Also, wenn es um die Darstellung von moralisch Schlechtem und Moralisch Gutem in Geschichten geht, bin ich da eher bei einem moralischen Pluralismus in Verbindung mit einem "common ground", wenn man so will.
Das heißt, zunächst einmal sehe ich es halt schon als wichtig, sich als Autor*in über die Darstellung von Handlungen und Personen, die diese Handlungen ausführen, Gedanken zu machen. Das hat zwei Gründe: Zum einen gibt es das Problem des imaginativen Widerstands. Das besteht einfach darin, dass es Leser*innen enorm schwer fällt, in eine Geschichte einzutauchen, die mit ihren moralischen Überzeugungen nicht übereinstimmt. "Nicht übereinstimmen" heißt hierbei nicht, dass Personen vorkommen, die nicht dem moralischen Leitbild entsprechen. Es heißt vielmehr, dass in der Welt der Geschichte moralische Fakten existieren, die dem, was wir in unserer Welt für moralische Fakten halten, widersprechen. Soll heißen: In unserer Welt ist es wohl ein Fakt, dass Rassismus schlecht ist. Nun ist das Problem einer Geschichte dann wie gesagt nicht, wenn sie einen rassistischen Charakter vorstellt. Das Problem tritt aber auf, wenn es so dargestellt wird, als sei dieser Rassismus nicht schlecht oder gar etwas Gutes. Den Leser*innen, die sich darüber bewusst sind, dass Rassismus etwas Schlechtes ist, wird dann das Eintauchen in die Geschichte schwer fallen.
Dieses Argument ist aber natürlich bei näherer Betrachtung ziemlich schwach. Denn da hier die Wahrnehmung der Leser*innen im Vordergrund steht, sagt es nicht aus, dass man als Autor*in die moralischen Fakten unserer Welt auch als solche darstellen muss, wenn die Leserschaft ganz anders denkt, sondern würde einen sogar dazu zwingen, in einer rassistischen Gesellschaft auch rassistische Geschichten zu schreiben, um auf die Bedürfnisse der Leserschaft einzugehen. Das wäre als Praxis nun aber einmal in sich moralisch reichlich fragwürdig. Entsprechend sollte man sich dieses Argument nur zu Herzen nehmen, wenn man sich in einer Gesellschaft findet, die die Menschenrechte achtet etc.
Davon ab gibt es dann eben den Punkt, dass die eigenen Geschichten nicht in einem Vakuum existieren und eine Wirkung auf die Gesellschaft haben. Das habe ich aber, denke ich, im Verantwortungsthema schon ungefähr ausgeführt, und ich muss es hier wohl nicht noch einmal wiederholen, zumal Alaiya das ja schon getan hat.
Die Frage, die man sich dann natürlich aber stellen kann, liegt wohl darin, was denn dann nun genau das moralisch Richtige ist, das man in seinen Geschichten als Solches darstellen sollte. Man könnte sich hier natürlich am gesellschaftlichen Konsens orientieren, aber da greift dann das gleiche Problem wie oben bereits ausgeführt. Man braucht, denke ich, etwas, das ein bisschen "objektiver" im Sinne von "allgemein nachvollziehbar" ist. Und hier muss ich sagen, dass ich es, wenn ich sehr kritisch sein soll, eigentlich ablehne, einfach
Choose the way of least harm
zu sagen. Nicht, dass ich dieses Prinzip generell ablehnen würde oder jetzt widerlegen möchte. Ich persönlich hätte nur ein Problem damit, wenn es zum alleinigen Prinzip werden würde, an dem man sich als Autor*in ausrichtet. Zum einen kann es eben zu Schlussfolgerungen führen, die nicht mehr unbedingt intuitiv sind. Wenn der Weg des geringsten Schadens etwa darin besteht, die Menschenrechte einer Person zu verletzen, dann verlangt das Prinzip von einem, diesen Weg als moralisch richtig auszuzeichnen. Man muss dazu sagen: Innerhalb einer konsistenten Moraltheorie (und ich nehme mal an, dass sich aus diesem Prinzip eine aufbauen lässt) gibt es keine Dilemmata im eigentlichen Sinne, da das Prinzip einem für jeden Fall eine Lösung angibt, und wenn man diese intuitiv ablehnt, dann hat man eben nur das Prinzip nicht richtig verstanden oder versagt aufgrund der vielzitierten menschlichen Schwäche dabei, es korrekt anzuwenden bzw. auszuführen. Nach einem Prinzip die moralische Grundhaltung der Geschichte auszurichten zwingt einen als Autor*in dazu, beim Auftreten von moralischen Dilemmata eine eindeutige Stellung zu beziehen und diese außerdem als richtig zu kennzeichnen. Das hat nun zweierlei Probleme: Zum einen kann man die Personen als Leser*innen verlieren, die die jeweilige Lösung in diesem konkreten Fall eben nicht als richtig ansehen, und wenn man sich ansieht, wie die moralischen Intuitionen bei Dilemmata in der Bevölkerung auseinandergehen, dann ist das schon ein ziemliches Risiko. Zum anderen aber verliert man aufgrund der Tatsache, dass man das Dilemma dann ja selbst als "gelöst" hinstellen müsste, ein Stück weit die Möglichkeit, gerade die Dilemmaproblematik herauszuarbeiten.
Dementsprechend denke ich mir das Ganze mit einem moralischen Pluralismus: Wenn man sich die diversen, in der Regel objektiv nachzuvollziehenden Moraltheorien (freilich muss man ihnen nicht zustimmen, aber nachvollziehbar dürften sie wohl sein) anguckt, dann stellt man fest, dass diese eigentlich in sehr vielen konkreten Fällen übereinstimmen. Deontologen und Utilitaristen können sich vielleicht nicht ausstehen, aber im Grunde stimmen sie in sehr vielen alltäglichen Fällen überein, wie etwa in "Rassismus=schlecht". Ich sehe daher, wenn man eine Pluralität von Moralvorstellungen akzeptiert, keine Gefahr eines moralischen Relativismus, da sich hier je nach Theorie zwar die Begründung, nicht aber die Konklusion unterscheidet. Diese Einstellung ist zudem grundsätzlich kompatibel mit einem moralischen Realismus, also der Ansicht, dass es moralische Fakten gibt. Besagte moralische Fakten wären dann einfach der Konsens der Moraltheorien, und die Theorien selbst nur ein jeweils anderer Weg, sie zutage zu fördern. Der Vorteil ist dann aber, dass man eben die Problematik der Fälle, in denen diese Theorien nicht übereinstimmen - das sind eben die Dilemmata -, herausarbeiten kann. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ein moralischer Pluralismus hier sogar die Bedingung ist, um sich diesen ungelösten moralischen Problemen in angemessener Form widmen zu können.
Zusammengefasst: Ich denke nicht, dass man bei der Konstatierung von moralischen Fakten innerhalb einer Geschichte nur ein Prinzip annehmen sollte bzw. meine ich, dass man das eigentlich auch gar nicht kann, ohne dass man sich selbst einschränkt. Ein bisschen komplexer ist Moral da meiner Ansicht nach schon. Das muss aber dann wie gesagt nicht bedeuten, dass man in einen Relativismus verfällt bzw. verfallen darf: Es existieren dennoch moralische Fakten, und dass dabei unterschiedliche Ansichten darüber bestehen, warum das nun moralische Fakten sind, braucht einen als Autor*in eigentlich erst einmal nicht zu kümmern. Simpel ausgedrückt: Seid meinetwegen Kantianer oder Utilitaristen, aber achtet die Menschenrechte.
Anderes Thema, weil ich das gerade noch gesehen habe (auch wenn das für mich ein Thema ist, über das ich noch nie nachgedacht habe):
Das ergibt keinen Sinn. Natürlich kannst du sie einsperren. Der Sinn eines Gefängnisses ist es vor diesen Menschen zu schützen.
Ich denke, der Punkt ist hierbei, dass eines der wesentlichsten Argumente gegen die Todesstrafe die Möglichkeit des Täters auf Rehabilitation ist. Das absolute Böse hat aber per Definition keine solche Möglichkeit. Das absolute Böse will nur schaden. Es ist eine Art umgekehrter Utilitarist: Sein oberstes Ziel ist es, der Gesellschaft so viel Schaden wie nur irgend möglich zuzufügen bzw. den gesellschaftlichen Nutzen zu minimieren. Es würde nur dann darauf verzichten, der Gesellschaft mehr Schaden zuzufügen, wenn es dadurch irgendwie die Aussicht bekommt, ihr später noch viel mehr schaden zu können. Wenn man das absolut Böse einsperrt, dann freut es sich noch, dass es dadurch die Gesellschaft etwas kostet. Wenn es entlassen wird oder ausbricht, fängt es direkt wieder an, der Gesellschaft zu schaden. Es wird sich nie wieder in die Gesellschaft eingliedern wollen, unter keinen wie auch immer gearteten Umständen. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen: Das absolut Böse ist eigentlich nicht mehr menschlich. Und außerdem: In einer Geschichte kann man, da man als Autor*in ja die Deutungshoheit besitzt, auch das absolut Böse als solches klar und deutlich kennzeichnen, während das in der Realität - sofern man voraussetzt, es gibt das absolut Böse in dieser - ja aufgrund von Ungewissheit nie möglich wäre.
Das Argument, dass man das absolute Böse ja immer noch einsperren kann, um die Gesellschaft davor zu schützen, trifft dann insofern nicht zu, als dass darauf hingewiesen werden kann, dass der wohl allerbeste Schutz vor dem absoluten Bösen nur darin bestehen kann, es auszulöschen. Solange es lebt, wird es immer eine Bedrohung der Gesellschaft darstellen. Man könnte auch argumentieren, dass es verantwortungslos wäre, das absolut Böse nicht auszulöschen. Fällt die Möglichkeit der Rehabilitation also weg - wie das beim absolut Bösen der Fall ist - dann muss die Todesstrafe zumindest sehr viel verlockender erscheinen als vorher. Und es wäre entsprechend nicht weit hergeholt oder sogar glaubwürdig (und entsprechend wäre das Gegenteil unglaubwürdig), wenn in einer Geschichte, in der es absolut böse Menschen gibt, die Todesstrafe eine Routine ist, um mit diesen Menschen umzugehen. Die Frage ist dann aber eben, ob das so viele Leute lesen wollen, wenn ein wichtiges Menschenrecht in der Geschichte praktisch aufgehoben wäre (wiederum: Problem des imaginativen Widerstands). Und man könnte eben wieder die moralische Frage stellen, welche Auswirkungen eine derartige Geschichte auf die Gesellschaft hätte.
Dazu würde ich aber auch sagen: Nur weil in einer Geschichte Menschen nicht redeemt werden oder weil sie im (zeitlichen) Rahmen dieser Geschichte als irredeemable ausgezeichnet werden, heißt das noch nicht, dass die Geschichte ein absolut Böses in der obigen Form annimmt. Des Weiteren - während ich es nicht für eine per se irrige Annahme halte, dass man rein theoretisch einen auch noch so bösen Charakter seine Taten bereuen und wieder auf die gute Seite wechseln lassen kann (was nicht heißen muss, dass der Charakter selbst jetzt plötzlich ein moralisches Vorbild ist oder dass die Guten ihn jetzt locker akzeptieren), so treten hier meiner Ansicht nach eher Probleme in der praktischen Umsetzung auf: Es wird irgendwann (also wohl ab dem, was ihr "Moral Event Horizon" nennt, auch hier schlicht schwer, einen glaubhaften Übertritt in der Form zu schreiben. Der Charakter wäre dann vielleicht auf einer sehr theoretischen allgemeinen Ebene noch redeemable, aber die weiteren notwendigen Bedingungen für die Redemption sind schlicht nicht gegeben. Wäre ein Lord Voldemort noch redeemable? Rein theoretisch würde ich meinen, dass zumindest nichts falsch daran wäre, diese Möglichkeit nicht kategorisch auszuschließen. Könnte das glaubwürdig unter den Bedingungen der Geschichte geschildert werden? Das wäre wohl äußerst schwierig und ich glaube, dass es zumindest mein Können übersteigen würde.