KAPITEL 16
Eingesperrt und allein gelassen
„Das wird wohl die Vesper sein“, dachte sich Nouel als er wieder einmal das Läuten der Kirchenglocken hörte. Genauso gut hätte es aber auch ein anderer Gottesdienst zu einer anderen Tageszeit sein können, denn irgendwie hatte er das Gefühl, dass er beim Zählen irgendwo durcheinander gekommen war. Aber letzten Endes war das auch egal. Er war hier auf dem Dachboden des Pferdestalls eingesperrt, und solange die Frau nicht wieder zurück kam, würde er hier wohl nicht mehr raus kommen.
__Dabei hatte er am Anfang überhaupt nichts dagegen einzuwenden gehabt, für ein paar Stunden mit ihr zu kommen. Sein Vater war einfach viel zu sehr auf die Hochzeit mit dem fremden Mädchen fixiert, das Nouel bisher noch nie gesehen hatte. Wenn man das Ganze etwas heraus zögerte, wäre es doch vielleicht möglich, dass er in der Sache einlenkte und nicht mehr auf eine Vermählung mit dieser Rebekka bestehen würde. Nachdem sie bei ihrer Ankunft hier oben auf dem Dachboden die Strohpuppe entdeckt hatten, war er es auch gewesen, der vorgeschlagen hatte, dieser seine Kleidung anzuziehen. Nur leider hatte Ida die Sache vermasselt, indem sie die Puppe zu einer Zeit in den Fluss geworfen hatte, zu der es auf der Brücke einfach keine Zeugen gegeben hatte. Seiner Meinung nach wäre es effektiver gewesen, wenn sie noch gewartet und die Puppe dann am nächsten Tag entsorgt hätte, zum Beispiel wenn die Kirchgänger von der Morgenmesse wieder auf dem Weg in die Stadt gewesen wären. So hätte es ausreichend Zeugen gegeben, die seinem Vater erzählen könnten, wie die vermeintliche Leiche angezogen war. Nouel hatte sich noch nicht entschieden, ob er fortan ein eigenes Leben führen oder doch lieber in die Abtei zurückkehren, sich mit seinem dann erleichterten Vater wieder versöhnen und versuchen sollte, ihm dabei die verlangte Hochzeit auszureden. Aber nein, die Frau hatte kein Gespür für solche Angelegenheiten. Und an ihre Versprechen hielt sie sich auch nicht mehr. Sie hatte ihm versprochen, jeden Tag zwei mal zu ihm zu kommen, um ihm etwas Verpflegung zu bringen und ihn sofort frei zu lassen, wenn er der Meinung war, dass sie die Sache abblasen sollten. Vorgestern war sie allerdings nur einmal und gestern und heute überhaupt nicht gekommen.
__Immerhin hatte sie ihm bei ihrem letzten Besuch neben einem großen Korb mit Brot, Obst und Käse auch einige Kerzen und einen Feuerstein mitgebracht. Weil er sich in der Zeit davor schon gut an die Dunkelheit hier auf dem Dachboden gewöhnt hatte, war er mit dem Kerzenlicht sparsam umgegangen, so dass er jetzt immer noch zwei Kerzen übrig hatte. Trotzdem machte er sich Sorgen, denn das Essen hatte er inzwischen schon längst aufgegessen, und vom Licht allein konnte man sich nicht ernähren.
__Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er auf einmal ein paar Kinderstimmen nach ihm rufen hörte. Aber wahrscheinlich hatte er nur wieder eine Halluzination - genau wie vor ein paar Stunden, als er geträumt hatte, dass seine Freundin Anna gekommen wäre, um ihm Essen zu bringen und ihn zu befreien. Oder wie vorgestern, als er kurz nach Idas Besuch gedacht hatte, unten von der Straße vor dem Pferdestall die Stimme von Dafydd, dem Hausdiener des westlichen Herrenhauses der de Sommes, zu hören. Dabei wusste er doch ganz genau, dass Dafydd und Anna ganz woanders waren und hier in Shrewsbury nichts zu suchen hatten. Um zu überprüfen, ob er dieses Mal träumte oder nicht, griff er zu dem Feuerstein und zündete eine der beiden Kerzen an. Auch bei vorhandenem Kerzenlicht konnte er noch zwei, drei weitere Rufe hören, aber dann wurden die Stimmen leiser - ganz so als ob die Kinder sich von ihm entfernen würden.
__„Nun lauft doch nicht weg! Ich bin doch hier“, rief er nun seinerseits. Allerdings wieherte genau zu der gleichen Zeit unten eines der zwei Pferde, so dass er sich nicht sicher war, ob die Kinder seinen Ruf als solchen erkannt hatten. Streng genommen war er sich ja noch nicht einmal sicher, ob die Kinder nach ihm oder nach irgend jemand anderem mit seinem Namen suchten. Aber immerhin konnte es nicht schaden, wenn er sich doch noch einmal hier umsah, um vielleicht irgend eine Möglichkeit zu finden, wie er sich für den Fall bemerkbar machen konnte, dass er wieder jemanden an dem Pferdestall vorbei laufen hörte. Als er sich spontan aufrichtete, achtete er nicht auf die auf dem Boden stehende Kerze, diese fiel um und entzündete das auf dem Dachboden gelagerte Heu. Nach einer Schrecksekunde versuchte er noch kurz, das sich ausbreitende Feuer zu ersticken, aber das wollte ihm nicht gelingen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in die vom Feuer am weitesten entfernte Ecke zu verkriechen und dort abzuwarten, ob irgend jemand das Feuer entdecken und ihm zu Hilfe kommen würde.
Off Topic:
Das ist zwar nur ein sehr kurzes Kapitel geworden, aber dafür habe ich das nächste auch schon fast fertig. Kapitel 17 - „Die Befreiungsaktion“ - kommt also auch in den nächsten zwei, drei Wochen.