallen ist, wofür das Wort steht. Und da war mein Interesse vollkommen geweckt. Und dann kam erstmal voll die Enttäuschung, dass gar kein Text vorhanden war - aber deswegen konnte ich es voll nicht abwarten - hast du also gut gelöst :D
    Also kurz gesagt, ich liebe deinen Titel ♥


    Kapitel
    Yeah, ein langes Kapitel gleich zu Anfang :D Schonmal ein Pluspunkt von mir.
    Nein okay. Ich war einfach nur gefesselt, wie du deinen Text verfasst hast. Ich wollte eigentlich schon längst etwas anderes gemacht haben, aber als ich dann gesehen habe, dass du deinen ersten Text draußen habe, konnte ich nicht anders und musste es lesen. Und dann hat der Text mich einfach nicht mehr losgelassen D:
    Man hat auch gesehen, dass du zum Beispiel überhaupt keine Charakterbeschreibung brauchst. Du hast du Charaktere und unteranderem auch die Umgebung so super beschrieben, dass ich diese nicht vorhandene Wärme gespührt habe. Allein weil du geschrieben hast, dass dieser gefakte blaue Himmel und die grüne Wiese vorhanden sind. Epic. Hätte ich zu dem Zeitpunkt nicht irgendein Heavy Metal Schrott gehört, sondern irgendetwas beruhigendes und idyllisches, dann wäre ich vollkommen weg gewesen. Dan gäbe es mein krüppel Zimmer gar nicht mehr, sondern ich würde neben dem Protagonisten stehen und all seine Handlungen und Gedanken verfolgen. Ich hab halt wirklich nicht mehr gemerkt, dass ich lese. Und daran sehe ich, dass du echt super schreiben kannst. Hach ich liebe dich, dafür, dass du so super schreiben kanns ♥
    Wie ich halt gar nichts zu kritisieren habe. Ich hoffe du nimmst mir das nicht übel, oder so.


    Nunja. Dafür das in deinem Text eigentlich relativ wenig passiert ist, hast du wirklich richtig viel rausgeholt. Wahrscheinlich wäre ein Text von mir, mit dem gleichen Inhalt, schon nach ein paar Zeilen zu Ende.
    Auch dafür, dass deine Story eher ernst wirkt, hast du auch einige lustige Szenen eingebaut, wie z.B das mit dem Mädchen und dem Vampir. Die Reaktion von Fynnus fand ich halt irgendwie cool.
    Ich mag den Text halt einfach total. Und ein paar Fehlerchen hab ich auch gefunden, aber das mindert mein Urteil keineswegs. Das geht schon gar nicht mehr ^3^
    Hier sind dann mal die, die ich gefunden habe:

    Zitat von dir

    Unsere Wohnung ist nichts Besonderes. Wir leben in einer hochmodernisierten Stadt, doch das bedeutet nicht, dass die Menschen von Robotern bedient werden oder der Himmel mit Flugschiffen übersäht ist.

    Wenn das so gemeint ist, wie ich denke wird das Wort ohne 'h' geschrieben

    Zitat von dir

    Wie im ersten Sender wird nur gutes gesendet, die rebellischen Szenen gestrichen.

    In dem Fall wird das Wort groß geschrieben.

    Zitat von dir

    Ich stehe auf, strecke genüsslich meine Gliedmaßen und offenbare, was mir schon den ganzen Tag und während dieses schwachsinnigen Films im Kopf herumspukt.

    Hier hast du ein kleines Leerzeichen vergessen, bzw. wird es auseinander geschrieben


    Ansonsten habe ich nichts weiter gefunden und ich wüsste jetzt auch nicht mehr was ich schreiben könnte.
    Ich hab mich richtig gefreut, dass du heute Abend schon dein Kapitel gepostest hast. Ich denke mall, ich werde mir die nächsten auch mal durchlesen und mal hin und wieder was von mehr sehen lassen :3


    mfg Kiriko




  • + Soundtrack im Startpost vorhanden +



    [Blockierte Grafik: http://oi50.tinypic.com/2hx689k.jpg]


    +++


    Die Flucht




    Die Stadt



    Holografische Wände dienen meiner Meinung nach als Beruhigungsmittel.
    Ich bin keineswegs ein Einsiedler, welcher dort gerne die Seele baumeln lässt, in der Ferne nach Abgeschiedenheit sucht und einfach Ruhe will. Hingegen dessen ist der nahezu perfekte Ausblick auch eine Warnung darüber, was es hinter Sinensis‘ Mauern laut Regierung nicht mehr geben soll. Insofern ist das Feld auch als sogenannte Barriere des Verrats bekannt. Je näher man ihr kommt, desto lauter und unkontrollierter surrt, besser gesagt, vibriert das Hologramm. Selbstverständlich ist es durchlässig, man könnte praktisch mühelos hindurchschreiten und fände vermutlich nur wenige Meter dahinter eine endlos hohe Mauer vor. Aber bereits in den runtergekommenen Waisenhäusern wird Kindern eingepflanzt, dass sie keinesfalls auch nur einen Schritt hinter das Hologramm setzen dürfen. Wer dies tut, besudelt das Gesetz. Man zeige damit laut Regeln einen Drang nach Freiheit, der unbedingt im Zaum gehalten werden muss.
    Noch heute komme ich wegen der vielen Fragen im Kopf nicht regelmäßig an meinen Schlaf. Gedanken plagen mich, mögliche Schlussfolgerungen erhalten mich weiterhin wach. Warum tut die Regierung so etwas mit uns? Wieso halten sie uns gefangen? Weshalb wird so viel Geld verschwendet, damit wir beständig bis zum Schädelbruch von der medialen Omnipräsenz einer offenbar schwachpunktlosen Virenerkrankung zu gedröhnt werden, obwohl es so viele Menschen dringend bräuchten? Und warum gibt man uns keine Antworten…?


    „Habt ihr denn überhaupt schon einen Plan?“ Geraldine zieht ihre Beine an den Brustkorb und umschlingt sie schutzbedürftig mit den Armen. Zerzaustes Haar und Stirnfältchen offenbaren kopfzerberstende Gedankenstränge, die sie nicht loslassen. Die Augen wirken nicht voller Wärme wie normalerweise, sondern vielmehr leer und kalt, während es in ihrem Kopf nur so rumort. Der Gedanke an eine Flucht bekommt Geraldine immer noch nicht gut – doch es ist ja auch verständlich. Mehr als eine Chance zu fliehen würde uns die Polizei nicht geben und noch bevor ich bis drei zählen könnte, wären wir höchstwahrscheinlich schon tot oder Gott weiß wo.
    Ich kehre dem Fenster meinen Rücken zu und verschränke die Arme. „Noch nicht, doch übermorgen werde ich mich wieder mit unseren Jungs treffen.“ Ich versuche inständig, mir nichts anmerken zu lassen, doch auch in meinem Kopf wirbeln wilde Gedanken. Mit den Jungs meine ich Chess und Luc – zwei polizeilich gesuchte Hacker und ebenso hochbegabte Computerfanatiker, die den Umgang mit ihren Prozessoren tadellos beherrschen und mit mir verbunden sind. Sie teilen sich ein staubiges Loch (so nenne ich ihren mickrigen, immerzu verdunkelten Wohnraum) am Rande des achten Bezirks und können durch ein selbstkreiertes, ausgefuchstes Hacker ID Programm unerkannt bleiben.
    Ich kenne die zwei aus Waisenhauszeiten. Chess und Luc waren schon damals während der Schulzeiten Asse in Mathematik und Physik. Mit Fynnus und Geraldine bildeten wir eine kleine Clique und wurden regelmäßig von Frau Brutknecht, unserer deutschstämmigen, molligen, strengen Aufsichtsperson bei unsittlichem Verhalten erwischt und zu Strafarbeiten verdonnert. Als ich und Geraldine erst zwölf waren, sperrte sie uns eines Tages unwissentlich während der bitterkalten Wintersaison aus – wir mussten die Nacht in einem schäbigen Kletterhäuschen des Spielplatzes auf der gegenüberliegenden Straßenseite verbringen. Zum Glück verließen wir das Gebäude zuvor dick eingepackt in Winterkleidung, bibberten nichtsdestotrotz stundenlang und erfroren beinahe in der nächtlichen, eisigen Frist. Glücklicherweise waren wir danach so krank, dass man uns für zwei Woche abwesend schreiben musste und wir uns in einem Krankenhaus auskurieren durften. Die Waisenhauszeit war alles andere als schön, daher genossen wir diesen Urlaub förmlich.
    Wie dem auch sei, schon damals heckten Chess, Luc und ich gerne Streiche und Scherze aus. Einer davon beinhaltete, Frau Brutknechts Kleiderschrank aus Rache mit einem winzigen, explosiven Stoff aus dem Supermarkt in die Luft zu jagen – das benötigte Geld erbettelten wir uns Tage zuvor auf der Straße.
    Gesagt – getan, blieb von ihren Kleidungsstücken nicht mehr viel übrig. Komischerweise – doch auch zu unserem Wohlhaben – war Frau Brutknecht deshalb so schockiert, dass sie nicht mal versuchte, einen Brandstifter unter uns Kindern zu finden. Die Tat wurde lediglich auf einen ehemaligen Liebhaber ihrerseits geschoben, der sich auf unerklärliche Weise Zugang verschafft haben soll. Danach wurde das Thema unter den Teppich gekehrt und nie mehr wieder erwähnt.
    Ich kann mich nach wie vor gut an Frau Brutknechts akzentbehaftete, zornerfüllte Worte erinnern, wenn sie uns tadelte – aus euch Lausbuben wird niemals was Besonderes, ihr werdet früher oder später an eurer Naivität und Dummheit verrecken!
    Mir wird gerade bewusst, dass sie gar nicht so sehr im Unrecht gelegen hat.
    Luc, Chess und ich tüfteln schon seit vermutlich sechs Monaten an der tatsächlichen Realisierung einer Flucht. Wir haben mittlerweile einiges über das Stadtgeschehen herausgefunden, bisher befindet sich unser Plan jedoch zugegeben noch im Larvenstadium. Um dies zu erkennen, bräuchte man nicht mal einen hohen Intelligenzquotienten.


    „Ach, macht doch was ihr wollt…“, seufzt Geraldine. Ringe der Erschöpfung untermalen ihre Augenlider, sie lassen meine Mitbewohnerin und engste Freundin erschöpft wirken. Macht sie sich tatsächlich solch große Sorgen? Träge schlendert sie zu ihrem Zimmer und stolpert dabei fast über die langen Hosenbeine ihres weißen Pyjamas. Geschickt entfädelt sie unterwegs ihre Zöpfe und schließt die Tür hinter sich. Nach ein paar unwichtigen Wortwechselungen mit Fynnus und der regelmäßigen Körperhygiene begebe ich mich ebenso in mein Schlafgemach.
    In Sinensis behandelt man uns durchaus menschlich. Viele Bürger besitzen eine Arbeitsstelle und neben Sonntagen wöchentlich noch weitere vierundzwanzig Stunden Freizeit.
    Ein Wahlrecht, geschweige denn die Möglichkeit, überhaupt wählen zu können, steht uns nicht zu. Dafür darf jeder heiraten und eine Familie gründen. Selbst gegen Homosexualität sträubt sich niemand mehr, so wie es angeblich einst vor über hundert Jahren war. Wie gesagt, man erhält trotz Einmauerung – mit jener sich die Masse durchaus zufrieden stellt – einige Freiheiten. Was jedoch übereinstimmend beharrlich durchgesetzt wird, ist Disziplin. Ordnungswidrige Faulheit ist und bleibt ein unerwünschter Aspekt des Regelbuches. Genau deshalb sind in so gut wie allen Schlafvorrichtungen, seien sie öffentlich oder nicht, Lautsprecher zwecks Weckalarmierung vorhanden – das einzig Moderne in meinen privaten vier Wänden. Und dabei werden diese Lautsprecher über einen Computer im zentralen Bereich von Sinensis‘ Überwachungsorganisation gesteuert. Oft wage ich es nicht, auch nur einen Gedanken an meine ersehnte Flucht zu genießen. Man kann nie wissen, mit welchen Tricks die Überwachungsorganisatoren uns möglicherweise schon ewig unerkannt ausspionieren. Vielleicht sind sie sogar imstande, unsere Gedanken zu lesen?!
    Völliger Stuss, rede ich mir schläfenreibend sowie stirnrunzelnd ein. Chess und Luc wären in diesem Fall bereits zweifellos aufgefallen und erwischt worden. Ihre bisherigen Taten waren verdammt gesetzwidrig. Schon seit Ewigkeiten würden die beiden unter der Erde faulen, hätte ich mit meinen Spekulationen über unentdeckte Spionage und Gedankenleserei via Alarmgerätschaft Recht, denn auch in ihrem Loch befindet sich so ein Lautsprecher.
    Mein kleines, stickiges Zimmer. Da steht ein Bett inmitten farbloser Wände, ganz simpel und doch recht edel aussehend. Aus Holz hergestellt, mit unterschiedlich verschnörkelten Einkerbungen verziert. Ich will schlafend nicht gänzlich von den teils störenden, grellen Stadtlichtern bestrahlt werden. Aus diesem Grund habe ich mir vor Monaten einen rollbaren Kleiderschrank besorgt, damals natürlich noch leer, nicht mit sortierten Arbeitshemden und Freizeitkleidungen bestückt. Diesen kann man praktischerweise zwischen Bett und Fensterbrett schieben, sobald man schlafen möchte. Seufzend tue ich dem heute gleich. Ich lasse jedes Mal ein bisschen Freiraum, damit ich nicht vollständig in unkenntlicher Finsternis kauern muss. In einer Ecke des Raumes, wo noch nicht so viel Farbe der silbern lackierten Decke abfällt, lehnen Bogen samt Köcher mit ein paar Chrompfeilen. Polierte, messerscharfe Pfeilspitzen thronen empor – diese Waffe ist mein ganzer Stolz.
    Mir glühen die geröteten Wangen, doch dabei habe ich heute nicht mal hart arbeiten müssen und nach einer Krankheit fühlt es sich ebenso wenig an. Ich denke, dass Kopfschmerzen meine Nervenwindungen bald heimsuchen werden, sollte ich mich nicht schleunigst in das Land der traumlosen Nächte stürzen. Unbeholfen fällt mein dünner Körper in die unnachgiebige Matratze, das Bett scharrt quietschend und kratzend über den Fußboden. Warum glüht mein Kopf wie Feuer? Der menschenreiche Trubel einer Weltstadt kann für Neulinge schnell zu Überforderungen der Wahrnehmung und somit zur Erschöpfung führen, doch ich bin es eigentlich gewohnt. Andererseits, womöglich tut mir die Strahlung meiner holografischen Lieblingskulisse nicht gut. Es kann auch sein, dass der hitzige Sommer so langsam seine Temperaturen ausfährt, Abende und Nächte erwärmt.
    Ich betrachte den tiefschwarz bemalten Bogen, er liegt gut in der Hand und ist auch keineswegs zu lange. Wirklich bedauerlich, dass mir einheitliche Ausübungen in den gegebenen, meines Erachtens, gut ausgestatteten Sportanlagen etwas schwer in den Taschen liegen würde. Nur äußerst selten kann ich es mir leisten. Zudem wäre es ein waghalsiger Akt, wenn ich urplötzlich wild in der Stadt um mich schießen würde. Es könnte dazu führen, dass ich vielleicht jemanden verletze und schließlich eingesperrt würde. Eine weitere Sperre, wird es mir klar. Trotzdem kann man mein Talent vorbehaltlos als meisterhaft bezeichnen.
    Schlafbereit breite ich mich nach Möglichkeit auf der unansehnlichen Matratze aus, welche an den Seiten von ein paar scharfen Sprungfedern durchspießt ist. Die Augenlider werden schwer. Flackernd verschwimmen Bilder meiner stattlichen Schusswaffe und ich falle in einen seichten Schlaf.


    Es ist Samstag, früh am Morgen.
    Schweißgebadet schmore ich unter der dünnen Bettdecke. Bin ich krank? Nein, die aufkommende, nächtliche Wärme hat meinen Körper wohl einfach überrumpelt und außerdem liegt er ziemlich eng verpackt da. Ein unangenehmer Reflex zuckt durch meine Glieder, als das Geräusch des morgendlichen Weckalarms ertönt. Es könnte praktisch mit Feueralarm verwandt sein, beziehungsweise, verwechselt werden. Etwa fünf Sekunden, nachdem der monotone Ohrenmarterpfahl losgelegt hat, spricht eine computerisierte Stimme zu mir. „Pethar Lumar, es ist zehn Minuten nach Fünf Uhr. Ihr Arbeitsdienst beginnt kurz vor acht Uhr, ist das korrekt?“ Für einen Moment lang dehne ich ausgiebig die Gliedmaßen und ignoriere den schallenden Lärm. Ob ihn meine Mitbewohner wohl auch so durchdringend mitbekommen? Aus ihren Zimmern kann ich jedenfalls nie auch nur einen Mucks wahrnehmen. „Ist das korrekt?“, wiederholt die Stimme, genauso emotionslos und robotermäßig wie davor. „Korrekt…“, kommt es aus meinem staubtrockenen Mund genuschelt. Ich setze mich auf, reibe etwas Sand aus den Augen und gehe Richtung Badezimmer. Ehe ich das Zimmer verlassen habe, erstickt das ohrenbetäubende Geräusch – es ist nicht laut, doch viel mehr nervig und selbstverständlich aufweckend. „Ihr nächster Weckalarm wurde für die Uhrzeit zehn Minuten nach Fünf Uhr vor dem Mittag, kommenden Montag, verfügbar gemacht. Wir wünschen Ihnen einen guten Morgen.“
    Fabelhaft, denke ich mürrisch.


    Während meine Mitbewohnerin bereits übereifrig Lunchpakete und Kaffee bereitgestellt hat, sie scheint heute wohl sehr motiviert zu sein, schläft Fynnus noch, als ich unsere Wohneinrichtung verlasse. Ich verzichte heute auf jegliches Frühstück, kleide mich stattdessen so schnell wie möglich ein, packe mir dankend das Lunchpaket in den Rucksack und verschwinde. Morgens bin ich nicht gerade für Scherze oder Gespräche aufgelegt, wenigstens trocknet der Schweiß unverzüglich und erhitzt fühle ich mich ebenso wenig.
    Mein genialer Wohnungskollege beginnt seine Dienstzeit meistens erst gegen zehn Uhr vormittags. Er arbeitet demgegenüber länger, manchmal sogar bis nach Mitternacht. Armer Fynnus, denke ich mir dann stets. Andererseits hat er sich aus eigenem Willen dafür entschieden, neun Stunden lang den sorgsamen Umgang mit geistig oder körperlich benachteiligten Personen zu pflegen. Geraldine dagegen, kümmert sich (freizeitabhängig) rund um die Uhr um unsere (häuslichen) Bedürfnisse. Mir ist es oft besonders peinlich, doch manchmal geht sie sogar so weit und schläft mit Fynnus, wenn es ihm schlecht geht oder er es nötig hat. Ich ignoriere die gesamte Szene anhaltend mit ausgedehnten Spaziergängen oder faszinierenden Hologrammen.
    Ob die beiden vielleicht ineinander verliebt sind, kann ich nicht wirklich abschätzen. Normalerweise benehmen sie sich eher wie beste Freunde, wie auch mir gegenüber. Als Strichmädchen oder Schlampe würde ich Geraldine deshalb aber nicht in meinen teuflischsten Gedanken bezeichnen. Sie ist einfach so oft wie möglich für mich und meinen Wohngenossen da, liebt uns von ganzem Herzen. Nebenbei arbeitet sie werktags fünf Stunden an der Essenstheke eines Obdachlosenheims. Geraldine verteilt dort zwischen Mittag und Abend Gulaschsuppen, Schnitzel oder Frankfurter Würstchen mit einem vitaminreichen Dessert. Mittwochs gibt’s wöchentlich ein anderes Küchengericht, um den Speiseplan der Heimatlosen etwas bunter zu gestalten. An manch freien Tagen steht Geraldine stundenlang vor dem Backofen. In ihren eifrigen Zeiten bereitet sie da immer leckeres Zuckergebäck, mundgerechte Kuchenstückchen und Kekse für uns sowie ihre Theke zu. Sie ist unglaublich fleißig und bei ihrer Arbeit äußerst beliebt, doch auch ich würde Geraldine nicht mal für ein freies Leben an die Regierung ausliefern. Dieses Leben will ich mir mit eigenen Händen erschaffen und wenn es noch so ewig dauert.


    „Werfen Sie doch bitte ein Auge auf unser wunderbares Zeitungssortiment; Meine Damen und Herren, treten Sie näher, nirgendwo in Sinensis schmecken Hot Dogs und Hamburger um diese Uhrzeit besser!!“ Mich überkommt morgens gelegentlich ein unausstehliches Gefühl von Übelkeit. Um nämlich zum nächstgelegenen öffentlichen Verkehrsmittel zu gelangen, gibt es nur einen Weg – quer über den (im Vergleich zu anderen, winzigen) Hauptplatz meines Häuserblocks, welcher jedoch, man wird es kaum für möglich halten, schon um Fünf Uhr morgens rammelvoll sein muss. Nasenschleimverätzende Gerüche von Fast Food aller Arten machen sich hier gehörig breit und ganz besonders schlimm wirkt es in der wärmenden Morgensonne. Fettdüfte schwadern ins Gesicht, terrorisieren wortwörtlich meinen Riechkolben. Zigarettenrauch macht es noch unausstehlicher. Ich bedecke die zur Atmung bestimmten Gesichtsöffnungen mit meinen schwarzen Lederhandschuhen und tummle mich energisch durch die wuselnde Menschenmasse. Hier ein Verkaufsstand mit Sonderangeboten, dort noch eine kleine Kette mit Fast-food Händlern, die dich vollquatschen und anlocken wollen.
    Zugegeben, ich bin selten pingelig was unsere technologischen Fortschritte betrifft. Jedoch könnte ich an haarsträubenden Momenten wie diesen Amok laufen. Denn, liegen meine Berechnungen im grünen Bereich, so haben wohl schon vor über hundert Jahren geruchsneutralisierende Sprays existiert…
    Obwohl ich mittlerweile bereits drängle, den Rucksack eng angepresst, geht es nicht wirklich voran. Wie ich den Sommer doch vermisst habe – wären meine sarkastischen Gedankenzüge tödlich, hätte ich nun allen Platz der Welt. Doch an so etwas wollen wir gar nicht erst denken.
    Immer dasselbe Programm. Trommelfellzerberstender Weckalarm, Körperhygiene, schleunigst die Wohnung verlassen, sich durch die Massen kämpfen, ab in die U-Bahn und einen weiteren Tag neun Stunden am Arbeitsplatz verbringen. Viel lieber würde ich es als Verschwendung bezeichnen. Jene wertvolle Zeit, die ich heute erneut in Tonis‘ Jagdhaus vergeuden muss, geht mir bei der wichtigen Planung für meine Flucht bedauernswerterweise verloren. Wenigstens gibt es Geld dafür. Mich kotzt es aber ehrlich gesagt an, dass gedrucktes Papier über mein Leben bestimmen soll.
    Zum Glück erreiche ich endlich die U-Bahnstation. Zweifellos würde ich meine komplette Zeit darin vertrödeln, die Aussicht um mich herum zu genießen, wäre sie nicht so eintönig und lieblos. Rings um unser Apartment befinden sich nichts als weitere Wohnblocks – Besitztümer des größten Jugendverbundes in Bezirk Elf. Obwohl diese Blocks eine vorteilhafte Möglichkeit für mittelprächtig verdienende Einwohner darstellen, wirkt das Gesamtbild auf Dauer gewiss deprimierend und farblos. Doch wie sonst sollten schätzungsweise vier Dutzend tiefgraue, aneinandergereihte Hochhäuser wirken? Gut möglich, dass so mancher vielleicht Freude empfindet oder eine Beschäftigung darin sieht, an den bröckelnden Fassaden zu spielen, doch was mich betrifft…
    Leicht bewölkter, verdunkelter Himmel entschwindet meinem Sichtfeld, während ich die Station betrete und mithilfe der automatisierten Rolltreppen dicht aneinander gereiht zu den Gleisen befördert werde.


    Ich befinde mich bei der Station Jugendverbund Drei.
    Zunächst warten auf einer Länge von etwa drei Kilometern bereits so unbeschreiblich viele Pendler, dass man den Pflastersteinboden zum eigenen Paar Schuhen gar nicht mehr identifizieren kann. Dabei fährt die Metro zu dieser Uhrzeit minütlich. Momente wie diese erinnern mich laufend an den Fakt, dass ich zusammen mit etwa fünfzig Millionen humanoiden Wesen in dieser Stadt gefangen bin. Der Begriff humanoid deshalb, weil sich die Leute oft sehr einseitig und maschinell benehmen. Ausdruckslos und still, doch wenn die U-Bahn ankommt (ich bezeichne dieses Eintreffen zu gerne als Zielaufgabe der Roboter), stürmen sie alle auf die Eingänge zu. Ähnlich, als würde man einem ausgehungerten Hund auf der gegenüberliegenden Seite eines Fußballfelds mit saftigen Fleischstücken winken, stoßen und pressen sich die Leute erbarmungslos gegen die zügig einfahrende U-Bahn. Lautes Gebrüll, schmerzlich klingendes Aufstöhnen, Hilfeschreie – eine weitere Routine in den Gleisen der Metro. Ein fremder Ellbogen rammt mir in den Magen, als hätte ich nicht schon genügend Übelkeit für heute Morgen durchstanden. Es erinnert mich daran, Brustkorb und Bauch schutzvoll mit meinen Armen zu umhüllen. Somit kann ich auch ein paar Wertsachen in den Seitentaschen meiner braunen Lederjacke vor Diebstählen sichern.
    Aus Sicherheitsgründen trennen schier unsichtbare Kraftfelder uns Passanten von den Schienen ab. Wären diese Kraftfelder nicht in allen Haltestellen vorhanden, gäbe es täglich zweifellos zahllose Tote. Luc und Chess raten dennoch, dass ich mich besser von den Dingern fernhalten sollte, da sie jederzeit fehlerhafte, undichte Stellen, auch bezeichnet als Lecks, aufweisen und mich dadurch in den qualvollen Tod anrollender U-Bahnen purzeln lassen könnten.
    Zumindest ist es ein kleiner Trost, dass sich während der Arbeits- und Stoßzeiten zirka zweihunderttausend dieser Züge in Betrieb befinden, manuell gesteuert. Somit sind beinahe alle anrollenden Abteile gänzlich leer und dazu da, um neue Gesichter zu transportieren. Ich ergattere mir in Etage Vier eine von zwölf Sitzgelegenheiten der siebten Reihe zur Fensterseite. Die Metros sind im Vergleich zur Vergangenheit ums Vielfache länger, größer und weisen ein satteres Fassungsvermögen auf.


    Die Fahrt geht los.
    Da bei ausnahmslos allen Stationen hunderte Reisende die Bahn verlassen, beziehungsweise, betreten, dauert der Aufenthalt dementsprechend lange. Als Ausstiegsmöglichkeit muss man die Türen in Etage Fünf jedes Zuges benutzen. Durch diese Etage betritt man jenen Stock, welcher über den Zugeingangshallen liegt. Es führen lediglich wenige Schritte zu den Rolltreppen und der damit verbundenen Oberfläche.
    Mit müden Augen werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr, es ist Viertel vor Sechs Uhr. Um zur Arbeit zu gelangen, benötige ich die hundertzweiundvierzigste Linie, die mich in den zehnten Bezirk, zu Tonis‘ Jagdhaus, befördert. Nur sehr wenige Bürger können sich ein automobiles Fahrzeug leisten, weshalb die Straßen (zumindest in unmittelbarer Nähe der Blocks des Jugendverbunds) relativ leer sind. Das öffentliche Verkehrsnetz ist auf der anderen Seite so groß, dass ein Auto meiner Meinung nach Geldverschwendung wäre. Es sind fast ständig unzählige öffentliche Verkehrsmittel unterwegs, mit wahnsinnig vielen Umsteigemöglichkeiten. So gut wie jeder Angestellte, besonders in den äußeren Bezirken, ist darauf angewiesen, von Untergrund- oder Straßenbahnen zum Arbeitsplatz gebracht zu werden. Die Stadt ist gigantisch, meine Strecke etwa zweihundert Kilometer lang. Aufgrund ermüdend langer Wartezeiten während der Stationsaufenthalte dauert meine Fahrt, trotz blitzgeschwinder Züge, mehr als anderthalb Stunden.
    Technisierte Stimmen bitten um die Fahrkarten. Für Kinder unter dreizehn Jahren sind die Bahnen kostenlos. Unbezahlte Fahrtteilnehmer tilgen den Ritt stehend. Mit etwas Glück schaffen es manche illegal von A nach B. Sobald aber ein Sitzplatz mit mehr als maximal vierzig Kilogramm erschwert wird, aktiviert sich ein punktrundes Licht in der linken Armlehne, größengleich einer Kirsche, über dem man sein Ticket scannen lassen muss. Monatlich besorge ich mir einen Fahrschein für Sinensis‘ Verkehrsnetz, zu einem erschwinglichen Preis, den mir der Automat mit Lasertechnologie in die linke Handfläche einbrennt – rückstandlos und schmerzfrei. Für mich ist es allerdings nur ein weiteres Paradebeispiel der kranken Dauerkontrolle unserer Regierung, welche buchstäblich unter die Haut geht. Nicht selten kommt es vor, dass Aufsichtsposten alarmiert werden, besetzte Sitzmöglichkeiten frei machen und fahrkartenlose Betrüger zurechtweisen müssen. Die Fahrgäste um mich herum verhalten sich ruhig, ab und zu ist ein Schnarchen zu hören.
    Wir halten gerade bei Jugendverbund Vier. Fragend blicke ich aus dem Fenster, eine wahrliche Rarität bietet mir das Gleis, denn es steht völlig leer, die Fahrt geht jedoch nicht weiter. Aus dem unteren Abteilen höre ich tosenden Streit aufkommen, es handelt sich um Schwarzfahrer. Nicht schon wieder… Beklagend rolle ich die Augen. Ein paar Angestellte regeln und fertigen die Situation augenblicklich ab, es geht weiter.
    Nachdem wir die fünfte und letzte Station mit dem Titel Jugendverbund verlassen haben, fährt die Bahn aus dem dazugehörigen Tunnelsystem die Schienen hinauf. Um die vollkommen belebten Straßen nicht durch Nahverkehr zu gefährden, bewegt man sich in den U-Bahnen außerhalb der zusammengehörenden Stationen (wie denen des Jugendverbunds) hauptsächlich in der Luft. Die Schienen rollen auf erhöhten, durch Träger gestützten, Verkehrslinien. Mein Blickfeld wird nicht mehr von dunklen Gängen verdeckt, bekommt stattdessen ein konkurrenzloses Großstadtpanorama vorgesetzt. Aufgrund der Geschwindigkeit und unzählbaren Gebäude wird einem fast schwindelig bei dem Versuch, all die erkennbaren Aspekte genauer zu untersuchen.
    Ich bin nach wie vor in Bezirk Elf, einem der äußeren Stadtteile und trotzdem schießt ein farbloser Wolkenkratzer nach dem anderen empor. Die Tatsache, dass momentan schwarz und weiß im Kleidungsstil der Allgemeinheit modern ist, frischt meine Aussicht nicht sonderlich auf. Einzig ein paar Werbeplakate hier und Leuchtreklamen dort machen den farbträchtigen Unterschied aus.
    Mein Interesse bleibt an einem brandneuen, grell in violetten Farbtönen aufleuchtenden Propagandaplakat hängen.


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    Sie finden uns im zwölften Bezirk, U-Bahnlinie 149, Station Dammsel, Dammselstraße 5
    Öffnungszeiten: täglich von 8:00 Uhr bis 23:00 Uhr


    Neben dem Slogan sieht man eine makellos hübsche Schauspielerin, wie sie fürsorglich ein abgemagert aussehendes, mutterloses, dunkelhäutiges Kind in den Armen wiegt.
    Von wegen, das kommt doch alles den Reichen und Schönen zugute. Außerdem verwaist ihr diese Kinder gewaltsam, mögen sie eventuell auch von der Pandemie dahingerafft werden.
    Ich war, noch mit meinen Eltern zusammenlebend, von der tödlichen Infektionskrankheit befallen. Ich erinnere mich, es war nicht sonderlich angenehm. Mein Fleisch brannte, der Virus zerfraß meinen Körper, bis ich eines Tages hierher gebracht und geheilt wurde.
    Und so sehr ich meine Mitbewohner schätze, wäre ich heute tatsächlich lieber tot, gemeinsam mit meinen Eltern in der Ewigkeit, als hier.


    Ausdruckslos starre ich ins Gesicht des Stadtlebens. Industrielle Rauchfänge des fernen, siebten Bezirks verpesten die Luft, kein sehr reizender Anblick – wir erreichen Bezirk zehn. Sinensis wird in vierzehn dieser Bezirke aufgeteilt.
    Den äußeren Stadtring bilden Neun bis Vierzehn. In diesen Bezirken wohnt etwa Neunzig Prozent der Bevölkerung. Es sind so gut wie alle Einkaufs- und Unterhaltungsmöglichkeiten vorhanden, jedoch nicht so groß angelegt und dargeboten wie in den inneren Bezirken.
    Die Bezirke vier bis acht beherbergen nur an ihren Grenzen zum äußeren Ring noch Wohneinrichtungen, dienen ansonsten eher als Gebiete für industrielle Zwecke und Arbeitsstellen aller Arten. Bezirk acht ist eher für den Einzel- und Großhandel gedacht. Hier arbeiten im Durchschnitt die meisten Einwohner von Sinensis. Von den kleinsten Ramschläden, bis zu den gigantischsten, umfangreichsten Shoppingzentren findet man jedes erwerbliche Produkt. Doch auch Ärzte, Krankenhäuser sowie alle möglichen Dienstleisterstellen finden sich dort.
    Bezirk sieben wird für die Energieerzeugung genutzt. Egal ob Wasser, Wind oder Erdwärme. Eine recht öde und karge Landschaft, die meisten Teile von Bezirk sieben sind ohnehin nur mit Genehmigung erreichbar. Aus diesem Grund sind dort seit Inbetriebnahme private, vom Gesamtnetz abgeschnittene Nahverkehrslinien erbaut worden.
    Bezirk sechs ist meiner Meinung nach nichts als verrucht und verfälscht. Dort gibt es einen Vergnügungspark randvoll mit Glücksspielanlagen nach dem anderen, zudem wird bei gegebener Stunde massig Prostitution betrieben, heißt es – wirklich nicht der passende Ort für jemanden wie mich.
    Der fünfte Bezirk bildet das Gegenglied zu seinem ranghöheren Genossen. In diesem Bezirk kann man zwar ebenso endlos sein Geld beim Fenster rauswerfen, jedoch für sittlichere Beschäftigungen. Im fünften Bezirk befinden sich einige hervorragende Sportanlagen, leider kann ich sie nicht allzu oft nutzen.
    Bezirk vier ist Sinensis‘ Reich all jener Tierarten, die gerettet und deren Rassen aufrechterhalten werden konnten. Er ist der Regierung zufolge ein passender Ort, um mit tierischen Welten in Einklang zu kommen. Dort gibt es neben Tierhaltungseinrichtungen viele Zoos, das mag wahr sein. Die zu besuchenden Abschnitte in Bezirk vier sind jedoch, verglichen zur Gesamtfläche, so gering, dass es mich wiederrum nicht interessiert, weiter darüber nachzudenken, was sich wohl hinter den Kulissen abspielt.
    So mancher Liebhaber fantasiert wahrscheinlich von abscheulicher Tierquälerei. Ich will den Zuständigen, Tieren zuliebe, nicht etwas so grauenvolles nachhängen und antworte mir selbst lieber auf die Frage: Woher kommt denn das zum Verzehr angebotene Fleisch im Supermarkt? Ich bin nämlich bekennender Fleischesser, führe aber keine Vorurteile gegen Vegetarier. Geraldine begnügt sich zum Beispiel lieber mit pflanzlichen Lebensmitteln. Gegen Milch oder Käse ist sie allerdings nicht abgeneigt. Und irgendwo müssen diese Güter doch auch durch tierische Erzeugung gewonnen, beigesteuert und auf den Markt gebracht werden.
    Nun zum Kern von Sinensis. Was mich darüber regelrecht zornig macht, hier draußen bekommt man kaum Luft zum Atmen, während der durchaus großflächige Bezirk drei scheinbar unerreichbar ist.
    Was sich in Drei, dem geografisch kleinsten Bezirk, befindet, darüber kann nur gemunkelt werden. Gerüchte sagen, es handle sich um die Brutstätte der Ideen und wissenschaftlichen Experimenten unserer Stadtoberhäupter. Ich habe mich selbst eines langweiligen Nachmittags in Waisenhauszeiten mit Fynnus davon überzeugen müssen, dass das Verlassen der einzigen Bahnhaltestation in Drei für Passanten und Bummler ausnahmslos verboten ist. Sechs Stunden Fahrzeit und dann so eine Enttäuschung, abstrus! Man muss noch anmerken, über die ganze Strecke von Vier nach Drei hinweg fuhr man unterirdisch. Selbst Chess und Luc, welche sich selbstverständlich schon vor einer Ewigkeit in die Überwachungsgerätschaften und Computer von fast ganz Sinensis eingehackt haben, können keine Auskunft darüber geben.
    Vielleicht, wenn mein Fluchtversuch scheitert, ich davonkommen mag oder einfach aufgeben muss, daran zu basteln, wird es mein Ziel, mehr über unsere Stadt herauszufinden. Dann werde ich mich wieder in den dritten Bezirk aufmachen und versuchen, die Sache zu klären.
    Zwei stellt das Herz des Verkehrsnetzes dar. Hier wird sämtlicher Schienenverkehr gespeist und in diesen hochangelegten, gewaltigen Wolkenkratzer münden ausnahmslos alle auf Schienen befindliche Fahrzeuge wieder. Zwei besteht grundlegend aus nur einem monströsen Gebäude und versorgt Abermillionen mit Arbeit.
    Und dann gibt es noch das Stadtzentrum. Wie das schwarze Loch in einer Galaxie, ähnlich der Lava in einem Vulkan.
    Bezirk Eins.



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    Die Flucht




    Funkelnde Schönheit



    Das Herzstück, die goldene Ader unserer Stadt – Bezirk Eins.
    Mittig gelegen, ausschließlich bevölkert von Rang, Adel und der Noblesse, so wird dieser abgetrennte Bereich dargestellt.
    In Bezirk Eins leben ausnahmslos die Schönen sowie Reichen von Sinensis, Besitzer von erfolgreichen Geschäftsketten oder Firmen aller Arten, ebenso berühmte Ärzte, Wissenschaftler, Erfinder, Schauspieler oder Fotomodelle. Wie eine uneinnehmbare Festung thront das vergoldete Königreich im ersten Bezirk auf einem großflächigen Hügelgebiet, abgeschirmt durch funkelnde Betonwände, quasi unerreichbar aufgrund eines überwachenden Meeres aus Rosen, deren Dornen pures Gift absondern. Bezirk Eins erreicht man ausschließlich mit speziellen Genehmigungen, per Lufttransportation. Nebenbei werden dort häufig Straftäter und Kriminelle, gleich einer kranken, umjubelten Zeremonie, auf dem Pranger vor Sinensis‘ Augen hingerichtet. Der erste Bezirk beheimatet neben den Regierungsleuten und deren verschworenen Propagandaverbreitern etwa vier Millionen Menschen. Fashion, Glamour, Verschwendungswahn, Unzufriedenheit – die Leutchen dort genießen Saus und Braus, wissen jedoch nichts mit ihrem Glück anzufangen, während die ärmsten Groschendreher hierzulande oftmals jämmerlich auf den Straßen zu Tode kommen.
    Es ist eine äußerst rare Begebenheit, Bürger des ersten Bezirks auf den Straßen der Armen anzutreffen. Einige Einwohner würden sich bereits für simplen Augenkontakt prügeln, in der Hoffnung, es würde ihnen etwas Gutes widerfahren. Wenn ihr mich fragt, sollte man diese grauenhaft oberflächliche Spezies bis auf das letzte Bisschen ausrotten, wegsperren!
    Mit dem Prinzip – eine Hand wäscht die andere – profitiert die Regierung immer wieder. Sie wäre höchstwahrscheinlich viel zu mächtig, als dass man etwas an ihr zum Einstürzen bringen könnte. Folgendes läuft ab: Man wird in ganz Sinensis rund um das Zahlenrad mit Werbung überschwemmt.
    Einfaches Werben in den minimalsten Zeitungsabschnitten kostet heutzutage jedoch ein Vermögen, weshalb geldlosere Unternehmen, sollten sie Pech haben, innerhalb kürzester Zeit unter der Welle versinken. Die Regierungschefs waren schlau genug, um daraus eine Möglichkeit für ihre Gehirnwäsche zu nutzen. Viele Jahrzehnte vor meiner Zeit trennten sie die Spreu vom Weizen und unterstützen seitdem die derzeit erfolgreichsten Handelsketten, Markenprodukte. Sie ermöglichen ein günstiges Werben für deren Produkte, bauen demgegenüber ihre Propaganda überall ein. Erst kürzlich kam ein brandneues Müsli auf den Markt, welches anscheinend präpariert ist und Glücksgefühle auslösen soll. Sie versüßen die Freizeit, (verhindern damit Gedanken für Aufstände, Rebellion) und wären absolut preiswert. Für mich klingt das nach einer Droge.
    Dies ist lediglich ein bescheidenes Beispiel, befördert jedoch massig Kohle in die Geldsäcke von Bezirk Eins.


    Ich erreiche gerade den menschenleeren Hintereingang von Tonis‘ Jagdhaus. Die enge Gasse, deren dunkelgrauer Backstein regelmäßig mit neuem Graffiti beschmiert wird, ist für mich eine Art Metapher. Selbst bin ich das insektenkleine Wesen, welches verzweifelt durch jede dieser identischen Seitengassen schlüpft, vorbei an den endlosen Wolkenkratzern, um irgendwo am Ende einen Ausweg zu finden.
    Meine Kleidung sieht dezent zerknittert aus, das Haar wirr und durchwuschelt. Mir fällt ein, dass ich heute unbedingt pünktlich Feierabend machen muss, Fynnus will nämlich ein paar Dinge klären, mir Informationen zustecken, bevor ich mein Wissen kommenden Abend mit Chess und Luc teile.
    Tonis Todor, der Künstlername des Gründers dieser Jagdhausgesellschaft. Er ist ein wohlhabender Geschäftsmann. Sein Gesicht kenne ich ausschließlich von Fotografien und Werbeplakaten, er lebt ebenfalls im ersten Bezirk und lässt sich niemals hier blicken. Eigentlich kann mir das relativ egal sein, ich bin selbst nur Mitarbeiter der mittleren Schicht unseres hochrangigen Verkaufsgebäudes. Dennoch beschweren sich meine Kollegen manchmal, er wäre ein überaus unnützer Chef, dafür, dass er kein Interesse an seiner fleißigsten Firma von Bezirk Zehn zeige. Ich selbst finde es zu köstlich, überhaupt einen Gedanken daran zu verschwenden. Jener Zweck der Tätigkeit, welcher ich hier fast täglich neun Stunden nachgehen muss, ist ohnehin nicht wirklich sinnvoll. Vierundneunzig Prozent unserer Einkäufe erfolgt via Internet, die Kunden stammen allesamt aus dem ersten Bezirk. Dementsprechend kundenleer scheinen unsere Kaufräume zu manchen Geschäftszeiten. Die meisten Angestellten, inklusive mir, kümmern sich deshalb grundlegend um die Erhaltung von Jagdwaffen. Wir reinigen sowie erhalten sie ihrem qualitativ hochwertigsten Zustand. Gelegentlich frage ich mich tief grübelnd, wozu es solche Läden so weit gebracht haben. Zugegeben, Sinensis‘ Einwohnerschaft ist trotz Regierung bunter gemischt als jeder Salat, Interesse bestünde durchaus. Wälder oder Berglandschaften zum Jagen stehen uns nicht zur Verfügung, die Wenigsten könnten sich ein winziges Messerchen leisten. Nichtsdestotrotz, könnte das Geschäft mit Bezirk Eins kaum besser laufen. Wahrscheinlich ist nicht nur für mich reizend, Jagen als Sportart auszuüben, anstatt sich mit erlegten Tierkadavern zu krönen.
    Tonis‘ Jagdhaus ist dreistöckig, mit allen möglichen Abteilungen. Meine Aufgabe besteht darin, mich mit altmodischeren Modellen, fernab von halbtechnisierten Waffen, zu befassen, die Kunden damit vertraut zu machen. Von tödlichen Wurfmessern, bis hin zu den teuersten, von Menschenhand geschaffenen, Bögen und Speeren ist so gut wie alles in meinem Sortiment vorhanden. Ich gäbe einiges dafür, den Platz mit Philadelph zu tauschen – der Partner in meinem bescheidenen Geschäftsraum. Mich zeichnet das Denken aus, gut im Reden bin ich privat nun wirklich nicht. Sein wunderschöner Name, beziehungsweise, Zungenbrecher, klingt aus meinem Munde derartig unbeholfen und genuschelt, dass ich ihn einfach Phil nenne.
    Viele Erinnerungen sind mir von meinen Eltern nicht geblieben. Alles, was mir im Köpfchen blieb, ist, dass ich durch meine Lebensspender reinrassiger Texaner bin. Die immerwährende Sonnenbräune meiner Haut bezeugt dies womöglich, passt allerdings nicht besonders gut zum schlanken Rest meines Körpers. Philadelph würden meine Wurzeln eher stehen. Er ist ein stämmiger, gut gebauter Mann, etwas größer als ich, natürlich kräftiger. Ein Familienvater. Dafür überspannt zartrosafarbiges Hautpigment seinen Körper. Philadelph lebt mit seiner Gattin und den beiden Söhnen im neunten Bezirk. Obwohl Phil in unserem Department nicht sonderlich besser verdient, kann sich seine vierköpfige Familie durch den hohen Unterhalt seiner Frau, welche Leiterin einer beliebten Kolumnenzeitschrift ist, noblere Lebensbedingungen im teuersten Völkerbezirk des äußeren Stadtrings leisten. Zwölf, Dreizehn und Vierzehn bilden im Einwohnerprotokoll das Bild der sozialen Unterschicht. Eine Reise von Elf nach Zwölf kann beispielsweise Weltenbilder verändern.
    Phil und ich harmonieren wirklich gut miteinander, was die Waffenkunst betrifft.
    Das, obwohl ich nur mit Pfeil und Bogen erfahren bin. Er ist trotz seines guten Lebens allerdings kein bisschen abgehoben. Im Gegenteil, öfters hilft er mir bei verzwickten Situationen oder beantwortet Fragen.
    Rucks husche ich durch die bestückten Gänge, vorbei an ein paar namenlosen Gesichtern, zu meiner Linken eine Theke mit Pistolen, zur Rechten führt ein weiträumiger Flur in die erweiterten Abteilungen, wo neuerdings Kampfausrüstungen angeboten werden. Ich hoffe inständig, das Volk aus Eins wird sich mit unseren importierten Fabrikaten irgendwann die Köpfe auseinander schlagen und sich zu Brei zersägen. Seufzend lasse ich mir etwas heiße Schokolade vom Getränkeautomaten in einen Pappbecher gießen und nehme danach den Fahrstuhl in Etage Zwei.
    Es ist zehn Minuten vor acht Uhr. Kaum bestätige ich die Anwesenheit durch den Aufspürradar im Handgelenk bei der nächstgelegenen Stempeluhr in meinem Arbeitsareal, läuft mir Philadelph in die Arme – beinahe hätte ich sein Hemd mit flüssiger, heißer Schokolade verunstaltet. „Guten Morgen, Pethar. Komm schnell mit… muss dir etwas zeigen!“ Seine Herkunft ist Frankreich, die Aussprache bezeugt dies musterhaft. Obwohl ich noch etwas verschlafen von der berauschenden Fahrt wirke, ist es ein Leichtes, jene Sache zu verbergen. „Klar…“
    Wie ein kleines Kind, das eifrig an Schaufenstern herumschlittert, leitet Phil mich in unsere kleine Abteilung. Meine Arbeit macht mir nicht zuletzt so Spaß, weil wir uns ständig Mühe geben, unseren Verkaufsraum ordentlich zu halten. Die Wände, gestrichen in kräftigen Orangetönen, erzeugen motivierende Atmosphäre. Und genau diese ermutigt mich immer wieder, ordentlich zu arbeiten, fernab von Fluchtplänen, denn irgendwann und –wo muss ich eben mein Geld verdienen. Unser Verkaufstresen besteht aus einer sorgfältig eingerichteten Panzerglasvitrine, unter die sich tödliche bis elegante Jagdwaffen kuscheln.
    Ein, in die Länge gezogener, Waffenkoffer neben unserer Kasse schmückt die Vitrine. Meine Aufmerksamkeit ist geweckt! Ich gehe von einem besonderen Bogen aus, natürlich schmeichelt mir der Gedanke sehr. Philadelph öffnet den Koffer. „Das bleibt unser besonderes Geheimnis.“ Meine Vermutung bewahrheitet sich. Ich staune zutiefst.
    „So etwas Wunderschönes habe ich noch nie gesehen…“ Phil schmunzelt. Der eleganteste Bogen, dessen Antlitz ich je betrachten durfte, eingebettet in schwarzem Saum, liegt in greifbarer Nähe. „Der ist aus purem Gold“, flüstert mein Freund. Funkelnd geschliffener Edelstein umgarnt den Griff. Mir werden fast die Knie weich bei dem Gedanken, wie edel und glamourös es doch wäre, von den goldenen Pfeilen dieser hypnotisierenden Schusswaffe durchbohrt und erledigt zu werden. Eigentlich diabolisch, dennoch außerordentlich amüsant, spukt die kinoreife Vorstellung unter meiner Schädeldecke. Am liebsten würde ich mir das wertvolle Objekt sofort unter den Nagel reißen, doch Phil verschließt den Koffer. „Wir müssen das feiern, Pethar“, sagt er stolz. „Wie meinst du das?“ „Antonja, die miesepetrige Chefin der Abteilung für teure Schusswaffen hat heute Morgen einen Anruf bekommen. Darin schilderte eine Reiche aus Bezirk Eins, sie hätte nur positive Resonanzen von unserer kleinen Abteilung zu Ohren bekommen und wolle deshalb persönlich hier auftauchen, um sich dieses Prachtstück abzuholen.“
    In der Tat sind wir fleißig und werden nie gerügt. Unsere Kunden sind mehr als zufrieden, das zeichnet mich und Philadelph aus. Doch irgendetwas macht mich bei der ganzen Situation misstrauisch. Eine Reiche aus Bezirk Eins kommt persönlich hierher, in den weit entfernten, zehnten Bezirk, nur weil wir gute Arbeit leisten? Trotz mulmiger Magengegend kann ich Phil zweifelsfrei überzeugen, sein Frohlock hundertprozentig zu teilen.
    Ich gehe meiner Tätigkeit nach, kümmere mich um ein paar Dolche, schleife und poliere vornehme Klingen, während Phil die Umsatzkarteien der letzten Woche durchgeht. Disharmonie herrscht in meinem Kopf. Zuallererst ist da dieser eifersüchtig machende Bogen, dessen Besitzer ich niemals sein werde. Ich bin völlig zufrieden mit dem Eigentum in meinen vier Wänden, solch ein Prachtexemplar versetzt mich jedoch in eine neidische Position.
    Viel stutziger macht mich aber die Geschichte mit unserer kauffreudigen Interessenten. Eine Lüge, eine Falle? Hat man mich und vielleicht sogar meine Hackerkumpel auffliegen lassen oder erwischt? Gedankenversunken schleife ich die letzten Wurfmesser aus unserer Sammlung und ritze mir dabei ungeschickterweise eine winzige Kratzwunde in den Daumen – wenigstens blute ich nicht.


    Es ist knapp vor zehn Uhr vormittags, als sich Phils Information über den voraussichtlichen Tagesverlauf bestätigt. Ich erschrecke. „Hey, ihr lahmen Tölpel! Steht da nicht so dumm herum, eure Kundin ist gerade im Aufzug, sie wird in Kürze eintreffen! Macht das Beste draus, sonst werde ich euch beide kielholen!!“, brüllt Antonja durch die notorisch kreischende Lautsprecherdurchsage. Sie beobachtet uns wahrscheinlich schon eine Weile durch die Überwachungskameras.
    Wir werden nie gerügt, da unsere Arbeit stets sorgfältig und ordentlich gemacht wird. Die, Faulheit implizierende, Bezeichnung Antonjas deutet sozusagen auf konkurrenzlosen Neid.
    Sekunden später bewahrheitet sich ihre Ankündigung. Vulgär gekleidet in hautenger, korallenblauer Seide, mit tierischem Pelz als Kragen, trudelt die besagte Dame schwebend in unsere vier Wände ein – das Geräusch ihrer überdimensionalen Absätze auf den mahagonibraunen Fließen ist quasi unhörbar. Goldige Locken, hohe Wangenknochen und blutrote Lippen zieren das Haupt. Sie nimmt ihre sündhaft teure Sonnenbrille ab und stellt sich hoffähig vor. „Man nennt mich Octavia Autréchze. Guten Tag.“ Zwei bullige Bodyguards, wahrscheinlich bis zu den Zehenspitzen mit mordlüsternen Gegenständen eingedeckt, stehen wachsam hinter ihr. Die mysteriöse Dame verkauft sich formidabel und höflich, mich stört nur ein Aspekt an ihr erheblich. Sie wirkt trotz engelsgleichen Augen, makellos reiner Haut, natürlichem Profil und weiblicher Rundungen so kalt wie ein Stück Holz – für einen Androiden scheint sie aber zu menschlich. Möglicherweise eine Schauspielerin? Spionin? Verschworene der Regierung? Ruhig bleiben, Pethar!
    Ich stelle mir vor, wie es wohl wäre, mit solch einer Person das häusliche Familienleben teilen zu müssen. Grauenhaft. Wie eine verletzliche Plastikpuppe, ohne jegliche Emotion, wirkt sie. Es ist schon schlimm genug, dass sie für diesen übermenschlich gutaussehenden Look vermutlich monatelang vor dem Spiegel gefangen verbringen muss. Ich male mir bei diesen überirdischen Kreaturen gerne aus, dass sie bei der unscheinbarsten Berührung zu Bruch gehen würden. Dass man ihr Selbstvertrauen, den Charakter, das Gesamtpaket mit einem unvorsichtigen Situationsverlauf in tausend Teile auseinander reißen könne. Frauen wie sie passen eher in gläserne Särge, wo man die Schönheit stundenlang bestaunen, genießen kann, anstatt in eine familiäre Umgebung. Dasselbe denke ich mir übrigens auch bei diesen chic aussehenden Suiten im ersten Bezirk. Eine falsche Bewegung – die wertvollste Antiquität ginge drauf, so lässt es sich doch wohl kaum leben.
    Mein Partner übernimmt die Situation selbstbewusst, er räuspert sich. „Wir begrüßen Sie herzlich in Tonis‘ Jagdhaus! Es ist wahrlich eine große Ehre, dass Sie unserer Geschäftseinrichtung höchstpersönlich einen Besuch abstatten, Frau Autréchze. Hatten Sie denn eine angenehme Anreise?“ Phils Worte klingen fürchterlich aufgesetzt, doch ebendies sowie sein französischer Akzent, schmeicheln Fräulein Perfekt offenbar. Besonnen nickt sie, würdigt mich keines Blickes, mustert nicht mal unser Inventarium. Mein Sarkasmus kommt zum Vorschein. An Interesse, herauszufinden, ob die Resonanzen über unsere vorbildliche Arbeit wahrheitsgetreu sind, mangelt es der Guten offensichtlich kein bisschen. Ich wage es zuletzt doch nicht, meiner freundlich lächelnden Miene abzuweichen – ihre Bewacher sehen dafür eine Spur zu gefährlich aus…
    Am liebsten würde ich mir fremdschämend die Hand ins Gesicht drücken, Phil erzählt und schwafelt nämlich eine gefühlte Ewigkeit über alles Mögliche. Die Gründung und Vergangenheit dieser Firma, darüber, wie zufrieden unsere Kunden sind, etc. Ungeachtet dessen wirft Frau Autréchze einen flüchtigen Blick auf unsere Wanduhr. Sie zieht die Augenbrauen schroff zusammen, ihre Stimmlage bleibt allerdings im gesitteten Bereich, als sie Phil plötzlich unterbricht - er verstummt augenblicklich. „Beeindruckend. Haben Sie nun meinen gewünschten Artikel, Herr…?“ Sie lässt die Frage offen im Raum stehen. „Herr Philadelph Coté“, informiert er. „Und ja, selbstverständlich.“
    Mich überrascht, dass seiner zuvorkommend freundlichen Mimik durch ihre unterbrechende Frage keineswegs ein Zacken aus der Krone bricht, zumindest äußerlich erscheint es mir so. Der Kunde ist nun mal König.
    Phil zieht den länglichen Waffenkoffer aus einem Fach hervor und platziert ihn auf der gläsernen Theke, behutsam öffnet er den Deckel. Zum ersten Mal zeigt unsere Kundin Emotionen, wenn auch nur einen winzigen Hauch. Der Abstand zwischen ihren Lippen vergrößert sich geringfügig, die Lider weiten das Blickfeld. Im selben Moment entrinnt dieses minimale Bisschen Menschlichkeit auch wieder unter einer eintönig narzisstischen Maske. Phil schließt den Koffer. „Ausgezeichnet“, sagt Frau Autréchze zufriedengestellt. Sie winkt einen ihrer Begleiter zu sich und erteilt ihm, den modernisierten Briefumschlag aus ihrer Handtasche zu überreichen. Ich bin leicht erstaunt, so einen sehe ich zum ersten Mal. Briefe wie dieser lassen sich nur mit einem ausgesprochenen Zahlencode öffnen. Jenes Material dieses Papiers ist unterspickt mit mikroskopischen Metalldrähten und daher unzerstörbar. Die blaue Lady übermittelt unterdrückt flüsternd den geheimen, achtstelligen Öffnungscode, Phil verwendet ihn unverzüglich und zählt ein dickes Bündel Geld in seiner Hand. Danach verbarrikadiert er es, ohne jegliche Zeit zu vergeuden, in unserem Safe.
    Ihrem zweiten Begleitschutzmann gibt sie den Auftrag, die Schusswaffe entgegenzunehmen. Des Weiteren hat sie eine nebensächlich scheinende Bitte an Philadelph. „Herr Coté. Da Sie in meinen Augen ein kompetenter Angestellter in diesem noblen Etablissement sind“, eine reizende Geste ihrer Arme untermalt die Worte „hätte ich ein kleines Anliegen. Mein Begleiter, Brutus“, Frau Autréchze deutet auf den Fleischbrocken samt Koffer im rechten Arm „zeigte vorhin ein gar überwältigtes Interesse an der Abteilung nebenan, doch unglücklicherweise fand sich dort ungelogen kein hilfreiches Personal auf. Würden Sie es ihm freundlicherweise näherbringen können?“ Ihre Stimme klingt sanft, hat in meinen Ohren jedoch etwas Trügerisches an sich. „Natürlich. Bitte folgen Sie mir.“ Mir fährt ein leichter Schauer über den Rücken. Gänsehaut breitet sich aus, als mir deutlich wird, dass die Fremde Philadelph und mich trennen will. Phil eilt aus unserem Geschäftsraum. Anstandslos, fast tölpelhaft, folgt ihm der monströse Fleischklotz.
    Innerlich hilfesuchend stehe ich hinter dem Tresen. Ich will keinesfalls ein unzufriedenes Gefühl in der Kundin entfachen, weiche ihren Blicken daher unauffällig aus und warte sehnsüchtig auf Phils Rückkehr. Die Sekunden verstreichen. Obwohl ich auf meine gefalteten Hände starre, spürt meine Haut förmlich, wie sie durch die blauen Pupillen der Kundschaft tausendfach durchbohrt wird, verätzt. Langsam breiten sich Nervosität und Ungeduld in mir aus. Plötzlich kommt sie einen Schritt näher. Ich schlucke merklich und kann nicht anders, als in ihr gespenstisch schönes Antlitz zu blicken. Noch einen Schritt und einen weiteren. Schon steht sie vor mir, lehnt sich federleicht gegen das Glas der Vitrine. Wohingegen ihre Augen zuvor blass und unerreichbar wirkten, so sprühen sie jetzt vor Feuer. Es soll nicht einschüchternd oder drohend wirken, denke ich. Viel mehr kommt es mir so vor, als hätte die seltsame Frau gerade ein Ziel erreicht, eine Mission erfüllt. Es steht fest, im Rätsellösen bin ich definitiv begabt. Aber was hat die Verrückte nun vor? Hetzt sie ihren verbliebenen, kurzhalsigen Muskelprotz auf mich? Vielleicht zückt sie auch im nächsten Moment eine Knarre und pustet mir das Hirn weg. Es ist möglich, ich traue ihr alles zu.
    Ihre kantigen Gesichtszüge lockern etwas auf. Bleib ruhig, du täuschst dich sicher. Sie ist doch nur geil auf ihren Bogen. Weitere Augenblicke gehören der Vergangenheit an, als sich erste Schweißperlen auf meiner Stirn bilden. Nichtsdestotrotz, bemühe ich mich um einen lächelnden Gesichtsausdruck. Jetzt drückt sie ihre weiblichen Kurven geradezu gegen die Scheibe. Wäre die Frau ums Zehnfache korpulenter und die Vitrine nicht aus Panzerglas, hätte das ganze Konstrukt eventuell nachgegeben.
    Hämisches Schmunzeln erhebt ihre blutroten Lippen, die von Nahem ziemlich füllig aussehen, fast so wie bei Geraldine. Amüsiert trommelt sie ihre aufgeklebten Fingernägel auf dem Glas. Ihr ist wohl nicht entgangen, dass ich leicht panisch reagiert habe. Urplötzlich ändert sich ihr Ausdruck erneut. Das Herz rutscht mir in die Hose, Entsetzen steht mir ins Gesicht geschrieben.
    „Sie passen besser auf, mit wem Sie ihre Zeit vertreiben, Herr Lumar.“ Ihre Stimme wirkt nicht mehr so kitschig, vielmehr warnend und beharrlich. Sie lässt sich auf ihre High Heels zurück, verlässt die Theke. Zittrig versucht mein Mund, Einspruch zu erheben, eine Frage zu stellen, doch dies wird ihm verwehrt. Unvorhergesehen zückt sie eine merkwürdig aussehende Pistole aus ihrem Kragen und zielt mit dem Lauf auf mich. So ein groteskes Schussinstrument ist mir bislang noch nicht vor die Augen gekommen. Meine Iris erweitern sich ins Maßlose vor Panik, ich setze den krampfhaft gefalteten Händen ein Ende, schütze damit meine Herzkammer. Ein aufblitzendes Licht entschwindet dem Lauf, vernebelt meine Sehorgane, schutzbedürftig fahre ich zur Seite. Eiskalt drückt sie ab, trifft meine rechte Schläfe, manövriert ihre Patrone in meinen Kopf. Der Schuss hat komischerweise keinen Knalllärm erzeugt. Nichtsdestotrotz, breitet sich ein schallendes Pfeifen tobend in meinen Trommelfellen aus. Schmerzen der Unbändigkeit schwängern meine Schädeldecke. Ich krache ungehalten auf den Boden. Unbekannte Bilder durchschwallen mein Gehirn, lassen meine Sinne verstummen. Geschockt beben die Gliedmaßen. Ist dies mein Ende? Plötzlich erkenne ich nichts mehr. Eine dickflüssige, rote Substanz verdeckt mein Sichtfeld. Blut? Schockiert hebt sich mein Arm, um nach der Wunde zu tasten, als der zusammenhängende Rest unkontrollierbar ohnmächtig wird. Um mich wird es schwarz, das surrende Geräusch erstickt. Nichts.

    Glühende Fäden, ähnlich silbriger Spinnweben benebeln meine Augen, als ich aufwache. Berauscht, als hätte ich eine narkotische Operation hinter mir, blinzle ich, um die verwischten Bilder einzusortieren. Ich sehe die fahlen Wände meines Zimmers, das weiße Laken meines Betts, doch im Moment will es mir nicht in den Sinn kommen, wo genau ich mich befinde. Bis ich zur Seite blicke und verschwommen ein schwarzes Objekt erkennen kann. Mein Bogen! Tageslicht strömt durch das Fenster, lässt millionenfach Staubfusseln gleichmäßig in der stickigen Luft tanzen. Die Tür steht einen Spalt offen, mein Hörorgan vernimmt vage Geraldines Stimme. Sie schluchzt, ich kann ihre vokalen Hieroglyphen nicht entziffern.
    Qualvoll pochendes Feuer verbrennt meine Nerven bei dem Versuch, mich aufzusetzen. Meine Lunge scheint zu geschwächt, um stärker atmen zu können, weshalb es mir so vorkommt, als würde einer der Flügel augenblicklich den Geist aufgeben. Der Kreislauf schüttelt meine Glieder, Gefäße, Adern unaufhörlich. Erst jetzt fällt mir etwas Ausschlaggebendes auf. Meine rechte Gesichtshälfte ist bandagiert. Der nahe Sichtwinkel verschärft sich ebenso: Das weiße Bettlaken in Gesichtsnähe – überströmt mit Blut. Ich bin unfähig, schreien zu können. Stattdessen verursacht die Panik einen halluzinativen Hitzeschwall, ich verliere erneut gegen den Schwächeanfall.
    Angsteinflößende Halluzinationen spuken in meiner Schlafwelt. Benommen stolpere ich durch die Straßen von Sinensis, meine Umgebung sieht ungewöhnlich verdunkelt aus. Keine Lichter, keine Menschen. Und doch höre ich von allen Seiten verzerrte Schreie. Meine Umgebung scheint hilflos, trostlos. Verzweifelt suche ich nach einem rettenden Seil, blicke hilfesuchend umher. Die Straßen um mich füllen sich mit unmenschlich wirkenden Schatten. Monströs, groß und kantig. Flüsternd strecken sie ihre krallenartigen Glieder nach mir, kommen stetig näher. Ich will nach Hilfe schreien, doch meiner Kehle entschwindet kein einziger Ton. Schweißüberströmt reiben meine Hände die Stirn, versuchen, meinen klaren Kopf wiederherzustellen. Doch plötzlich erhebt sich schadenfreudiges Gelächter aus der weiten Ferne und übertönt die Angstschreie. Es bringt markerschütternde Bombardements auf das gesamte Areal mit sich, reißt sämtliche Wolkenkratzer aus den Fundamenten. Das lechzende Feuer der Explosion schießt auf mich zu. Es zerstört die gesamte Stadt, löst sie in Luft auf. Reißt den Beton aus der Erde, verglüht die Schatten um mich. Wehrlos muss ich mitansehen, wie es unaufhaltsam näher kommt und mich schließlich zerfrisst.


    Keuchend fahre ich hoch, hocke erhitzt auf dem Bett. Ich habe geträumt.
    Meine Schmerzen sind gänzlich verschwunden, nur der Schock sitzt noch tief. Kontrollierend greife ich auf meine rechte Schläfe. Prüfend betatsche ich den Rest meiner Stirn, nichts Auffälliges zu finden. Ich gebe mir etwas Zeit, lasse die Schultern ins Kissen zurückfallen und meine Sinne wach werden. Nachdem sich Herz und Atmung beruhigt haben, entschließe ich, aufzustehen.
    Bogen, Köcher sowie Pfeile stehen in der einen Ecke. Die Andere beheimatet wie gewöhnlich mein rollbarer Kleiderschrank. Ich befinde mich in meinem Zimmer. Bis auf die zerknitterte Bettdecke scheint alles unberührt.
    Exakt kann ich mich nicht mehr an die Details erinnern. Mein Blick in die vergangen paar Stunden versucht inständig, alles zu rekonstruieren. Zuletzt hat mir Philadelph den prächtigen Bogen gezeigt. Alles? Nein. Dann stattet uns eine blonde Lockenschönheit einen Besuch ab und…
    „Sie hat mich angeschossen!“ Murmelnd fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Es ist bereits finster, die Stadtlichter schleichen sich auf überdrüssige Weise in meinen Raum. Mir widerfährt der Angstzustand, den ich bei ihrem Angriff empfunden habe. Ich scheitere kläglich bei dem Versuch, es zu verdrängen. Meine Schläfe hat nicht mal einen Kratzer abbekommen und dennoch kommt mir alles so unglaublich realitätslos und gleichzeitig gefährlich vor. Ich… ich brauche unverzüglich etwas Gesellschaft. Ob Geraldine und Fynnus noch wach sind?
    Holprig verlasse ich mein Zimmer, krache dabei unachtsam gegen den Türrahmen. Der Flur ist verdunkelt, ebenso die Küche. Zu meinem Pech fällt mir auf, dass es mitten in der Nacht ist. Meine Wohnungsgenossen schlafen offenbar schon. Die Angst verwandelt sich in pure Einsamkeit, ich bräuchte unbedingt jemanden zum Reden. Eine vertraute Person, die sich meiner Sorgen annimmt. Zu heulen ist mir zumute und trotzdem wecke ich die beiden nicht auf. Stattdessen schleiche ich, nach Möglichkeiten, leise in die Küche, stelle mir Kaffee in die Maschine und verbringe die Wartezeit vor dem Fernsehgerät, auf dem Sofa. Das Gefühl, als könnte mich die unerträgliche Stille ohne Schwierigkeiten mit sofortiger Wirkung und einem messerscharfen Dolch lynchen, veranlasst meine Finger unkontrolliert, den Fernseher anzumachen. Wenigstens leistet mir das unnütze Geschwafel der dämlichen TV Reporter etwas Gesellschaft. Kaffeeduft treibt mich wieder in die Küche. Ich nippe an meiner Tasse und realisiere, dass mir eine schlaflose Nacht bevorsteht.



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