Fragile Dreams

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  • Fragile Dreams



    In Träumen verarbeitet das menschliche Gehirn jede Empfindung, die ein Mensch während des Tages erlebt und erfahren hat- egal ob bewusst, oder nebenbei. Träume sind im Grunde also nur Abbilder des realen Lebens, verzerrt durch die Unterschiedlichkeiten der Erlebnisse, die wir erfahren.



    Herzlichen Willkommen...

    ... zu meiner neusten Fiction hier im Allgemeinen Bereich.
    Wie ihr seht, trägt sie den Namen „Fragile Dreams“, von dem ich zugeben muss, dass er nicht original von mir stammt. „Fragile Dreams- Farewell Ruins of the Moon“ ist ein Videospiel für die Wii, das mich sehr fasziniert und dessen Soundtrack mich sehr gefesselt und mir immer wieder aus Krea-Tiefs herausgeholfen hat. Der Titel bedeutet übersetzt „Zerbrechliche Träume“, und da ich auch nach langem Überlegen keine Überschrift gefunden habe, die auch nur ansatzweise so gut passt, wie diese, habe ich mich entschlossen, sie eben zu nehmen.



    Ich bin eine Traumfängerin.
    Wenn ich schlafe, dann träume ich nicht. Mein Unterbewusstsein entweicht meinem Körper und taucht in Träume anderer Menschen ein, die zum gleichen Zeitpunkt schlafen und die abstrusen Merkwürdigkeiten erleben, die sich nachts in ihre Seelen schleichen.



    Die Idee...

    ... ist ebenfalls erst nach reichlichen Überlegungen richtig ausgearbeitet worden. Mich haben Träume und die Traumwelt schon immer sehr fasziniert, da sie keinerlei Grenzen hat und ich mich selbst manchmal mehr darauf freue, nachts wieder träumen zu dürfen, als auf den Tag, der vor mir liegt.
    Daher habe ich schon vielerlei Versuche gestartet, etwas mit dem Thema „Traum“ umzusetzen, bisher habe ich aber auch immer wieder nach kürzester Zeit damit aufgehört, aus den unterschiedlichsten Gründen. Diesmal werde ich das hoffentlich nicht tun.


    Die Genre sind...

    Fantasy- Da ein Teil der Story in Träumen stattfindet und diese erfahrungsgemäß teilweise wirklich sehr abgedreht sind, ist Fantasy schon fast eine Pflicht.
    Mystery- Was hat es mit der Gabe auf sich, die seit Generationen in der Familie Wells weitergegeben wird? Dies ist nicht die einzige Frage, die sich die Protagonistin stellen wird, doch weiteres bleibt noch geheim. Seid euch allerdings sicher, dass ich ein paar Überraschungen für euch geplant habe.
    Real Life- Neben ihrem Dasein als Traumfängerin versucht unsere Protagonistin natürlich auch, ein Privatleben zu haben. Und wie jeder Teenager hat auch sie ein paar Probleme, die ihr im Wege stehen.



    Ich bin eine von wenigen, ein Mädchen aus einer Ahnenreihe, die schon immer für diese Fähigkeit bekannt war. Doch nur wenige bekommen sie auch vererbt.
    Einmal in einen Traum eingetreten, bin ich dazu gezwungen, bis zum nächsten Morgen darin zu verweilen. Ich kann nicht entscheiden, in welchen Traum ich eintrete. Ich kann ihn auch nicht wechseln.



    Die Widmung...

    …geht in erster Linie an die Person, für die ich mir überhaupt den Kopf darüber zerbrochen habe, was ich ihr denn zum Geburtstag schenken könnte.

    Onee-chan, meine Liebe, ich hoffe du weißt, dass ich jetzt noch sehr viel mehr Zeit von dir in Anspruch nehmen werde, denn du musst mich wahrscheinlich das ein oder andere Mal in den Hintern treten, dass ich weiter machen werde. Du kennst das ja mittlerweile bei mir, wenn ich im Morast des Krea-Tiefs feststecke, dann aber so richtig. Und dann brauche ich dich, mein werter Personal-Motivation-Coach, um ein Seil zu finden und mich rauszuziehen.
    Nur die Schlinge bitte nicht um meinen Hals binden, okay?
    Dann gibt es noch ein paar andere Leute, mit denen ich in letzter Zeit viel zu tun hatte~ Wenn ihr euch angesprochen fühlt, dann könnt ihr euch auch bewidment sehen.


    Die Charaktere...




    Ich bin gesegnet. Und ich bin verflucht.
    An jeden Traum erinnere ich mich, als wäre er wirklich geschehen. Jedes Detail ist in meinem Kopf gespeichert.
    Ich darf die Glückseligkeit der anderen Menschen fühlen, wie sie selbst.
    Ich bin dazu verdammt, die tiefsten Abgründe eines Menschen mitzuerleben.



    Kapitelübersicht...

    P R O L O G: A Midnight's Dream (24. August)

    I. LU C I D: Star-Cross'd (28. August)

    II. L U C I D: The Tempest (3. September)

    III. L U C I D: Two Gentlemen of London (17. September)

    IV. L U C I D: As You Like It (3. Oktober)

    V. L U C I D: The Passionate Dreamwalker (20. Oktober)

    VI. L U C I D: Summer's lease hath all too short a date (4. November)
    VII. L U C I D: Our remedies often in ourselves do lie (30. November)
    VIII. L U C I D: In my mind's eye (29. Dezember)
    IX. L U C I D: Our doubts are traitors (25. Februar)
    X. L U C I D: I would not wish any companion in the world but you (22. April)


    Benachrichtigungen...


    Passende Hintergrundmusik...



    Mein Name ist Lana. Ich lebe seit siebzehn Jahren mit dieser Begabung. Jede Nacht wird für mich zum Traum.


  • P R O L O G
    A Midnight’s Dream



    Man sollte eigentlich meinen, dass ein Mensch sich nach siebzehn Jahren konstantem Traumfängerdasein daran gewöhnt, dass er in der Nacht nicht wirklich viel Schlaf bekommt.
    Man sollte außerdem meinen, dass man sich zumindest ein bisschen Erholung verdient hat, wenn man die ganze Nacht vor einem wahnsinnigen Kettensägenkiller im Omakleidchen davon läuft, während um einen herum Luftballontiere Orangutan Laute von sich geben.
    Man sollte ebenfalls meinen, dass es einem doch vergönnt ist, nach einer durchzechten Nacht zumindest ein paar Stunden K.O.-Schlaf zu erleben.


    Aber nein. Nicht doch im Leben der Lana Wells.


    Es ist Montag, Anfang einer neuen Woche herrlich ätzendem Unterricht in einer herrlich ätzenden High School in einer herrlich ätzenden Stadt in einem herrlichen ätzenden Leben.
    Jeder, der zur Schule geht oder gegangen ist- ich nehme einfach mal an, dass sich jeder von euch angesprochen fühlt, denn andernfalls kann ich es mir nicht erklären, dass ihr das hier gerade lesen könnt- wird verstehen, welche Qual es ist, sich montagsmorgens todmüde aus dem Bett zu quälen.
    Da können nicht einmal Grandmas himmlische Pancakes mit Kirschmarmelade einen aufmuntern.
    „Ach, Schätzchen“, murmelt sie mir mit einem schiefen Lächeln zu. Grandma Lulu- oder auch Ludmilla, aber sie hasst diesen grässlichen Namen- ist eine recht kleine und zierliche Person. Sie sieht immer etwas ausgezehrt aus, doch habe ich nie erlebt, dass sie mal nicht vor Energie sprühte. Es gab Zeiten, in denen das Leuchten in den Augen meiner Grandma weniger stark glänzte.
    Als mein Grandpa an Lungenkrebs starb. Oder mein Vater bei einem Autounfall.
    Doch sie hat das Leuchten niemals ganz verloren. Sie ist die Art von Person, die einem selbst im tiefsten Unwetter noch strahlend entgegenruft, dass es doch nur ein laues Lüftchen ist. Selbst dann noch, wenn neben ihr die Dachziegel des Nachbarhauses zerbersten. Das würde bei ihr nur für ein begeistertes Lachen sorgen.
    Und das, obwohl sie sich jetzt schon knapp vier Mal so lange mit der Familiengabe herumschlägt, wie ich. Und meine Begeisterung hält sich immerzu stark in Grenzen.


    „Wieder einen schlechten Traum erwischt?“, lächelt sie mich etwas schelmisch an, als ich mich auf einen Küchenstuhl fallen lasse und darin zusammensinke wie ein nasser Sack. Schwarze Locken fallen mir ins Gesicht und ich puste sie entnervt weg.
    „Man müsste ‚Das Texas Chainsaw Massacre‘ wirklich verbieten. Besonders in Kombination mit Kleidern der Marke uralt-omahaft. Nichts gegen dich“, füge ich schnell hinzu, als mir bewusst wird, dass sie ja auch schon auf die siebzig zugeht. Manchmal vergesse ich ganz, dass sie ein halbes Jahrhundert älter ist als ich.
    Dafür ist Lulu einfach viel zu… cool. Welche Grandma haut sich denn sonst eine ganze Nacht mit fünf Bechern Ben&Jerrys- die mit dem rohen Keksteig drin, jam!- um die Ohren, um sich „Jennifer’s Body“, „Freitag der 13.“ und die gesamte „Saw“ Reihe mit der Enkelin zu schauen? Und welche Grandma lacht sich dabei dann auch noch einen Ast ab, wenn der Reihe nach Leute enthauptet, bei lebendigem Leibe verbrannt oder von einer geisteskranken Sukkubus gefuttert werden?
    Na, oft wird es jemanden wie Lulu kaum geben.
    Sie zuckt auch nur mit den Schultern und deutet auf ihre definitiv nicht omahafte Kleidung.
    „Da ich keine dieser zum Kleid umfunktionierten Gardinen trage, fühle ich mich auch nicht angesprochen“, grinst sie mich an und stubst mich leicht in die Seite.
    „Seh ich so grässlich aus?“, frage ich und versuche vergeblich, ein nicht verzerrtes Spiegelbild auf dem Löffel zu finden.
    „Nein, nein, du siehst genauso aus, wie jede Traumfängerin vor dir auch.“
    „Also scheiße?“
    Lulu lacht nur, wirft sich ein Geschirrtuch über die Schulter und macht sich daran, die Pfanne zu spülen. Von oben höre ich das Poltern von Absätzen auf den Treppenstufen. Etwas verwirrt schaue ich auf die Uhr.
    Fünf vor halb acht. Aber dann ist Mum doch-
    „Ich bin viel zu spät dran!“, schallt eine panische, weibliche Stimme durch den Flur zu uns in die Küche. Grandma und ich schauen uns vielsagend an. Ich schnappe mir Mums Teller und platziere ihr Vollkornbrot mit Bries und fettarmen Schinken darauf, denn als sie reinstürmt, den knallroten Blazer unter dem Arm geklemmt, die schwarzen Locken wirr im Gesicht hängend, stürzt sie sich schon auf ihr dürftiges Frühstück- sie weigert sich, mehr zu essen, da das ihren Posten als Moderatorin einer Klatsch und Tratsch Sendung gefährden würde- drückt mir einen hastigen Kuss auf und schließt Lulu in eine schnelle Umarmung.
    „Fahr vorsichtig!“, ruft Lulu ihr noch hinterher, doch das geht in Mums hektisch gekeuchtem „Hab euch lieb, bin heute Nachmittag pünktlich wieder da“ unter.
    Ich grinse und stecke mir einen Happen Pancake in den Mund.
    Alles ist völlig normal im Haushalt Wells. Meine Mum ist etwas verplant, meine Grandma fröhlich wie immer, und ich kämpfe mit meinen mangelnden Energiereserven.
    „Iss noch etwas, Liebes!“, drängt Lulu mich. Eigentlich ist mein Magen restlos gefüllt. Doch ich weiß ganz genau, dass ich einen Haufen an Zucker und Kalorien brauche, um den Tag wach zu überstehen.


    Manchmal habe ich Glück, dann lande ich in einem nahezu ereignislosen Traum. Am liebsten sind mir die, in denen die Träumenden einen schönen, romantischen Abend daheim oder am Strand verbringen. Wenn alles schön friedlich ist und man sich nicht darüber Gedanken machen muss, dass um die nächste Ecke ein wild gewordener Stier oder so Jagd auf einen macht.
    Was natürlich trotzdem passieren kann.


    Wie auch die Träumenden können wir Traumfänger nicht in einem Traum sterben. Aber es jagt einem doch ziemlich Angst ein, wenn sich ein Messer in den Brustkorb bohrt. Dann liege ich immer schweißgebadet im Bett und versuche verzweifelt, die Angst wegzusperren. Im Normalfall reicht meine Gabe nämlich nur für einen nächtlichen Traumtrip aus. Bin ich also einmal aus einem Traum erwacht- meist passiert das, wenn ich mich vor etwas extrem erschrecke oder wenn der Träumende aufwacht- dann kann ich in dieser Nacht keinen anderen Traum betreten. Dann sinke ich in das, was meine Grandma den K.O.-Schlaf nennt.
    Wenn ich dann einschlafe, träume ich nicht, denn das kann ich nicht. Ich sacke einfach weg, bin wie K.O. geschlagen. Und dann wache ich einige Stunden später auf und wundere mich, wann denn die Sonne aufgegangen ist.


    Nach fünf Pancakes kann ich nicht mehr. Ich spüre schon fast, wie die Kirschmarmelade mir den Hals hochkriechen und „Guten Tag“ sagen will, doch ich verkneife es mir wieder schnell.
    „Kann sein, dass ich heute etwas später komme. Ames will unbedingt mit mir in diesen neuen Outletstore, den sie in der Mall eröffnen“, erkläre ich Lulu, als ich meine Sachen in die zerfranste Umhängetasche räume.
    „Ist okay. Richte ihr viele Grüße aus, ja? Amy soll noch einmal vorbeikommen, demnächst kommt wieder ein ‚Fluch der Karibik‘ Marathon.“


    Amy ist schon seit der Elementary School meine beste Freundin. Was ziemlich ironisch ist, wenn man bedenkt, dass wir uns damals regelrecht bekriegt haben. Irgendwann wurde es mir zu bunt und meine geringe Toleranzgrenze wurde uns beiden zum Verhängnis. Sie hatte danach einen Büschel Haare weniger (was nicht sonderlich auffiel, da sie krass dichtes, blondes Haar besitzt) und wir beide eine Runde Nachsitzen mehr.
    Tja, und in diesen zwei Stunden Beaufsichtigung schweißte uns unsere gemeinsame Abneigung gegenüber Gordon Hale, der sich wegen Kaugummikauens im Unterricht auch eine unfreiwillige Nachmittagsbetreuung aufgehalst hatte, zusammen.


    „Bevor du gehst“, wendet sich Lulu noch einmal an mich, als ich mir meinen lindgrünen Mantel schnappe. „Denkst du bitte daran, 3 Liter Milch mitzubringen? Du weißt schon, jeden Morgen Pancakes…“
    Ich nicke seufzend.
    „Mache ich, Grandma.“ Dann öffne ich die Türe, stoße eine halbherzige Verabschiedung über meine Schulter aus und schlendere durch unseren Vorgarten.
    Wir wohnen in einem recht großen Haus mit einer dieser niedlichen Terassen, auf denen in Fernsehserien immer ältere Leute in Schaukelstühlen sitzen. Es gibt überall von Säulen gestützte Vordächer und große Fenster mit weißen Rahmen. Unser Haus besitzt drei Etagen, wobei die oberste Etage komplett von mir eingenommen wird. Sie ist im Grund ein für mich bewohnbar gemachter Dachstuhl mit Dachschrägen, an denen man sich gerne Mal den Kopf stößt. Meine Eltern haben sich allerdings wirklich viel Mühe beim Einrichten gemacht, sodass ich einen großen begehbaren Kleiderschrank, ein eigenes, kleines Bad und ein riesiges Bett ganz für mich alleine habe.
    Tja, solche Vorzüge besitzt man als das einzige Kind einer TV- Moderatorin und eines Teilinhabers eines recht erfolgreichen Restaurants. Auch wenn Dad vor zehn Jahren gestorben war, konnten wir bisher gut von den Ersparnissen und Mums Verdienst leben.
    Und da Grandma Lulu seit neun Jahren bei uns wohnt und uns unterstützt- sowohl im Haushalt als auch in dem familiären Präsent, das unsere Gene immer mal wieder unter den weiblichen Mitgliedern der Familie verteilt- führt die Familie Wells ein beschauliches Leben im Hühnerstall, wie Lulu unser Haus gerne nennt. Nicht, weil sie es schlecht findet, ganz im Gegenteil. Einfach, weil es bei uns im Haushalt keinerlei Männer gibt. Seit dem Tode meins Vaters war meine Mum niemals mit einem Kerl ausgegangen, auch wenn sie als TV-Moderatorin sicherlich einige Verehrer hatte.
    Aber auch ihr Aussehen trägt ziemlich dazu bei.
    Mum hat wunderschöne, von Natur aus immer etwas gebräunte Haut und seidiges, schwarzes Haar. Sie ist das Ebenbild einer hispanischen Schönheit, auch wenn die Gene über drei Generationen, die ihre Familie in den USA verbrachte, doch etwas vermischt wurden. Trotzdem sieht man ihr ihre Herkunft deutlich an.
    Und wenn sie nicht gerade fürchterlich im Stress ist, ist meine Mum eigentlich ganz cool. Sie ist modisch und liebt es, mit ihrer einzigen Tochter shoppen zu gehen, wobei sie mir öfters mehr kauft, als ich eigentlich brauche, ihr Lachen ist für jedes Individuum im Umkreis von zehn Metern höchst ansteckend und in ihren schokoladenbraunen Augen liegt immer etwas schelmisches. Ihr Humor ist für die meisten wohl etwas gewöhnungsbedürftig, aber da ich Apfel sowohl was das Aussehen, aber auch den Charakter betrifft, nicht weit vom Stamm gefallen bin, macht mir das nichts aus.


    Mum hat auch erstmals etwas Ausländisches in die Familie Wells mit hineingebracht. Bisher bestand die Familie meist aus blonden oder braunhaarigen Menschen mit äußerst lichtempfindlicher Haut, wie meine sahneweiße Grandma mir immer wieder beweist, wenn sie zu lange der Sonne ausgesetzt ist. Dann wird ihre Haut nämlich tomatenrot, was in Kombination mit ihren weißgräulichen Haaren nicht ganz so schmeichelhaft wirkt.
    Ich dagegen besitze ähnliche Haut wie meine Mum, wenn auch nicht so rein, weil es einen ohnehin schon geplagten Teenager ja nicht zu stören braucht, wenn zu den anderen Makel (wie die grässliche Zahnspange, die mich vom dreizehnten bis zum fünfzehnten Lebensjahr überall hinbegleitet und mir öfters einen Teil des Essens aufsparte, quasi als Imbiss für später) auch noch Unreinheiten quer über die Wange verteilt kommen. Mein Haar hat leider auch die Angewohnheit sich zu verknoten, und aus irgendeinem Grund, den ich nicht nachvollziehen kann, bin ich ziemlich empfindlich, was Verletzungen betrifft. Kleinste Stöße zaubern mir fette, blaue Flecke auf die Haut. Und Schnitte, die ich mir öfters zufüge als eigentlich nötig, brauchen gut doppelt so lang um wieder zu verheilen. Was im Übrigen für so ziemlich alles gilt.


    Den Rest habe ich von meinem Dad. Meine Augen sind genauso himmelblau wie seine, und meine Pupille ist von einem grünen Ring umgeben. Ich bin groß und habe ziemlich lange Glieder, dazu breite Hüften- die habe ich wieder meiner Mum zu verdanken- ein kantiges Gesicht und eine gerade Nase, die nicht einen Hauch von der Stupsnase besitzt, die meine Gebährerin hat.
    Alles in allem bin ich recht zufrieden mit mir. Und auch wenn ich öfters über meine breiten Hüften oder die langsam wachsende Oberweite meckere kann ich mich eigentlich nicht beklagen. Es gibt andere, die hat es eben besser getroffen, aber einen Haufen andere, die sehr viel mehr Probleme haben wie ich. Die Pickel kann man wunderbar mit Make Up übertünchen und die Haare erhalten nach jeder Dusche eine halbstündige Sonderbehandlung, dann klappt das auch wieder.


    Von meinem Haus bis zur Springfield Academy- Ja, ich wohne in Springfield. Und nein, hier ist keiner gelbhäutig- ist es nicht sonderlich weit, was gut ist, da ich Busfahren hasse. Ich mag es nicht, mir mit einem Haufen schwitzender Leute einen engen Raum zu teilen. Sowieso mag ich keine engen Räume. Leichte Tendenzen von Klaustrophobie, meint Lulu. Gut möglich. Wir Wells waren schon immer von besonderen psychischen Problemen geplagt, die meist durch unser Traumfänger Dasein entstanden.
    Vielleicht sind wir aber auch nur ein Haufen Freaks, wer weiß das denn schon so genau?


    Jedenfalls stehe ich keine zwanzig Minuten später am Eingang der Springfield Academy. Eine Privatschule für die etwas privilegierten unter uns, was sich auch deutlich am Äußeren des Gebäudes ablesen lässt.
    Die Academy gleicht von der Größe her einer kleinen Mall, hat Backsteinklinker und große Fenster mit Holzrahmen. Eingerahmt wird das Grundstück von Backsteinmauern mit schwarzen Spitzen darauf, die verhindern sollen, dass jemand sich seinen Weg hinein verschafft, ohne durch den Haupteingang zu spazieren und sich vom Wächter inspizieren zu lassen. Was ich sowieso nicht ganz verstehen kann, denn seien wir mal ehrlich: Wer bricht freiwillig in eine Schule ein?


    Ich laufe vorbei an dem großen Messingschild, auf dem in prachtvollen Lettern „Springfield Academy“ und darunter die Jahreszahlen „Anno 1897“ stehen. Seit diesem Jahr gibt es meine ätzende Schule nämlich schon. Anfangs als pures Eliteinstitut, dann als rein weiße Rassisten-Schule.Dieses Kapitel streicht unser Direktor nur zu gerne aus dem Protokoll, da er, laut sich selbst, schon immer gegen diese Regelung gewesen sei, und ja nur das Erbe antritt. Jetzt gilt es als Förderungsinstitut für Begabte. Dann muss man aber auch wirklich begabt sein, denn ohne das nötige Vitamin B und ein Stipendium, das sich gewaschen hat, kommt man nicht so einfach auf diese Schule. Aber genauso wenig schwer wie man draufkommt, kommt man auch wieder von ihr herunter, was mein großes Glück ist. Ich will gar nicht wissen, wie oft ich schon mitten im Unterricht weggeratzt bin. Was nicht einmal als Kritik an meine Lehrer gemeint war, nein. Nur zwischendurch wird das Flüchten vor wahnsinnigen Traummördern etwas erschöpfend.


    Am Treppenabsatz entdecke ich Ames, Haruhi, Liv und Jeremy, die sich in einer kleinen Gruppe rund um das Treppengeländer platziert hatten und eifrig miteinander redeten.
    „Morgen!“, stoße ich von ihrem Anblick ein wenig aufgemuntert aus und knuffe Liv in die Taille, damit die Rothaarige mit den tanzenden Sommersprossen auf der Nase etwas Platz für mich macht.
    „Morgen, Schätzchen!“, stößt Jeremy grinsend aus. Er hat sich, was sein Outfit betrifft, heute mal wieder selbst übertroffen. Apricotfarbene Tightjeans, ein weißes, enges Shirt mit Ke$has Gesicht darauf, ein Dreieckschal im Schachbrettmuster, seine knatschgrüne Ice-Watch und unzählige, knallbunte Lederarmbänder. Jedes stammt aus einem Urlaub in Europa, den er mit seinen Eltern macht.
    Liv nickt mir schüchtern zu und spielt an ihrer rosafarbenen Bluse mit Rüschenkragen. Sie ist ein zurückhaltendes, ruhiges Ding, aber unglaublich freundlich und hilfsbereit. Was auch immer ist, sie ist zur Stelle um dich zu trösten.
    Haruhi grinst mich breit an, streckt mir ihre Hand mit einem Peacezeichen entgegen und stößt überschwänglich enthusiastisch „Jo!“ aus. Ihre Augen hat sie wie immer mit einem farbigen Eyeliner nachgezogen, ihre schwarzen Haare mit den bunten Strähnen darin sind zu einem lockeren, gewollt wilden Zopf zusammengebunden. Die eigentlich kleine Japanerin trägt mal wieder extrem hohe Plateaus in knalligem Rot, ein Oneshouldertop mit der Aufschrift „Stage on“ und einigen japanischen Schriftzeichen, die ich nicht lesen kann, bunt gemusterte Hotpants, eine zerschlissene Leggins, damit sich kein Lehrer über die anmaßende Kleidung beschweren kann, ein schwarzes Nietenhalsband schmückt ihren Hals genauso wie ein paar Kopfhörer- „Beats by Dre“, diese sündhaft teuren Dinger- und ihren Hoodie mit den Katzenohren, die an der Kapuze befestigt sind. Um ihre Schulter baumelt eine als Plüschhase mit gruseligem Gesichtsausdruck getarnte Tasche, die der neuste Renner in Tokyo ist.
    Ja, Haruhi hatte schon immer ihren eigenen Kopf was Mode betrifft. Ihre Kleidung wirkt manchmal etwas durcheinander und ungeplant, aber es steht ihr. Es ist etwas anderes als die immer gleichen Trends.
    Der Rest von uns, selbst Jeremy wirkt dagegen schon fast normal. Ames grinst mich verschwörerisch an, als sie meine Augenringe sieht.
    „Schlecht geträumt?“, fragt sie mich und spielt an der Knopfleiste ihrer ärmellosen, rosa Bluse herum. Sie trägt darauf eine hochtailliere Hose mit einer Schleife als Gürtel, schwarze Overkneestrümpfe und schwarze Stiefeletten. Ames kleidet sich, ähnlich wie Liv gerne elegant. Der Unterschied zwischen den beiden ist allerdings, dass ihr Style dazu noch erwachsen wirkt, Olivias dagegen eher mädchenhaft, mit vielen Rüschen und kleinen, niedlichen Details eben. Ich bin wohl eine Mischung aus beidem, obwohl ich auch einem cooleren Style wie der von Haruhi nicht unbedingt abgeneigt bin.
    „Oh, oh, erzähl!“, fordert Jeremy mich mit funkelnden Augen auf. Ich verziehe nur das Gesicht. Keiner außer meiner Grandma weiß, dass ich eine Traumfängerin bin. Meine Mum nicht und meine Freunde auch nicht. Ich wüsste zwar Mittel und Wege, wie ich ihnen beweisen könnte, dass ich in die Träume anderer gerate, zum Beispiel indem ich Jeremy erzähle, dass er vor fünf Wochen mal davon geträumt hat, von Jarred Leto auf die Bühne geholt und anschließend auf die Wange geküsst zu werden, woraufhin er in einem Gefährt, das von Einhörnern gezogen wurde, durch den Himmel fuhr… Allerdings glaube ich nicht, dass das irgendwen anders anging. Genau genommen dürfte ich das ja auch nicht wissen. Zwar ist seine Homosexualität offenkundig, und die meisten kommen damit zurecht, allerdings…
    Es würde viele Dinge einfach sehr viel komplizierter machen. Zum Beispiel auch Livs Beziehung zu Jeremy, in den sie sich direkt verliebt hatte, als sie Anfang des Schuljahres hierher wechselte. Anders kann ich mir nicht erklären, dass sie davon träumte, ihm ihrer verstorbenen und äußerst aggressiven Grandma vorzustellen, die ihn dann abknutschte wie eine dieser endlosen Lutschkugeln, die es damals im Kiosk gab und an denen man sich die Zunge fürchterlich aufraut.
    Dummerweise musste ich allerdings eine Erklärung dafür finden, dass ich non-stop müde bin, weswegen ich mich für eine ähnliche Devise wie bei Mum entschied. Ich erzählte ihnen, dass ich bescheuerte Träume habe. Und Insomnie, eine chronische Schlafstörung.
    „Ach“, grummele ich und versuche angestrengt, meine Augenringe mit ein wenig Make-Up zu überdecken, dass ich aus meiner Tasche geholt habe. „Das übliche. Bin von einem Typen mit Hockeymaske und Kettensägen durch einen brasilianischen Karneval mit lauter lebendig gewordenen Ballontieren gejagt worden.“
    Liv wird etwas blass um die Nase. Die Arme droht schon, ohnmächtig zu werden, wenn sie sich nur vorstellte, Blut zu sehen. Sie ist fürchterlich empfindlich was so etwas betrifft. Und dass ihr zehn Jahre älterer Bruder erst sein Medizinstudium abgeschlossen hat, als Chirurg im örtlichen Krankenhaus praktiziert und die Familie am Essenstisch nun mit seinen OP Geschichten unterhält, macht die Sache wirklich nicht besser.
    „Okay, Lana, ich glaube, du solltest die Horrorfilmabende mit deiner Grandma für eine Weile sausen lassen“, rät Jeremy mir belustigt.
    „Oh, das Schlimme war nicht die Kettensäge“, murre ich, als wir langsam die Treppenstufe hochsteigen. „Das Schlimme war das bescheuerte Omakleid Marke Extra Bäh.“ Ich schüttele mich alleine bei der Vorstellung, während meine Freunde in lautes Gelächter ausbrechen.
    „Du und dein kranker Verstand!“, lacht Haruhi und schlägt mir etwas zu fest auf den Rücken.
    „Du gehörst echt in die Klappse, Lana“, grinst Ames mich an.
    „Jaja“, erwidere ich gereizt.
    „Ihr könnt mich alle mal?“, rät Jeremy.
    „Ganz genau, ihr Spacken.“


    „Hey, habt ihr es schon gehört?“, Haruhi lehnt neben meinem Spind. Wir sind beinahe durch mit unserem Rundgang durch die Schule, auf dem jeder von uns seine Sachen aus dem kastenartigen Fach holt, die er für den Tag braucht.
    „Nein, aber du wirst uns sicherlich gleich sagen, was wir gehört haben sollen“, zuckte Ames mit den Schultern.
    Die Japanerin winkt uns verschwörerisch zu sich, damit wir einen kleinen Kreis ums sie bilden. Ich schlage mein Fach zu und fülle die Lücke, die man für mich übrig gelassen hat.
    „Heute…“, beginnt Haruhi und schaut uns der Reihe nach in die Augen.
    „Heute…?“, haucht Liv schon beinahe ängstlich.
    „Spucks schon aus, Nyan!“, raunt Jeremy ihr ungeduldig zu. Nur er nennt sie so, seit sie die bunten Strähnen in ihren Haaren hat. Nach Nyan Cat, der Regenbogen ausstoßenden Katze, oder so.
    „Wir kriegen eine neue Mitschülerin!“, quietscht Haruhi und wippt vor und zurück.
    Wir anderen mustern uns unsicher.
    „Mitten im Jahr?“, stelle ich die unausgesprochene Frage.
    „Ja, echt krass, oder? Wir hatten nicht mal Ferien oder so, ne! Die kommt einfach mitten im Jahr hereinspaziert und keiner weiß so genau, warum“, fährt die Japanerin fort. „Naja, es gibt natürlich die üblichen Gerüchte. Sie ist im Zeugenschutzprogramm, weil sie nen Mord gesehen hat, ihre Eltern sind Spione und mussten umziehen, weil ihre geheime Identität aufgedeckt wurde, sie ist eine Schlägertusse und bereits von vierzehn Schulen geflogen. Das Übliche eben.“ Sie zuckte die Schultern und zieht die Augenbrauen hoch.
    „Und ihr macht euch über meine kranke Fantasie lustig“, murmele ich. Echt unglaublich, dass es tatsächlich Leute gibt, die sich die Mühe machen, solche blödsinnigen Gerüchte in die Welt zu setzen. Ich meine… Spione? Spy Kids ist ein verdammter Film. Manchmal bin ich mir echt nicht sicher, ob manche das auch wirklich verstanden haben.
    „Aber merkwürdig ist es schon“, murmelt Olivia mit ihrem Blick auf Haruhis Rucksack. „Normalerweise sind Wechsel mitten im Schuljahr doch gar nicht zugelassen, oder?“
    „Vielleicht kommt sie ja auch gar nicht aus Amerika“, schlug Ames vor.
    „Vielleicht ist das eine dieser grässlichen, europäischen Neureichen“, grinst Jeremy. „Dann haben die ihr Geld sicherlich in Verbindung mit der Mafia gemacht. Ui, das wird lustig!“
    Ich schlage ihm gegen die Schulter und er stößt einen leichten Protestruf aus.
    „Klar. Vielleicht ist sie ja auch She-Ras neue Inkarnation und kämpft mit der Hilfe der Liebe gegen die bösen Drachendämonen“, antworte ich mit einem Augenrollen.
    „Au ja!“, stößt Haruhi grinsend aus. „Mondstein flieg! Oder so.“
    „Wenn wir hier herumstehen werden wir es jedenfalls nicht herausfinden“, meint Ames und deutet auf Croucher, unseren unglaublich ekligen Mathematiklehrer. Er hatte mitten auf seiner Wange einen so großen Leberfleck, dass ich beim ersten Treffen gedacht habe, er hätte eine Hausspinne. Dummerweise war das Ding auch noch krass behaart. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke.
    Und- tada- wer hätte es gedacht. Unsere Abneigung beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Was leider auch bedeutete, dass er uns auf dem Kieker hatte.
    Und genau deswegen steuerte er auch auf uns zu, seine Warze hüpfte bei jeder Lippenbewegung, mit der er seiner Umgebung lauthals seine Gedanken mitteilte. Und man musste nicht mal Lippen lesen können um zu wissen, dass er definitiv keine gute Laune hatte.
    „Weg hier?“, fragte Jeremy mit einem scheinbar hypnotisierten Blick auf den großen, behaarten Fleck auf Crouchers Wange.
    „Weg hier!“, stieß Haruhi schnell aus, umfasste ihre Bücher fester und trat den taktischen Rückzug in die andere Richtung an. Auch wir drehten uns schnell um und eilten hastigen Schrittes einmal ums Gebäude- dummerweise kam er tatsächlich auch aus der Richtung, in die wir mussten, aber keine zehn wahnsinnigen Kettensägenkiller im Omakleidchen würden mich je dazu bringen, mehr Zeit mit diesem Kerl zu verbringen, als nötig.
    Liv und Jeremy verabschiedeten sich von der Türe ihres Literaturkurses von uns, gerade noch rechtzeitig, denn die Glocke zum Unterrichtsbeginn läutete, und auch Haruhi schlüpfte kurz vor ihrem Lehrer in ihren Kurs- selbst wenn sie später gekommen wäre, ihren Lehrer würde es nicht stören, schließlich war sie verständlicherweise ein Ass in ihrem Japanischkurs- also sind nur noch Ames und ich übrig.
    Und als wir vor unserer Kurstür stehen, ist die leider schon zu.
    „Mist“, murmelt Amy mit einem finsteren Blick auf das Stück Holz, das uns von einer Ansprache trennt. „Wir können nicht schon wieder nachsitzen. Heute ist doch die Eröffnung!“
    „Ich schätze, das können wir uns jetzt abschminken“, antworte ich zerknirscht und werfe einen sehnsüchtigen Blick auf meine Tasche, in der mein prall gefülltes Portemonnaie jetzt den ganzen Tag vergeblich darauf warten wird, dass ich es heraushole. So ein Mist!
    „Vielleicht macht er eine Ausnahme?“ Ames schaut hoffnungsvoll drei, aber ein Blick von mir genügt um sie zu Seufzen zu bringen.
    „Er ist ja ganz cool, keine Frage. Aber das wird uns der Wade sicherlich nicht durchgehen lassen“, meine ich und hebe schon den Arm, um an die Türe zu klopfen.
    „Der Mr. Wade, wenn ich bitten darf“, tönt auf einmal eine Stimme hinter uns. Ames und ich sehen uns mit verzogenem Gesicht an und drehen uns so langsam wie möglich um.
    Und da steht er. Mr. Wade, in seiner Jeans, seinem gestreiften Hemd, dessen Ärmel immer hochgekrempelt sind, einer locker umgebundenen Krawatte und der dicken Hornbrille, von der ich stark ausgehe, dass sie nur Deko ist.
    „Hallo Mr. Wade“, begrüßen wir ihn kleinlaut. Ich traue mich nicht ihm in die Augen zu sehen. Wie gesagt, er ist echt cool. Er macht den ganzen Englischunterricht zu einer lustigen Angelegenheit, aber wenn jemand gegen die Regeln verstößt kann er ganz schön streng werden. Es ist aber mehr das Gefühl, dass man sein Vertrauen missbraucht hat, welches er einem gibt, wenn er einen mit seinen scharfen, dunkelbraunen Augen anschaut, das schlimm ist. Er bestraft nicht gerne, das betont er immer wieder, aber er muss es tun. Und keiner von uns nimmt es ihm auch nur ansatzweise krumm. Dafür ist er einfach ein viel zu cooler und viel zu fairer Lehrer.
    „Wir bereden eure temporäre Abwesenheit später. Miss Lengston hat uns ohnehin schon viel zu lange aufgehalten.“ Auf sein Gesicht mit dem Dreitagebart schleicht sich ein leicht genervter Ausdruck, so wie immer, wenn er von der Sekretärin spricht. Ein junges, wasserstoffblondes Ding, das mehr Silikon im Busen als Gehirn im Kopf hat, daher widerspricht sie dem reinen Prinzip dieser Schule leider ziemlich. Da macht es auch die Tatsache nicht besser, dass sie auf der Jagd nach einem einigermaßen gut verdienenden Typen ist und, um möglichst schlau zu wirken, einen Haufen Pychologiebücher liest und bei jedem Zusammentreffen mit einem Menschen daraus zitiert.
    Laut ihr bin ich, um es höfflich auszudrücken, ein armes, psychisch schlecht ausgestattetes Mädchen, das an manischen Depressionen, Bulimie und nicht unterdrückbaren Aggressionen leidet.
    Kurz gesagt gehöre ich in die Klapse.


    Jetzt, als Mr. Wade an uns vorbei zur Tür geht, fällt mir erst auf, dass sich hinter ihm ein Mädchen versteckt hat. Ich stoße Ames vorsichtig und unauffällig in die Seite und nicke kurz in die Richtung der Neuen.
    „Das ist sie?“, flüstert meine Freundin mir zu, ich zucke nur mit den Achseln.
    Ich konnte nichts Besonderes an ihr entdecken. Sie war nicht groß und auch nicht massiv, also fielen die Schlägerinnen-Gerüchte schon einmal heraus. Allgemein wirkte sie eher schmächtig und unscheinbar, mit langem, hellbraunem Haar, dass ihr über die Schultern hängt. Sie hält ihren Blick auf meine Schuhe gerichtet- ich bin mir nicht sicher, ob sie das nur tut, weil meine Stiefeletten wirklich etwas her machen oder nur weil sie schüchtern ist- und ihre blassen Hände umschlingen krampfhaft die Henkel einer schlichten Tasche, die groß genug ist, um all ihren Krempel darin zu verstauen. Auch ihre Kleidung scheint wenig außergewöhnlich. Ein weißes Shirt, darüber einen hellblauen Cardigan und eine schwarze Thight-Jeans, kein Schmuck und keine Accessoires. Es ist fast so, als wolle sie gar nicht auffallen, ganz im Gegensatz zu so ziemlich allen anderen Schülern hier. Manche übertreiben es mit ihrem Stil, manche mit ihrem Gehabe, manche mit ihren Gerede. Aber sie scheint mir in keine dieser Kategorien zu passen. Sie ist gewöhnlich.
    Und gerade das macht sie hier wohl einzigartig.
    „Lana?“
    Ames tippt mich an und wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich schüttelte nur den Kopf und folge Wade in das Klassenzimmer, wo schlagartig Ruhe herrscht. Wir setzen uns auf unsere Plätze und ignorieren die Blicke der anderen, die sich nach einem kurzen Räuspern unseres Lehrers schnell zur Front richten.
    „Ich habe heute die Ehre euch eure neue Mitschülerin vorzustellen. Ihr Name ist Holly Ashdown und sie stammt aus England.“
    Holly. Die Glückliche. Wirklich glücklich sieht sie allerdings nicht aus.
    „Möchtest du dich kurz vorstellen?“, fragt Wade sie mit einem gutmütigen Blick. Holly blinzelt ihn kurz an, streicht sich mit einer Hand über ihren Arm und nickt dann. Sie richtet ihren Blick auf ihre Schuhe- schwarze Ballerinas mit einer kleinen, dezenten Schleife darauf- sammelt sich scheinbar kurz und sieht dann auf.
    Direkt in meine Augen. Und ohne den Blick abzuwenden spricht sie mit britischem Akzent:
    „Mein Name ist Holly Ashdown. Ich bin 16 Jahre alt, stamme aus der Nähe von London, dort bin ich auch aufgewachsen. Meine Eltern und ich sind hierher gezogen, weil mein Vater hier ein gutes Job-Angebot bekommen hat. Ich habe keine besonderen Hobbys, aber ich mag Musik und Bücher.“
    Sie rasselt das alles herunter, als hätte sie es auswendig gelernt. Hat sie vermutlich auch. Während ihres Vortrags hält sie mich genau in ihrem Blick und auch ich kann mich nicht abwenden. Sie hat schöne, himmelblaue Augen, die nach außen hin immer heller werden. Aber die dunklen Schatten darunter lassen sie noch blasser erscheinen, als sie ohnehin schon ist. Ich weiß, dass Briten von Natur aus immer recht blass sind, liegt vermutlich an dem permanent schlechten Wetter, aber bei ihr sieht es schon sehr kränklich aus. Erinnert mich an meine Grandma. Vermutlich bekommt Holly auch ziemlich schnell einen Sonnenbrand.
    „Gut, dann setz dich bitte auf einen freien Platz“, fordert Wade sie auf. Die Brünette nickt ihm kurz zu, schaut ihm allerdings nicht in die Augen. Sie schleicht durch die Reihen auf den einzigen noch freien Stuhl direkt hinter mir zu.
    Als sie mich passiert, schaut sie mir eine Sekunde zu lange ins Gesicht. Holly übersieht meine Tasche, verfängt sich mit ihrem Fuß darin und reißt mit einem entsetzten Aufkeuchen die Arme auseinander um sich an den Tischen abzustützen. Der Inhalt ihrer Tasche breitet sich über den kleinen Gang aus und Holly läuft puterrot an.
    Ich grinse etwas schief. Ich wette, die Arme würde jetzt am liebsten im Boden versinken. Ein paar Mädchen kichern und mein Sitznachbar Adam verzieht mitleidig das Gesicht, als sich die Neue hochhievt und eine hastige Entschuldigung murmelt.
    „Warte mal“, sage ich und beuge mich herunter, um die Henkel meiner Tasche von ihrem Fuß zu befreien. Und wo ich ohnehin schon mal dabei bin, hebe ich auch ihr Mäppchen, einen kleinen Hefter und ihr Handy- ein extrem neues und großes Smartphone- auf, zusammen mit ihrem Beutel, den ich ihr entgegenhalte, als sie den Rest eingesammelt hatte und sich aufrichtet.
    „Danke“, presst sie nervös hervor. Ihre Augen gleiten über meinem Gesicht hin und her. Gerade wirkt sie noch sehr viel müder als zuvor. Die Augenringe sind so unglaublich dunkel… Fast so wie meine auch. Und wie dünn sie wirkt, mit ihren eingefallenen Wangen und blassen, zerkauten Lippen. Ihre Finger zittern etwas, als sie mir ihre Tasche abnimmt und sie an sich presst.
    Wir tauschen intensive Blicke. Was findet sie an mir wohl so interessant? Die Tatsache, dass ich hispanisch aussehe? Gibt es so etwas wie mich in England nicht?
    Oder… fällt ihr etwa auch gerade auf, dass wir uns ähnlich sehen? Nicht vom äußeren her, aber… Wenn ich etwas wusste, dann wie jemand aussieht, der lange Zeit nicht ausreichend schläft. Schließlich sehe ich jeden Tag mich selbst im Spiegel und meine Grandma leidet ja unter den gleichen Problemen wie ich.
    Und Holly hatte definitiv eine ganze Weile in der Nacht andere Dinge getan als sich auszuruhen. Vielleicht wegen dem Umzug? Vermutlich, es ist sicherlich nicht einfach, mal eben mitten im Schuljahr von England nach Amerika zu ziehen.


    Meine Augen fangen an zu tränen, als ich krampfhaft versuche einen Gähner zu unterdrücken. Schnell halte ich mir eine Hand vor den Mund und schlucke ihn so gut es geht herunter. Holly geht weiter.
    Ich höre, wie ihr Stuhl über den Boden schrapt und sie ihre Tasche auf den Tisch platziert.
    Von vorne höre ich Wades Stimme sagen, dass wir uns heute mit Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ beschäftigen.
    Oh, wie passend.

  • Hallo Cáithy! ( Ich hoffe ich darf dich so nennen)


    Ich finde es toll das du diese FF angefangen hast und ich finde den Prolog schon sehr gut geschrieben. Aber ein paar Fehler habe ich dennoch entdeckt:


    Zitat von Cáithlyn

    Ich schnappe mir Mums Teller und platziere ihr Vollkornbrot mit Bries und fettarmen Schinken darauf, denn als sie reinstürmt, den knallroten Blazer und dem Arm geklemmt, die schwarzen Locken wirr im Gesicht hängend, stürzt sie sich schon auf ihr dürftiges Frühstück- sie weigert sich, mehr zu essen, da das ihren Posten als Moderatorin einer Klatsch und Tratsch Sendung gefährden würde- drückt mir einen hastigen Kuss auf und schließt Lulu in eine schnelle Umarmung.


    Gehört da nicht: [...] den knallroten Blazer unter dem Arm geklemmt, [...]


    Zitat von Cáithlyn

    Nach fünf Pancakes kann ich nicht mehr. Ich spüre schon fast, wie die Kirschmarmelade mir den Hals hochkriechen und „Guten Tag“ sagen will, doch ich verkneife es mir wieder schnell.


    Hier gehört das : hochkriecht. Weil du vorher und nachehr auch im Singular geschrieben hast.


    Zitat von Cáithlyn

    Ihr Humor ist für die meisten wohl etwas gewöhnungsbedürftig, aber da ich Apfel sowohl was das Aussehen, aber auch den Charakter betrifft, nicht weit vom Stamm gefallen bin, macht mir das nichts aus.


    Hier verwirrt mich diese Aussage etwas.


    Zitat von Cáithlyn

    Aber genauso wenig einfach fliegt man wieder von ihr herunter, was mein großes Glück ist.


    Hier würde ich schwer einsetzen.


    Zitat von Cáithlyn

    „Klar. Vielleicht ist sie ja auch She-Ras neue Inkarnation und kämpft mit der Hilfe der Liebe gegen die bösen Drachendämonen“, antworte ich mit eine Augenrollen.


    Hier gehört einem hin.


    Zum Schluss möchte ich noch sagen dass ich natürlich per PN benachrichtigt werden will, wenn das nächste Kapitel online geht^^
    Außerdem bewundere ich wie du Humor in eine Geschichte bringen kannst und immer wieder lustige Nebensätze einbringst. Mach bitte weiter so^^


    Mfg
    Ventus~

  • So, dann möchte ich dir gleich mal das erste das zweite >.<' Review geben :D
    Ich hoffe, du freust dich drüber :3


    Prolog- A Midnight's Dream
    Das erste, was mich überraschte war, das du das ganze nicht in der Vergangenheit schreibst. Weil man es ja eigentlich von solchen Geschichten gewohnt ist. Aber es hat mich zum positiven überrascht. Ich habe mir gedacht 'Hey, ist ja auch mal was neues, eine Geschichte, die in der Gegenwart geschrieben ist.' Wie gesagt, ist ja bei den meisten FF's eher so, das sie in der Vergangenheit stehen^^


    Der ganze Prolog liest sich auch sehr flüssig. Dein Schreibstil gefällt mir ebenso sehr gut. Du hast ja auch im Startpost geschrieben, das du etwas Humor einbaust, denn ohne gehts ja nicht, haha. Finde ich gut. Denn ich musste schon am Anfang oft mal lächeln, wie zum Beispiel, als du die Grandma von Lana beschrieben hast. Stimmt, man hat nicht oft so eine Grandma xP


    So,genug der förmlichen Gefasels, jetzt will ich aber endlich mal zum Inhalt kommen.
    Den Inhalt des Prologs fande ich bis zum Schluss spannend, ich wollte bis zum Schluss weiterlesen (wie man es auch von so einer Geschichte erwartet, haha). Allein schon der Titel hat mich echt interessiert, denn Träume faszinieren mich genauso wie dich. Sie können, wie du schon gesagt hast, eine sehr gute Inspirationsquelle sein. Allerdings habe ich auch einen Vergangenheitsfehler gefunden:


    Ist diese Stelle denn beabsichtigt in der Vergangenheit geschrieben? Wenn ja, musst du mir das sagen^^'
    Den Schluss finde ich wieder super. Er macht Lust darauf, weiter zu lesen. Was hat es mit dieser neuen Schülerin auf sich? Und Warum starrt sie Lana die ganze Zeit so komisch an?
    Nur eines habe ich nicht verstanden: Warum es die Traumfänger denn gibt, und was für eine Aufgabe sie haben (außer in die Träume anderer Leute zu gehen, haha)? Naja, das wird garantiert noch im späteren Verlauf der Story erwähnt^^
    Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, wir's weitergeht :3
    Und ich hoffe, du kannst mit meinem kurzen (weil auf Handy) und etwas chaotischem Review was anfangen x)


    ~Lucy

    It's how you hide your cards It's how you dress your scars And let them breathe free
    Life, fantastic... Life, so tragic... Life, fantastic...

  • Huhu^^


    Ich glaube, ich muss dir nicht sagen, dass du zu den ganz Grossen im FF-Bereich gehörst; entsprechend hoch ist auch das Niveau deiner Geschichte. Ich werde dir (wie Lone Wolf zu seinen Zeiten) weniger sagen, was du gut gemacht hast, es sei denn, es fällt mir wirklich auf. Zu Beginn noch eher, als in späteren Kommentaren. Man muss schliesslich nicht jedes Mal einen Absatz darüber schreiben, dass dein Schreibstil einfach umwerfend und beneidenswert ist, nicht?
    Auf die Geschichte aufmerksam geworden bin ich, weil ich - ungeduldig wie immer - nicht abwarten konnte, bis die neuen Wettbewerbe veröffentlicht werden. Ich streunte ein wenig im Bereich umher und stiess schliesslich auf Fragile Dreams - nur zwei Posts. Super, eine noch junge Geschichte einer talentierten Schreiberin, das kann nur gut kommen :) Frisch und fröhlich nahm ich mir deshalb den Startpost vor:


    Startpost
    Ich muss leider sagen, dass der Startpost nicht meinem Geschmack entspricht. Er wurde liebe- und mühevoll gestaltet, das steht ausser Frage; auch, dass kein Bild vorhanden ist, stört mich in diesem Fall überhaupt nicht, es ist mal etwas anderes, es lockert das ganze Bild der 0815-Startposts mit Überschrift, Bild, Zitat, Bla hier, Bla da auf (so wie meiner).
    Leider gefällt mir das gewählte Lila überhaupt nicht... Aber das ist Geschmackssache, die Farbkombination vom Weiss und dem Lila beisst jetzt nicht die Augen oder so, von daher geht das schon in Ordnung. Die Schriftart ist gut gewählt, sie passt super ins Ambiente, dass du mit dem Startpost kreierst.
    Es fehlt an nichts; Es ist eine Vorstellung da, ein wenig Allgemeines über die Fanfiction (wobei man genau genommen sagen muss, dass es gar keine FF ist, da sie ja, soweit ich das jetzt beurteilen kann, eine bis auf den Titel komplett von dir erfundene Story ist) vorhanden ist, die Idee und das Konzept erläutert wurden und auch eine Übersicht der Kapitel vorhanden ist. Die Genreausrichtung ist auch da, auch wenn sie für meinen Geschmack fast schon ein wenig überladen ist. Man könnte sich durchaus auf zwei beschränken, da die die anderen nicht ausschliessen. Besonders Comedy ist mir hier ins Auge gestochen, da es, soweit ich das richtig beurteile, keine lustige Geschichte sein soll, wo man nach jeder dritten Zeile einen Lachanfall hat. Lass weiter Romance weg; es geht in dieser Geschichte nicht primär um Liebe, oder? Fantasy und Mystery kannst du so stehen lassen, und Reallife eigentlich auch.
    Natürlich ist auch die Widmung sehr schön (Onee-Chans Geburtstagsgeschenk, sozusagen), es macht den Startpost immer etwas persönlicher, was ein grosses Plus ist. Es sind Leute, die den anderen etwas sagen, also Member da im Board, und nicht der Freund von Nebenan, der das sowieso nie lesen wird, weil er sich nicht dafür interessiert. Ich habe hier ernsthaft schon Leute gesehen, die ihre Geschichte so jemandem gewidmet haben.
    Noch etwas zur Charakterbeschreibung: Bitte nimm sie entweder ganz raus, oder setze sie in Tabmenu oder Spoiler. Viele User, darunter auch ich, präferieren es, die Charaktere während der Geschichte kennenzulernen. Es sind zwar nicht viel Informationen, aber genung, um das ganze Mysterium, wieso sich Holly Lana gegenüber so merkwürdig verhält, platzen zu lassen. Das finde ich echt schade, da ein Grossteil der Spannung, die im Prolog erzeugt wird, beziehungsweise sogar die ganze, komplett flöten geht.
    Was mich aber am meisten überzeugt hat, ist die Einbindung des Klappentextes (Ich nehme an, dass es der Klappentext ist). Das ist wirklich ein Geniestreich. Es lässt einen zwischen den mehr oder weniger reinen Informationsblöcken wieder aufatmen, etwas mehr über die Geschichte ansich erfahren und man nimmt es viel mehr so nebenbei wahr, als wenn das jetzt ein eigener Unterpunkt gewesen wäre. Das Positive ist, dass es dann nicht so gekünstelt daher kommt, so im Stil von "Ich bin eigentlich ein n00b, aber weil ich cool bin und jede coole FF einen Klappentext besitzt, muss ich jetzt auch noch einen haben, da Leser, friss!"


    Prolog - A Midnight's Dream
    Ich habe mich da etwas schlau gemacht, und du hast den Titel sicherlich im Zusammenhang mit dem Sommernachtstraum von Shakespeare, den sie ja im Englisch behandeln, gewählt. Was auffällt, ist, dass er Originaltitel A Midsummer Night's Dream ist, was du nicht 1:1 übernommen hast. Ich gehe davon aus, dass es kein Fehler ist, da du zu abgeklärt und gut schreibst, doch irgendwie will es mir nicht ganz aufgehen, wieso du denn den Summer weggelassen hast... Auf die Jahreszeit wurde, soweit ich weiss, nicht eingegangen, auf die Zeit allgemein überhaupt nicht.
    Das ist meiner Meinung nach ein Manko, dass man nicht recht weiss, in welcher Zeit die Geschichte spielt, beziehungsweise einige Faktoren sprechen gegen die Zeit. Es gibt schon Fernsehen, also kann es nicht allzu weit zurückliegen. Dennoch ist hier eine grosse Zeitspanne offen. Dem Kleidungsstil der Jugendlichen nach könnte es zwischen den 80ern und heute spielen, ich gehe mal davon aus, dass es heute spielt, wegen den Beats, dem einzig konkreten Hinweis. Was mir aber nicht so recht verständlich wird, ist die Einstellung der Schule. Früher war es eine Eliteschule, jetzt eine rassistische Eliteschule, oder was? Der Direktor sagt ja, er selbst teile diese Einstellung nicht, er habe sie nur geerbt. Folglich hat er nichts dagegen unternommen. Das passt nicht ins heutige Amerika, zumindest sicher nicht in den Norden, aber auch im Süden würde diese Einstellung sehr umstritten sein. Es gibt zahlreiche Springfields, weshalb einem nicht recht klar wird, in welchem Staat das nun spielen soll... Es gibt aber rechte politische Unterschiede, besonders zwischen Nord-Süd, weshalb man das vielleicht noch anmerken sollte. Kurz Wikipedia zitiert:


    Zitat von Wikipedia - Springfield

    Diese Ortsbezeichnung gibt es in den USA 64 mal und ist in 35 verschiedenen Staaten der USA verbreitet.


    Noch eine Anmerkung: Wieso ist das ein Prolog? Meiner Meinung nach ist es viel eher ein Kapitel als ein Prolog, schon allein von der Länge her. Woerter-zaehlen.de gibt mir an, dass es 5221 Wörter sind. Reichlich lang für einen Prolog, aber eine sehr gute Länge für ein Kapitel. Das ist jetzt ein wenig Haarespalterei, und es ist auch nicht etwas, was deine Geschichte total schlecht macht, es ist eigentlich sogar eher irrelevant, aber ich wollte es trotzdem anmerken.


    Buxi


    Ich habe nur die Fehler korrigiert, die noch zusätzlich zu Ventus' und Dark-Lucys dazugekommen sind. Garantieren, dass es alle sind, kann ich aber nicht.


    Rot: Überflüssig
    Grün: Es fehlt etwas
    Violett: Ersetzen durch
    Blau: Sonstige Anmerkungen



  • [tabmenu]
    [tab=.]
    Oh mein Gott!
    Es ist noch nicht mal ein ganzer Tag vergangen, und ich habe schon drei Kommentare? Das ist echt unglaublich, vielen, vielen Dank, Leute. Ich freue mich wahnsinnig darüber, dass die Story jetzt schon so viel Anklang findet.
    Leider folgt noch kein neues Kapitel, das wäre zu früh und ich werde auch noch etwas länger dafür brauchen, aber ich wollte unbedingt schon einmal "Danke" sagen. (Schon lustig, dass meine neue Story, die nicht mal nen Tag alt ist, mehr als halb so viele Views wie mein KG Topic xP)
    Caith
    [tab=Ventus]
    Hallo Ventus (Oh, ich mag deinen Namen, der erinnert mich so unglaublich an Kingdom Hearts ♥)
    erst einmal vielen Dank erst einmal für deinen Kommentar und für die Mühe, die du dir gemacht hast, die ganzen Fehler herauszusuchen. Sobald ich hier fertig bin, werde ich sie ausbessern.
    Ich werde dich natürlich benachrichtigen, vielen Dank!
    Caithy (Klar kannst du mich so nennen ^^)
    [tab=Dark-Lucy]
    Hallo Lucy (Ich kürze dich jetzt einfach mal ab),
    vielen Dank auch an dich für deinen sehr ausführlichen Kommentar. Und natürlich habe ich mich sehr darüber gefreut. ♥



    Vielen dank für den ausführlichen Kommentar,
    Caith
    [tab=Buxi]
    Hallo Buxi,
    auch dir möchte ich für deinen sehr ausführlichen Kommentar danken. Es hat mich ja schon gefreut, zwei Kommentare zu bekommen, aber dein wirklich sehr langer Kommentar hat mich noch einmal sehr gefreut, vor allem, weil er so kritisch ist. Denn nur dadurch kann ich Fehler verstehen und verbessern. Ich werde genauer auf deine Kritik eingehen und erläutern, warum ich manches nicht umsetzen werden. Trotzdem danke für jede Kritik!



    Vielen Dank für die viele Mühe, die du dir gemacht hast. Es hat mich wirklich sehr gefreut!
    Liebe Grüße,
    Caithy [/tabmenu]


  • I. L U C I D
    Star-Cross'd



    Zwei Stunden Shakespeare später ruft Wade uns zu sich. Die anderen Schüler strömen aus dem Klassenzimmer und machen sich auf den Weg zum nächsten Kurs. Eigentlich ist es mir Recht, später zum folgenden Unterricht zu erscheinen, denn je weniger Zeit ich mit Croucher und einem Haufen an Zahlen verbringen muss, desto besser. Und er hasst mich ja sowieso schon, was machte es dann noch aus?
    „So kann das nicht weitergehen, ihr beiden“, spricht unser Lehrer uns an. Neben ihm steht Holly, die eigentlich nur ihre Ausgabe von Ein Sommernachtstraum abholen will, aber offenbar ist ihm eine Standpauke wichtiger. Sie fummelt an dem Reißverschluss ihrer Tasche herum und starrt auf Ames Hände, die an ihren Armbändern herumspielen.
    „Es tut uns Leid, Mr. Wade!“, versichere ich ihm, aber mit seinem enttäuschten Blick kann meine Stimme einfach nicht mithalten. Etwas krächzend meine ich, dass es diesmal wirklich nicht unsere Schuld ist. „Mr. Croucher hat uns aufgehalten.“
    „Das glaube ich euch ja auch“, seufzt der Mittzwanziger und runzelt die Stirn. Mit einem Blick zur geschlossenen Türe, als würde er vermuten, dass die schreckliche Warze jede Sekunde darin erscheinen würde, grinst er schwach. „Er hat euch wirklich gefressen, oder?“
    „Eigentlich bin ich es schuld“, antworte ich und zucke mit den Achseln.
    „Bist du etwa schon wieder eingeschlafen, Lana?“ Er sieht mich durchdringend an. „Hör mal, das ist langsam wirklich nicht mehr lustig. Du solltest damit zu einem Arzt gehen.“
    „Hab ich doch schon“, verteidige ich mich und verschränke die Arme vor meiner Brust. „Sie sagen alle das Gleiche: Insomnie.“
    „Und wenn man dir Tabletten verschreibt?“, schlägt er vor.
    „Schon probiert. Ich bleibe wach und bekommen davon nur Kopfschmerzen.“ Und ich schlafe am Tag noch häufiger ein. Denn leider erzielen diese Tabletten genau den Effekt, den ich nicht haben will. Nachts wandere ich durch Träume und am Tag fällt ihnen auf, dass sie ja auch noch wirken müssen, und lösen ihren Zweck dann mitten in einer Lektion Grenzwerte quadratischer Funktionen ein.
    „Und…“ Wade spricht nur zögerlich. „Wenn man dir mehr davon verschreibt?“
    „Noch mehr und ich wache gar nicht mehr auf“, grummele ich. Alles haben die Ärzte schon probiert. Von Hausmittel über Therapien mit unendlich langen Namen. Meine Gehirnströme wurden gemessen, aber außer der Tatsache, dass ich meine Träume äußerst intensiv erlebe- oh, wenn die wüssten, wie intensiv…- konnten sie mir auch nicht mehr sagen. Irgendwann gab es meine Mum schließlich auf. Sie war es Leid von Arzt zu Arzt zu rennen, zumal die Dinge, die sie mit mir anstellten, die Sache nur noch schlimmer machten. Denn in Krankenhäusern und Kliniken haben Menschen wirklich sehr beängstigende Träume. Vor allem die, die so mit Medikamente vollgepumpt sind, dass sie halb träumen und halb wach sind. Das hat sich angefühlt, als würde man mich abwechselnd in Trockeneis und dann in Lava tunken. Es tat weh. So weh, dass ich weinend in meinem Bett gelegen habe und mich weigerte, zu schlafen. Natürlich fand ich auch hierfür immer eine passende Ausrede. Und wenn es nur das Monster unterm Krankenhausbette war.
    Wie sonst könnte ich dafür sorgen, dass man mich einfach in Ruhe ließ?
    Erzählen, dass ein Mensch immer wieder von den schrecklichsten Momenten in seinem Leben träumte und ich dabei war? Dass ich sah, wie die Ehefrau eines Mannes in seinen Armen qualvoll verblutete, nachdem er sie mit einem Küchenmesser attackiert hatte?
    Dass ich mitbekam, wie ein Komapatient im Meer versank und ihm die Luft wegblieb, wie mein Herz genauso wie seines schmerzhaft pochte und uns die Panik verschlang, zusammen mit der Dunkelheit, die alles nur noch in Schemen darstellte?
    Wer würde es mir glauben? Niemand. Nur Lulu. Und Lulu kämpfte dafür, dass man mich in Ruhe ließ.


    Wade schweigt eine Weile. Er betrachtet die blauen Flecken auf meinem Unterarm, den ich mir zugezogen habe, als ich beim Traumwandern nach der Kettensägenoma geschlagen habe, die im echten Leben leider ein massiver Holschrank war. Ich will gar nicht wissen, was er denkt. Dass meine Mutter mich misshandelt? Dass ich mir selber Verletzungen zuziehe?
    Ich weiß, dass er sich sorgt, das kann man seiner Miene deutlich ablesen.
    „Mit mir ist alles okay“, behaupte ich, auch wenn es wohl die größte Lüge ist, die jemand wie ich erzählen kann. Natürlich ist mit mir absolut nichts okay. Ich bin ein verdammter Freak und kann es niemandem erzählen, weil ich schneller in einer Zwangsjacke stecken würde als ich „Traumfänger“ sagen kann. Und seien wir mal ehrlich, wenn die Träume von Krankenhauspatienten schon so krass sind, dann will ich wirklich nicht wissen, was nachts bei den Insassen eines Irrenhauses abgeht. Alleine die Vorstellung bringt mich dazu, das Gesicht zu verziehen.


    Wade öffnet den Mund um etwas zu sagen, beschließt dann aber, es doch sein zu lassen. Er weiß, dass er bei mir auf Granit beißt. Das weiß jeder Lehrer, denn ein Haufen davon hat schon versucht, mir mein Geheimnis zu entlocken. Aber ich bin hart geblieben. Niemals dürfte ich jemandem davon erzählen, was wirklich los ist, das hat meine Grandma mir eingebläut, als ich eines nachts weinend in meinem Bett lag und nicht fassen konnte, was einen Menschen in seinen Träumen verfolgt. Puppen, Clowns, Massenmörder… All das war schlimm.
    Aber was ich am meisten zu fürchten gelernt hatte war die Dunkelheit. Nichts zu sehen, nichts zu fühlen… Vollkommen alleine zu sein war grässlicher als jede Figur aus einem x-beliebigen Horrorfilm. Weil man sich an nichts festhalten kann. Vor Mördern kann man fliehen, man kann sich Requisiten des Traumes schnappen und ihnen die Köpfe einschlagen.
    Aber in der Dunkelheit ist nichts. Sie ist einfach da und du bist mittendrin. Mehr passiert die ganze Nacht nicht. Du kannst nur warten und fürchten, dass sie dich für immer verschluckt.


    „Euch ist klar, dass ich euch bestrafen muss, oder?“ Ich richte meinen Blick wieder auf Wade, der seine Brille abgenommen hat und auf seine Unterlagen auf dem Pult starrt.
    Ames und ich sehen uns an. Wundervoll. Outlet Store adé!
    „Na gut“, murmelt Amy. „Wie lange?“
    „Sagen wir eine Woche?“
    Mir fallen beinahe die Augen aus dem Gesicht, so weit reiße ich sie auf.
    „Eine Woche?“, wiederhole ich zu hysterisch und zu laut, aber ich kann einfach nicht anders. „Eine Woche Nachsitzen?“
    „Ihr seid Wiederholungstäter, da werden die Strafen eben härter“, erklärte er uns. „Tut mir Leid.“
    Ames und ich sehen uns fassungslos an. Ich merke, wie ihre Finger ganz weiß werden, während sie ihr Armband zusammendrückt.
    „Wir können uns allerdings auch auf etwas anderes einigen.“
    „Egal, was es ist, wir tun es!“, behauptet Ames viel zu schnell. Ich bin etwas vorsichtiger. Er würde uns sicherlich nicht einfach so davonkommen lassen. Irgendwo wird es einen Haken geben, ganz sicher. Und mir graut es jetzt schon vor diesem „aber“, das unweigerlich folgen muss.
    Doch anstatt uns genau Details zu geben, dreht er sich einfach zu Holly um, wühlt dabei noch in seiner Tasche, bis er schließlich die Lektüre hervorzieht, auf die das arme Mädchen schon so lange wartet. Sie will sich schon umdrehen, da wendet sich Wade an sie.
    „Holly, du kennst dich hier ja noch nicht aus“, spricht unser Lehrer sie an. Holly schaut ihn etwas perplex an, als ob sie sich nicht ganz sicher ist, ob er wirklich gerade mit ihr spricht. Vermutlich hatte sie gedacht, dass sie jetzt aus dem Schneider ist. Langsam nickt sie.
    „Leider stehen bald Examen an, deswegen haben die meisten Lehrer viel zu tun“, erklärt er. Wieder ein Blick zu den Türen, dann grinst er verschwörerisch: „Und die, die frei sind, möchte ich dir lieber nicht antun.“
    Holly lächelt unsicher.
    „Wie wäre es also, wenn Lana und Amy dich etwas einweisen würden? Natürlich nur, wenn das für dich okay ist. Ich kann gut verstehen, wenn dich die beiden abschrecken“, meint er, zwinkert uns aber grinsend zu.
    „Was soll das denn bitte heißen?“ Ames schneidet eine alberne Grimasse und beginnt in einer gespielt hochnäsigen Stimme zu sprechen: „Ich weiß gar nicht, was er meint, du etwa, Lana-Liebes?“
    Ich grinse etwas schief und nicke Holly zu, die leicht zu lächeln beginnt. Wade schaut zwischen uns hin und her.
    „Also kein Nachsitzen?“, fragt er, auch wenn er die Antwort schon weiß.
    „Nope“, entscheidet Ames für uns beide und streckt Holly die Hand aus. „Amy Kingston, freut mich.“
    Holly ergreift sie kurz, ehe sie sich mir zuwendet.
    „Lana Wells. Nett dich kennen zu lernen.“


    „Du kommst also aus London?“
    Wir sitzen auf der Wiese direkt hinter den Mauern der Schule. Über uns ragt eine alte Eiche empor, die uns Schatten spendet und die ungewöhnliche Hitze etwas erträglicher macht. Es ist gerade mal Mai, wirklich merkwürdig, wie verrückt das Wetter wieder spielt. Erst gestern hat es unglaublich stark geregnet und heute erscheint mir Springfield wie die Sahara. Ich ziehe an meinem Shirt und wedele mir mit der Hand etwas Luft gegen die Brust.
    Holly durchlebt gerade die Frage-und-Antwort-Runde der Hölle, ein gängiges Ritual, das auch Olivia schon ertragen musste. Sie sitzt auf ihren Beinen, unter ihr liegt ihre Jacke, damit ihre Hose nicht schmutzig wird. Etwas unsicher schaut sie zwischen Jeremy, Haruhi und Ames hin und her. Immer wieder erwische ich sie dabei, wie sie mir einen hilfesuchenden Blick zuwirft. Aber leider kann ich da auch nicht viel machen. Wenn meine Freunde einmal Feuer gefangen haben, dann kann man sich auf den Kopf stellen.
    „Ja“, antwortet sie und nestelt an dem Verschluss ihrer Tasche. Sie schaut nicht auf, das tut sie nie, wenn sie antwortet.
    „Dann bist du garantiert auf eine Privatschule gegangen, oder?“, fragt Ames, die ihre Beine lässig zur Seite angewinkelt hat.
    „Ui, die tragen da immer diese coolen Uniformen!“, wirft Haruhi ein und klatscht begeistert in die Hände.
    „Ich bin zu Hause unterrichtet worden“, unterbricht Holly ihre Euphorie. Das Gesicht der Japanerin erstarrte für eine Sekunde, dann zuckt sie mit den Schultern.
    „Wär ja auch zu schön gewesen.“
    „Deswegen bist du also so schüchtern.“ Jeremy richtet seine Lederarmbänder und grinst die Brünette an. „Kein Wunder, dass das arme Mädchen dann so verschreckt ist. Das erste Mal auf einer Schule mit mehr Besuchern als nur sie selbst und sie gerät ausgerechnet an uns!“
    „Ach komm, so schlimm sind wir doch gar nicht!“, behauptet Haruhi und deutet der Reihe nach auf Olivia, Ames und mich: „Livy ist ein wenig schüchtern, Lana neigt zu Aggressionsproblemen und Ames reißt die schlechtesten Witze weit und breit, aber ansonsten…“
    Selbst Holly kann sich zu einem leisen Lachen durchringen.
    „Hey, was hast du als nächstes?“, frage ich sie, als das Gelächter verebbt und die Stille unangenehm wird. Holly richtet sich kerzengerade auf, fummelt hastig an ihrer Tasche herum und zieht ihren Stundenplan heraus, der sich auf seinem Weg in die Freiheit erst einmal an den Zinken des Reiverschlusses verheddert.
    „Musik, glaube ich.“
    „Dann haben wir alle den gleichen Unterricht“, stellt Olivia fest. Nachdem sie einen Blick auf den Stundenplan geworfen hat fügt sie noch hinzu: „Und das Schlimmste hast du schon hinter dir.“
    Holly zieht an einer ihrer Haarsträhnen. Irgendwann hebt sie den Kopf und schaut mich und Ames bedrückt an.
    „Tut mir Leid, dass ihr meinetwegen Ärger bekommen habt“, murmelt sie undeutlich. „Ich habe versucht, ihm zu sagen, dass ihr mich einweisen sollt, aber-“
    „Mach dir nichts draus!“, unterbreche ich sie. „Croucher hasst uns ohnehin schon.“
    „Und wir hassen ihn, also macht uns das nichts aus“, lacht Haruhi. „Ich meine, wer so eine haarige Warze besitzt, der kann nur ein schlechter Mensch sein. Wer weiß, so groß wie das Ding ist, könnte das ja auch sein böser Zwilling sein!“
    „Noch böser als der ohnehin schon ist?“ Ich runzle die Stirn. Wenn man in eine Tüte mit Klassenarbeiten mit Absicht einen halb gegessenen Apfel hineinpackt, dann drei Wochen wartet und grinsend verkündet, dass man die nun vergammelten Hefte weiterbenutzen müsse, der kann nur abgrundtief böse sein!
    „Beschwör es besser nicht herauf“, murmelt Ames mit einem Blick auf ihr Handydisplay. „Irgendwann fängt die Warze an zu sprechen und dann haben wir den Salat.“


    Unser Musikraum liegt im obersten Stockwerk. Dort sind die Räume größer und die Akkustik damit auch besser. Dummerweise müssen wir dadurch auch jedes Mal fünf Stockwerke hochsteigen, was bei uns meist für Schweißausbrüche und halbe Ohnmachtsanfälle sorgt.
    „Leute“, keucht Jeremy, der noch weniger Kondition besitzt als der Rest von uns und dadurch immer fünf oder sechs Stufen zurückliegt. Er schleppt sich prustend und schnaufend die Treppe hoch und wenn er seine Hände nicht mit seinen Büchern belegt hätte, würde er jetzt wohl in den Vierfüßlerlauf wechseln. „Ich… Ich glaube, ich sehe ein Licht!“
    „Das ist die Deckenbeleuchtung“, stellt Haruhi mit einem Blick auf die kastenförmige Lampe fest. „Keine Sorge mein Freund, du wirst keine Chance haben, hineinzugehen.“
    Holly hält sich erstaunlich wacker. Zwar geht ihr Atem etwas schneller und ihre Schritte sind auch nicht mehr so schnell wie zu Beginn, aber zumindest hat sie sich bisher noch nicht einmal ansatzweise beschwert.
    Sowieso hält sie sich immerzu zurück. Ihre Antworten sind kurz. Informativ, nicht ausgeschmückt, als hätte sie Angst, dass die Leute das Interesse verlieren würden, wenn sie mehr sagt.
    „Nie.. wieder… Plateaus am Montag!“, stöhnt die Japanerin, als wir den letzten Treppenabsatz erreicht haben. Ich gehe neben Ames und Holly her und beuge mich zur Neuen herüber.
    Grinsend erkläre ich: „Das sagt sie jeden Montag. Hält sich aber nie dran.“
    Sie schaut zu Haruhi herüber und hebt die Augenbrauen, sagt aber im Endeffekt wieder nichts. Ich knuffe sie leicht in die Seite, was Holly zusammenzucken lässt, und seufze laut hörbar:
    „Ernsthaft, ich verstehe ja, dass du dich noch nicht eingewöhnt hast, aber ein paar Sätze sind doch nicht zu viel verlangt, oder?“
    Ich meine, seien wir mal ehrlich. Kein Verhalten rückt einen schneller ins Rampenlicht für die nächsten Mobbingopfer Auditions wie permanentes Stillschweigen. Ich kenne einen Haufen hysterischen Weiber, die ihre Krallen wetzen um ihre Beute mit einem schnellen Zerfetzen der Magengegend in einen formlosen, toten Klumpen Fleisch zu verwandeln.
    Und irgendetwas hat Holly an sich, dass ich das einfach nicht zulassen will. Sie schaut mich schon wieder mit ihren himmelblauen Augen an. Sie trägt diesen entschuldigenden Gesichtsausdruck, aber dieser ist ehrlich. Ich habe schon dutzende Mädchen gesehen, die mir mit vorgeschobener Lippe und leicht feuchten Augen erklärt haben, dass es ihnen auch ganz, ganz dolle Leid tut und ich ihnen bitte nicht wehtun soll.
    Wenn ich denjenigen finde, der die kleine… Meinungsverschiedenheit zwischen Ames und mir damals hier publik gemacht hat, dann werde ich ihm aber gehörige das Mundwerk stopfen. Ich habe mich nämlich gebessert! Irgendwann gewöhnt man sich schließlich an die nervigen Idioten, die einem den ohnehin schon ruinierten Tag nur noch weiter vermiesen. Naja, zumindest zum größten Teil.
    „Versteh mich nicht falsch“, fahre ich fort. „Du sollst mir kein Ohr abkauen-“ Ich glaube auch nicht, dass sie dazu fähig ist. „- aber ein wenig Kommunikation kann ich doch verlangen.“
    „Du willst, dass ich rede?“ Holly legt ihren Kopf schief und scheint ernsthaft nachzudenken. Sie hat den Mund ein wenig offen.
    „Ja, natürlich. Nur sprechenden Menschen kann geholfen werden“, antworte ich.
    „Oh.“
    Jeremy steigt die letzte Stufe empor und legt seinen Arm um meine Schulter. Schnaufend und keuchend stützt er sein Gewicht auf mich ab, sodass ich gefährlich wanke. Mit einem Stöhnen halte ich mich am Treppengeländer fest und schubse ihn mit meiner Hüfte von mir weg. Er schaut mich beleidigt an, folgt aber Olivia und Haruhi, die schon durch die Türe zum Musiksaal verschwinden.
    „Bisher hat man mir immer gesagt, dass ich nur reden soll, wenn man mich dazu auffordert.“
    Ames und ich tauschen einen eindeutigen Blick.
    „Die haben dir den Mund verboten?“ Meine Freundin setzt eine alberne Grimasse auf und tut so, als würde sie frösteln. „Sind wir denn hier im Mittelalter, oder was?“
    „Aber natürlich, Mylady!“, antworte ich und ergreife ihre Hand. „Darf ich sie um diesen Tanz bitten? Oh, und natürlich auch um ihre Hand, aber was das betrifft muss ich wohl erst euren Vater mit ein paar Schweinen bestechen, nehme ich an?“
    Und da höre ich Holly zum ersten Mal kichern. Sie hält sich dabei eine Hand vor den Mund und legt ihren Zeigefinger auf ihre zerkauten Lippen. Und als sie so fröhlich scheint, da wirkt die zierliche Britin doch gar nicht mehr so ausgezehrt und müde, wie ihre Augenringe es eigentlich vermuten lassen. Und mit einem Mal hört sie plötzlich auf zu Kichern, räuspert sich und näselt in einem so perfekt arroganten Tonfall, dass ich nicht anders kann als sie perplex anzustarren:
    „Nein, das ist nicht möglich, junger Herr, die werte Lady ist schon an mich versprochen, denn ich habe ihrem Vater im Gegenzug dafür sogar Kühe geben können!“


    Ames und ich schauen sie mit offenem Mund an. Hat Holly gerade etwa einen Witz gerissen? Oh, wow. Ich habe nicht gedacht, dass sie meine konstruktive Kritik gleich in solchem Maß umsetzen kann. Ich meine… Erst minimiert sie den Wortbedarf eines Satzes auf absolute Untergrenze, und plötzlich führt sie uns eine erstklassige Feiner-Pinkel-Parodie vor, mit passender pikierter Mine und sogar der abgespreizte kleine Finger ist inklusive.
    Als sie unseren Blick bemerkt, wandern ihre Mundwinkel langsam wieder Richtung Boden. Ihr schießt Blut in die blassen Wangen, was sie jetzt aussehen lässt wie der Feuerlöscher, der neben uns an der Wand hängt, und fragt leise und schüchtern wie eh und je: „War das.. zu viel?“
    Ames Mundwinkel dagegen zucken schnell wieder hoch.
    „Mensch, vielleicht bist du doch nicht so spießig, wie ich dachte!“, lacht sie und klopft der überrumpelten Holly auf die Schulter. Und siehe da, die Mine der Neuen hellt sich sofort wieder auf, fast wie eine Glühbirne, deren Schalter man betätigt.


    Nach Musik trennten sich unsere Wege. Holly belegt einen Zusatzkurs in Chemie, offenbar ist das ebenfalls eine Leidenschaft von ihr, obwohl sie rot anlief, als wir uns danach erkundigten. Wir anderen dagegen verstreuten uns in unsere Biokurse, und diesmal waren wir sogar mal pünktlich. Was nicht bedeutet, dass der Unterricht interessant war. Nein, nicht einmal mit Ames konnte ich mich unterhalten, weil die dummerweise in einen anderen Kurs eingeteilt wurde. Und Olivia, die in der umgebauten Rumpelkammer neben mir sitzt, ist auch nicht gerade gesprächig. Sie ist eine Top Schülerin mit Top Noten und kann ganz schön aggressiv werden, wenn man sie davon abhält, im Unterricht zuzuhören. Das musste ich auf schmerzhafte Art und Weise erfahren; Die Narben an meinem Handgelenk sind leider nämlich immer noch sichtbar.
    Daher verbrachte ich meine Zeit damit, den Zellen, die auf dem Arbeitsblatt aufgemalt waren, lustige Hütchen zu schenken und sie mit Regenschirm und Schmuck auszustatten. Jedes Mal, wenn ich zur Uhr sah, schienen nicht einmal drei Sekunden vergangen zu sein.
    Gott, selbst die längste Nacht ist nichts gegen die Qual von langweiligem Unterrichtsstoff.


    Als die Glocke endlich läutet, schrecke ich aus meinem Sekundenschlaf auf. Die Nacht zehrte wirklich an meinen Kräften und das monotone Ticken der Uhr, die mich langsam in die lockenden Arme der Träume trieb, machte es auch nicht unbedingt besser.
    Am Tag zu schlafen kann seine Vorteile haben, denn im Normalfall gibt es nur zwei Typen von Menschen, die mittags schlafen. Babys und Nachtschichtarbeiter.
    Babys haben meist schöne Träume von gigantischen Mobiles, Schaukelpferden und sprechenden Plüschtieren. Es passiert eigentlich nichts außergewöhnliches und man kann es sich auf dem Rücken eines Plüschtigers bequem machen und einfach seinen Gedanken nachhängen.
    Bei Nachtschichtarbeitern ist das nicht ganz so einfach. Zum Teil stammen die nämlich aus höchst fragwürdigen Milieus. Ich kann schwören, dass ich schon einmal in den Traum eines vom schlechten Gewissen geplagten Mafiosi gelandet bin und glaubt mir, ihr wollt nicht wissen, was diese Typen alles tun, um ihre Familienordnung aufrecht zu erhalten. Allein der Gedanke lässt mich frösteln.


    Mrs. Longhaven gibt uns noch schnell eine Reihe an Aufgaben, die wir bitte zur nächsten Stunde erledigt haben sollen, da rieche ich schon den süßen Duft der Freiheit.
    Und der von niegel-nagel-neuen Klamotten!
    Denn als ich mich daran erinnere, dass Ames und ich gleich in ihren Wagen steigen und wir ins Stadtzentrum fahren, wo der neue Outletstore auf uns wartet, da finde ich doch noch etwas Kraft in meinem Körper um mich im Eiltempo hochzuziehen, die Sachen in meiner Tasche zu verstauen und mit einer hastigen Verabschiedung in Olivias Richtung- sie hört mich eh nicht, da sie konzentriert auf das Tafelbild starrt- in den Gang zu verschwinden.
    Die Meisten haben jetzt gegen drei Uhr nachmittags endlich frei. Ich höre die Schließfächer knallen, lautes Gelächter und das Stampfen von Schuhen auf dem Boden. Alles ist so wie immer. Irgendwie tröstlich. Es ist so, als ob sich nie etwas in meinem Leben verändert. Der gleiche Tagesablauf, die gleichen Leute.. Holly ist die Erste seit einem ganzen Jahr, die mir etwas Abwechslung bringt.
    Ich winke ein paar Leuten aus meiner Klasse zu und schlüpfe dann durch die gläserne Eingangstüre, die jemand für mich offen hält. Mit meinen Büchern unter dem Arme trabe ich die Treppe herunter, biege hinter den Schulmauern nach links und folge dem Asphaltweg bis zum Parkplatz, wo Ames mich schon in ihrem VW Passat erwartet. Sie hat die Arme über den Lenker gelegt und starrte genervt vor sich hin, offenbar weil ich länger gebraucht habe als sie.
    Mit einem schiefen Grinsen öffne ich die Türen ihres knallroten Autos- ein Geschenk ihrer Eltern zum sechzehnten Geburtstag und seitdem auch in ständigem Gebrauch, denn wir verbringen ganz gerne ein paar Nachmittage in der Woche in der Stadt oder Wochenenden an der Küste, im Ferienhaus von Jeremys Eltern, und der schon die Bleibe stellt und sie als einzige der übrigen über einen Führerschein verfügt, wird sie gerne als Chauffeur benutzt- und lasse mich auf den Sitz fallen. Sofort schnellt Ames zurück, startet den Motor und lässt die Kupplung etwas zu schnell kommen, sodass der Motor etwas protestiert. Als wir um die Kurve biegen, muss ich mich am Sitz festkrallen, damit ich nicht gegen die Scheibe gepresst werde.
    Ich habe ganz vergessen, wie grässlich sie Auto fährt, wenn Ames in Eile ist. Und das hier sieht sie offensichtlich als Mission auf Leben und Tod an.


    In Springfield City ist um diese Uhrzeit wirklich die Hölle los. An dieser Ampel stehen wir jetzt schon seit drei Schaltungen, weil sich vor uns ein blutiger Anfänger befindet, der immer die Hälfte der Grünphase benötigt, um seinen Wagen zum Rollen zu bringen und dann mit knatterndem Motor stehen bleibt. Ames mault herum, dass der Spast endlich mal Fahren lernen und bis dahin seinen Arsch nicht mehr auf die Straße bewegen soll. Und weil sie sich gerne in so etwas hineinsteigert, beschließe ich, sie etwas abzulenken.
    „Was hältst du von Holly?“, frage ich beiläufig.
    „Sie ist ganz okay“, meint Ames und zuckt mit ihren Schultern. „Ich verstehe zwar ihre Erziehung nicht, denn hey, wer verbietet heutzutage seinen Kindern noch das Reden, aber- HEY, DU VERDAMMTER AFFE! FAHR ENDLICH!“ Sie brüllt ihre Windschutzscheibe an und unterstützt ihre wüsten Flüche mit ein paar Schlägen auf die Hupe, die lautstark zustimmt.
    „Sie sieht irgendwie komisch aus“, erwähne ich und schaue aus dem Fenster. Neben uns steht ein Cabrio mit einem Typen, der mit seiner Sonnenbrille aussieht wie ein Mafiosi. Sogar den passenden Anzug trägt er dazu. Ich schneide aus Spaß eine Grimasse und wende mich schnell ab, als er rüberschaut.
    „Findest du? Naja, ein bisschen blass vielleicht…“ Ames bearbeitet zähneknirschend ihr Lenkrad und schenkt dem Kerl vor uns einen Blick der jeden, der ihn sieht, wohl dazu bringt, sich sofort in den wohlig warmen Bauch seiner Mutter zurückzuwünschen. „Kann daran liegen, dass die in England immer so schlechtes Wetter haben.“
    „Meine Mum hat mal erzählt, dass das Schwachsinn ist. In Deutschland regnet es zum Beispiel weit mehr.“
    „Dann liegt‘s vielleicht an der Genetik?“
    Ich zucke mit den Schultern. „Das meine ich aber eigentlich auch gar nicht. Sind dir nicht ihre Augenringe aufgefallen?“
    „Doch, schon“, antwortet Ames. Wir rollen langsam vorwärts, denn offenbar hat der Fahrer vor uns sich endlich gefangen. „Vermutlich fällt mir das aber auch einfach nicht mehr so auf, weil deine Augenpartie auch nicht besser aussieht.“
    „Ja, ja“, grummele ich. Als ob ich das nicht weiß. Schön, dass mir das immer wieder auf mein hübsches Näschen gebunden wird. Oh, und vielen Dank an meine lieben Vorfahren, ich schwöre, wenn ich euch in der Hölle begegne, denn da gehört ihr hin, dafür, dass ich euch vermehrt und eure blöde Gabe weitergegeben habt, dann seid ihr aber so was von dran!
    „Du weißt doch, wie ich das meine“, grinst Ames und legt ihren Arm um meine Schultern. Der Meter, den unser Frontauto zurückgelegt hat, scheint scheinbar endgültig zu sein. Aus dem Motorraum verflüchtigt sich dichter, grauer Rauch. „Ich necke dich doch nur.“
    „Klar weiß ich das. Schön ist das trotzdem nicht.“
    „Was? Die Neckerei oder deine genetisch veranlagten Tränensäcke mit hübscher, violetter Färbung?“
    Einmal, als Ames zu Besuch war, und die DVDs, die wir uns für eine durchzechte Videonacht ausgeliehen hatte, nicht funktionierten, hat Grandma für uns das alte Familienalbum herausgesucht. Ein großes, in braunem Leder gebundenes Buch, in dem Stammbäume, von unseren Vorfahren geschriebene Texte und kleine Portraits- manche davon war wirklich ziemlich grässlich gemalt- lose drin lagen. Und, scharfsinnig wie sie ist, hatte sie damals auch sofort gemerkt, dass jede zweite oder dritte, seltener auch aufeinanderfolgende Frauen der Familie Wells- oder von Wellington, wie wir vor der Immigration nach Amerika hießen- wirklich ziemlich scheiße aussahen. Nicht unbedingt im Sinne von schiefen Zähnen und ungepflegtem Erscheinen, sondern weil es so aussah, als würde es jeder von ihnen extrem schwer fallen, bei Bewusstsein zu bleiben. Kann ich gut verstehen, immerhin mussten die damals ein paar Stunden still sitzen und nichts tun, was bei Erschöpfung nicht gerade das Förderlichste war, um wach zu bleiben.
    „Jetzt reichts!“, grummelt Ames, schaut in den Rückspiegel und setzt mit quietschenden Reifen zurück, um gleich darauf den Cabriofahrer auf der Nebenspur zu schneiden. Der bedankt sich mit einem lauten Hupkonzert und eindeutigen Gesten, die meine Freundin mit einem grimmigen Grinsen geflissentlich ignoriert.
    Oh Gott, Herr. Bitte mach, dass ich hier noch lebend herauskomme!


    Nach drei Stunden intensiv Shoppen, das ich euch zu liebe nicht beschreiben werden, weil ich dann jedes Teil genau erklären müsste, und ich kann mir nicht vorstellen, dass euch das so gefallen würde, stehe ich tatsächlich unter dem Gewicht von zwei vollbepackten Einkauftüten, aber ansonsten vollkommen heil, vor unserer Haustüre. Mühevoll hebe ich meinen Arm- was brauchen diese Poser in den Fitnessstudios eigentlich Hantel? Einkauftüten tun es doch genauso- und drücke unsere Klingel, die sofort mit dem vertrauten Glockenläuten meine Ankunft im Haus verkündet.
    Ich beuge mich auf der Veranda etwas zurück, bis ich das Küchenfenster sehe. Lulu wischt sich gerade die Hände an einem bunt getupften Handtuch ab und eilt in den Flur, unterstützt von einem halb gesungenen „Ich komme schon!“. Auf dem Schneidebrett kann ich geschnittene Champignons sehen.
    Wie lieb von ihr. Pilzpfanne ist das Leibgericht meiner Mutter und mir. Bei der ist es scheinbar später geworden, denn ihre silberne E-Klasse steht nicht in unserer Einfahrt. Mum ist unheimlich ehrgeizig, daher wundert es mich nicht sonderlich. Sie hat garantiert wieder eine Schicht in der Redaktion geschoben um über die neuen Themen für die kommende Woche zu diskutieren. Sie kann es nicht leiden, wenn sie außen vor gelassen wird.
    „Da bist du ja, Schätzchen!“ Lulu lehnt locker im Türrahmen und schaut auf meine Tüten herunter. „Mission erfolgreich?“
    „Abgeschlossen mit S-Rank!“, verkünde ich mit einem müden Grinsen. Mittlerweile ist meine Euphorie leider verschwunden. Alles was ich jetzt noch spüre sind meine schmerzenden Füße, meine rasenden Kopfschmerzen und meine Augenlider, die die Schotten dicht machen wollen.
    Lulu nimmt mir schmunzelnd eine Ladung ab und positioniert sie in einer Nische im Flur, wo keiner darüber stolpert. Nachdem ich die zweite Tüte auch dort verstaut habe, folge ich ihr zurück in die Küche, wo ich mich auf einen Stuhl fallen lasse und ausgiebig gähne.
    „Schade, dass Amy nicht noch kurz mit rein gekommen ist“, erwähnt sie, während Lulu die Pilze mit einem überdimensionalen Messer vom Brett kratzt.
    „Sie muss schon mal an ihrem Bio-Projekt arbeiten“, erkläre ich und lege mein Kinn auf die Tischplatte. Meine schwarzen Locken fallen mir ins Gesicht und ich puste sie schwach weg, was nicht wirklich funktioniert, also muss ich meine Hände benutzen. Stöhnend lege ich sie auf dem Tisch ab.
    „Und was ist mit dir?“
    „Die Lehrer waren heute gnädig“, antworte ich. „Nur in Bio haben wir noch etwas auf, in Englisch sind wir mit Shakespeare noch nicht so weit, dass wir irgendetwas alleine machen können. Musik kriegen wir sowieso nie etwas auf.“
    „Und Mathe?“
    „Oh bitte, Grandma“, grummele ich. „Ich werde es so machen wie immer: Morgen in aller Hektik ein paar Zahlen auf ein Blatt schreiben.“
    Sie wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu und ich schaue schnell weg. Es ist ja nicht so, als ob ich es nie versucht hätte. Nur schwirrt mein Kopf heute einfach viel zu sehr, als dass ich an den Zahlen, die im Buch stehen, irgendeinen Sinn finden könnte.
    „Wir haben übrigens eine neuen Mitschülerin!“, verkünde ich hastig, als die Stille unangenehm wird. Ich weiß genau, dass Lulu dann nämlich zu einer ausführlichen Standpauke ansetzt, die sich ausführlich damit beschäftigt, dass wir die Dinge in der Schule nicht für unsere Lehrer lernen, sondern für uns. Was ich, nebenbei erwähnt, für totalen Schwachsinn halte. Warum sollte es mich interessieren mit welcher Geschwindigkeit Wasser in einen Pool fließt? Ich packe einfach den verdammten Schlauch rein und lasse ihn laufen, bis der Pool voll ist, so einfach ist die Sache. Leider lässt kein Mathelehrer der Welt diese Antwort gelten.
    Mein kleiner Ausruf lenkt Grandmas Aufmerksamkeit zum Glück in eine angenehmere Richtung.
    „Ach? Wie kommt das, mitten im Jahr?“
    „Wissen wir auch nicht so genau. Sie kommt aus England, in der Nähe von London. Und stell dir vor, bisher wurde sie privat unterrichtet.“
    „Privatunterricht? Wer macht so was denn heutzutage noch? Das hat man damals zu meinen Zeiten ja schon sehr selten vorgefunden.“ Lulu hebt eine Augenbraue. Ganz offensichtlich denkt sie gerade über die psychischen Auswirkungen von Privatunterricht nach. So war Lulu eben. Seit sie eine Doku-Reihe über die zerbrechliche Psyche von Menschen gesehen hat, analysiert sie jeden nach versteckten Kindheitstraumata. Erinnert mich ein wenig an meine heißgeliebte Sekretärin, aber zumindest wird meine Grandma dabei nicht persönlich.
    „Irgendeinen Grund muss es dafür ja geben.“ Ich zucke nur mit den Schultern.
    Mein Blick fällt auf Lulus Handy. Eigentlich weiß ich ja gar nichts über Holly, mal von ein paar Details abgesehen. Warum wird ihr Vater mitten im Jahr von England nach Amerika versetzt? Und warum bekommt sie Privatunterricht?
    „Darf ich mal kurz dein Handy benutzen?“
    „Klar.“
    Als ich den Knopf an der Seite drücke, leuchtet das Display hell auf. Lulu besitzt ein recht neues Modell, mit dem sie über unseren Router auch im Internet surfen kann. Ich schalte die Verbindung an und warte darauf, dass das kleine Zeichen oben am Rand aufleuchtet. Meine Fingernägel klopfen etwas nervös auf die Glasscheibe.
    Das ist echt nicht richtig von mir. Ich sollte Holly lieber persönlich fragen.
    Aber ich bin so schrecklich neugierig! Und vor morgen sehe ich sie auch nicht. Ich muss es jetzt wissen. Jetzt sofort.
    Als das Zeichen aufblinkt, drücke ich auf das Internet-Icon. Mein Finger prasseln auf den Touchscreen bis in der Suchleiste schließlich die Worte Holly Ashdown auftauchen. Ich beiße mir auf die Lippe, als ich den Suchvorgang starte.
    Keine zwei Sekunden später erscheinen die ersten Ergebnisse. Und ich starre ungläubig darauf.


    Ashdown Industries steht da in großen Lettern. Direkt unter der Firmenseite finde ich einen Wikipedia Eintrag. Die Seite baut sich vor mir auf.


    „Hör mal, Lulu“, spreche ich sie wie gebannt an. „Ashdown Industries sind in Europa eine der führenden Pharmaunternehmen. Ihr Stützpunkt liegt in London und sie haben einen Jahresumsatz von 45, 3 Milliarden Dollar!“
    „Ja, und?“
    Ich antworte nicht und drücke stattdessen auf den Namen unter „Leitung“, Alexander Ashdown. Das kann einfach kein Zufall sein.
    Sein Eintrag ist verhältnisweise kurz. Ich finde sein Geburtsdatum, einige Angaben zu seinem Werdegang und schließlich die Information, dass er die Firma von seinem Vater geerbt hat. Der wiederum ebenfalls von seinem Vater. Ein Familienunternehmen eben.
    Aber erst, als ich weiter nach unten scrolle, hinein in seine Biographie, da finde ich das, was ich eigentlich finden wollte.
    „Ashdown heiratete 1987 und hat eine 16-jährige Tochter, Holly Ashdown, die vermutlich das Unternehmen übernehmen wird.“
    Schweigend starre ich auf das Display. Sie ist also tatsächlich der Spross einer ungemein reichen Familie. Das erklärt ihren Privatunterricht, ihre Zurückhaltung und ihr gutes Benehmen. Und trotzdem… komme ich da gerade nicht drüber.
    „Ihr habt jetzt also eine Tochter aus sehr feinem Haus an eurer Schule?“, grinst Lulu.
    „Scheint so“, antworte ich tonlos und drücke auf die „zurück“-Taste. Die Firma erscheint ziemlich vielversprechend. Irgendwo finde ich eine Passage, in der eine Expansion nach Amerika angedeutet wird.
    „Macht das jetzt irgendetwas anders?“
    „Abgesehen davon, dass sie uns angelogen hat?“
    „Was genau hat sie denn gesagt?“
    Ich lege mein Kinn in meine Hand. Wie genau hat sie es ausgedrückt?
    „Hm. Ich glaube, etwa so in der Art.“ Ich räuspere mich und versuche, Holly Stimme zu imitieren. Dazu muss ich eigentlich nur leiser und höher sprechen. Ich finde, ich klinge eher heiser. „Meine Eltern und ich sind hierher gezogen, weil mein Vater hier ein besseres Jobangebot bekommen hat.“
    „Dann ist es ja nicht wirklich gelogen“, behauptet Lulu und wendet sich wieder der Pilzpfanne vor, die munter vor sich hin brutzelt.
    Irgendwie hat sie schon Recht. Wirklich gelogen war es nicht. Sie hat nur eben nicht erwähnt, dass das Angebot an ihren Vater auch von ihrem Vater stammt. Oh, und natürlich hat sie vergessen zu erwähnen, dass sie stinkreich ist.
    „Leg das Handy weg, ja? Deine Mum ist gerade in die Einfahrt gebogen.“


    Als ich mich in mein Zimmer schleppe breche ich auf meinem Bett zusammen. Mein Körper ist einfach unglaublich kraftlos und ich fühle mich, als würde ich aus massivem Granit bestehen. Hab ich zugenommen? Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Immerhin verbrauche ich doppelt so viele Kalorien wie jeder andere Mensch. Tags und Nachtsüber.
    Mühsam drehe ich mich auf den Rücken und starre an die Decke. Kleine, grünlich leuchtende Sterne hängen da oben. Pa hat sie da damals für mich angebracht, weil ich schreckliche Angst vor der Dunkelheit hatte.
    Ob ich Holly morgen darauf ansprechen soll? Eigentlich schuldet sie uns eine Erklärung. Andererseits hat sie sicherlich ihre Gründe dafür, und dann müsste ich zugeben, dass ich sie gegoogled habe. Und das werde ich nicht tun. Immerhin ist es auch nicht gerade die feine Art erst einmal alle Fremden durch einen Sicherheitscheck zu schicken, bevor man sich näher mit ihnen befasst. Was bin ich, eine Polizistin, die in einem Mordfall ermittelt?
    Ich werde einfach morgen schauen, was sich so ergibt. Heute bin ich dazu viel zu müde. Meine Augenlider fallen mir immer wieder zu und meine Sicht verschwimmt. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass ich gleich in einen Traum hineingesogen werde. Es ist für mich mittlerweile ganz normal, dass die Temperatur zu sinken scheint. Ich habe das Gefühl, dass mein Körper schwerelos wird.
    Und das letzte, an das ich denke, bevor ich mich auf meine Wanderung begebe ist:
    Bitte lass es heute einen ruhigen Traum werden.
    Als ich die Augen wieder öffne höre ich das sanfte Rauschen von Wellen. Orangenes Licht ergießt sich über mich. Der Himmel verläuft von tiefem, dunklem Blau, das mit zahlreichen Sternen gespickt ist, in Gelb, dann Orange und schließlich Feuerrot. Mühsam richte ich mich auf.
    Ich liege am Meer. Keines, das mir bekannt ist. Palmen säumen den Sandstrand, in den ich meine nackten Füße vergrabe. Die Sonne heizt ihn angenehm auf und Meeresluft prickelt mir auf der Haut, genauso wie der Geruch von Salz in der Nase.
    Ich fahre mit meinen Händen durch den Pudersand, der zwischen meinen Finger zerrinnt und auf dem Boden kleine Haufen bildet. Er fühlt sich unglaublich weich an, beinahe wie Watte. Das ist so in Träumen. Die Physik spielt etwas verrückt, genauso wie die Sinne. Hartes kann sich anfühlen wie feuchte Erde, Wolken sind plötzlich hart wie Stein. Es ist jedes Mal eine Herausforderung, sich daran zu gewöhnen. Und eigentlich schaffe ich das auch nie. Denn selten erlebt man Träume zwei Mal. Es lohnt sich nicht, die Gefühle zu speichern.


    Ein Pfau stolziert an mir vorbei. Ich frage mich schon gar nicht mehr, was er hier zu suchen hat. Offenbar mag der Träumende Pfaue. Und es soll mir nur Recht sein. Jemand der so einen schönen, harmonischen Traum hat, der kann nicht schlecht sein.
    Ich könnte die ganze Nacht hier bleiben. Ich könnte warten, die Sonne, die niemals am Horizont verschwinden würde, betrachten und mich von ihr wärmen lassen. Aber ich weiß, wie lange ein Nacht sein kann. Und ich weiß, dass warten es nicht besser macht.
    Also stehe ich auf. Mein Körper fühlt sich leicht, beinahe schwerelos an, als ich über den Sand gleite. Der Strand ist unendlich, hat kleine Buchten und ist gesäumt von Palmen und saftigem Gras. Was sich hinter dem Gras befindet kann ich nicht sehen. Da hört die Welt scheinbar einfach auf. Ein Vorhang aus Nachthimmel, Mond und Sternen bedeckt das Ende dieses Traumes.


    Ich liebe diesen Traum jetzt schon. Schon lange habe ich keine angenehme Ruhe mehr gespürt. Es ist alles so wunderbar friedlich. Als wäre dieser Strand ganz alleine für mich erschaffen worden. Das ist natürlich nicht so, aber es macht mir nichts aus.
    Dieser Ort gehört ganz alleine dem Träumenden. Er kann damit anstellen was er will. Aber ich bin dankbar, dass er ihn sich so harmonisch wünscht.


    Je weiter ich laufe, desto breiter wird mein Lächeln. Im Sand erscheinen hier und da endlos tiefe Pfützen, gefüllt mit türkisblauem Wasser, das sich von dem weißen Untergrund abhebt. Als ich hineingreife spüre ich eine sanfte Kühle. Kleine Fische schwimmen um meine Finger herum und berühren sie mit ihren Schwanzflossen. Sie fühlen sich an wie warmes Fell.
    Ich weiß nicht, ob es diese Art von Fischen wirklich gibt. Sie wirken unreal bunt aber unglaublich schön mit ihre changierenden Farben und den glitzernden Schuppen.
    Ja, hier würde ich gerne bleiben. In einem kleinen, unwirklichen Paradies. Aber ich weiß, dass das nicht geht. Also stehe ich wieder auf und gehe weiter. So lange ich Zeit dazu habe, möchte ich so viel wie möglich von diesem Traum erleben.


    Ich schlendere vorbei an hohen Trauerweiden, die sich neben Kokospalmen einreihen. Ihre Äste zieren kleine, weiße Apfelblüten. Schmetterlinge sitzen darauf und tanzen im Wind davon, sobald ich mich ihnen nähere. Einige kommen zurück und setzen sich auf meine Hand, als ich sie ihnen hinhalte. Doch als ich weitergehen will fliegen sie schnell zurück. Offenbar sind sie vom Träumenden an der Trauerweide gebunden. Als ich durch den Vorhang der Blüten heraustrete sehe ich eine kleine Klippe. Und dort oben kann ich eine Silhouette erkennen. Ob das wohl der Träumende ist?
    Es fällt mir nicht schwer, den Berg zu erklimmen. Der Wind scheint mich hochzutragen, das Gras streichelt meine nackten Beine und Füße. Möwen kreisen über meinem Kopf und lassen ihre schneeweißen Federn auf mich herabregnen, auch wenn ihre Flügel scheinbar keine davon verlieren.
    Die Person sitzt auf einer groben Holzbank und schaut aufs Meer hinaus. Die Wellen kräuseln sich sanft und diesmal vermischt sich mit dem Salz in der Luft auch eine gewisse Süße.
    Leise komme ich näher, aber sie scheint mich trotzdem zu bemerken. Denn als sie sich umschaut lächelt sie.
    „Hallo Lana“, begrüßt Holly mich. Ihr braunes Haar weht im Wind und das Licht lässt es erscheinen wie flüssiges Gold. Sie sieht atemberaubend aus. Und nicht auch nur ansatzsweise müde. Ihre Augenringe sind komplett verschwunden.
    „Holly?“ Die Frage ist eigentlich überflüssig. Dieser Traum passt zu ihr, je länger ich darüber nachdenke. Er ist ruhig und unaufgeregt. Der Art von Traum, den nur ein behütetes Mädchen haben kann. Sie klopfte mit ihrer Hand auf den freien Platz neben sich.


    „Das Meer ist wunderschön, oder?“, frage ich.
    „Ja“, antwortet sie, ohne den Blick vom Horizont zu nehmen. „In England gibt es solche Strände nicht.“
    „Regnet es bei euch wirklich so häufig?“
    „Nein, eigentlich nicht.“
    „Verstehe.“
    Wir schweigen uns wieder an, aber es ist kein unangenehmes Schweigen. Mehr eines, das sein muss. Weil wir diesen schönen Moment teilen, in dem keine Worte nötig sind. Nur das Rauschen der Wellen und die Melodie der Möwen über uns. Ich lehne mich zurück und lege den Kopf in den Nacken. Die Sterne scheinen alle paar Sekunden ihre Position zu wechseln. Mal entdecke ich den großen Wagen, dann den Schwan… Und dann tanzen sie wieder am Nachthimmel und suchen sich eine neue Stelle, von der sie auf uns scheinen können.
    „Magst du die Nacht?“, fragte Holly mich, als sie meinen Blick bemerkt.
    „Nein, eigentlich nicht“, antworte ich. Von der Nacht bekam ich ja leider nicht oft etwas mit. Meine wenigen Kraftreserven werden am Tag vollkommen aufgebraucht, da falle ich abends meist halb tot ins Bett und schlafe sofort ein. Nur um dann von einem zum nächsten merkwürdigen Traum getrieben zu werden. Solche schönen Orte sind selten.
    Ich atme die süße Luft ein. Es riecht nach Lavendel.
    „Das verstehe ich nicht“, murmelt Holly etwas abwesend. „Wie kann jemand, der die Nacht nicht mag…“
    Ich schaue sie aus dem Augenwinkel an. Sie schüttelt den Kopf und setzt dann wieder ein freundliches Lächeln auf.
    „Ich habe schon lange keinen so schönen Strand mehr gesehen“, meint sie. „Du hast dir hier einen wirklich schönen Traum erschaffen.“
    Ich brauche eine Weile um den Sinn hinter diesen Worten zu verstehen. Mein Traum? Nein, Moment, ich kann nicht träumen. Das hier ist doch Hollys Traum? Oder nicht?


    Und gerade als ich versuche, das zu verstehen, was sie mir da offenbart hat, sehe ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Im Gras hinter dem Hügel gehen zwei Gestalten Hand in Hand einen Weg entlang, den es vorher noch nicht gab. Der ältere Herr strahlt seine Partnerin an.
    Und seine Partnerin, ein Phantom aus Licht und undeutlichen Konturen, strahlt zurück.


    Kein Zweifel. Dieser Mann ist derjenige, der träumt.
    Nicht Holly.


  • Hallo Cáithy!


    Erst einmal wieder ein großes Lob an dieses Kapitel. Ich bewundere sowohl deinen Schreibstil als auch die länge deiner Kapitel, die du anscheinend immer wieder mit Freude schreibst^^
    Unter den Fehlern habe ich geschrieben, wie es richtig ist^^


    Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel^^


    Mfg
    Ventus~

  • Hey, der 600.te Beitrag, für dich und deine wunderbare Geschichte. ♥
    Ich hoffe wieder, die Kritik gefällt dir^^


    LLUCID-Star-Cross'd

    Also, dir wurde sicherlich schon oft genug gesagt, das du zu den ganz großen im Schreiberbereich gehörst, genauso wie deine Geschichten. Ebenfalls hat mir dieses Kapitel wieder sehr gut gefallen.
    Und Fehler brauche ich auch nicht zu korriegieren, hat ja Ventus schon gemacht. :3
    Hmm... ich finde, irgendwie hat sich dein Schreibstil in diesem Kapitel etwas geändert... Wenn auch nur ein ganz kleines bisschen.... (frag nicht wie ich dadrauf gekommen bin, ich finde einfach, es ist so xD)
    Dennoch gefällt er mir sehr gut ^-^
    Zu der Story insgesamt:
    Sie war wieder sehr flüssig, trotz der Fehler die du gemacht hast.
    Du müsstest halt nur noch versuchen, dich in den Zeitfehlern zu verbessern, denn die kamen wieder (für dein Verhältnis, sag ich jetzt mal o: ) etwas häufiger vor^^'
    Und durch die Zeitfehler entstehen dann halt auch die Grammatikfehler... naja, das wird sich dann nach einer Weile bestimmt legen x) (ich meine, ich würde es auch nicht besser machen... xD)


    Lana wird wie der Großteil meiner Charaktere wohl sarkastisch werden. :D


    Jap, finde ich gut. :D
    Hat man vorallem in diesem Kapi hier auch wieder gemerkt.


    Hmm... Ich hab noch gar nix zu der allgemeinen Länge deiner Kapitel gesagt: Ich finde sie auf jeden Fall nicht zu kurz, und auch nicht zu lang. Sollten sie jedoch länger werden, fände ich das nicht so gut. Man will ja schließlich auch irgendwann fertig werden, mit lesen, haha.
    Also lass die Länge der Kapis so, wie sie sind. :3


    Ich kann nur irgendwie den Titel des Kapitels nicht richtig deuten... ich glaube du müsstest mir da erklären, was das ganze mit Sternen zu tun hat x) (bin nicht so gut in Englisch, also verzeihe mir^^'')


    Aber alles in allem war das Kapitel, wie schon gesagt, trotz der etlichen Fehler wieder super. Ich sag nur eins: Weiter so! :D Wenn du so fleißig weiter schreibst, wirst du bestimmt bald noch mehr Leserpublikum haben ^-^ Ich freue mich auf jeden Fall riesig auf ein neues Kapitel!
    Bis zum nächsten Review,


    ~Lucy


    PS: 23:56 Uhr---> Das neue 0:00 Uhr! XD (ja, ich wollte es eigentlich um 0:00 Uhr posten, habs aber zu früh abgeschickt xD)

    It's how you hide your cards It's how you dress your scars And let them breathe free
    Life, fantastic... Life, so tragic... Life, fantastic...


  • [tabmenu]
    [tab=.]
    Bonjour~
    Heute folgt mal wieder ein neues Kapitel, weil es für mich ab morgen wieder etwas stressiger wird und ich daher nicht versprechen kann, dass es zügig weitergeht. Daher fürs erste wieder etwas Lesestoff.
    [tab=Ventus]
    Hallu Ventus,
    vielen Dank auch dieses Mal wieder dafür, dass du dir die Mühe gemacht hast, die Fehler herauszusuchen. Ich habe sie bereits korrigiert und freue mich darauf, dass ich das auch hoffentlich dieses Mal wieder kann.
    Caith
    [tab=Lucy]


    [/tabmenu]



    II. L U C I D
    The Tempest



    „Du… Du!“, stoße ich aus. Nein. Nein, nein, nein! Das kann doch nicht sein!
    Aber es gibt aber keine andere Möglichkeit, wie sie sonst hier hinein geraten sein könnte.
    Holly merkt scheinbar, dass ich schockiert bin. Ihr Lächeln erstarrt und sie spielt sich unsicher an dem leichten Shirt herum, das sie trägt.
    „Du bist…“ Meine Stimme versagt. Was ist, wenn ich mich doch irre? Wenn ich ihr in ihrem Traum von meiner kleinen Fähigkeit erzähle und sie am nächsten Morgen aufwacht und sich erinnert?
    Egal. Ich kann einfach sagen, dass es nur ein Traum gewesen ist.
    Und ich muss es wissen.
    „Du bist eine Traumfängerin!“, schreie ich sie schon fast an. Holly zuckt zusammen und ihre Augen werden von Sekunde zu Sekunde größer, ich fürchte schon fast, dass sie ihr herausfallen, da blinzelt sie wild und versucht verzweifelt ihre Fassung wiederzufinden.
    „Unsinn!“, lacht sie nervös und sucht die Umgebung nach etwas ab, das sie anschauen kann. Hauptsache es sind nicht meine Augen.
    „Und warum bist du dann hier?“
    „Das hier ist dein Traum Lana, du solltest das ja wohl am Besten wissen!“, lächelt sie unentwegt. Aber ich weiß, dass ich Recht habe. Das Pärchen läuft hinter ihr gerade den Hang hoch.
    Und je näher sie kommen, desto deutlicher wird der Unterschied.


    Träumende scheinen immer mit der Umgebung zu verschmelzen. Ihre Konturen sind leicht unscharf, als hätte mein ein Taschentuch genommen und an ihnen herum gewischt, bis sie weich sind.
    Holly dagegen ist gestochen scharf. Sie hebt sich geradezu vom Hintergrund ab. Und in ihren Augen spiegelt sich auch nicht die Sonne. Nein, sie sind immer noch komplett himmelblau, als würde es gar kein gefärbtes Licht geben. Was merkwürdig ist, denn ihre Haare scheinen weiterhin wie flüssiges Gold.
    Ist das ein Erkennungsmerkmal? So oder so, es unterscheidet sie von allen Träumenden die ich bisher so gesehen habe.
    Und es macht Sinn. Es erklärt ihre Augenringe, ihr ständiges Gähnen im Unterricht.
    Und die Tatsache, dass man ihr den Mund verbat.
    Wer würde denn auch gerne wollen, dass sein Kind seinem Geschäftspartner erzählt, dass es nachts in andere Träume schlüpft. Hätte Grandma mir damals nicht eingeredet genau das sein zu lassen, hätte ich es auch getan. Kindermund tut eben Wahrheit kund. Und das auch, wenn einem keiner glaubt. Dann erst Recht.


    „Schon klar. Nur haben wir ein Problem“, antworte ich und deute auf den Mann, der mit seiner Frau Hand in Hand an der Klippe stehen bleibt. „Das hier ist nicht mein Traum, sondern seiner!“
    Holly dreht sich von mir weg und bleibt wie erstarrt sitzen. Ihr Mund formt lautlose Worte, als sie endlich realisiert, was hier eigentlich vor sich geht. Ich verschränke die Arme vor der Brust und warte, bis das laute Rattern in ihrem Kopf endlich nachlässt.
    Langsam dreht sie ihr Gesicht wieder zu mir, den Finger leicht erhoben und auf das Pärchen gerichtet, das leise Zärtlichkeiten austauscht.
    „A-Aber… Du… Der… Du…“, stottert sie und stößt, als sie merkt, dass sie keine ordentlichen Worte herausbekommt, mit feuchten Augen ein simples „Hä?“ aus.


    „Traumfänger?“
    „Ja“, nicke ich. „So nannten sich die Frauen in unserer Familie. Also die, die diese Fähigkeit besaßen. Die anderen haben uns immer Spinner getauft.“
    Holly sinkt in der Holzbank zusammen. Sie starrt ausdruckslos auf die Sonne, die wie ein Fixstern immer noch am gleichen Punkt vor uns schwebt. Das Paar ist längst verschwunden, wahrscheinlich durchlebt der alte Herr noch einmal die schönsten Momente mit seiner Liebsten.
    Mit meinen siebzehn Jahren habe ich einiges an Erfahrung in Traumdeutung. Ich meine, ich bin mitten drin, da braucht man sich nicht wundern, wenn man irgendwann einmal wissen will, was zum Teufel sich diese Leute dabei denken, den Mist zu träumen, den ich jeden Tag erleben darf.
    Und eine Silhouette aus strahlend hellem Licht verspricht zumeist, dass es sich bei einer Person um jemanden handelt, der nicht mehr unter uns weilt. Was auch erklärt, warum diese Welt so friedlich ist; Der alte Herr wünscht sich, in den Himmel zu seiner Liebsten zu kommen.
    Eventuell ist er auch nicht mehr sonderlich weit von dem Sprung von der Schippe entfernt.


    „Ich habe gedacht, ich wäre die Einzige…“, murmelt Holly deutlich fertig mit den Nerven.
    „Kann nicht sein.“ Ich zucke mit den Schultern. „Bei uns überspringt diese Fähigkeit zwar ab und an mal eine Generation, aber wir haben sie immer vererbt bekommen.“
    „Das meine ich ja auch nicht“, antwortet sie. „Ich weiß, dass ich Vorfahren habe, die ebenfalls traumwandern-“
    „Traumwandern?“
    „So nennen wir das.“ Ich nicke und bedeute ihr mit einem Zeichen, weiterzumachen.
    „Ich habe nur nicht gedacht, dass es noch jemanden gibt der… Naja, am Leben ist.“
    „Dann sind wir ja schon zwei“, meine ich und bringe ein schwaches Grinsen zustande. Holly versucht es zu erwidern, scheitert aber. Irgendwie ist das zu viel für sie. Armes, zerbrechliches Wesen. Und das denke ich ohne sarkastischen Unterton. Holly ist der Art Mensch bei dem man instinktiv jedem die Fresse polieren will, der sie auch nur schief ansieht.
    „Meine Grandma ist auch eine Traumfängerin. Oder Wanderin, was dir besser gefällt.“
    Ich lehne mich gegen die Bretter der Bank und strecke die Arme von mir, bis sie knacken. Eine Möwe landet keinen Meter von meinem nackten Fuß und schaut mich aus großen Augen an, als wolle sie mich fragen, was ich hier zu suchen habe. Als ich mich vorbeuge und ihr eine Hand hinhalte hüpft sie eilig davon.
    „Sie hat mir alles darüber erzählt, was ich weiß. Aber sie wusste nicht, dass es noch andere wie uns gibt.“
    Holly reibt sie mit dem Handrücken über die Augen.
    „Ich habe mich ja schon gewundert, warum die Tür offen war… Aber ich hätte nie gedacht, dass ich jemanden von draußen treffen würde.“
    Ich runzele die Stirn und schaue sie an.
    „Welche Türe?“
    „Na die im Korridor!“
    „Welcher Korridor?“
    Holly schaut man an, als denkt sie ich würde sie verarschen. Sie blickt kurz in den Himmel, murmelt ein paar Worte die ich nicht verstehe, weil sie einfach zu leise spricht, und holt dann Luft.
    Aber sie kommt nicht dazu, etwas zu sagen.


    Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung war.
    Aber dieses Mal ist es nicht das Pärchen. Als ich mich umdrehe und dorthin schaue, wo vor kurzem noch Palmen und Eichen nebeneinander im Sand standen, da gab es nichts mehr.
    Fünf Meter vor der Bank, auf der wir sitzen, herrscht endlose Dunkelheit.
    Nicht der Sternenhimmel, der die Welt bisher eingegrenzt hatte.
    Ich keuche entsetzt auf. Das ist die Dunkelheit, die einen gefangen nimmt. Mein Herz pocht rasend schnell und in meinem Kopf schreit alles lauthals nach Flucht.


    „Wir müssen hier weg, Holly!“, stoße ich erstickt aus. Ich starre weiterhin in diese endlose Schwärze, die näher kriecht und jede Farbe, jeden Partikel dieser wunderschönen Welt verschluckt. Leise und schleichend kommt sie näher.
    Ich spüre die beklemmende Kälte.
    Holly folgt meinem Blick und berührt unsicher meine Schulter.
    „Was ist das?“, haucht sie mit bangem Blick in die Schwärze.
    „Das weiß ich nicht“, gebe ich zitternd zu. „Nichts Gutes.“ Mehr bringe ich nicht hervor, denn ein großer Klotz blockiert den Weg der Wörter an die Freiheit. Ich kralle meine Hand ins Holz der Bank und schaue mich hektisch um.
    Sie war näher dran, als ich gedacht hätte. Wann war die Schwärze soweit vorgedrungen? Ohne, dass ich es gemerkt habe…
    Ich will nicht wieder in die Schwärze. Ich will nicht in ihr treiben und darauf warten, dass ich endlich wieder aufwache.
    Wenn ich überhaupt aufwache!
    „Ich glaube, er stirbt“, hauche ich.
    „Wer?“, fragt Holly mich mit deutlich hysterischem Unterton. Sie merkt, dass ich Angst habe. Das macht sie nervös. Ich muss mich zusammenreißen.
    „Der alte Mann. Das hier muss der letzte Traum sein, den er jemals haben wird.“
    Deswegen hat er auch von diesem schönen Ort geträumt. Ich habe mal gehört, dass das oft der Fall ist, wenn Menschen entschlafen. Sie wissen es meist schon. Viele haben längst ihr Leben aufgegeben, wenn sie von den schönen Momenten träumen. Es ist wie eine Henkersmalzeit. Nur werden sie dem Henker nicht begegnen, denn die Schönheit des Traumes lenkt sie ab.


    So würde ich auch gerne sterben. Lieber so als an Herzversagen oder einem Messer zwischen den Rippen.


    Verdammt, was zum Teufel ist denn jetzt los?! Ich bin viel zu jung zum Sterben!
    Wir müssen einen Ausweg finden oder wir sind geliefert.
    Oder?
    Was ist, wenn wir uns von der Dunkelheit verschlucken lassen? Wird es dann so sein wie sonst? Werde ich irgendwann wieder aufwachen?
    Vielleicht nicht. Ich war noch nie im Traum eines Sterbenden. Ich bin noch nie von der Dunkelheit verschluckt worden, wenn der Träumende niemals wieder aufwacht.
    Ich werde für immer gefangen sein.
    Kein Entkommen.
    Ich habe Angst. So entsetzliche Angst! Ich will hier weg! Bitte, irgendwie!


    Holly greift meine zitternde Hand und rüttelt mit der anderen an meiner Schulter.
    Ich merke, dass meine Sicht verschwimmt, dass meine Lungen brennen weil ich hyperventiliere. Keuchend und prustend presse ich mir einen Arm um die Brust, als ich mich verschlucke und mir kurz schwarz von Augen wird. Mein ganzer Körper zittert unkontrolliert und meine Glieder geben nach.


    „Lana!“, schreit Holly mich an. Ihr Gesicht ist direkt über meinem. Ich sehe den Himmel, die Sterne, die rot gefärbten Wolken. Wann bin ich gefallen? Seit wann liege ich im Gras?
    Meine Glieder sind so taub.
    Mir ist kalt.
    So kalt…
    „Steh auf!“, schreit sie und schüttelte mich durch. „Es kommt näher!“
    Holly zieht mir panisch am Arm und schaut immer wieder nach links. Da muss die Dunkelheit sein.
    Nein, ich will nicht!
    Ich. Will. Nicht.


    Mit zitternden Gliedern kämpfe ich mich stöhnend hoch. Mein Kopf pocht und ich schwanke gefährlich, aber Holly fängt mich keuchend auf. Sie legt einen Arm um meine Hüfte und versucht mich vorwärts zu ziehen, von der Schwärze weg, die sich wie ein Vorhang über alles zu legen scheint.
    „Lana, komm schon!“, schreit Holly. Sie hat Tränen in den Augen und ihre Wangen wirken eingefallen. Sie kann nicht mehr.
    Meine Knie zittern noch, doch ich belaste sie und kämpfe mich vorwärts.
    Aber vorwärts bedeutet, dass wir uns der Klippe nähern. Und da ist kein Weg, der uns vor der Dunkelheit schützt.
    Holly merkt das erst, als wir am Rand stehen und auf das tosende Meer herunterschauen.
    Wann hat es angefangen zu Stürmen?
    Der Himmel brennt, die Sterne sind verschwunden und machen dunklen, aschgrauen Wolken Platz, die sich wie gigantische Türme aufeinander stapeln. Das Gras peitscht mir an den Beinen und ich spüre spitze Stachel, die sich in meine Fußsohlen graben.
    Den Mund zusammengepresst schaue ich hinunter in die schwarzen Wellen. Steine ragen mit ihren scharfen Kanten hoch hinauf, als wollen sie sich zu uns hochstrecken.
    Wir können nichts tun.
    Hinter uns kriecht die Schwärze näher.
    Holly fängt an zu schluchzen.


    „Wir müssen springen.“
    Sie schaut mich perplex an.
    „Bitte was?!“, kreischt sie hysterisch, aber ihre Stimme wird von den heftigen Windböen einfach in die Dunkelheit davon getragen. Die Kälte kommt näher und auf meiner Haut richten sich die Haare auf. Ein Prickeln schießt durch meinen Körper.
    „Wenn wir hier bleiben wachen wir vielleicht nie wieder auf“, stelle ich fest. Ich kann nicht in die Schwärze schauen. Mir bleibt nur die Aussicht dort unten.
    Der sichere Tod.
    Nur dass wir in einem Traum nicht sterben können.
    Aber wir fühlen den Schmerz.
    Wird es sehr wehtun? Ob meine Rippen brechen werden?
    „Wir werden aufs Wasser auftreffen. Das wird uns so erschrecken, dass wir aufwachen“, erkläre ich und versuche, das Zittern aus meiner Stimme zu verbannen.
    Meine Haare schlagen mir ins Gesicht. Holly klammert sich an meiner Hand fest und starrt mir in die Augen. Tränen rinnen über ihre Wange, aber sie nickt mit zitternden Lippen.
    Ich zwinge mich zu einem tapferen Lächeln.
    „Wir schaffen das.“
    Sie nickt.
    Und dann springen wir.


    Die Zeit dehnt sich. Unsere Hände sind fest ineinander vergraben, als die Felsen näher kommen. Unter mir sehe ich eine kleine Öffnung wo nur das Meer rauscht. Dort wird es nicht wehtun.
    Ich ziehe Holly mit einem Ruck an meine Stelle.
    Jetzt ist unter mir die scharfe Spitze eines Felsens.
    Holly schreit.


    Ich zucke zusammen und richte mich mit zitterndem Körper im Bett auf. Aus meinem Mund tropft Blut, vermutlich habe ich mir schon wieder auf meine Lippe gebissen.
    Als ich mein Shirt hochziehe und in der Dunkelheit nach meinem Bauch taste ist alles in Ordnung. Keine Felsenspitze, die sich in ihn hineinbohrt.
    Ich hatte Glück. Beim Aufprall bin ich mit dem Kopf gegen einen anderen Felsen geknallt. Mein Schmerzempfinden wurde kurzzeitig außer Gefecht gesetzt. Und das Blut, das sich mit dem Meereswasser vermischte, hat mich genug erschrocken, damit ich aufwache.


    Mühsam hebe ich meinen Arm und schalte das Licht an. Meine Atmung ist flach und unbeständig, ein typisches Anzeichen für einen Schock. Ich höre mein Herz laut in meiner Brust pulsieren, als wolle es platzen. Offenbar hat es ihm gar nicht gefallen, von einem spitzen Felsen durchstochen zu werden.
    Verübeln kann ich es ihm nicht.
    Steht auf meiner Prioritätenliste nicht gerade weit oben.
    Wenigstens kommt mein Humor zurück. Der Schock klingt wohl langsam ab.


    Mit einem rasselndem Ausatmen sinke ich zurück in mein Kissen. An der Decke glänzen die Neonsterne tröstend auf mich herunter.
    Ich habe es geschafft. Ich bin nicht in der Dunkelheit gefangen.
    Und Holly? Ist der Aufprall aufs Wasser genug gewesen?
    Es muss. Sie muss es einfach geschafft haben.
    Ich wollte nicht, dass sie Schmerzen hat. Holly wusste ja nicht einmal, was die Dunkelheit ist. Da würde es mich nicht wundern, wenn sie noch nie auf diese Weise aus einem Traum entkommen ist.
    Ich dagegen erlebe so etwas beinahe täglich.
    Der Schmerz ist für einen Moment unerträglich.
    Aber dann bin ich wach und alles ist wieder in Ordnung.
    Zumindest bis zum nächsten Mal.


    Ich reibe mir über die brennenden Augen und gähne mit weit geöffnetem Mund. Jetzt hatte ich mir meinen K.O.-Schlaf aber definitiv verdient.
    Als meine Finger über meine Nachttischlampe fahren hat sich mein Herz etwas beruhigt. Es schlägt immer noch etwas unruhig, aber der größte Schock ist vorüber.
    So ist es immer.


    Am nächsten Morgen fühle ich mich, als hätte ein Stier mich gerammt und ein Löwe mich zerkaut und wieder ausgespuckt. Es geht mir hundsmiserabel, als ich mich angestrengt und fluchend aus meinem Bett hieve. Grummelnd ziehe ich meine Rollläden hoch und sehe, dass die Sonne schon bleich am Horizont steht.
    Ich hätte noch eine Weile schlafen können. Es ist gerade mal sechs Uhr, noch über eine Stunde Zeit. Nur sieht mein Körper das wohl nicht so.
    Ich drücke mir meine Fingerkuppen auf die Augenlider und stöhne genervt. Womit habe ich diese ganze Scheiße eigentlich verdient? Warum werde ich am laufenden Band von irgendwelchen Idioten umgebracht oder muss mich selbst in den Tod stürzen?
    Warum hat einer meiner Vorfahren denn nicht einfach impotent sein können?!


    Mein Blick fällt auf meinen Laptop, der auf meinem Schreibtisch liegt.
    Schwankend lasse ich mich auf meinen Drehstuhl fallen und versinke in den hellblauen Polstern. Mit ungeschickten Fingern öffne ich die Verriegelung und drücke den Startknopf.


    Holly hätte mir ihre Nummer geben sollen. Oder ihre Adresse.
    Es lässt mir einfach keine Ruhe. Was ist, wenn sie es nicht geschafft hat? Wenn sie nun im Koma liegt?
    Ich schüttelte wild den Kopf und stoße mich von der Tischkante ab. Der Stuhl dreht sich um sich selbst und mein Zimmer verschwimmt um mich herum.


    Zehn Minuten später sitze ich mit meinen Beats by Dre- nein, die habe ich mir nicht selbst gekauft, Jeremy hat mir seine geschenkt, weil er die in Lila plötzlich nicht mehr geil fand- vor meinem Laptop und starre auf den Bildschirm.
    Haruhi hat mir schon vor längerem einen recht sinnfreien Anime empfohlen. Eigentlich bin ich davon kein unglaublich großer Fan. Klar ist es cool zu sehen, wie weit die Technik mittlerweile ist, aber ich steigere mich eben nicht so hinein wie sie. Meine Lieblingsjapanerin macht in den Ferien nächtelang durch um eine Reihe mit 50 Folgen hintereinander sehen zu können. In ihrem Zimmer hängen ein Haufen an Poster, in ihrem Schrank Cosplays- ab und an bringt sie uns dazu, ein paar davon anzuziehen, zum Beispiel wenn sie einen Charakter findet, von dem sie denkt, dass er zu uns passt, was in Jeremys Fall meist darin endet, dass er in einem kurzen Rock und einer ultraniedlichen Pose vor uns steht und irgendeinen Verwandlungsspruch brüllt- und in ihrem Regal stapeln sich die Manga.
    Zwischendurch folge ich ihren Empfehlungen. Meist dann, wenn ich Langeweile habe oder mir das Thema gefällt.
    Und gerade versuche ich einfach mich abzulenken. Und ich muss sagen, dazu ist dieser Anime wirklich sehr gut geeignet.
    Kurz zusammengefasst ist es eine Parodie auf Magical Girls. Etwas, dass es wie Sand am Meer gibt. Aber es ist nicht anspruchsvoll und zwischendurch für einen Lacher gut. Mehr brauche ich jetzt nicht.


    „Lana?“ An meiner Tür klopft es. Ich pausiere das Video, lege meine Kopfhörer auf den Tisch und drehe mich schwungvoll um.
    „Ja?“
    Meine Grandma steckt ihr Gesicht durch den Spalt.
    „Du bist früh wach“, stellt sie fest und schaut ungläubig auf die Digitaluhr, die auf meinem Nachttisch steht.
    Ich senke meinen Blick auf meine nackten Beine.
    „Ich…“ Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Sie sieht mich besorgt an, schließt vorsichtig die Türe hinter sich und hockt sich vor mir hin. Mit ihrer leicht knittrigen Hand fährt sie mir über die zerzausten Haare.
    „Ein Albtraum?“, schätzt sie.
    Ich schüttelte den Kopf.
    „Es… Es ist etwas passiert Grandma. Und du wirst es mir nicht glauben.“


    „Jetzt mal ganz langsam.“
    Wir sitzen in unserem Wohnzimmer. Grandma sitzt auf unserer dunkelgrünen Couch, hat die Beine überschlagen und nippt an ihrem dampfenden, schwarzen Tee. Ich sitze ihr gegenüber in einem passenden Sessel, habe die Beine seitlich angezogen und kuschele mich in die Kissen mit hellrosa Blütendruck. Meine Finger schlinge ich um meine Tasse, die ebenso mit schwarzem Tee gefüllt ist. Das ist unser Familienritual. Jeden Morgen trinken wir schwarzen Tee mit Milch. Damit bin ich groß geworden.
    Gewohnheiten beruhigen einen. Warum auch immer.
    „Du bist einer anderen Traumfängerin begegnet?“, fragt Lulu und schaut mich aus strahlenden Augen an. Sie mustert mich ganz genau. Ich glaube nicht, dass sie mich verdächtigt zu lügen. Aber vermutlich denkt sie, dass ich mich einfach vertan habe. Dass ich es mir eingebildet habe.
    Aber das habe ich nicht. Ich spüre immer noch Hollys Arm um meine Hüfte, wie sie mich mit tränenerstickter Stimme anfeuert. Und wie sie ihre Fingernägel in meine Hand gräbt, als wir den Wellen entgegenfliegen.
    Ich nicke und schaue auf das große Gemälde hinter Grandma. Mein Opa hat es gemalt. Er war immer schon ein kreativer Kopf und er konnte es nicht leiden, nichts zu tun zu haben. Seine Finger mussten immer etwas berühren, etwas verarbeiten. Dieses hier hängt schon seit unserem Einzug an der gleichen Stelle. Dahinter ist die beigefarbene Tapete ein wenig heller als der Rest.
    „Holly Ashdown.“
    „Das neue Mädchen?“
    Ich nicke und trinke einen Schluck. Der heiße Tee wärmt mich von Innen und zaubert mir eine Gänsehaut auf die nackten Beine und Arme.
    „Bist du dir sicher?“ Grandma schaut aus dem Fenster. Das tut sie immer, wenn sie nachdenkt.
    Was bedeutet es für uns? Wenn Holly eine Traumfängerin ist, dann schließt das nicht aus, dass es einen Haufen von uns da draußen gibt.
    Und wenn das stimmt… Dann wissen die vielleicht etwas, was wir nicht wissen.
    Der Korridor.
    „Hey, Grandma?“, beginne ich mit einem Blick auf unseren kleinen Garten. Das Gras wächst etwas wilder als in den Nachbargärten. Von uns sorgt sich keiner wirklich darum. So naturbelassen finde wir alle drei es sehr viel schöner. Zwischen den Halmen sehe ich kleine, bunte Blüten. Weiter hinten steht eine große Buche, die mein Vater mal gepflanzt hat. An einem der dickeren Äste schwingt eine Schaukel.
    Das war damals mal mein Lieblingsort. Mittlerweile sind meine Hüften leider zu breit.
    „Weißt du etwas über einen Korridor?“
    Sie sieht mich fragend an und schüttelt den Kopf.
    „Nein, davon habe ich noch nicht gehört. Also zumindest nicht in Verbindung mit einem Traum. Sicherlich bin ich schon mal jemandem einen endlosen Korridor hinterhergelaufen, aber ich glaube nicht, dass das damit gemeint ist.“
    „Holly hat es erwähnt. Sie sagt, dass es ihr komisch vorkam, dass die Tür schon offen stand.“
    Lulu versinkt wieder in Gedanken. Geistesabwesend nippt sie an ihrem Tee und merkt gar nicht, wie ein paar Tropfen davon auf ihren Pyjama finden. Ihre grauen, krausen Haare stehen ihr wild vom Kopf ab und unter ihren Augen haben sich breite, violette Schatten gebildet.
    Ich kann mir gut vorstellen, dass sie auch keine gute Nacht hinter sich hat. So nervös wie ihre Finger ihren Morgenmantel bearbeiten liegt ihr irgendetwas auf dem Herzen.
    Oder ist es, weil ich ihr von Holly erzählt habe? Schockt sie das so sehr?
    „Tut mir Leid“, seufzt sie schließlich. „Das kann ich mir nicht erklären. Allerdings habe ich eine Idee, warum sie ebenfalls eine Traumfängerin ist.“
    Ich richte mich kerzengerade auf.
    „Bring sie heute Nachmittag mit nach hier. Bis dahin habe ich hoffentlich gefunden, was ich suche.“
    Sie stellt ihre Teetasse auf den Tisch vor ihr ab, klatscht ihre Hände auf ihre Beine und schwingt sich auf.
    „Aber jetzt mache ich uns erst einmal Frühstück!“
    Sie strahlt mich an, aber ich kann das Lächeln irgendwie nicht erwidern.
    „Grandma... Glaubst du, dass sie…“
    „Ein Sturz in tosendes Wasser schockt jeden“, antwortet sie und fuchtelt mit ihrer Hand in der Luft herum, als wolle sie die schlechten Gedanken einfach davon scheuchen. „Und wenn du überlebt hast, du schlappe Nudel, dann schafft sie das auch.“
    „Selber schlappe Nudel!“, blöke ich, grinse aber.


    Der Weg zur Schule hat sich über Nacht wohl verfünffacht.
    Am Himmel stehen dichte, hellgraue Wolken, deswegen halte ich in der Hand, die nicht meine Tasche auf der Schulter fixiert, einen gepunkteten Regenschirm. Ein kalter Wind bläst mir die schwarzen Haare aus dem Gesicht und pfeift um meine Ohren.
    Wirklich ironisch, dass das Wetter so schlecht ist. Fast, als wolle mich Gott schon einmal auf einen extrem beschissenen Tag vorbereiten.
    Ich rücke den Riemen auf einer Schulter zurecht und schaue auf die Steine des Gehwegs, der direkt zur Springfield Academy führt. In einem Ohr schallt laute Popmusik, die mich zumindest ein wenig ablenkt. Gerade beschimpft Britney sich selbst als Bitch.


    Es zieht sich hin und der Wind selbst scheint sich gegen mich zu stellen, aber schließlich stehe ich mit pochendem Herzen vor den Schultoren. Unser hispanischer Türwächter nickt mir ausdruckslos zu und ich erwidere den Gruß mit versagender Stimme.
    Oh bitte, sei da. Bitte Holly, sei einfach da.
    Ich bin viel zu früh, bisher tummeln sich nur eine Hand voll Schüler auf den Stufen zur großen Glastür. Sie sitzen auf den massiven Backsteingeländern und plaudern munter miteinander.
    Haruhi und Olivia kommen mit dem Bus, der erst in zehn Minuten da sein wird. Ames muss noch tanken, ihrer Spritanzeige gestern nach, und Jeremy braucht morgens immer extra lang. Gestern war ich einfach etwas später als sie.
    Und heute kann ich nichts anderes tun, als nervös vor den Treppenstufen auf und ab zu laufen und ungeduldig auf die Uhr zu schauen.
    Ist Holly eine Frühaufsteherin? Vermutlich nicht. Traumfänger sind selten gerne früh wach.
    Wie weit sie wohl von der Schule weg wohnt? Wird sie in einer Limo gebracht? So reich wie ihre Eltern sind, ist das nicht mal ein abwegiger Gedanke.
    Bitte, komm schnell! Ich hasse warten.
    Dann versinke ich in Gedanken. Und nach der letzten Nacht sind die nicht gerade eitel Sonnenschein.


    Als sich eine Hand auf meine Schulter senkt schreie ich kurz erschrocken auf. Ich wirbele herum und hole schon aus, da sehe ich das Gesicht, auf das ist so sehnlichst gewartet habe.
    Holly hebt die Hände um ihren Kopf vor meinem Schlag zu schützen und brüllt mir sofort eine Entschuldigung entgegen.
    „Tut mir Leid, ich wollte dich nicht erschrecken!“, schreit sie und weicht einen Schritt zurück.
    Meine Faust sinkt.
    Und da falle ich ihr um den Hals. Sichtbar überrumpelt erstarrte Holly erst einmal und weiß scheinbar gar nicht, was sie sagen soll. Also schweigt sie.


    „Ich hab mir Sorgen gemacht!“, murmele ich ihr ins Ohr. Ich drücke sie an ihren schmalen Schultern von mir weg und mustere sie von oben bis unten. „Hat es wehgetan?“
    Sie schüttelt den Kopf.
    „Ich habe nichts gespürt. Aber ich habe gesehen, wie dieser Fels... Da war überall Blut.“
    Sie starrt auf meinen Bauch und ich fange an zu lachen. So ein bedrücktes Gesicht passt nicht zu ihr.
    „Mach dir wegen mir mal keinen Kopf. Ich bin schon ein paar Mal erstochen und erschossen worden. Da macht ein spitzer Fels in meinem Magen auch nichts mehr aus.“
    „Erstochen?“, fragt Holly ungläubig und zieht die Schultern hoch. In ihrem Kopf formt sich wohl gerade ein exaktes Bild, wie jemand mit einem Messer auf meinen leblosen Körper eindrischt, als winke ich ihr schnell mit der Hand vor dem Gesicht herum und rufe sie zurück in die Wirklichkeit.
    „Ich nehme dich heute Nachmittag mit zu mir“, informiere ich sie und führe sie zu einer Bank am Rande des Weges. Und dann sitzen wir uns wieder gegenüber, genauso wie gestern Nacht. Nur diesmal muss ich mich nicht darum sorgen, dass Gevatter Tod an die Tür klopft und uns als Prämie gleich mit einsackt.
    Holly legt den Kopf schief.
    „Meiner Grandma ist etwas eingefallen, das sie dir wohl auch zeigen will. Sie hat mich darum gebeten.“
    „Du hast gestern gesagt, dass sie auch eine Traumwanderin ist“, stellt sie fest und starrt unschlüssig auf ihre Hände, die einander bearbeiten.
    „Ja“, bestätigte ich und lehne mich zurück. Gott sei Dank. Die Sturmwolken waren also doch kein schlechtes Zeichen. Manchmal färbt Olivia wirklich ab. Sie hat nämlich eine Passion für alles Übernatürliche und glaubt fest daran, dass wir umgeben sind von Schicksal, Dämonen und schlechten Vorzeichen. Kein Wunder, dass sie so ängstlich ist.
    „Also war das gestern doch kein Traum.“
    „Naja, streng genommen schon“, antworte ich und verziehe mein Gesicht. Holly lächelt schwach.
    „Du weißt, was ich meine.“
    „Natürlich weiß ich das“, gebe ich zurück und pikse ihr in die Seite. Die Brünette zuckte zusammen, kichert aber. „Nimm es nicht so schwer. Je schneller du dich an den Gedanken gewöhnst, desto besser. Sich zu beschweren bringt nicht viel. Weiß ich aus Erfahrung.“
    „Es ist... einfach komisch.“ Holly kratzt sich an der Stirn und schaut mit nachdenklichem Gesicht auf die Pflastersteine unter uns. „Sechzehn Jahre lang habe ich gedacht, ich wäre ganz alleine mit diesem... Problem.“
    „Problem?“, ich runzele die Stirn. „Holly, du bist nicht durchgeknallt, egal was dir die Psychologen erzählt haben.“ Ich ziehe ein Bein an meine Brust heran und schlinge meine Arme darum.
    Sie sieht mich etwas ertappt an.
    „Glaubst du etwa, ich habe das nicht durchgemacht?“, schmunzele ich. „Hab mal drei Tage lang in einem Krankenhaus verbracht. Die haben mich da mit Schlafmittel vollgepumpt.“
    „Krass“, murmelt sie mit ihrem britischen Akzent. Sie schweigt kurz, dann sagt Holly: „Meine Eltern haben mich zu einer Reihe Psychologen geschickt, weil sie dachten, ich hätte eine sehr lebhafte Fantasie.“
    Ich grinse in mich hinein. Lebhaft ist die Fantasie wirklich, nur leider gehört sie nicht uns.
    „Irgendwann habe ich es aufgegeben und nichts mehr gesagt“, erklärt sie mir.
    „Naja, das ist wohl das Beste, was du hättest machen können. Beweisen können wir unsere Behauptung ja leider nicht“, meine ich. „Deswegen warst du gestern auch so still, oder?“
    „Ich habe mich damals oft verplappert.“
    „Und daher auch der Privatunterricht.“
    Sie nickt und wir schweigen, versinken beide in unterschiedliche Gedanken.
    Sicher, das Leben als Traumfängerin war nicht unbedingt einfach für mich gewesen. Aber es war bis auf die nächtlichen, ungewollten Ausflüge eigentlich ganz normal. Nicht unbedingt ruhig, dafür war ich zu impulsiv und frech, aber das war auch bei anderen Kindern der Fall gewesen.
    Holly dagegen lebte völlig isoliert. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sie jemals soziale Kontakte gehabt hat. Von Freunden mal ganz abgesehen.
    Irgendwie tut sie mir Leid. Aber das ist nicht der richtige Weg, dieses „Problem“ zu behandeln. Mitleid nützt ihr nichts.
    „Hey, wie wärs, wenn wir demnächst mal öfters abhängen?“, frage ich und schwinge mich auf. Die Hände in den Hüften stehe ich vor Holly, die zu mir hochschaut und mich fragend anschaut.
    „Ames und die anderen scheinen dich auch zu mögen, und je mehr, desto besser!“
    „Na, das kannst du aber laut sagen!“, höre ich jemanden hinter mir sagen. Bevor ich mich umdrehen kann, schlingt Jeremy seinen Arm um meine Schulter und drückt meinen Kopf herunter, um meine Haare zu zerwuscheln. „Und wir wollen ja auch nicht, dass du unseren Schulzicken zum Opfer fällst, nicht wahr?“ Er grinst Holly an und zwinkert ihr zu.
    „Was machst du denn schon hier?“, zische ich und versuche irgendwie meine Frisur wieder etwas zu richten. Meine schwarzen Strähnen stehen jetzt zu allen Seiten ab, was mich- milde gesagt- ziemlich anpisst. Ich striegele sie mir grob mit den Fingern durch und bleibe immer wieder an Knoten hängen. Na wundervoll.
    „Hatte halt mal Lust, früher zu kommen.“
    Ich hebe eine Augenbraue. Jeremy kommt nie früh. Das hier muss eine Premiere sein.
    „Ist das denn in Ordnung?“, fragt Holly. Sie bemüht sich, ihr Lächeln zu unterdrücken.
    „Na klar!“, antworten Jeremy und ich im Chor. Und diesmal bin ich es, die ihn in den Schwitzkasten nimmt, seine Mütze von den braunen Haaren zieht und sich dann ein paar Meter weit von ihm entfernt. Er protestiert lautstark, aber ich laufe vor ihm weg, als er mir nachsetzt.
    „Holly!“, rufe ich ihr zu. „Fang!“
    Ich werfe der Britin die bunt gemusterte Mütze entgegen und beobachte, wie sie sie gerade noch davor rettet, ein Bad in der Pfütze vor ihr zu nehmen. Jeremy lockert die Muskeln und kommt gezwungen lächelnd auf sie zu.
    „Du gibst sie mir doch sicherlich zurück, oder?“
    Holly legt den Kopf schief und grinst, als sie meinen Blick einfängt. Da erstirbt Jeremys Lächeln.
    Er jammert leise ein verzweifeltes „Aber... aber, die ist von Jean Paul Gultier!“, muss dann aber mit einem kurzen Schrei sehen, wie seine Luxusmütze durch die Luft direkt auf mich zufliegt. Er vergräbt sich mit einer angespannten Grimasse die Hände in die Haare, während ich das gemusterte Teil über meinen Kopf stülpe.
    „Echt? Cool, dann hab ich jetzt also auch etwas von Jean Paul Gultier!“
    „Und jetzt hab ich sie!“, höre ich plötzlich Haruhi hinter mir sagen. Sie zieht mir die Mütze mit einem kurzen Zug vom Kopf, steckt einen Finger hinein und lässt sie um ihn herum rotieren.
    „Ich wäre euch wirklich sehr dankbar, wenn ihr den Mist sein lassen könntet!“, stößt Jeremy mit besorgtem Blick zu Haruhi aus.
    „Ich weiß ja gar nicht, was du meinst!“, grinst Haruhi zurück, schmeißt sie drei, vier Meter in die Luft- begleitet vom Zetern meines besten, schwulen Freundes- und fängt sie dann wieder auf.


    Wir spielen noch eine Weile unsere sehr teure Variante Schweinchen in der Mitte, bis schließlich Olivia kommt, die uns mit einem strengen Blick dazu bringt dem mittlerweile halb gestorbenem Jeremy endlich seine Mütze wiederzugeben. Als er sie in den Händen hält drückt er sie sogar fest an sich, mit einem misstrauischen Blick auf den Rest der Bande, als wollen wir sie ihm sofort wieder abnehmen.
    „Ach, übrigens, Holly gehört jetzt auch zu uns!“, stoße ich aus, als wir auf der Backsteinmauer sitzen. Nur Ames ist noch übrig, danach können wir unseren obligatorischen Schließfächerrundgang antreten.
    „Nur wenn das okay ist!“, sagt die sofort.
    „Cool!“, Haruhis Augen weiten sich begeistert. „Noch jemanden, den ich in ein Kostüm stecken kann. Mal sehen, für dich wäre... Ja, ich denke, Aoi wäre ganz geeignet. Sie ist genauso ruhig wie du, kann aber auch manchmal echt für einen Lacher gut sein!“ Aufgeregt schlägt sie Holly gegen den Rücken, dass sie beinahe vom Geländer herunterfällt. Olivia fasst sie am Arm und lächelte ihr aufmunternd zu.
    „Also muss nur noch Ames zustimmen“, meint Jeremy.
    Und genau in dem Moment klingelt mein Handy. Ich krame es hastig aus meiner Jackentasche heraus und sehe zu, wie das Display sich von selbst erleuchtet.
    „Wenn man vom Teufel spricht“, murmele ich und warte darauf, dass sich die SMS öffnet. Meine Augen gleiten über den eckigen Text.
    „Sie kommt heute nicht. Hat sich eine Grippe eingefangen“, informiere ich die anderen, die sofort aufspringen.
    „Das hätte sie auch wirklich früher sagen können“, murmelt Haruhi und streckte ihre Arme von sich.
    „Du kennst sie doch. Wenn Ames krank ist, ist sie zu nichts mehr zu gebrauchen!“, lache ich und hacke mich bei ihr ein. „Ich schreibe ihr schnell ‚Gute Besserung‘, von uns allen.“
    „Von mir bitte auch!“, stößt Holly schnell aus. Ich hebe eine Augenbraue an und verziehe das Gesicht zu einer albernen Grimasse:
    „Hab doch gesagt ‚von uns allen‘, oder?“


    „Und, wie fandst du deinen zweiten Schultag so?“
    Holly und ich marschieren nach Schulschluss langsam den Rückweg zu meinem Haus entlang. Sie hält ihre Tasche vor sich, bei jedem Schritt schlagen ihre Knie sie rhythmisch in die Luft.
    Der Tag war doch noch ganz in Ordnung geworden. Holly und ich teilten uns die meisten Kurse, daher bot ich ihr an, sich neben mich zu setzen, wo Ames ja nicht da war. Ich rief sie in der Pause kurz an- heimlich, auf der Toilette, weil eigentlich strenges Handy Verbot herrscht- und ihrer verschnupften Stimme nach zu urteilen wird das auch noch ein paar Tage so bleiben. Eigentlich ein ziemlich passender Moment; So kann ich den Schulzicken deutlich zeigen, dass Holly jetzt zu uns gehört. Und das bedeutet für diese Parfümwolkenmonster ein deutliches „Finger weg oder sie sind ab“.
    „Es ist schon irgendwie komisch“, antwortet Holly und schaut auf einen kläffenden Hund, der versucht sein Revier zu verteidigen. Leider sind wir nicht in der Reichweite seiner Kette, also dampft es irgendwann ab.
    „Na, das kann ich mir vorstellen. Ist sicher nicht einfach, von Einzelunterricht hierauf umzusteigen.“
    Dabei macht sie ihre Sache ziemlich gut. Holly ist ein wandelndes Lexikon, was auch daran liegt, dass ihr Lieblingsort bisher die Bibliothek im Haus- sie hat mir bisher immer noch nicht gebeichtet, dass sie reich ist- war. Da treiben sich eher weniger Leute herum, bei denen sie sich verplappern kann.
    Wade jedenfalls hat sie schon mit Lob überhäuft, nachdem ich sie mit einigen Stößen in die Rippen dazu gebracht habe, die richtige Antwort, die sie mir zugeflüstert hatte, auch laut zu sagen. Zwar musste ich das bei jeder anderen Gelegenheit wiederholen, aber immerhin hatte ich so etwas zu tun. Ganz davon abgesehen, dass ich auch davon profitiere.
    „Es starren mich immer so viele Leute an“, murmelt sie und kratzt sich am Hinterkopf.
    „Oh, da kann ich dich beruhigen. Das legt sich irgendwann und dann starren dich nur noch die an, die über dich lästern wollen oder die, die... ganz andere Dinge mit dir vorhaben.“ Ich grinse bei ihrem hilflosen Gesichtsausdruck.
    „Hey, keine Panik“, meine ich schulterzuckend. „Wenn dich jemand nervt, dann sag einfach Bescheid.“
    „Du bist ziemlich beliebt, oder?“, fragt Holly leicht lächelnd.
    „Beliebt?“ Ich pruste lauthals. „Wohl eher gefürchtet.“ Sie schaut mich verständnislos an.
    „Ich bin nicht gerade für meine Geduld mit anderen Menschen bekannt“, informiere ich sie mit einem schiefen Lächeln.
    Wenn jemand mir auf die Nerven geht, erfährt er das recht schnell. Und meist hat dieser jemand darauf dann ein paar Schmerzen mehr und ein paar Tränen weniger.
    Ich weiß nicht, woran es liegt. Ob das einfach erblich bedingt ist, oder ob ich so missraten bin. Nur reißt mein Geduldsfaden eben recht schnell. Sowieso kann ich es nicht haben, zu lange mit Leuten herumzuhängen, die ich nicht mag. Bei Fremden ist es am Schlimmsten. Dann sinkt meine Laune in Richtung Erdkern ab, und das bekommt eben jeder, der mich auch nur schief anschaut, gleich mal zu merken.
    Ich mache das ja auch nicht absichtlich. Ich weiß auch, dass es daher eine ganze Reihe von Menschen gibt, die mich nicht leiden können oder sogar Angst vor mir haben. Aber wenn ich einen schlechten Traum erwische, habe ich eben nicht auch noch die Nerven, mich mit Idioten abzugeben.
    „Trotzdem haben dich doch viele Leute gegrüßt“, behauptet Holly.
    „Hör mal, das kann vielleicht sein, aber die Queen der Schule bin ich deswegen noch lange nicht.“
    Will ich auch gar nicht sein. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie viel man dann mit Idioten zu tun hat... Und ich habe eigentlich nicht vor, bereits so früh ins Strafregister aufgenommen zu werden.
    Sie öffnet den Mund und will etwas sagen, aber ich bin schneller.
    „Ich frage mich echt, was Grandma heute Morgen gesucht hat!“, stoße ich schnell aus und beende somit das Thema.


    Wir erfahren es, als wir in die Einfahrt biegen. Auf der Veranda unseres Hauses läuft Lulu auf und ab, erst als wir drei Meter von ihr entfernt sind, schaut sie endlich auf und klatscht in die Hände. Schnell läuft sie die Treppenstufen herunter und greift sich Hollys Hände, die etwas überrumpelt zurückstolpert.
    „Du musst Holly sein!“, stößt Lulu freudenstrahlend aus. Ihre Haare stehen ihr wirr vom Kopf und einige Staubflusen sammeln sich darin.
    „Du warst im Keller?“, spreche ich sie grinsend an und pflücke eine kleine, graue Wolke heraus. Auf meiner Hand ergreift sie ein kleiner Windhauch und trägt sie davon.
    „Oh ja!“, sagt sie enthusiastisch und denkt gar nicht daran, Hollys Hände loszulassen, die mich jetzt leicht perplex mustert. „Und ich bin fündig geworden! Aber kommt erst einmal herein, ihr habt sicherlich Hunger!“


    Holly spricht während dem Mittagessen nicht viel. Ich allerdings auch nicht, das übernimmt Lulu nämlich mit Freuden.
    So aufgeregt habe ich sie schon ein paar Jahre nicht mehr gesehen. Sie läuft wie eine kopflose Henne durch die Küche, tischt uns ein Essen für eine ganze Königsfamilie auf und spricht unentwegt darüber, wie glücklich sie doch ist, dass ich Holly gefunden habe.
    „Das macht einige Dinge so viel einfacher!“, stößt sie aus, als sie mir die dritte Portion Gulasch auftischt. „So können wir herausfinden, welcher Familienzweig sonst noch diese Fähigkeit hat.“
    „Wer hat dir das Traumwandern vererbt?“, frage ich zwischen zwei Löffeln. Holly legt den Kopf schief.
    „Die Briefe, die ich gelesen habe, waren von einer Jennifer Blake.“
    „Und zu wem gehört sie?“, frage ich. „Verwandt mit deiner Mutter oder deinem Vater?“
    Sie zuckt ratlos mit den Schultern: „Ich habe nie die Gelegenheit gehabt, das zu fragen.“
    Meine Grandma legt sich ihren Zeigefinger an die Unterlippe und klopft darauf herum. In ihrem Kopf scheinen die Zahnräder in Überschalltempo langsam heiß zu laufen. Irgendwann verdreht sie die Augen, eilt aus der Küche zum Wohnzimmer und schleppt von dort einen Haufen uralter Dokumente an.
    „Was ist denn das?“, röchele ich, nachdem sie den Staub darauf direkt in mein Gesicht geblasen hat. Der Rest meines Satzes geht in lautes Husten unter. Holly legt ihr Besteck zur Seite und räumt unsere Teller zur Seite, damit Lulu sie auf dem Tisch ausbreiten kann.
    Als erstes greift sie sich ein Buch. Ich kann erkennen, dass die Seiten mit langen Tabellen beschrieben sind.
    „Ein Namensregister?“, fragt Holly und ihre Augen gleiten über die krakelige Schrift. Langsam stehe ich auf, trinke aber noch einen Schluck, um endlich mit dieser blöden Husterei aufzuhören. Ich beuge mich über den Haufen an Papier, der hier und da schon etwas vergilbt ist. Ein größeres Stück, offenbar öfters gefaltet, ziehe ich letztlich heraus. Als ich es auffalte, fallen mir ein paar kleinere Bilder entgegen, allesamt schwarz weiße Fotografien und diverse kleinere Portraits. Und in meiner Hand halte ich einen Stammbaum, der sich über die Länge meiner beiden Arme erstreckt.
    „Ah, hier haben wir sie ja. Jennifer Blake. 1927, Lana, schaust du mal nach?“
    Ich nicke und meine Augen folgen den verzweigten Gebilden aus Strichen und kleinen, undeutlichen Namen. Erst bin ich vollkommen verloren, dieser Stammbaum scheint unglaublich unübersichtlich.
    Angefangen von 1767, wo unsere Familiengeschichte offenbar begonnen hat, reicht sie bis 1956. Ab dann sind keine neuen Namen mehr eingetragen.
    „Hier!“ Holly deutet auf einen Namen, an dem ich gerade eben einfach vorbeigeschaut habe.
    „Das soll Jennifer heißen?“, frage ich mit hochgezogener Augenbraue. Egal wie ich es drehe und wende, Jennifer kann ich darin nicht lesen. Diese blöden, alten Typen mit ihrer unleserlichen Schrift. Da bin ich ausnahmsweise doch darüber froh, dass man unsere Computer-Schrift in hundert Jahren immer noch lesen werden kann. Und das, ohne munter raten zu müssen.
    Meine Grandma legt ihren Finger auf das vergilbte Papier und fährt die Linie weiter herunter. Ganz am Ende angekommen hat sich die Linie in vier Abstammungen verteilt.
    „Wie heißen deine Großmütter?“
    „Jessica Ashdown“, antwortet Holly zuerst und sucht die unteren Reihen ab.
    „Und die andere?“, fragt meine Grandma, als sie nicht fündig wird.
    „Lucy. Lucy Crest.“
    „Dann haben wir sie gefunden!“, stößt Lulu freudig aus. Sie fährt mit ihrem Finger von dem Namen von Hollys Großmutter zurück hoch, während ihr anderer Finger den Namen eines Mannes- mein Urgroßvater und Lulus Erzeuger- berührt und dann ebenfalls hochgleitet. Stück für Stück nähern sie sich.
    Und schließlich, um 1850 herum, treffen sie aufeinander.
    „Wir sind also wirklich miteinander verwandt“, stoße ich aus und betrachte den Stammbaum. So viele Leute gehören zu uns? Das ist... Unglaublich.
    Sicherlich, ein paar der Stämme haben sich über die Jahrzehnte verloren und enden einfach mittendrin. Außer denen von Holly und uns sind nur drei weitere bis zum aktuellsten Stand aufgeführt.
    „Lana, hol bitte dein Laptop“, spricht Lulu mich an. Ihre Augen ruhen auf den Namen dieser drei Überbleibsel.


    Minuten später drängen wir unsere Köpfe eng beieinander vor den kleinen Computerbilschirm.
    „Gib als erstes... Äh, hier, gib mal Adams ein.“
    Ich nicke und meine Finger gleiten schnell über die Tastatur. Ein Haufen an möglichen Ergebnissen wird von Google ausgespuckt.
    „Schreib vielleicht mal England dazu“, rät Holly mir.
    Aber auch danach ist die Liste unglaublich lang. Adams ist wohl ein ziemlich gewöhnlicher Name.
    „Probieren wir einfach mal den nächsten!“, stoße ich aus, als mir die Augen von den grell leuchtenden Buchstaben einer „Adams Family“-Homepage anfangen weh zu tun.
    „Chamberlain!“
    „Chamber...?“
    „L-A-I-N. Chamberlain. Und vergiss das England dahinter nicht.“
    Aber auch hier gibt es einfach zu viele Ergebnisse. Ich will schon seufzend verkünden, dass ich keine Lust mehr habe, als Holly über meine Schultern greift und den letzten Namen in unserer Liste hinzufügt.
    „Chamberlain Shepherd England“ steht jetzt in unserer Suchleiste.
    Und diesmal braucht Google tatsächlich etwas länger, um uns Ergebnisse zu liefern.
    Die ersten sind wieder ziemlich langweilig. Ein Eintrag in einer Onlinebibliothek zu einem Schriftsteller mit Namen Shepherd, aber Chamberlain ist nicht zu finden. Dann noch ein Artikel über den spektakulären Sieg der Londoner Sheeps über die Sherwood Thiefs, zwei konkurrierenden Squash Vereinen- Holly kann mir die Regeln auch nicht erklären- und ein Blogg Eintrag, in dem schöne, englische Nachnamen aufgeführt sind. Oh, wunderbar, das ist jetzt auch so hilfreich.


    Eine halbe Stunde später sind wir über englische Nachnamen, die Squashregeln- die habe ich aus Spaß gegoogled, als Grandma gerade mal kurz weg war- und Literatur in der Neuzeit informiert. Ich stöhne gereizt auf, als wir weiter herunterscrollen.
    „Ich hab keine Lust mehr“, grummele ich gereizt und reibe mir über die Augen. Hollys kleben noch auf dem Bildschirm.
    „Hey!“, stößt sie aus. „Warte mal.“
    Sie nimmt mir die Maus aus der Hand und fährt mit dem Cursor über einen Link zu noch einer Homepage.
    „Dieses Wappen kommt mir bekannt vor“, behauptet sie.
    Oben in der Ecke der in dunkelrot gehaltenen Seite befindet sich ein kleines Bild. Es stellt scheinbar ein Schild dar, auf dem ein Schwert und ein Schild durch eine Mohnblüte zusammengehalten werden. Abwartend schaue ich Holly an, in deren Kopf es zu brodeln scheint. Lulu streckt den Kopf durch die Tür und schaut uns gespannt an.
    „Ja, genau! Ein älterer Brief hatte eine kleine Malerei mit diesem Wappen darin!“, stößt sie nach ihrem kurzen Nachdenken laut aus.
    „Eine Mohnblüte?“, frage ich und runzele die Stirn. Und dann habe ich einen Geistesblitz. „Moment Mal, das ergäbe sogar Sinn! In der griechischen Mythologie ist die Mohnblüte das Erkennungszeichen eines bestimmten Gottes.“
    Ich grinse in mich hinein. Also waren die Nachmittage, die wir mit Olivia zusammen allerlei mythologischen Kram auf der Suche nach Glücksbringern durchgegangen sind, doch nicht ganz umsonst!
    „Spann uns nicht so auf die Folter!“, verlangt Lulu von mir, ihre warme Hand liegt auf meiner Schulter. Sie starrt den Bildschirm an.
    „Hypnos. Der Gott des Schlafes!“, stoße ich triumphierend aus.
    „Dann meinst du...?“, fängt Holly vorsichtig an und schaut noch einmal auf das Wappen.
    „Definitiv. Es passt doch wie die Faust aufs Auge!“


    Ein kleines, rotes Lämpchen leuchtet auf dem Bildschirm auf. Die Sekretärin schreckt aus ihrer Arbeit hoch und starrt es eine Weile lang an. Kann es denn wirklich...?
    Hastig stößt sie sich von ihrem Schreibtisch ab und rollt auf dem Stuhl geradewegs zu einem Telefon. Ihre Finger fliegen über das Eingabefeld.
    Aus dem Augenwinkel betrachtet sie das Lämpchen, das immer noch glüht, ihre Fingernägel knallen auf den schwarzen Plastiktisch und das Geräusch hallt im ganzen Büro wieder.
    „Ja?“, ertönt eine tiefe, müde Stimme am anderen Ende.
    „Mr. Chamberlain... Wir haben einen Besucher.“
    Es ist kurz still, und mit einem Mal hört sich die Stimme ihres Vorgesetzten hellwach an.
    „Auf unserer Seite?“
    „Ganz genau.“
    Das Lämpchen blinkt immer noch. Was ist, wenn es nur ein Fehlalarm ist? Wenn jemand aus Spaß die Nachnamen der Familie eigegeben hat?
    Nein, unmöglich. Das wäre doch ein viel zu großer Zufall. Die Chance steht bei unter zehn Prozent. Genau deswegen hatte sie diese Homepage doch auch erstellt. Falls einer der verlorenen Zweige auf die Idee kommt, sich auf die Suche zu begeben.
    „Orten sie die IP. Ich will, dass Benjamin und Nicholas sich sofort reisefertig machen.“
    „Aber Sir, wollen sie nicht erst einmal die Ergebnisse abwarten?“, schlägt die blonde Sekretärin vor und rückt nervös ihre Brille zurecht. „Es könnte doch ein Fehlalarm sein!“
    „Das ist es nicht!“, stößt Mr. Chamberlain aus. Er klingt begeistert und freudig, beinahe euphorisch. „Ich habe es einfach im Gefühl.“

  • Eieiei, meine Dame, du bist aber schnell! Jetzt bin ich noch nicht einmal dazu gekommen, Kapitel I zu kommentieren, und schon steht Kapitel II da. Egal, dann gibt's jetzt eben ein Doppelpack. Ausserdem scheinen meine Formulierungen zu inspirieren.


    Kapitel I
    Du bist langweilig. Das Kapitel ist so gut, dass es nichts zu sagen gibt! Nur einige Fehlerchen sind hie und da zu erkennen, meist aber Tippfehler. Was man vielleicht noch anbringen könnte, wäre ab und an etwas mehr Beschreibungen, aber eigentlich ist es schon ganz gut so. Nur diesen Satz habe ich nicht ganz verstanden:


    „Tut mir Leid, dass ihr meinetwegen Ärger bekommen habt“, murmelt sie undeutlich. „Ich habe versucht, ihm zu sagen, dass ihr mich einweisen sollt, aber-“


    Holly hat ja gar nichts gemacht, oder? Und weist jetzt Croucher Holly ein? Kriegen die Mädchen nun Nachsitzen oder nicht? Eher nicht, wie der spätere Verlauf der Geschichte zeigt. Dieser Satz vermag so gar nicht hineinpassen.


    Dort sind die Räume größer und die Akkustik damit auch besser


    Miene


    Vielleicht solltest du noch etwas mehr auf die Zeitformen achten, aber da korrigiert dir ja schon Dark-Lucy die Fehler (btw heisst es Präsens und nicht Präsenz).


    Kapitel II
    Du scheinst Shakespeare to zu mögen (wie ich schon ins Englische falle, haha). Ich habe mich noch vor dem Lesen etwas über The Tempest schlau gemacht, und werde nun schauen, ob's da einen Bezug gibt. Und der ist durchaus vorhanden, das mag ich! Auch sonst kann ich wirklich nicht viel aussetzen, denn es ist einfach grossartig. Nicht einmal Tippfehler habe ich gefunden.


    KO Schlaf
    Sieht einfach nicht schön aus. Mach hier K.O-Schlaf draus, ist meiner Meinung nach besser.


    Wieso bist du nur so gut? Ich kann nichts finden, wo ich dich so richtig kritisieren kann. Sogar wenn ich danach suche. Die Geschichte ist einfach nur spannend, und der Schluss setzt dem ganzen die Mütze auf (ja, die von Jean Paul Gultier). Cynda würde hier einen Kommentar dalassen, der mindestens so lang ist wie dein Kapitel, aber ich kann das nicht.


    Ich hoffe, ich habe dennoch den einen oder anderen Input gegeben, und wenn nicht, dann hoffe ich, dass es dich wenigstens freut :)


    Edit: Hast du es geschafft, die AutoKorrektur auszuschalten? Und wie viele Fehler ich übersehen habe, ist ja grauenhaft!

  • Hey, Caithy^^


    Was soll ich sagen? Einfach wieder ein obermegageiles Kapitel^^ Aber im Gegensatz zu Buxi habe ich ein paar Fehler Gefunden:
    Unter den Zitaten steht wie es richtig ist.


    Sooo, ich freue mich schon auf das dritte Kapitel^^


    Mfg
    Ventus~

  • Hallo Caithy! :3
    Heute komme ich endlich dazu, dein Review zu schreiben^^


    II. Llucid- The Tempest
    Also, fangen wir gleich mal an:
    Wieder mal ein wunderbares Kapitel, Zeitfehler habe ich diesmal (fast) keine bemerkt, aber man könnte wirklich denken, dass du, wie Buxi sagte, die Autokorrektur aus hattest. Es waren diesmal sehr viele Rechtschreibfehler drin. Was war denn da los? x)
    Korrigieren brauch ich sie zum Glück wieder nicht, das erledigt ja immer Ventus~ :3


    Eine Stelle in diesem Kapitel (hab gerade keine Lust diese als Zitat raus zu picken, verzeih mir deswegen x) ) hat mich echt an mich selbst erinnert. Es war die Stelle, als sich Lana am Tag darauf wirklich Sorgen um Holly machte. Aus irgendeinem Grund hat das meinen Charakter richtig gut widergespiegelt. Ich mache mir auch immer Sorgen um irgendwelche Leute, lol. (Sorry, das wollte ich nur mal Ot an der Stelle anmerken x) )


    Vom Inhalt her fande ich dieses Kapitel wie immer, super! Ich kann nur sagen: Mach weiter so! (:
    Allerdings ist mir noch etwas aufgefallen: Du hast in diesem Kapitel öfters die gleichen Worte in einem Satz verwendet, wie zum Beispiel ganz am Anfang:

    Zitat

    Aber es gibt aber keine andere Möglichkeit,
    wie sie sonst hier hinein geraten sein könnte.


    Zwei mal aber. Klingt meiner Meinung garnicht schön. Ich hätte zum Beispiel geschrieben: Es gibt aber keine andere Möglichkeit, wie sie sonst hier hinein geraten sein könnte.
    Ich hoffe, das bessert sich im nächsten Kapitel :3


    Bis dahin,
    ~Lucy

    It's how you hide your cards It's how you dress your scars And let them breathe free
    Life, fantastic... Life, so tragic... Life, fantastic...


  • [tabmenu]
    [tab=.]
    Puh, endlich mal wieder mit einem neuen Kapitel fertig. Ich hoffe, dass es euch gefällt, gerade zum Schluss war ich sehr drin, daher wird es wohl etwas hektisch werden.
    Ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe, aber es ist gut möglich, dass die Kapitel demnächst etwas auf sich warten lassen. Ich entschuldige mich schon einmal dafür und wünsche euch für jetzt viel Spaß!
    [tab=Buxi]
    Ich hab mich zwar schon bei dir bedankt, aber auch hierüber noch einmal vielen Dank für das viele Lob. Ich hätte echt nicht gedacht, dass du mal nichts zum Anmerken hast :D
    Das "einweisen" ist hat in diesem Sinne nichts mit "in die Psychatrie bringen" zu tun, sondern einfach, dass Lana und Ames Holly dabei helfen sollten, sich in der Schule zurecht zu finden. Heißt das nicht auch einweisen? :D
    Ach verdammt, ich vertue mich irgendwie immer mit Präsens und Präsenz. D:
    Ab sofort werde ich K.O. Schlaf auch so schreiben, wie du vorgeschlagen hast, sieht wirklich besser aus.
    Nein, ich habs so umgestellt, dass die Worte nicht von "si" in "sich" geändert werden, obwohl es eigentlich "sie" heißen soll. Das Autokorrekt ist in manchen Bereichen jetzt deaktiviert ^^ Hab nur beim letzten Mal vergessen, noch einmal drüber zuschauen, weil ich euch nicht länger warten lassen wollte xP
    Na, es geht noch mit den Fehlern, finde ich. Sieht zwar viel aus, aber auf den Text verteilt ist es gleich wieder weniger xP /rausreden


    Vielen Dank noch einmal für das Lob^^
    Caith
    [tab=Ventus]
    Auch dir wieder vielen Dank für deinen Kommentar und die Mühe beim Raussuchen der Fehler. Ich werde mich gleich wieder heransetzen und korrigieren, hab ich irgendwie total verpennt, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte x'D
    Ich freue mich darüber, dass dir die Story gefällt und hoffe, dass das auch weiter der Fall ist,
    Caith
    [tab=Lucy]
    Hi Lucy^^
    Yeah, weniger Zeitfehler, das freut mich! Zumindest eine Sache kommt jetzt immer besser. Es ist echt krass, wenn man immer nur Vergangenheit schreibt und dann plötzlich auf Gegenwart umschwenkt, da ist auch die Umgewöhnung auf Vergangenheit für die FF Abgaben beispielsweise echt schwer xP
    Wie gesagt, ich wollte euch nicht länger warten lassen und hab daher dann nachher nicht mehr genau nachgelesen. Aber nein, die Rechtschreibeprüfung hab ich nicht aus, nur stellenweise das Autokorrekt, damit der mir auch "mic" nicht schon wieder "mir" anstatt "mich" macht und mir dann den Fehler nicht mehr anzeigt :D
    Mh, wirklich? Ich habs mir jetzt noch einmal durchgelesen und hatte ehrlich gesagt nicht so das Gefühl. ^^"
    Danke für deinen Kommentar, ich hoffe, dass dir das nächste Kapitel genauso gefällt,
    Caith
    PS: Vielleicht schaff ich es in den nächsten Tagen auch einmal, dein Drabble zu bewerten :)
    [/tabmenu]


    III. L U C I D
    The two Gentlemen of London



    Wisst ihr, was noch schlimmer ist, als von einem Axtmörder im Omakleid gejagt zu werden?
    Nein?
    Gut, dann erzähle ich euch das eben. Denn ich bin gerade mittendrin und unterdrücke mit großer Mühe einen Würgereiz.


    Traumpartys sind für gewöhnlich sehr interessant. Man erfährt in diesen nächtlichen Vorstellungen der perfekten Party einen Haufen an privatem Zeug, die neusten Gerüchte und Befürchtungen, die der Träumende hat. Meist kann man auch in den gesichtslosen Partygästen untertauchen, die nur da sind, um den Anschein zu erwecken, dass die Party wirklich gut besucht ist. Es gibt nur wenige NPC- so nenne ich die Menschen, die in Träumen auftauchen, die weder Träumende noch Traumwanderer sind- die überhaupt klar definiert sind. Und mit denen interagiert der Träumende meist.
    Solche Traumpartys werden erst dann fürchterlich ätzend, wenn man dazu gezwungen ist, die Festlichkeiten der High School Zicke schlechthin die ganze Nacht zu ertragen.


    Ich lehne mich gähnend an das Buffet- sehr lecker, viel Süßes, das meine werte Feindin im echten Leben nicht einmal anschauen würde- und beobachte die gesichtslose, tanzende Menge. Die meisten sind einfach eine große Masse, deren Umrisse in der Nachtluft verschwimmen. Dein Blick gleitet wie automatisch von ihnen herunter.
    Mit einem schnellen Schluck leere ich meinen Becher, der gefüllt mit Bier ist. Ich kann in einem Traum nicht betrunken werden, sehr zu meinem Leidwesen, denn nüchtern kann man diesen Krampf wirklich nicht ertragen.
    Die Träumende heißt Cynthia Dale. Sie ist in meinem Alter, ein vermaledeites Modepüpchen und scharrt einen Haufen an Mädchen um sich herum, die in etwa den Intellekt von einem Stück Toastbrot haben. Moment, nein, das ist fies. Ich will das Toastbrot ja nicht beleidigen.


    Jedenfalls ist sie selbst nicht unbedingt dumm, genau das ist das Problem. Ausgestattet mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein und einem gewissen schauspielerischen Talent hat sie sich zur nahezu definitiven Ballkönigin gemausert. Eine oberflächliche Zicke, die den Mädchen, die nicht ihre Kragenweite sind, das auch deutlich zeigt. Die Lehrer und die meisten Kerle dagegen wickelt sie gekonnt um den Finger. Sie ist eines dieser Mädchen, die in einem Jugendroman die Antagonistin des grauen Mäuschens ist und diese immerzu mobbt, bis ein neues Kerl an die Schule kommt und sie durch irgendeinen Zufall an ihn gerät. Nur leider gibt es im echten Leben kein „Happily ever after“, daher bezweifle ich einfach sehr stark, dass der gesamten Lehrerschaft innerhalb des nächsten Jahres klar wird, was für eine Bitch sie ist. Und deswegen wird man sie auch nicht meiden, als hätte sie die Pest. Nope. Sie wird immer das Leben führen, dass sie auch in ihrem Traum so passend darstellt.


    Cynthia thront keine fünf Meter von mir entfernt auf einem goldenen Sitz mit roten Sitzpolstern, wie eine antike Prinzessin, getragen von gesichtslosen, aber durchtrainierten Kerlen, die begeistert grölen. Eigentlich sind sie nicht ganz gesichtslos. Sie besitzen durchaus Nase und Mund, aber eben mehr nicht. Und sie sehen meist vollkommen gleich aus.
    Umringt wird Cynthia von anderen NPCs, die ihr zujubeln. Sie winkt in ihrer Abendrobe, die sie vermutlich auch daheim bei sich im Schrank hängen hat, gütig auf ihre Anhänger herunter, lächelt überheblich und klimpert mit den Augen.
    Ich verdrehe meine. Gott, reicht es ihr denn nicht, wenn sie während des Tages angehimmelt wird? Warum zum Teufel muss ich diesen Mist auch noch ertragen?
    Hätte ich Holly doch nur noch einmal nach diesem Korridor gefragt...
    Mittlerweile sind drei Tage vergangen. Ames liegt immer noch krank zu Hause und jammert mir am Nachmittag, wenn ich sie telefonisch über den Tag informiere, immerzu ein Ohr ab. Offensichtlich haben ihre kleinen Zwillingsbrüder sie angesteckt, die beiden sind aber längst wieder quietschfidel, was bei ihrem... Frohsinn dafür sorgt, dass Ames keinerlei Schlaf vergönnt ist. Und ohne Ruhe keine Heilung.
    Und obwohl Holly seit drei Tagen neben mir sitzt habe ich keine Gelegenheit gefunden, sie endlich auszufragen. Im Unterricht ist es einfach nicht möglich, ein vernünftiges Gespräch zu führen, besonders wenn Cynthia und ihre Zombieanhänger einen umringen. Sie hält mich ohnehin schon für einen gewalttätigen Freak, was mir ganz Recht ist, da sie es aus diesem Grund auch nicht wagt, sich großartig mit mir zu beschäftigen. Wir leben einfach aneinander vorbei. Waffenstillstand oder einigermaßen friedliche Co-Existenz würde ich es nennen.
    In der Pause konnte ich Holly allerdings auch nicht ansprechen, schließlich waren Jeremy, Olivia und Haruhi ständig bei uns. Nicht einmal auf die Toilette konnte ich sie schleppen, ohne dass einer von ihnen mitkam.
    Und nach Schulschluss verschwand unser neustes Mitglied schnell. Sie hat uns nämlich immer noch nicht gebeichtet, dass sie verdammt noch einmal reich ist. Ich bin ja mal gespannt, wie lange sie noch auf sich warten lässt.
    „Oh, schaut mal, wer da ist!“
    Ich hebe meinen Kopf und schaue in Cynthias glänzende Augen. Offensichtlich hat sie sich betrunken geträumt, denn sie lallt auch etwas. Scheint aber irgendwie niemanden zu stören.
    „Lana!“, stößt sie aus, deutet mit ihrem manikürten Fingernagel auf mich und kichert wie ein Kleinkind. Ich setze den Becher ab und mustere sie argwöhnisch. Oh toll, das kann jetzt spaßig werden.
    Denn dummerweise ist das hier Cynthias Traum. Sie hat sie Kontrolle. Oder eher gesagt ihr Unterbewusstsein, und wenn ich mich an das letzte Mal erinnere, bei dem ich in einem ihrer Träume gelandet bin, da schien ihr Unterbewusstsein wirklich nicht gut auf mich zu sprechen gewesen zu sein.
    Innerlich bereite ich mich schon einmal darauf vor, dass ich nackt vor den NPCs stehe, die mich dann hysterisch auslachen werden.
    „Cynthia!“, gebe ich zurück und schenke ihr ein genauso falsches Lächeln wie sie mir.
    „Echt ein Zufall, dass du hier bist!“, lallt sie. Meine Fresse, die ist echt vollkommen betrunken. „Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich dich eingeladen habe.“
    „Oh, ach, weißt du, ich habe auch keinen blassen Schimmer, wie ich hier gelandet bin!“, kichere so mädchenhaft wie ich kann und zwinkere ihr zu.
    Sie schaut mich für einen Moment verwirrt an, als hätte sie erwartet, dass ich sie vom Thron stürze, dann wirft sie den Kopf in den Nacken und ruft laut: „Hey, Tyler, das ist die, von der ich dir erzählt hab! Die Domina-Tusse!“
    Domina? Was zum... Oh, ich verstehe schon. Weil ich Leute schlage, die mich nerven. Hat nur nichts mit Domina zu tun. Die schlagen aus Spaß an der Freude, bei mir ist das eher zweckorientiert. Aber diesen Unterschied in ihre durch und durch blaue Birne hineinzubekommen ist vermutlich ohnehin unmöglich.
    Und innerhalb eines kurzen Augenblicks baut sich ein NPC blöd grinsend vor mir auf. Offensichtlich Tyler.
    „Hab doch mal ein bisschen Spaß mit ihr!“, lallt Cynthia weiter. „Will ja nicht, dass hier jemand nicht unterhalten ist! Vielleicht wird Lanalein dann auch etwas offener!“ Sie gackert wie eine Blöde und beobachtet, wie sich ihr NPC mir nähert.
    Lanalein? Die ist wirklich so was von durch... Ätzend.


    Viel ätzender ist allerdings Tyler, weil der seine Hände jetzt langsam in meine Richtung wandern lässt. Er grinst mich immer noch stupide an, und ich grinse genauso hirnlos zurück.
    Und da landet meine Faust auch schon in seinem Gesicht.
    Die Menge schnappt nach Atem. Cynthia schreit auf. Und ich schüttele mir die Faust.
    Gott, warum müssen NPCs immer so harte Gliedmaßen haben.
    Und alle, die jetzt an etwas anderes denken, gehen bitte in die Ecke und schämen sich!


    „Tyler!“, schreit Cynthia und springt elegant wie ein junges Rehkitz von ihrem Thron herunter. Sie schaut den selig grinsenden, jetzt aber weniger lebendig wirkenden Tyler, der sich im Gras zusammenrollt wie ein kleines Baby, fassungslos an und wirft mir dann einen entsetzen Blick zu.
    „Du hast ihn umgebracht!“, kreischt sie hysterisch und die Masse stimmt mit ein. Entnervt halte ich mir die Ohren zu. Warum träumt sie nicht davon, eine Party auf einer Klippe abzuhalten, dann hätte ich wenigstens eine Möglichkeit mich selbst aus diesem Elend zu befreien. Nein, stattdessen sitzen wir in einem Rosengarten fest, Laternen schweben in der Luft und harte Bässe knallen auf meine Ohren.
    „Mein Gott, krieg dich ein“, stöhne ich und trete Tyler leicht gegen den Kopf. „Pfoten unterhalb des Äquators verboten. Oberhalb übrigens auch.“
    Sie deutet anklagend auf mich und lallt einige unzusammenhängende Sätze. Die NPCs umringen mich, als wollen sie sich gleich auf mich stürzen. Eigentlich sollte mich das freuen, allerdings glaube ich kaum, dass das Gewicht von zehn NPCs auf mir mich genug schocken würde, um aufzuwachen. Da würden mir vermutlich eher die Rippen gebrochen werden, und aus Erfahrung weiß ich, dass das wirklich nicht angenehm ist. Also tue ich das einzig Richtige.
    Taktischer Rückzug.
    Ich weiche langsam zur Buffettafel zurück, den Blick auf die wogenden Massen mit Medusa höchstpersönlich als Anführerin gerichtet, habe die Hände hinter dem Rücken und taste mich entlang.
    „Hey, Cynthia“, versuche ich grinsend ihre Aufmerksamkeit von der totalen Zerstörung abzulenken. „Dein Kleid ist wirklich unglaublich!“
    Sie bleibt stehen und schaut mich stirnrunzelnd an. Als die Information zu ihrem betrunkenen Gehirn durchdringt, grinst sie dümmlich und nickt begeistert. Sie setzt gerade zu einer Erklärung an und schaut daher an sich herunter, was ich als Chance nutze über die hüfthohe Buffettafel zu springen und im Eiltempo das Weite zu suchen. Erst als ich schon gute zehn Meter von ihr entfernt bin höre ich ihr verwirrtes „Hey!“. Ich biege schnell in das Labyrinth ein.


    Irgendwie komme ich mir vor wie Daniel Radcliff in Harry Potter 4. Ihr wisst schon, das Trimagische Turnier, bei dem unsere spätere Glitzerfledermaus auf tragische Weise von Plattnase totgezaubert wird. Die Büsche um mich herum scheinen mir auf einmal meterhoch zu sein, und jegliches Licht ist verschwunden. In der Luft schwebt nur noch dicker, dichter Staub, der sich in meinen Lungen absetzt. Ich pruste und keuche, versuche verzweifelt Luft zu holen, aber der Nebel aus feinen Partikeln senkt sich einfach immer weiter auf mich herunter.
    Meine Hände finden ihren Weg in die Dornen der Rosenbüsche. Ich spüre tausende Stiche und das bekannte Gefühl von warmem Blut, das meine Arme hinunterläuft.
    Mit zusammengepressten Augen taste ich mich voran und ignoriere eisern den stechenden Schmerz.
    Cynthia will mich also tatsächlich umbringen. Ich wusste ja schon immer, dass sie mich nicht leiden kann, aber so was... Also wirklich. Da ist jemand aber verdammt nachtragend. Und das nur, weil ich ihre Pradatasche aus Versehen in den Müllcontainer verfrachtet habe.


    Ich bleibe ruhiger als ich es in solch einer Situation eigentlich sein sollte. Aber hey, das hier ist nur ein Traum, da kann man nicht von sterben. Da heißt es cool bleiben und einen Ausweg suchen, und wenn es den nicht gibt, dann ist das auch kein Problem. Ich wache einfach mitten in der Nacht wieder auf und alles ist wie zuvor. Keine blutenden und schmerzenden Hände, keine Staublungen.
    Trotzdem bin ich nicht unbedingt scharf darauf.


    Also öffne ich die Augen nur einen Spalt weit, die eine Hand auf den Mund gepresst und die andere noch immer in den Dornenbüschen vergraben arbeite ich mich voran.
    Der Staub ist viel zu dicht, ich kann nicht einmal zwei Meter sehen. Das Labyrinth sieht aus, als hätte man meine Sicht auf Sepia umgestellt. Alles verschwimmt ineinander und ich spüre, wie mir langsam die Luft ausgeht.
    Mein Atem kommt nur gepresst durch meine Finger. Noch mehr Staub in meinen Lungen und ich werde tatsächlich nicht mehr atmen können. Schnell forme ich mit meiner Hand eine kleine Wölbung über meinem Mund und atme tief ein. Mit zusammen gepresstem Mund zwinge ich mich dazu, weiterzulaufen.
    Warum tut es so weh? Meine Lunge scheint zu platzen. Es tut so weh...
    So hat das noch nie geschmerzt.
    Mir wird kurz schwarz vor Augen. Ich spüre, wie meine Beine unter mir nachzugeben drohen. Ich kann einfach nicht mehr. Was ist denn los? Mir geht es doch gut!
    Ich... Ich kann doch nicht sterben...
    Oder?
    Meine Augen tränen und ich kann keinen Atemzug mehr tun. Als hätte ich keinen Platz mehr in meiner Lunge. Als wäre sie restlos mit diesem Staub gefüllt. Ich ersticke.
    Ich... Ich ersticke!


    Da hinten! Ist das Licht? Ich sehe langsam mehr!
    Ich habe keine Angst. Aber mein Herz pocht wie verrückt und die Erleichterung überwältigt mich schon fast.
    In meinen Ohren rauscht es, als ich um die Ecke biege, immer diesem blassen Lichtschimmer hinterher.
    Ein flüchtiger Gedanke schleicht sich in meinen Kopf. Was ist denn, wenn das das berühmte Licht am Ende des Tunnels ist? Gehe ich gerade etwa wirklich dem Himmel entgegen?
    Was ist, wenn ich aufwache und tot bin?
    Halt, Moment mal... Ich kann doch nicht einfach aufwachen und dann-


    Ich zucke in meinem Bett zusammen. Für einen Moment liege ich nur keuchend unter der Bettdecke und spüre, wie trocken mein Atem ist.
    Von weit entfernt dringt das Geräusch von Vibrationen an mein Ohr. Verwirrt drehe ich meinen Kopf zum Nachttisch, wo ein grelles, weißes Licht mich blendet. Ich stöhne laut und frustriert.
    Langsam tasten meine Hände zur Quelle allen Übels.
    Ich spüre immer noch, wie sich Dornen in meine Finger bohren. Aber sie sind nicht nass und warm. Sie sind unversehrt, genauso wie immer. Kein Grund sich Sorgen zu machen.
    Aber dafür bin ich schweißgebadet. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, ein grässliches Gefühl. Ich kann schon wieder nur mühevoll atmen.
    Meine Finger zittern, als sie sich um mein Handy schließen. Ich führe es langsam zu meinem Gesicht, presse mit einem Grummeln die Augen zusammen und drücke blindlings die Tasten.
    Selbst wenn ich mir einrede, dass mir nichts passieren kann... Ich habe doch immer wieder Angst. Weil der Tod so real wirkt, weil es weh tut, als würde ich wirklich sterben. Man sollte meinen, man gewöhnt sich daran, aber... Schmerz bleibt Schmerz.
    Ich blinzle in das grelle Licht hinein, bis sich schließlich meine Sicht wieder normalisiert. Das Handy vibriert in meiner Hand, ein Icon leuchtet darauf wie wild, darunter einige Buchstaben.
    Holly. Holly ruft mich an.
    Ein Blick auf meinen Wecker verrät mir die Uhrzeit. Zwei Uhr und ein paar zerquetschte Minuten.
    Zum Teufel noch mal! Wer ruft denn um so eine beschissene Zeit bitte an?!
    „Hast du eigentlich einen Plan wie spät es ist?“, zische ich ins Telefon, sobald ich den Anruf angenommen und es an mein Ohr geführt habe. Meine freie Hand bearbeitet meine Schläfen.
    Dieser Traum hat mich wirklich fertig gemacht.
    Insgeheim bin ich froh, dass Holly mich angerufen hat.
    „Zwei Uhr dreizehn“, antwortet sie mir im Flüsterton.
    Ich hole einmal tief Luft und unterdrücke den Reiz, einen frustrierten Schrei abzulassen.
    „Das war eine rhetorische Frage, oder?“, nuschelt Holly in mein Ohr. Ich gebe einige grummelnde, definitiv nicht menschlich klingende Töne von mir. Die Antwort erübrigt sich, das merkt sie wohl.
    „Was ist denn?“, frage ich mit krächzender Stimme. Grässlich, mein Hals ist so unglaublich trocken, dass jedes Wort in meiner Kehle schmerzt.
    „Ich...“ Sie zögert, alles was ich höre ist das Rascheln von Stoff. Mühsam richte ich mich auf, knipse meine kleine Nachttischlampe an und suche blindlings nach einer Flasche Wasser, die eigentlich neben meinem Bett stehen sollte. Irgendwann spüre ich den Flaschenhals.
    Das Handy zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt drehe ich den Deckel auf. Ein Zischen schallt viel lauter durch den Raum, wie ich eigentlich dachte. Es ist so leise hier. Meine Dielen knarzen.
    „Holly?“, flüstere ich ins Handy. Ich weiß nicht, warum. Ich habe einfach das Gefühl, dass es besser so ist. Dass ich nicht laut sein darf.
    Meine Kehle schnürt sich zu, als ich den ersten Schluck nehme. Das Wasser belebt mich wieder etwas, es kühlt und beruhigt mein schmerzendes Herz.
    „Ich habe jemanden getroffen.“
    „Na und? Passiert in Träumen. Ich wurde gerade beispielsweise von unserer High-School-Zicke gejagt, also mach dir nichts draus“, unterbreche ich sie. Meine Flasche ist eingeklemmt zwischen meinen Knien und mit meiner freien Hand kratze ich mir über mein Bein. Sofort sehe ich rote Striemen darauf.
    „Nicht so begegnet“, erwidert Holly etwas aufgewühlt. „Eben... begegnet.“
    Ich runzele meine Stirn. Was meint sie denn jetzt bitte?
    „Sprich Klartext, bitte. Anspielungen kann ich jetzt nicht gebrauchen.“ Ich schmecke den pappigen Belag in meinem Mund und setze die Flasche zu einem weiteren Schluck an.
    „Einem Traumwanderer.“
    Mir bleibt der Schluck mitten in der Kehle hängen. Die Flasche noch angesetzt starre ich auf meine Füße.
    Noch jemand? Okay, komm schon. Das kann nicht sein. Ich habe in siebzehn Jahren nur meine Grandma gehabt, und jetzt soll ich innerhalb einer knappen Woche gleich zwei treffen? Niemals. Die Chance im Lotto zu gewinnen ist höher! Glaube ich...
    „Lana?“
    Ich blinzele und setze die Flasche ab. Mein Hals schmerzt, als ich viel zu viel Wasser auf einmal herunterschlucke.
    „Wie bitte?“, krächze ich.
    „Ich habe gesagt-“
    „Das habe ich schon verstanden!“, unterbreche ich sie ungeduldig. „Das meine ich nicht. Noch eine Traumwanderin?“
    „Äh, nein... Nicht Wanderin... Genauer gesagt, war es ein... Kerl.“
    Ich überlege zwei Sekunden, mehr nicht. Und dann fange ich an zu lachen.
    „Das kann nicht sein, Holly“, grinse ich. „Diese Gabe wird nur bei weiblichen Mitgliedern vererbt. Das habe ich dir doch erzählt!“
    „Er wusste unsere Namen, Lana“, flüstert Holly eindringlich. Und da vergeht mir mein Grinsen.
    „Bist du dir sicher, dass du nicht einfach nur geträumt hast?“, krächze ich. Das Klacken meiner Uhr über meinem Schreibtisch macht mich nervös. Warum antwortet sie nicht?
    „Bin ich, Lana.“


    Als ich auflege, mich auf den Bauch drehe und mein Gesicht ins Kissen presse, möchte ich am liebsten schreien. Holly hatte mir nur ein paar Gesprächsfetzen mitteilen können, da war in dem Flur vor ihrer Tür ein Licht angegangen. Wir haben uns für sieben verabredet, damit wir mehr Zeit zum Reden haben.
    Es ist zwei Uhr fünfunddreißig. Ich kann jetzt sicherlich nicht mehr schlafen.
    Dieser Junge hat seinen Namen nicht genannt. Aber er wusste zu viel. Ich habe Holly nie erzählt, dass ich auf einer christlichen Elementary School war. Sie weiß auch nicht, dass mein Vater bei einem Autounfall ums Leben kam.
    Er wusste es. Woher wusste er es?
    Was ist das für ein Kerl, der mir nichts dir nichts auftaucht und... und einfach meint, mein ganzes Privatleben kennen zu müssen?!
    Ich lege meinen Kopf zur Seite und starre auf meine Lampe. Leichter Staub schimmert im Licht und tanzt in der Luft. Mein Handy liegt da.
    Vielleicht kann ich sie jetzt wieder anrufen. Vielleicht haben wir jetzt wieder Zeit...
    Nein. Vermutlich nicht. Wenn ihre Eltern herausfinden, dass sie mitten in der Nacht mit einer Spinnerin wie mir telefoniert, dann werden sie sie vermutlich einliefern lassen.
    Ich muss also warten.
    Eine Minute ist ja auch schon rum.
    Nur noch drei Stunden und vierundzwanzig Minuten.
    Scheiße.


    Als ich das nächste Mal meine Augen öffne, dringt fahles Licht durch meine Vorhänge. Ich spucke meine Haare aus, die irgendwann während meines K.O.-Schlafs in meinen Mund gefunden haben und richte mich stöhnend auf. Mein Rücken ist vollkommen verdreht und ich bin auf dem Bauch weggenickt, weswegen ich jetzt ein grässliches Gefühl der Übelkeit habe, die immer höher meinen Hals herauf kriecht.
    Fünf Uhr siebenundfünfzig. Genau rechtzeitig.
    Ich schwinge meine Beine über meinen Bettrand und halte mich schwankend daran fest. K.O.-Schlaf klingt nicht angenehm, und das ist er auch nicht. Denn auch wenn man danach etwas erholter ist, fühlt es sich beim Aufwachen doch an, als hätte man dich mit einem gekonnten Faustschlag außer Gefecht gesetzt. Und dementsprechend brummt mein Schädel jetzt auch.
    Das hört nach fünf Minuten meist wieder auf, aber trotzdem ist es unangenehm.


    Als ich um halb sieben nach unten schleiche, stecke ich in bequemen Klamotten. Ich hatte heute einfach keinen Drang, mir großartige Sorgen um meine Klamotten zu machen. Ich trage eine einfache Jeggins, diese Leggins in Jeansoptik, darüber einen weiten, türkisfarbenen Pullover, der mir bis knapp über den Hintern reicht. Meine Haare sind auch jetzt noch ein großes Chaos, denn nicht einmal mit roher Gewalt habe ich sie bändigen können. Daher stecken sie jetzt verknotet in einem unordentlichen Pferdeschwanz, von dem mir die Hälfte auch wieder im Gesicht hängt. Nicht einmal geschminkt habe ich mich. Ich stand die ganze Zeit in meinem Badezimmer, habe mein Spiegelbild angestarrt und gegrübelt.
    Woher weiß dieser Traumfänger alles über mich?
    Warum ist er überhaupt ein Traumfänger?
    Ich meine, das ist bisher noch nie vorgekommen!


    Egal wie sehr ich auch darüber nachdenke, alles was dabei herauskommt sind eine Zeitverschwendung und grässliche Kopfschmerzen.
    „Wieder einen schlechten Traum erwischt?“
    Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch.
    Seit wann stehe ich denn in der Küche? Und wie ist dieser Toast in meinen Mund gelangt?
    Schnell nehme ich ihn aus der Futterluke heraus und schlucke den Bissen herunter.
    Lulu steht im Türrahmen, mit wirrem, grauem Haar, in ihren rosa Bademantel gehüllt. Sie scheint schon eine Weile wach zu sein, denn in ihrer Hand dampft eine Tasse heißer Tee vor sich hin. Sie sieht mich wissend an.
    Ich schüttelte den Kopf und hieve mich auf den Küchentresen. Meine Beine baumeln gegen die Holzschränke und fabrizieren dabei ein leises, gleichmäßiges Klopfen.
    „Holly hat mich heute Nacht angerufen“, beginne ich langsam und zögerlich. Ich kann Lulu nicht in die Augen schauen.
    Warum eigentlich nicht? Selbst wenn Holly wirklich Recht hat, und danach sieht es im Augenblick auch aus, warum widerstrebt mir der Gedanke denn so?
    Es ist doch eigentlich nichts Schlechtes, dass es mehr von uns gibt. Nein, eigentlich ist es ja genau das Gegenteil von schlecht, aber...
    Es passiert einfach zu schnell.
    Erst Holly, jetzt dieser Typ. Woher weiß er von uns? Wie hat er es geschafft in denselben Traum zu geraten wie sie? Hat dieser Korridor damit zu tun?


    Ich habe einfach zu viele Fragen. Es macht mich fertig. Von einen Tag auf den anderen so viele Informationen zu bekommen. Und die auch nur teilweise. Ich weiß immer noch nicht, was es mit diesem Korridor und den Türen auf sich hat. Ich will es wissen.
    Warum weiß Holly eigentlich von etwas, das ich nicht weiß? Das nicht einmal Lulu kennt?
    „Mitten in der Nacht?“
    Ich schaue wieder auf. Grandma hat sich gesetzt und schaut auf den Strauß bunter Blumen, die in einer gläsernen Vase auf unserem Küchentisch stehen. Meine Mum hat einen Faible für Botanik, auch wenn ihr grüner Daumen eher in Richtung pechschwarz geht.
    Ich nicke müde und reibe mir die Augen.
    „Ich... ach, ist auch egal.“
    Nachher irrt sich Holly doch.
    Nachher ist der gesamte Trubel für die Katz.
    Ich sehe einfach keinen Nutzen meine Grandma mit so etwas zu belasten. Sie hat genug eigene Probleme mit ihrem Traumfängerdasein.
    Ich weiß, dass sie es glücklich machen würde, mehr Leute ihrer Art kennen zu lernen. Sie ist nicht so viel anders wie Holly und ich. Wir haben uns alle drei immer etwas unverstanden gefühlt. Es ist ja nicht einmal der Fehler unserer Mitmenschen, denn seien wir mal ehrlich, würde mir jemand sagen, dass er mich letzte Nacht in meinen Träumen besucht hat, dann würde ich ihn auch mit einem engelsgleichen Lächeln in Richtung Psychiatrie verweisen.
    Besonders zu sein macht einsam. Und besonders traurig ist das, wenn man nicht mal etwas dafür kann.


    Lulu wirft mir nicht einmal einen fragenden Blick zu. Sie weiß, dass ich es ihr sagen würde, wenn ich einen Grund dafür sähe. Sie vertraut mir. Und umso sehr hoffe ich darauf, dass Holly sich nicht geirrt hat. Weil es Grandma glücklich machen würde.
    Auch wenn ich selbst... Angst davor habe.
    Warum ausgerechnet Angst?
    Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.


    Und so verbringen wir das Frühstück mit Schweigen. Sie versucht nicht, mir eine Antwort zu entlocken. Wir lauschen einfach der Musik und den Stimmen, die aus unserem Radio dringen, und stopfen Toast in uns hinein.


    Um zehn vor sieben schultere ich meine Tasche, in der ich hastig meine Sachen verstaut habe, weswegen jetzt vermutlich alle Blätter geknickt sind. Ich schlüpfe in meine ältesten Turnschuhe, die schon kurz vorm Auseinanderfallen sind, und greife mir die erstbeste Jacke, die ich sehe.
    Dann bin ich auch schon aus der Tür verschwunden, noch bevor Grandma etwas sagen kann.
    Ich mag Stille nicht. Ich bin ihr dankbar, dass sie mich nicht dazu gezwungen hat, etwas zu sagen, aber diese Ruhe zwischen uns ist mir unangenehm. Weil ich ihr bisher eigentlich immer alles sagen konnte. Unsere Fähigkeit hat mich mit ihr noch sehr viel tiefer verbunden als mit meiner Mum. Noch dazu ist sie es, die den ganzen Tag bei mir ist. Mum geht arbeiten, was ich ihr ja auch nicht übel nehme. Ich habe ja Lulu, da wird es nicht so schnell einsam, aber trotzdem wäre es ab und an schön, sie doch länger als nur ein paar Stunden pro Tag zu sehen.
    Wann haben wir eigentlich das letzte Mal zusammen Urlaub gemacht?
    Ich kann mich vage an einen Sommer am Strand erinnern. Da lebte auch mein Dad noch. Er strahlt mich an und Hand in Hand gehen wir zum Meer.
    An diesem Tag hat mich eine große Welle überrollt und ich habe mich für mehr als drei Jahre nicht mehr ans Wasser getraut. Obwohl Dad mich damals gerettet hat. Meine Eltern fanden es lustig, dass ich gedacht habe, dass ich ertrinke. Aber für mich war es alles andere als lustig.
    Ein Seufzen entkommt mir.
    Das sieht mir gar nicht ähnlich. Ich schwelge nicht in Erinnerungen, weil es keinen Sinn hat. Ich hänge einfach keinen trübseligen Gedanken hinterher. Ich bin stark. Ich muss stark sein.


    Irgendwann schaffe ich es tatsächlich, die tristen Gedanken irgendwie zu verscheuchen. Ein Wunder wenn man bedenkt, wie es in meiner Umgebung gerade so aussieht. Die Wolken hängen in tiefen Schluchten vom Himmel, und diesmal schafft die Sonne es auch nicht, hindurch zu dringen. Vereinzelt fallen leichte Tropfen auf meinen Kopf, rinnen meine schwarzen Strähnen herunter und berühren mich mit einer sanften Kühle.
    Ich sehe niemanden, alles scheint wie ausgestorben. Keine Autos, keine Menschen. Niemand, der mit seinem Hund einen Spaziergang macht. Nichts. Als wolle man mich förmlich dazu zwingen, melancholisch zu werden. Ätzend.


    Holly wartet schon auf mich, als ich um die Ecke biege. Unser Torwächter schaut mich neugierig an, als könne er es gar nicht fassen, dass es tatsächlich jemanden gibt, der freiwillig so früh an unsere Schule kommt. Als würde ich mich darauf freuen, pah!
    „Guten Morgen!“, verkündet Holly mit einem Lächeln, aber ich sehe, wie sehr ihre Finger zittern. Sie wirkt müde und angespannt. Kein Wunder wenn man bedenkt, dass sie innerhalb von zwei Wochen gleich drei Menschen findet, die die gleiche Fähigkeit haben, wie sie selbst. Wo sie doch so davon überzeugt war, einfach nur ein Problem zu sein.
    Ich nuschele halbherzig eine Antwort und schaue vorsichtig zurück. Auch wenn er uns nicht direkt anschaut, unser hispanischer Torwächter lauscht ganz genau. Und gerade haben seine Augen doch kurz zu uns gezuckt.
    „Lass uns rein gehen“, raune ich Holly zu, greife ihren Arm und schleppe sie ins Gebäude.


    „Er wusste also, dass mein Vater gestorben ist?“, frage ich zur Sicherheit noch einmal.
    Holly nickt, während ich vor der Theaterbühne auf und abgehe. Wir haben uns in der Aula verschanzt, wo der Theaterkurs gerade für Romeo und Julia übt. Meine Freundin hockt vor Julias Balkon.
    Überall wohin ich schaue nur Shakespeare. Hätte dieser Kerl damals gewusst, dass er heute so eine Nummer ist... Ich glaube, er wäre vor Freude schon im zarten Alter von 18 dahingeschieden. Dann wäre er allerdings auch nicht berühmt geworden und...
    Ach, Schluss jetzt!
    Ich schüttele ungeduldig den Kopf.
    „Stimmt das denn?“ Holly schaut mich mit großen Augen an.
    „Ja“, meine ich leicht hin. „Autounfall.“
    „Das... Das tut mir Leid“, murmelt sie und senkt ihren Blick auf ihre Finger. Ihre Nägel sind vollkommen zerkaut und als ich meine ansehe, ist es auch nichts anderes. Nervöse Ticks sind bei unserer Art von Begabung einfach ein Muss. Als ob wir nicht schon gestraft genug wären.
    „Ich sollte nicht einmal etwas davon wissen.“
    „Ist nicht deine Schuld. Ich meine, du hast mich wenigstens nicht gegoogled“, meine ich mit einem Schulterzucken. „Wann hattest du eigentlich vor uns darüber zu informieren, dass deine Familie reich ist?“
    Holly wird ganz blass um die Nase. Sie steckt sich ihren Zeigefinger in den Mund und kaut darauf herum.
    „S-So reich sind wir nun auch wieder nicht“, nuschelt sie.
    „Deine Familie führt eine der bekanntesten Pharmaindustrien an. Wenn du nicht reich bist, dann sie die Bunnys aus der Playboy Villa unschuldige Nagetiere.“ Ich grinse schief.
    „Wir sind doch nur auf Rang drei der einflussreichsten Familien...“, behauptet Holly ganz bescheiden und kratzt sich verlegen am Hinterkopf. Ich hebe eine Augenbraue und mache den Mund auf, um etwas zu sagen-


    „Das ist so nicht ganz richtig. Aktuell liegt Ashdown Industries auf Rang 2 der einflussreichsten Unternehmen in ganz Europa. Mit der Expansion nach Amerika wird sich dieser Rang stabilisieren und es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Unternehmen auch weltweit einen großen Einfluss hat.“
    Ich fahre erschrocken herum.
    Und da stehen sie, zwei Jungen, der eine etwa in meinem Alter, der andere scheinbar Anfang zwanzig.
    Und als ich sie so sehe, im Halbschatten, denn wir haben nur die Bühnenbeleuchtung etwas hochgedreht, da bleibt mein Herz stehen.
    Holly drückt ihr Gesicht in meinen Rücken und haucht beinahe panisch in mein Ohr.
    „Das ist er! Der war im gleichen Traum wie ich!“
    Sie musste mir nicht einmal sagen, welchen von beiden sie meint. Es war offensichtlich.
    Als sich meine Augen endlich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich wie unterschiedlich die beiden waren.
    Der Ältere, der uns so höflichst darüber aufgeklärt hat, dass Hollys Familie bald wohl noch einen Batzen Kohle mehr verdienen wird, lächelt uns leicht an. Er ist blass, aber nicht kränklich. So stelle ich mir einen College Typen vor, die der ganz besonders angesagten Sorte. Kantiges Gesicht mit mandelförmigen Augen, leichte Sommersprossen, die ihn irgendwie jünger erscheinen lassen, dunkelbraunes, gestyltes Haar, eine breite Statur und einen leicht arroganten Ausdruck im Gesicht. Nicht zu extrem, dass man ihn auf den ersten Blick hassen kann, aber gerade so, dass man weiß, dass dieser Kerl über eine gewisse Portion Selbstbewusstsein verfügt.
    Der Jüngere hält sich noch etwas tiefer im Schatten versteckt, aber mit der Zeit kann ich auch ihn gut erkennen. Er hat die Arme vor der Brust verschränk und schaut uns aus dem Augenwinkel mit beinahe emotionslosem Gesicht an. Aber eben nur beinahe. Ich sehe deutlich, dass er mehr als nur bloß wachsam ist. Er beobachtet jede Bewegung von uns schon beinahe wachsam, als wären wir Gegner, die er analysieren muss. Ein merkwürdiges Gefühl, von diesen Augen gemustert zu werden. Denn auch wenn sie im Schatten liegen, kann ich deutlich sehen, dass sie nicht ganz normal sind.
    Es habe schon mal jemanden gesehen, der ähnliche Augen hatte. Damals gab es ein Mädchen in der Elementary School, die so helle, braune Augen hatte, dass sie schon fast blassgelb erschienen. Sie waren umgeben von einem grünen Rand. Ich habe sie damals um diese Farben beneidet, wo ich selbst recht normale, blaue Augen habe. Die haben eben sehr Viele.
    Bei ihm sieht es ähnlich aus. Aber dadurch, dass kein Licht in seine Augen hineinfällt, wirken sie leer. Er hat tiefe Augenringe und eingefallene, blasse Wangen. Seine Finger klopfen unruhig auf seinem Arm herum und mit einem Fuß scharrt er auf dem Boden.


    Ganz klar. Er ist der Traumfänger. Das Aussehen, das Benehmen, alles stimmt überein.
    Aber er ist ein Kerl. Und damit komme ich immer noch nicht klar.
    „Und ihr seid...?“, rufe ich schließlich laut genug, dass sie es auch verstehen. Bisher hat sich noch niemand gerührt und irgendwie muss ich das grässliche Schweigen brechen. Meine Stimme hallt krächzend an den hohen Wänden zurück.
    Verdammt. Es hört sich an, als ob ich Angst hätte.
    Und das habe ich auch. Mein Herz schlägt mir bis zu Hals und ich merke, wie der altbekannte Kloß wieder meinen Rachen blockiert. Ich bearbeite nervös meinen Pullover.
    Wieso sind die Leuchter plötzlich so heiß? Ich spüre, dass ich anfange zu schwitzen.
    Sie sollen es nicht mitbekommen. Denn gerade jetzt muss ich stark für zwei sein. Holly hinter mir zittert wie Espenlaub und versteckt sich noch immer vor den beiden Kerlen.
    Der Ältere steigt locker die Stufen hinab und richtet sich dabei kurz an seinen Begleiter, allerdings so leise, dass ich nichts verstehe. Der Jüngere verzieht das Gesicht, murmelt ganz deutliche Flüche und ringt sich schließlich dazu ab, ihm zu folgen.
    „Es ist ziemlich unhöflich, Gespräche von anderen zu belauschen“, behaupte ich, nachdem ich mich wieder etwas gefangen habe, mit einer verblüffenden Sicherheit in der Stimme, die ich selbst gerade allerdings gar nicht habe.
    Der Braunhaarige bleibt mitten in der Bewegung stehen und schaut mich für einen Moment mit so etwas wie Verblüffung im Gesicht an. Dann legt er den Kopf schief und lacht. Es schallt im gesamten Raum wieder.
    „Da hast du wohl Recht, Lana.“
    Ich zucke zusammen.
    Macht nur Sinn, dass sie meinen Namen kennen, wenn sie schon wissen, dass mein Vater gestorben ist.
    Trotzdem wüsste ich gerne, warum.
    „Und genauso unhöflich ist es, die Privatsphäre anderer zu verletzen und mal eben ihre gesamte Lebensgeschichte auswendig zu lernen“, fahre ich fort und merke, wie sich immer mehr Aggression in meine Stimme schleicht. Gut so. Keine Unsicherheit mehr. Sollen diese Idioten doch gleich merken, dass sie mit mir nicht alles machen können.
    „Ja, das stimmt wohl auch“, lächelt der Ältere. Auf seiner Stirn bilden sich langsam Sorgenfalten. Als wäre er nicht darauf vorbereitet gewesen, auf Widerstand zu treffen.
    „Darf ich es zumindest erklären?“
    Er steht jetzt nur noch drei Meter von der Bühne entfernt. Holly umschlingt meinen Arm und lugt über meiner Schulter hervor. Ich merke, wie meine Finger anfangen zu zittern, aber ich halte seinem Blick stand. Er hat schöne, dunkel braune Augen, in denen tatsächlich so etwas wie Reue liegt.
    „Na auf die Erklärung bin ich aber gespannt“, murmele ich, nicke aber.


    „Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen“, beginnt er, nachdem sich die beiden jeweils einen Stuhl organisiert haben. Er sitzt locker auf seinem, während sein stummer Begleiter seine Sitzgelegenheit herumgedreht hat und sein Kinn auf seinen übereinandergeschlagenen Armen, die auf der Lehne ruhen, liegt. Seine Augen sind nur zum Teil offen, aber ich spüre, dass er uns beobachtet. Es macht mich nervös.
    „Mein Name ist Benjamin Chamberlain und mein Begleiter heißt Nicholas Shepherd.“
    Ich höre, wie Holly laut einatmete und mir hektisch in die Seite stößt.
    „Chamberlain!“, flüstert sie mir zitternd ins Ohr. „Und Shepherd.“
    Ja. Das sind die Namen, die wir gegoogled haben. Vor drei Tagen, als wir auf diese Website gestoßen sind, auf der das Wappen mit der Mohnblüte war.
    Sie sind es also wirklich.
    Ich hatte schon darüber nachgedacht, aber den Gedanken als absurd aussortiert. Es gab einfach noch keine männlichen Traumfänger. Davon wurde noch nie berichtet.
    Aber es ist eindeutig. Benjamin und Nicholas sind entfernt mit uns verwandt. Sie sind die Nachfahren derjenigen, die in Grandmas Stammbaum vermerkt wurden.
    „Wie ihr sicherlich wisst“, beginnt Benjamin. Ich schaue auf und versuche, mir alles was er sagt genau zu merken. Das könnte wichtig sein. „Nicholas hier ist ein Traumwanderer. Ich habe dieses Talent nicht, allerdings sind wir Cousins dritten Grades, und da mein Vater das Familienunternehmen leitet, haben wir privat viel miteinander zu tun. Wir sind uns so nahe wie Brüder.“
    „Schön für euch“, grummele ich und vergrabe meine Fingernägel in meinem Arm. „Wenn du mir jetzt noch erklären könntest, was das Familienunternehmen ist...?“
    „Oh, stimmt. Nun, für euch muss ich wohl ganz von vorne anfangen“, stellt er fest und reibt sich über die Stirn.
    „Oh, stell dir vor“, kommentiere ich das Ganze- milde gesagt- angepisst. Er lässt sich davon aber nur eine kleine Millisekunde ablenken, dann weicht sein ernster Gesichtsausdruck wieder einem kleinen Lächeln.
    „Ihr wisst, dass die von Wellingtons einen großen Kreis an Nachfahren hat, oder?“, wendet er sich schließlich wieder an uns.
    „Ja“, antworte ich und trete gegen die Bühne. Nicholas mustert mich immer noch wie einen Frosch, den er gleich sezieren möchte. „Lulu hat mir einen Stammbaum gezeigt, der allerdings vor ein paar Jahrzehnten zu Ende ist.“
    „Lulu?“ Benjamin runzelt die Stirn.
    „Meine Grandma. Sie ist auch eine Traumwanderin.“
    Seine Augen beginnen augenblicklich zu leuchten. Selbst Nicholas richtet sich gerade auf und öffnet die Lider jetzt auch ganz.
    „Das ist gut!“, stößt der Ältere erfreut aus. „Sie könnte einen Stammbaum haben, der uns bei unserer Ahnenforschung hilft!“
    „Schön für euch“, zicke ich weiter und werfe Nicholas einen tödlichen Blick zu. Zufrieden stelle ich fest, dass er sich wieder von mir abwendet. Dunkle, leicht zerzauste Strähnen fallen ihm ins Gesicht.
    Benjamin räuspert sich kurz und versucht scheinbar angestrengt, seine gute Laune etwas zu zügeln. Er gibt sich zumindest etwas Mühe dabei, und irgendwie fühle ich mich schlecht dafür, dass ich ihn direkt so anfahre. Ich meine, er kann auch nichts dafür, dass es in letzter Zeit einfach zu viel wird.
    Aber ich kann einfach nicht anders.
    „Ihr wisst also auch, dass eure Fähigkeit über die Gene vererbt wird, richtig?“
    „Ich habe mir so etwas schon gedacht, ja“, antworte ich bemüht ruhig. „Aber wie kann so etwas vererbt werden? Ich meine, Gene äußern sich doch nur körperlich, und nicht darin, dass unser Unterbewusstsein nachts entscheidet, mal eben nen Abflug zu machen.“
    „Das stimmt“, bestätigt er mir. „Ich erwähnte ein Familiengeschäft, nicht wahr? Schon seit langer Zeit beschäftigen sich die Nachkommen der von Wellingtons mit ihrer Begabung. Das ist nur natürlich, immerhin macht es sie aus. Erst konnten sie es sich nicht erklären und schoben das Traumwandern auf parapsychologische Ursachen. Das ist aber nicht der Fall. Die Technologien haben sich weiterentwickelt und wir konnten mit dieser an verschiedenen Betroffenen Tests durchführen, die eindeutig bewiesen haben, dass es eigentlich ganz einfach ist.“
    Er macht eine Pause. Hollys Griff verstärkt sich. Ich spüre meinen Arm schon nicht mehr, aber ich kann nur noch Benjamin anstarren.
    Tests? Sie sind die Sache wissenschaftlich angegangen und zu einem Ergebnis gekommen?
    Wie?
    Wieso konnten das meine Ärzte damals denn nicht?
    „Ihr habt sicherlich davon gehört, dass normale Menschen ihr Gehirn nur zu etwa 30% nutzen.“
    Holly nickt und beginnt, laut zu denken: „Es gibt Theorien, dass man mit einer gezielten Nutzung der restlichen 70% sogar dazu fähig sein könnte, telekinetische Kräfte zu entwickeln.“ Als sie merkt, dass sie laut gesprochen hat und wir sie angespannt ansehen, versteckt sie sich wieder hinter meinem Rücken. Sie drückt ihr Gesicht in meinen Pullover.
    „Und genau das ist die Ursache für diese Familiengabe. Es ist von Natur aus eigentlich nicht vorgesehen, dass der Mensch viel mehr als 30% seines Gehirns benutzt. Der andere ist eine Art Absicherung für den Fall, dass einer ausfällt. So etwas wie ein Zusatzspeicher, der nur im Notfall benutzt wird. Bei den Betroffenen ist das anders. Sie benutzen knapp 60%, also etwa doppelt so viel.“
    „Und dadurch sind wir dazu fähig, in die Träume anderer Leute einzudringen?“ Ich runzele die Stirn und ziehe die Oberlippe ungläubig hoch. Komm schon, das kann nicht euer Ernst sein. Es hört sich ja vielleicht wissenschaftlich an, aber...
    „Genau genommen dringt ihr in die Psyche eines Menschen ein. Es gibt einige, die das bewusst steuern können- zu diesen zählt auch Nicholas hier- und einige, die es nicht können.“
    „Das bin dann wohl ich“, murmele ich angespannt.
    „Ja, im Moment noch.“ Benjamin hält seine Hände auf wie zwei Waageschalen. „Wir haben aber eine Methode entwickelt, wie wir eure Fähigkeiten weiter ausbauen können. Und damit könntest du dann auch in der Lage sein, den Korridor zu sehen.“
    Ich horche auf.
    Der Korridor.
    Dann bedeutet das, dass Holly eine derjenigen ist, die begabter sind als ich. Weil sie den Korridor auch ohne Training sieht.
    „Und das bedeutet was genau?“, frage ich mit leicht zusammengekniffenen Augen.
    „Dann kannst du dir aussuchen, in welchen Traum du gehst. Du kannst die Türen öffnen und schauen, welcher dir am besten gefällt.“
    „Heißt das... Nie wieder Kettensägenmörder im Omakleid?“, stoße ich zu schnell und zu unüberlegt aus. Ich ernte einen verdatterten Blick von Benjamin und eine hochgezogene Augenbraue von Nicholas.
    Oh Gott, warum rede ich nur immer bevor ich denke?
    „Äh, ja, das bedeutet es“, meint Benjamin mit einem unsicheren Lächeln.
    Meine Gedanken laufen Amok.
    Das wäre einfach wundervoll! Ich könnte mir ganz einfach einen schönen, ruhigen Traum aussuchen und die Füße hochlegen. Nie wieder Kämpfe auf Leben und Tod! Nie wieder Partys von Schuloberzicken!
    Da verstärkt sich Hollys Griff um meinen Arm.
    Verwirrt drehe ich mich zu ihr um.
    „Was ist denn?“, raune ich ihr leise zu, damit die anderen beide es nicht unbedingt mitbekommen.
    „Ich traue ihnen nicht“, flüstert sie mir ebenso leise zurück. Ihre Augen haften auf den Jungen, die sich anschauen und nur über Blicke miteinander verständigen.
    Sie verstehen sich tatsächlich so gut, dass es reicht, sich nur anzuschauen. Das klappt zwischendurch bei Ames und mir auch. Aber eben nur manchmal. Diese beide reden gerade scheinbar Romane, nur über Augenkontakt.
    „Warum nicht? Sie sind doch genauso wie wir“, behaupte ich.
    Holly schenkt mir einen angespannten Blick, ihre Stirn ist gerunzelt.
    Und da schleichen sich schließlich die ersten Zweifel in meine Gedanken hinein.


    Weiß ich das denn so genau?
    Sie wissen alles von uns, aber wir wissen kaum etwas von ihnen. Ist es denn richtig, direkt alle meine Hoffnungen auf sie zu laden?
    Was haben sie denn bisher getan, um für mich vertrauenswürdig zu erscheinen?
    Mal davon abgesehen, dass sie ganz zufällig drei Tage nach unserem Besuch auf der Familienwebsite hier auftauchen und meine gesamte Lebensgeschichte kennen?
    Ich schlucke.
    Holly hat Recht. Ich sollte vorsichtiger sein.
    Mein Bauchgefühlt stimmt ihr zu. Nicholas löchert mich immer noch mit Blicken, und wenn ich mir Benjamins Lächeln länger ansehe, dann... Es wirkt freundlich, aber... Ich merke einfach, dass mehr dahinter steckt.
    Verdammt. Was soll ich denn jetzt sagen? Wie soll ich reagieren?!
    Ich kann ihnen nicht blind vertrauen. Ich bin nicht nur für mich, sondern auch für Holly und Lulu verantwortlich. Wenn ich einen Fehler mache, dann wirkt sich das auf alle drei aus, nicht nur auf mich.
    Aber ich will mehr erfahren. Ich möchte wissen, was die Ergebnisse dieser Tests sind. Ich will wissen, wie ich es kontrollieren kann.
    Ich will jetzt nicht so weitermachen müssen, wo ich gerade herausgefunden habe, dass es auch anders geht, ich will-


    Da läutet die Schulglocke. Ich springe auf und reiße meine Tasche an mich. Holly stolpert von der Bühne herunter.
    „Wir reden später weiter“, presse ich schnell hervor und noch bevor Benjamin etwas sagen kann, rauschen wir schon davon. Ich höre noch, wie er uns etwas hinterherruft, aber ich gebe mir nicht einmal Mühe, es zu verstehen.
    Es war knapp.
    Beinahe hätte ich nachgegeben.
    Holly umschlingt immer noch meinen Arm und schaut sich um wie ein gehetztes Tier.
    Wir sind beide mit den Nerven am Ende, das merke ich, als wir im Klassenraum erschöpft auf den Stuhl sinken und geschafft auf unsere Pulte starren.


    Es geht zu schnell. Alles geht viel zu schnell. Ich kann meine Gedanken nicht ordnen, sehe nur rauschende Bilder in meinem Kopf.
    Bilder aus Träumen von anderen. Bilder von Holly und Lulu. Bilder von meinem Dad.
    Warum von meinem Dad?
    Warum ausgerechnet jetzt?
    Ich habe Angst. Ein schlechtes Gefühl in der Magengegend. Rasende Kopfschmerzen, die meine Sicht verschwimmen lassen.


    Ich merke erst, dass der Lehrer vor der Klasse steht, als Holly mich anstößt und mit weit aufgerissenen Augen nach vorne starrt.
    „Und deswegen bitte ich euch, euren neuen Mitschüler willkommen zu heißen. Stellst du dich bitte kurz vor?“, spricht er gerade.
    Mein Mund wird trocken und ich spüre, wie meine Hände anfangen zu zittern.
    Nein, das kann doch jetzt nicht wahr sein!
    Wieso zum Teufel-?
    „Mein Name ich Nicholas Shepherd. Ich komme aus England, London. Freut mich, eure Bekanntschaft zu machen.“
    Scheiße.



    Träume


    Träume. Sie sind wunderbar. Du kannst machen, was du willst. Du bist frei. Du willst, was du nicht erlebst.
    Der Traum- er erfüllt deine Wünsche. Schöne Welt. Schönes Leben. Friede, Freude, -
    Was ist das? Du wirst panisch. Schwärze- kommt auf dich zu. Du rennst, rennst immer weiter. Du spürst, wie sie näher kommt. Die Kälte . Sie liebkost deinen Nacken.
    Du bist ein Kämpfer. Kämpfst, willst dich nicht von ihr einhüllen lassen.
    Rennst weg vor der Schwärze. Die Schwärze, die alles frisst. Kämpfst weiter gegen die Kälte.
    Plötzlich stoppst du. Vor dir, eine Klippe. Hinter dir, Kälte und Schwärze. Du springst.



    (c) Dark-Lucy


    Vielen Dank für dieses schöne Drabble ♥

  • So, nun kommt dein langersehnter Kommi von deinem lesbischen Meerschweinchenhalbgott^^


    Wie eigentlich alle deine Schreibwaren ist auch dieses Kapitel wirklich toll. Man kann wenig bis gar nichts aussetzen. Ich schreibe kurze und abgehackte Sätze. Wie immer gibt es fast keine störenden Stellen, von gravierenden Rechtschreibe- und Grammatikfehlern keine Spur und auch stiltechnisch klasse.
    Was mich dennoch stört, ist, dass in diesem doch recht langen Kapitel fast keine Verschnaufpausen da sind. Fast jeder Satz kriegt einen eigenen Absatz, was zwar eine gute Wirkung hat, aber auf die Dauer etwas anstrengend ist. Wenn man noch eine oder zwei solche Pausen einbauen könnte, fände ich es noch besser.


    Noch kurz zum "einweisen": Ich komme jetzt wirklich nicht mehr draus. Ames und Lana kriegen Nachsitzen, der Lehrer erlässt es ihnen aber, wenn sie Holly die Schule zeigen. Dann sagt Holly, dass Ames und Lana ihretwegen Ärger bekommen hätten, was sie aber nicht haben. Dann sagt sie, dass nicht Ames und Lana sie eingewiesen hätten, aber die beiden kriegen keine Strafe. Das ist meiner Meinung nach ziemlich unlogisch.


    Sie ist eines dieser Mädchen, die in einem Jugendroman die Antagonistin des grauen Mäuschens ist und diese immerzu mobbt, bis ein neues Kerl an die Schule kommt und sie durch irgendeinen Zufall an ihn gerät.


    Dieser Vergleich finde ich einfach so toll, dass er eine Erwähnung verdient hat. Solche Mittel setzt du an guten Stellen ein, aber nicht zu häufig. Das mag ich.


    deras Leben


    Die Domina Tusse!
    Mach da Dominatusse oder meinetwegen auch Domina-Tusse draus, so wie das jetzt dasteht, finde ich es recht unschön


    Und alle, die jetzt an etwas anderes denken, gehen bitte in die Ecke und schämen sich!


    Nun, über diesen Satz bin ich recht gestolpert. Er ist lustig, ohne Frage, und er muss auch hin, denn jeder denkt daran, aber ich würde es etwas abändern. Ich habe grad keinen Vorschlag, aber ich würde es so formulieren, dass es besser in den Fluss passt, da dieser Satz momentan mehr stört.

    Tyler!“, schreit Cynthia sie und springt elegant wie ein junges Rehkitz von ihrem Thron herunter. Sie schaut den selig grinsenden


    Prada Tasche
    Dasselbe wie weiter oben, Pradatasche würde ich bevorzugen.


    High School Zicke
    Siehe oben


    Gesicht ins Kissen presse, möchte


    K.O.-Schlafs


    K.O. Schlaf


    Beschränke dich am besten auf eine Schreibweise.


    Als ich um halb sieben nach unten schleiche, stecke ich in bequemen Klamotten


    dieser Toast


    Lass unds rein gehen


    Meine Stimme hallt krächzend an den hohen Wänden zurück.


    Und da schleichen sich endlich Zweifel in meine Gedanken hinein.


    Wieso endlich? Lana hat ja nicht wirklich sehnsüchtig darauf gewartet, dass sie endlich zweifelt.


  • [tabmenu]
    [tab=.]
    So, endlich wieder ein neues Kapitel, herrje, das hat lange gedauert, ich entschuldige mich aufrichtig dafür. *verbeug*
    Wenigstens kommt die Story jetzt mal ein wenig in Schwung, den Hauptkonflikt haben wir allerdings immer noch nicht erreicht :D
    Kommen wir aber erst mal zum Kommentar~


    Viel Spaß beim Lesen! :)
    [tab=Buxi]


    [/tabmenu]


    IV. L U C I D
    As You Like It



    Ich kann es nicht fassen. Ich. Kann. Es. Nicht. Fassen!
    „Holly? Setzt du dich bitte wieder auf deinen Platz? Nicholas wird sicherlich etwas Hilfe brauchen, sich zu Recht zu finden“, weist unser Lehrer das Mädchen neben mir an. Holly zuckt zusammen und starrt Nicholas, der sie mit einem durchweg neutralen Blick bedenkt, an, als wäre er eine giftige Schlange. Sie umschlingt meinen Arm und versucht, dem Starren des Jungen zu entgehen, aber aus irgendeinem Grund kann sie sich nicht losreißen.
    „Ganz ruhig“, raune ich ihr zu, kann das Beben in meiner Stimme aber nicht unterdrücken. Wem mache ich denn etwas vor? Die beiden werden nicht so leicht locker lassen, wenn sie extra wegen uns von England nach Amerika kommen und auf unsere Schule wechseln. Denn aus Spaß sind sie sicherlich nicht hier, das kann mir keiner erzählen.
    „Mr. Bane?“, richte ich mich an unseren Lehrer und werfe Nicholas einen möglichst grimmigen Blick zu. Er schaut mir ungerührt in die Augen, bis ich es irgendwann nicht mehr aushalte und unser Blickduell aufgebe. Mist. „Holly ist doch selber neu, ist es da nicht besser, wenn sie noch etwas bei mir bleibt?“
    Mein Lehrer sieht mich für einen Moment erstaunt an. Ich schlucke meinen Stolz herunter.
    „Bitte“, sage ich und verleihe meiner Stimme einen gewissen Nachdruck, der ihn scheinbar überzeugt.
    „Na gut“, antwortet Bane und zuckt mit den Schultern. „Nicholas, ich hoffe, es macht dir nichts aus, erst einmal alleine zu sitzen?“
    „Nein, kein Problem“, behauptet dieser und wendet sich sofort dem leeren Stuhl eine Reihe hinter mir zu. Als er an mir vorbeikommt, streift sein linker Arm meine Schulter. Wie elektrisiert zucke ich zusammen und bewege mich erst dann wieder, als das Rascheln seiner Jacke hinter mir verstummt.
    „Lana?“, flüstert Holly mir mit erstickter Stimme zu. Auch sie hat Angst, ganz offensichtlich, aber sie vergisst ihn, weil sie sich mehr um mich sorgt.
    Wie merkwürdig. Wo wir uns gerade mal eine Woche kennen.
    Aber es stört mich nicht, ganz im Gegenteil. Endlich habe ich jemanden, dem ich auch das anvertrauen kann, was nachts mit mir geschieht. Jemanden, mit dem ich das, was sich hier gerade anbahnt, zusammen durchstehen kann. Denn ohne Holly hätte Benjamin mich wohl sofort um den Finger gewickelt.
    Als ich über mein Heft streiche, um das Papier unter meinen Fingern zu spüren, damit ich weiß, dass ich nicht ganz weg vom Fenster bin, berühre ich etwas kleines, das mir bisher noch nicht aufgefallen ist. Von automatisch schließe ich es in meine Hand ein, als unser Lehrer von Vorne durch die Reihen wandert und dabei Romane darüber erzählt, was es mit der Rassentrennung in Amerika auf sich hat, dann über die Mayflower zum kalten Krieg und schließlich Nordkorea wandert.
    Erst als er, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, an mir vorbeigegangen ist, wage ich es, meine Handfläche zu öffnen. Darin liegt ein kleines, rotes Rechteck.
    Nein, Moment. Es ist Zettel, klein gefaltet, sodass die Ecken aufspringen. Ich werfe einen kurzen Blick über meine Schulter um nach Bane zu sehen, der am anderen Ende der Klasse angelangt ist und nun von dort aus weiterschwafelt. Doch kurz bevor ich mich zurückdrehe, mustern mich braungrünen Augen, die unter braunem, unordentlichem Haar hervorlugen und jede meiner Bewegungen beobachten als wäre ich ein Beutetier. Ich versuche verkrampft, mich wegzudrehen, aber es gelingt mir nicht einmal mehr, den dicken Kloß herunterzuschlucken, der sich in meinem Hals gebildet hat.
    „Miss Wells?“
    Unsicher blinzele ich zu Bane, der mich fragend ansieht.
    „Sie sehen etwas blass aus“, stellt er fest, mit einem undefinierbaren Unterton.
    „Alles okay“, versichere ich schnell, dankbar dafür, dass er mich aus diesem Klammergriff eines Blickes gerettet hat. Schnell wende ich mich wieder nach vorne und schaue auf mein Heft, in dem lauter Jahreszahlen notiert sind. Meine Finger spielen mit den harten Ecken des Zettels, aber ich wage mich nicht, ihn zu öffnen.
    Bevor Nicholas vorbeigegangen ist, war er noch nicht auf meinem Tisch, da bin ich mir ganz sicher.
    Verdammt noch mal. Wieso habe ich eigentlich so eine Angst vor diesem Typen?
    Ich hatte noch nie Angst vor jemanden. Das meine ich ernst. Wenn man Nacht für Nacht durch Albträume gejagt wird, dann kommen einem die meisten Menschen unglaublich harmlos vor, so fies oder merkwürdig sie auch sein mögen. Es kam höchstens einmal vor, dass ich jemanden komisch fand, suspekt, ihm zutraute, dass er etwas Illegales tun könnte. Aber Angst? Nie.
    Aber jetzt bearbeiten meine Finger sich gegenseitig nervös, mein Herz schlägt mir bis zum Hals und meine Augen bleiben nie länger als zwei Sekunden auf einem Punkt haften.
    Ich spüre seinen Blick auf mir, ganz deutlich. Nervös rutsche ich auf meinem Stuhl herum.
    Das ist doch nicht normal.
    Warum habe ich Angst vor ihm? Er ist doch ein ganz normaler Kerl. Gut, er ist ein Traumfänger, aber das bin ich auch, und Holly ebenso, vor ihr habe ich doch auch keine Angst. Er hat mir nichts getan, sondern nur mit mir gesprochen. Pardon, das stimmt nicht ganz, Benjamin hat mit mir gesprochen. Er hat mich ja nur angesehen, als wäre ich Nummer Eins seiner Speiseliste.
    Aber auch das ist nicht der Grund. Kann nicht der Grund sein. Ich bin schon so oft feindselig gemustert worden, durchaus auch mit kaum verhohlener Neugierde, was unter meiner Bluse so vorzufinden ist, daran bin ich gewöhnt.
    Und trotzdem breitet sich in meinem Magen ein ungutes Gefühl aus, wenn ich an Nicholas und Benjamin denke. Holly ist nicht umsonst misstrauisch. Wer beweist mir ihre ganzen Behauptungen denn? Woher soll ich wissen, dass Nicholas wirklich ein Traumfänger ist?
    Nachher wollen sie uns zu einem Teil eines kranken Experimentes machen.
    Ja, ich habe deutlich zu viele schlechte Filme gesehen, ich gestehe.
    Aber mal im Ernst, das schlechte Gefühl kommt nicht von ungefähr. Oder doch? Bin ich einfach zu misstrauisch? Holly hat ja auch keine Beweise dafür, dass die beiden böse sind.
    Böse. Was für ein merkwürdiges Wort.
    Irgendwann während meines Gedankengangs habe ich den Zettel entfaltet, der jetzt aufgeschlagen in meiner Handfläche liegt. Er ist etwa so groß wie ein Post-It, mit dem Wappen versehen, das sich in meinen Kopf eingebrannt hat, seit wir es auf der Website gesehen haben, und darauf steht in kleiner, aber ordentlicher Schrift: Treffen während der Pause auf dem Schulhof. BC.
    BC?
    Benjamin Chamberlain. Es war also nicht einmal Nicholas, der ihn geschrieben hat. Vielleicht ein gutes Zeichen. Aus dem würde ich wohl nicht ansatzweise so viel herausbekommen wie aus dem Älteren der Beiden.
    Ich überlege tatsächlich, ob ich hingehe. Natürlich nur mit Holly an meiner Seite, die im Notfall nach Hilfe rufen kann.
    Was habe ich denn zu verlieren? Schadet es denn, sich die Sache noch einmal genau durch den Kopf gehen zu lassen?
    Ich werfe Holly einen Seitenblick zu, die versunken einen Text in unserem Geschichtsbuch liest. Sie scheint schon lange nicht mehr so angespannt zu sein, wie ich. Echt erstaunlich, wie schnell sie sich beruhigt, nur mit einem Buch vor der Nase, um sich abzulenken. Bei mir verschwimmen die Buchstaben, sobald ich einen Blick auf sie werfe, oder ich vergesse nach drei Wörtern schon wieder das erste.
    Ich kann mich einfach nicht auf etwas anderes konzentrierten. Ich spüre Nicholas‘ Blick in meinem Nacken und fröstele, obwohl es in der Klasse warm ist. Meine Gedanken laufen Amok und nehmen mich gefangen.
    In Ordnung, ganz ruhig jetzt, Lana. Schau dich in der Klasse um und komm runter.
    Vorne an der Tafel steht ein Schaubild über den Kalten Krieg. Pfeile und klein geschriebene Kommentare verdeutlichen die komplexen Zusammenhänge.
    Gibt es wirklich so Viele von uns? So viele, dass sie ein Familienunternehmen gründen? Wird man uns, Lulu, Holly und mich, willkommen heißen? Werden sie uns helfen, mit unserer Gabe umzugehen?
    Okay, der Kalte Krieg ist offensichtlich nicht ideal, um sich abzulenken.
    Ich schaue aus dem Fenster. Tiefe, graue Wolken neigen sich zum Boden, in hohe Blocks aufgetürmt. Die Äste der Bäume draußen werden durch die Luft gewirbelt und peitschen sie aus wie ein Tier, das gebändigt werden muss. Ein Kampf der Natur, kurz vor dem drohenden Sturm.
    Ich bin froh, dass ich drinnen im Warmen sitze.
    Sind wir das vielleicht auch? Eine Laune der Natur, die zwischendurch vorkommt? Gibt es mehr von diesen Launen? Vielleicht sind diese Berichte über paranormale Aktivitäten ja gar nicht alle gelogen. Vielleicht gibt es tatsächlich Menschen, die über eine ähnliche Hirnkapazität verfügen wie wir. Und vielleicht können sie auf Kommando Flammen entfachen oder Löffel verbiegen? Vielleicht ist ja nicht alles ein Trick, was wir als solchen bezeichnen.
    Ich lege meine Hände an die Schläfen und beginne, sie zu massieren. Gottverdammt, das kann eine lange Geschichtsstunde werden.


    Und ja, sie wurde lang. Unendlich lang. So lang, dass ich die verrücktesten Ideen aufgestellt habe, wie es zu solchen Begabungen wie unseren kommen kann.
    Aliens wie im Film Prometheus, Pilzsporen wie in The Last of Us, diesem Spiel, von dem Haruhi mir schon so viel erzählt hat, kollektiver, vererbbarer Wahnsinn... Alles ist zwischendurch mal drin gewesen.
    Als die Schulglocken läuten, berühre ich Holly sanft am Arm. Sie schreckt auf- mittlerweile hat sie tatsächlich gut ein Viertel des Telefonbuch dicken Geschichtsbuches durchgelesen- und schaut mich verwirrt an.
    „Wir haben jetzt Sport“, informiere ich sie gedämpft und versuche krampfhaft nicht zu Nicholas herüberzuschauen, der, in meinem Sichtfeld aufgetaucht, langsam seine Tasche packt. Ich spüre auch diesmal, dass er uns mustert. Ich sehe es nicht, aber ich spüre es, als lägen seine Blicke auf mir wie die Berührung einer kalten Hand. Sie bringen mich zum Zittern.
    „Okay“, antwortet Holly. Ihre Augen huschen kurz zu ihm herüber, suchen dann aber sofort wieder meinen Kontakt. Wir greifen unsere Taschen und eilen schnell aus dem Klassenraum.


    „Lana?“
    Ich zucke unvermittelt zusammen und stolpere ein paar Schritte rückwärts. Haruhi und Olivia stehen vor mir, die Japanerin hat die Augen zu Schlitzen verengt, drückt ihre Unterlippe vor und hebt eine Augenbraue, Liv dagegen legt nur den Kopf schief und blinzelt fragend.
    „Ist was?“, presse ich viel schärfer hervor, als ich eigentlich möchte.
    „Woah, chill mal“, murmelt Haruhi und hebt beschwichtigend die Hände. Ich lasse meine Schultern hängen uns setze einen zerknirschten Gesichtsausdruck auf.
    „Tschuldigung, ihr habt mich einfach erschrocken.“
    „Kein Problem.“
    „Wir wollten eigentlich auch nur wissen, ob alles okay ist“, schaltet sich jetzt auch Olivia mit ein.
    Ich schaue die beiden kurz fragend an.
    „Du hast dich ziemlich... merkwürdig benommen“, nuschelt Liv langsam und zögerlich.
    „Merkwürdig?“
    „Du bist sofort mit Holly aus dem Klassenzimmer verschwunden, sobald es geklingelt hat. Hast nicht mal reagiert, als wir dich gerufen haben“, erklärt Haruhi noch immer mit einem misstrauischen Blick. „Wart ihr etwa auf der Flucht, oder warum?“
    „Oh, das...“ Sie haben mich gerufen? Verdammt, das habe ich gar nicht mitbekommen. Meine Gedanken waren einfach voll gewesen mit Verschwörungstheorien, Spekulationen und Horrorszenarien, wie das Treffen in der Pause laufen könnte. „Ich musste Holly nur schnell noch etwas Wichtiges zeigen“, behaupte ich schnell. Ja, es ist eine Lüge. Aber viel mehr bleibt mir doch nicht übrig? Ernsthaft, ich habe schon jetzt ein schlechtes Gewissen, aber was soll ich denn machen? Ihnen alles zu erzählen ist keine Option. War es nie und wird es nie sein.
    „Ach, gebt es doch einfach zu!“, stößt Haruhi laut aus und verzieht ihr Gesicht. „Ihr habt eine Affäre!“
    Ich brauche einen Moment um zu verstehen, dass sie es als Scherz meint, und in diesem Moment schaue ich wohl ziemlich fassungslos, kann mich aber relativ schnell zu einem schiefen Grinsen durchringen.
    Holly taucht wieder an meiner Seite auf und wirft mir einen fragenden Blick zu.
    „Du hast‘s erraten, meine Liebe!“, stoße ich theatralisch aus und schlinge der perplexen Holly einen Arm um die Taille. „Ich bin dir fremdgegangen. Ich erwarte nicht, dass du mich verzeihst!“
    „Uh, bin mal gespannt, wie Ames das findet!“, grinst Haruhi und fügt leise uns anzüglich hinzu: „Wenn ihr Bock auf einen Dreier habt, dann-“
    „Haruhi!“, stoße ich mit gespieltem Entsetzen aus. Meine kleine Japanerin hält sich den Bauch vor Lachen, Liv kichert, verdreht aber die Augen. Selbst Holly scheint jetzt zu verstehen, dass es nur ein Scherz war, denn sie legt die Hand über ihren Mund und ich höre ihr gedämpftes Lachen.


    Wir haben gemischten Sportunterricht, im Moment steht Ausdauertraining an, weswegen ich jede einzelne Stunde aufs heftigste verfluche. Nicht nur, dass es außer mir auch andere gibt, die einfach nicht die nötige Ausdauer besitzen, um eine halbe Stunde lang im Kreis zu laufen, nein, es gibt ja auch solche, wie Andy Kane beispielweise, der Asthmatiker ist. Nur leider interessiert sich unser Sportlehrer dafür kein Stück. Weder für Andys Asthma, noch für Annas durch eine Krankheit verursachtes Übergewicht, noch für meine natürliche, körperliche Schwäche, die sich nun einmal einrichtet, wenn man Tag und Nacht quasi wach ist. Aber nicht einmal ein ärztliches Attest lässt er durchgehen.
    Ich laufe also mit krampfhaft schlagendem Herzen neben Andy her, der schon grünlich anläuft. Anna folgt uns noch ein wenig langsamer, ihr dicker, rot gefärbter Pferdeschwanz schwingt hin und her.
    „Alles okay mit dir?“, frage ich Andy, dessen Blick durch die dicken Brillengläser leicht verschwommen wirkt.
    Andy nickt tapfer, keucht und prustet.
    „Du brauchst... Wegen mir... Nicht so langsam... zu laufen“, stößt er verkrampft aus und packt sich sofort an die Brust. Ich greife ihn an dem Arm und halte an. Meine Beine prickeln und mein Kopf brummt vor lauter Anstrengung. Ich brauche dringend Zucker. Der Rand meines Sichtfelds verschwimmt schon schwarz.
    „Wenn du eine Pause brauchst“, raune ich ihm zu, während ich leicht meinen Kopf schüttele um die Schwärze zu verscheuchen. „Dann nimm sie dir. Dieser Mistkerl kann dich nicht dazu zwingen, deine Gesundheit aufs Spiel zu setzen.“
    Andy runzelt die Stirn, grinst aber tapfer. Anna kommt neben uns zum Stehen. Ihr Gesicht ist hochrot und sie keucht, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Für sie fühlt es sich vermutlich auch so an.
    „Alles okay?“, fragt sie, die Hände auf die Knie gelegt und heftig prustend.
    „Ihr seht beide aus wie das strahlende Leben“, grinse ich.
    „Du siehst auch nicht besser aus“, wirft Haruhi ein, die locker an uns vorbeijoggt. Und im Gegensatz zu uns sieht sie wirklich aus, wie das strahlende Leben. Ich strecke ihr die Zunge heraus und bringe Andy und Anna dazu, mir zu folgen. Beim Gehen weichen wir unseren Mitschülern aus, die in monotonem Stampfen durch die Halle preschen.
    „Wo ist der denn jetzt schon wieder?“, grummele ich und strecke mich, um den Kopf mit der Baseballcap zu sehen, der hier irgendwo herumschwirren muss. Aber er ist nicht da. Ich sehe nur einen Haufen sich bewegender Köpfe, die im Kreis laufen.
    Und grün-braune Augen, die mich intensiv anstarren.
    Nicholas steht an den Fensterbänken, wo wir unsere Trinkflaschen lagern. Er hat seine an den Lippen und trinkt lange Züge, sodass große Blasen im Wasser hochsteigen. Und trotzdem fixiert er mich, als hätte man seinen Blick irgendwie an mir festgemacht.
    Ich habe das Gefühl, dass mir jemand in den Unterleib geschlagen hat, so grässlich wird das Gefühl jetzt, dass mich schon die ganze Zeit über verfolgt.
    „Warum lauft ihr nicht?“, herrscht mich die bellende Stimme des Coachs an, der urplötzlich wieder vor uns aufgetaucht ist. Die Ader an seiner Stirn pulsiert und ich wische mir angewidert seine Spucke aus dem Gesicht, die dank seiner feuchten Aussprache dorthin gefunden hat.
    „Andy geht es nicht gut“, informiere ich ihn ungerührt. Ich zucke nicht mal zusammen, als sein Gesicht Puterrot anläuft und er mir mit einer Lautstärke, die mühelos einen Jumbojet übertönen könnte, ins Gesicht schreit:
    „Stellt euch nicht so an! Ich kenne Menschen, die laufen auch mit nur einem Bein und einer Krücke einen ganzen Marathon, und ihr heult schon bei einer halben Stunde herum? Erbärmlich!“
    Ich sauge tief die Luft ein, und stoße sie langsam und kontrolliert wieder aus. Jetzt nicht ausrasten. Nicht handgreiflich werden. Alles ist gut. Alles. Ist. GUT.
    „Coach Preston, meinen sie nicht, sie sind etwas zu hart zu den Kindern?“, mischt sich plötzlich eine Stimme hinter dem breiten Kreuz unseres Drill Sergeant ein. Gottseidank, um ein Haar hätte ich mich vergessen. Er dreht sich stampfend zur Seite.
    „Ich wüsste nicht, was sie das angeht“, bellt der Baum von einem Mann jemanden an, der mir nur allzu bekannt vorkommt.
    „Oh, ich bin mir sicher, die Schulleitung wird sehr interessiert sein zu erfahren, wie sie einen Jungen mit Asthma in Richtung Zusammenbruch treiben“, lächelt Benjamin mit einer Seelenruhe, einer tiefen Entspanntheit, als wäre der wild gewordene Stier, der vor ihm gerade zu prusten beginnt wie der Wolf, der die Hütten der Schweinchen um pusten will, ein zahmes Hauskätzchen. Anna neben mir schlägt die Hände vor den Mund und ihr Blick gleitet schnell zwischen Benjamin und dem Coach hin und her.
    Doch erstaunlicherweise hält er sich zurück. Er hat tatsächlich Angst vor diesem jungen Burschen, der ihn mit einer Engelsgeduld anlächelt. Oder vielleicht auch eher vor den Konsequenzen, die ihm drohen, wenn er der Schulleitung von seinen Sklaventreibertätigkeiten erzählt.
    „Ich werde kurz mit Andy herausgehen“, nutze ich meine Chance, weil der Brillenträger langsam immer grünlicher um die Nase wird und heftig atmet.
    „Damit ihr da draußen herumknutschen könnt?“, faucht der Coach. „Glaub ja nicht, dass ich nicht weiß, was ihr vorhabt! Die Jugend von heute ist wirklich unglaublich!“
    Jetzt mischt sich in Andys Gesicht auch noch ein verdächtiger Rotton, den ich gekonnt ignoriere.
    „Wenn er Mund-zu-Mund-Beatmung braucht, wird man mir das wohl verzeihen können“, antworte ich mit einem breiten, süffisanten Lächeln. Benjamin unterdrückt ein Lachen und greift sich Andys Arm.
    „Ich werde die beiden begleiten, dann kommt es nicht zu solchen... prekären Situationen.“


    Also gehe ich neben Benjamin, der Andy behutsam einen Arm um den Schulter legt und ihn wachsam beobachtet, aus der Sporthalle heraus Richtung Hauptgebäude, weil er meinte, dass der Asthmatiker dringend etwas Ruhe brauchte.
    Wir schweigen den ganzen Weg, alles was wir hören ist Andys beständiges Keuchen. Ich richte immer mal wieder einen Seitenblick auf Benjamin, der sich aber gar nicht für mich zu interessieren scheint.
    Je länger ich ihn ansehe, desto mehr fällt mir auf, wie unterschiedlich er und Nicholas eigentlich sind. Während der Jüngere einen immer mit einem Blick anschaut, als wolle er einen sezieren, kümmert sich Benjamin scheinbar wirklich um Andy. Er hat schöne, dunkle Augen, und lange Wimpern, die ich mir immer gewünscht habe. Sie werfen Schatten auf sein kantiges Gesicht.
    „Ist etwas?“
    Oh, Mist, er hat es gemerkt.
    „Ach, nichts“, erwidere ich schnell. „Hab mich nur gerade gewundert, was für ein Zufall es ist, dass du ganz plötzlich Beziehungen zur Schulleitung hast.“
    Wow. Der Gedanke ist mir vollkommen spontan gekommen. Ich habe einfach ein paar Wörter aneinander gereiht, die mir gerade eingefallen sind. Jetzt darf ich mir das nur nicht anmerken lassen. Ich hebe also eine Augenbraue und sehe Benjamin provozierend an, der jedoch mehr anerkennend als erschrocken schaut.
    „Unsere Familie hat Kontakte, Lana. Viele und gute Kontakte“, meint er schlicht und zwinkert mir zu. „Aber primär geht es jetzt erst einmal um Andy. Wir können uns später noch unterhalten.“


    Wir liefern Andy in der Krankenstation ab, wo die Schulschwester sofort abzischt um ein Mittel gegen den Asthma Anfall zu finden, den seine Eltern vorsichtshalber hier gebunkert haben. Benjamin reicht ihm ein Glas Wasser, als er wie wild zu husten anfängt, während ich untätig neben der Türe an der Wand lehne. Hoffentlich lässt der Coach seine Aggressionen jetzt nicht an Anna aus. Aber Einsicht von ihm zu verlangen ist wohl zu viel verlangt.
    Unsere Krankenstation ist ein mittelgroßer Raum, ausgestattet mit einigen Schränken, in denen ich durch Glasfenster Verbände und Koffer voll mit Pflastern, aber auch einige Medikamente sehen kann, und vier Betten, jeweils zwei an einer Wand, auf denen sich ein weißes, steril wirkendes Betttuch ausbreitet.
    „Trink noch etwas“, weißt Benjamin Andy an, der jetzt zwar schon wesentlich weniger heftig atmet und auch seine Gesichtsfarbe wird wieder etwas natürlicher... Dafür merke ich allerdings, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Er schwankt gefährlich und seine Augen starren an die Decke, er stößt einige unzusammenhängende Worte aus. Und mit einem Mal kippt er ganz einfach nach hinten weg. Urplötzlich.
    Ich stoße einen kurzen Schrei aus und mache einen Schritt nach vorne, aber da hat Benjamin ihn schon aufgefangen und legt ihn sachte aufs Kopfkissen.
    „Na also. Und ich habe schon gedacht, der Effekt wirkt nie“, höre ich den Ältere murmeln.
    „Bitte?“, stoße ich mit einem entsetzen Blick und eine Oktave zu hoch aus.
    „Normalerweise wirkt das Mittel schon nach einer Minute. Er hier hat ganze drei ausgehalten, ziemlich verblüffend.“ In Benjamins Blick liegt etwas Undefinierbares. Er lächelt leicht, während er das Betttuch über Andy stülpt und dann mit den Händen in der Tasche auf mich zukommt.
    Ich presse mich gegen die Wand und versäume die Möglichkeit, einfach zur Tür hinauszumarschieren. Benjamin grinst und nimmt mich zwischen seinen Armen gefangen, die Hände über meinen Schultern gegen die Wand gelehnt. Sein haselnussbraunes Haar fällt ihm leicht ins Gesicht.
    Ich schlucke und muss all meinen Mut zusammennehmen.
    „Hast du ihn... vergiftet?“, hauche ich, unfähig auch nur ein bisschen Stärke und Selbstvertrauen in meine Stimme zu legen. Ich versuche, einen Blick auf Andys leblosen Körper zu erhaschen, aber Benjamin stellt sich zwischen dazwischen.
    Mit einem Male wird mir ganz flau im Magen. Ich presse meine Hand in meinen Unterleib und beiße mir auf die Unterlippe, die schmerzhaft pocht.
    „Er schläft nur“, raunt Benjamin mir zu. „Und ich wollte das eigentlich nicht tun, aber mir blieb nichts anderes übrig.“
    Von draußen höre ich die Schritte der Krankenschwester, deren Absätze laut über die Fliesen des Flures hallen. Mit einer kurzen Bewegung dreht Benjamin den Schlüssel um und zieht den Vorhang vor die Glasscheibe, den ich gehörige dafür verfluche, dass es ihn gibt. So poltert die ältere Dame nur ein paar Mal gegen die Türe, flucht ein wenig uns stapft ungetaner Dinger wieder davon, als wäre es ihr vollkommen egal, was hier gerade passiert. Vielleicht holt sie aber auch den Hausmeister, um die Türe aufzubrechen.
    Oh bitte, bitte.
    „Ich dachte“, quietsche ich viel zu panisch. „Dass wir uns erst in der Pause treffen.“
    „Oh, natürlich“, er schenkt mir ein freundliches Lächeln, aber angesichts meiner Situation erscheint es mir wie ein Signal, die Ruhe vor dem Sturm. „Ich habe mir nur gedacht, dass ich mir nicht sicher sein kann, ob du wirklich kommst. Und gerade jetzt haben wir wirklich eine gute Gelegenheit, oder nicht?“
    „Warum sollte ich nicht kommen?“ Meine Augen gleiten schnell durch den Teil des Raumes, den Benjamin mir nicht versperrt. Aber nirgendwo sehe ich etwas, das mir helfen könnte. Vielleicht, wenn ich ihm zwischen die Beine trete...
    „Du hast recht deutlich gemacht, dass du dich nicht mit uns unterhalten willst“, raunt mir Benjamin in dem Moment ins Ohr, in dem ich meinen Kopf nach rechts drehe, um zu schauen, ob es hier vielleicht eine potentielle Waffe gibt. Ich spüre seinen warmen Atem an meinem Hals, und zucke zusammen, zittere ein wenig. Er ist viel zu nah. Vielleicht ein Knie Stoß? Das könnte hinkommen.
    „Hör mir zu.“ Augenblick drehe ich meinen Kopf wieder nach vorne, wo seine Augen nur noch wenige Zentimeter von meinen entfernt sind. Sie sehen ganz weich aus. Und seine Stimme klingt jetzt mehr... nach einem Flehen?
    Er bricht kurz den Augenkontakt ab, einen Moment nur, den ich nutze, um etwas durchzuatmen. Dann kommt er noch intensiver zurück und nimmt mich gefangen. „Du bist ein kluges Mädchen, Lana. Du vertraust nicht sofort jedem, aber wir sind niemand, vor dem du Angst haben musst. Weder du, noch Holly.“
    „Dann solltest du deinem Cousin vielleicht sagen, dass er Leute, die ihm vertrauen sollen, nicht so anschauen soll wie kleine Versuchskaninchen, bevor er ihnen etwas lebensbedrohliches injiziert“, murmele ich. Er hat echt unglaublich schöne Augen. Und er riecht nach Minze, nur ein wenig.
    „Nimm es Nic nicht übel“, seufzt er und fährt mit einer Hand durch sein Haar. Es ist die Gelegenheit, das weiß ich. Ich könnte fliehen. Aber ich tue es nicht. Er kann doch nicht so schlecht sein. So wie er spricht, tut es ihm doch wirklich leid. Oder? „Für ihn ist die Sache auch nicht einfach. Das dauernde Reisen macht ihn fertig.“
    „Kann ich verstehen“, nuschele ich. Deswegen versuche ich immer, so wenig Energie wie möglich am Tag zu verbrauchen, weil ich sie nachts brauche. „Das ist für uns alle nicht einfach.“
    „Für dich aber ganz besonders nicht“, raunt er mir leise zu. Seine Hand sucht wieder die Wand und streift dabei kurz meine Schulter. Ich zucke kurz zusammen, aber ich kann einfach nicht aufhören, ihn weiter anzusehen. „Du kannst nicht einmal entscheiden, in welchen Traum du gehst. Wie viele schreckliche Träume du schon hattest... Das will ich mir gar nicht ausmalen.“
    „Man gewöhnt sich daran.“
    „Nein, du hast dich daran gewöhnt. Ich glaube nicht, dass das jemand anderes gekonnt hätte. Du bist stark, Lana, du lässt dich nicht unterkriegen.“ Er lächelt mich an und ich spüre, wie meine Beine weich werden. Nicht unbedingt, weil er so charmant ist- okay, das trägt auch seinen Teil dazu bei, ich gestehe- sondern weil ich mich so angestrengt gegen die Wand gedrückt habe, das meine untrainierten Beinmuskeln langsam auf die Barrikaden gehen. Ich rutschte unsicher etwas hoch und stoße mit meinem Kopf beinahe an seinen.
    „Das bewundere ich an dir.“
    Er ist mir so nah.
    So unglaublich nah.
    Mein Herz sprengt beinahe meinen Brustkorb, meine Finger zittern wie unkontrolliert und ich schaue immer abwechselnd in einer seiner Augen. Mühselig schlucke ich den Kloß herunter, als ich endlich verarbeitet habe, was er da eigentlich gerade gesagt hat.
    Mich bewundern? Ausgerechnet mich? Die ihn so feindselig angegangen ist? Warum nicht Holly, die doch offensichtlich besser mit den sechzig Prozent Gehirneinsatz umgehen kann?
    Ich möchte ihn fragen warum, aber aus meinem leicht geöffneten Mund kommt kein Wort heraus. Also schweigen wir einfach, schauen uns gegenseitig in die Augen.
    „Ich möchte nicht, dass du denkst, dass wir dir etwas Böses wollen“, fängt er schließlich wieder an. „Denn das wollen wir wirklich nicht.“
    Ich nicke aus einem Reflex heraus. Natürlich will er das nicht. So, wie er es sagt, kann er gar nicht lügen. Niemals.
    „Kannst du uns wenigstens eine Chance geben?“, fragt er, schüttelt dann aber den Kopf und korrigiert sich. „Lana, kannst du mir eine Chance geben, dir zu beweisen, dass ich nur das Beste für dich will?“
    „Ja“, antworte ich schnell, beinahe ohne zu zögern. Ich nicke kurz und heftig, sodass mir meine schwarzen Haare ins Gesicht fallen. Benjamin schmunzelt und streicht sie mir vorsichtig zurück, seine Fingerspitzen berühren meine Stirn und ich erstarre mitten in der Bewegung. Er kommt näher, seine braunen Haare streichen mir über die Wange.
    „Danke“, haucht Benjamin mir ins Ohr, kurz darauf streifen seine Lippen kurz meine Wangen.
    Ohne ein weiteres Wort lächelt er mir zu und bringt etwas Distanz zwischen uns. Er wendet sich von mir ab, dreht den Schlüssel wieder im Schloss um und setzt sich auf einen Hocker neben den schlafenden Andy. Ich sehe, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt.
    Wie konnte ich auch nur eine Sekunde davon ausgehen, dass Benjamin ihn vergiftet hätte? Das ist doch... Idiotisch. Nicholas würde so etwas vielleicht tun, aber nicht Benjamin.
    Mein Blick bleibt auch noch dann auf ihm haften, als die Schritte der Schulschwester wieder näher kommen. Sie zetert im Flur über die ständig klemmende Türe, begleitet von einem Brummen, das nur von unserem Hausmeister stammen kann, der ihr vermutlich nicht einmal zuhört.
    „Sehen Sie?“, dringt gedämpft durch die Tür. Die Klinke wird heruntergedrückt und sie springt auf, eine verdutzte, faltige Dame steht darin, hinter ihr ein älterer Mann mit grauem Bart und großen, buschigen Augenbrauen, die seine Augen beinahe komplett überwuchern.
    „Darf ich jetzt gehen?“, grummelt er mit einem uninteressierten Blick auf die Türe, die offensichtlich doch nicht so klemmt, wie sie behauptet hat.
    „Äh“, antwortet die Schwester sehr geistreich. Sie dreht sich zu Benjamin um, der sie fragend anschaut. „Ja. Ja, danke sehr. Es tut mir Leid.“
    Ich schaue sie kurz an, wie sie verwirrt murmelnd auf Andys Bett zugeht und einen Blick auf den Schlafenden wirft. Benjamin schaut mich an und zwinkert mir zu.
    Und was tue ich?
    Ich starre wie ein kleines Kind, das gerade dem Weihnachtsmann begegnet ist, mit einem dümmlichen Grinsen auf dem Gesicht, das definitiv sehr gezwungen aussieht, weil ich ihn nämlich eigentlich am liebsten bloß anstarren möchte.


    Für den Rest des Schultages bin ich nicht mehr zurechnungsfähig. Holly versucht aus mir herauszuquetschen, was passiert ist, aber ich traue mich nicht, es ihr gegenüber auszusprechen. Verdammt noch mal, ich habe mich von ihm einwickeln lassen. Das war vermutlich genau das, wovor sie mich warnen wollte.
    Aber jemand, der einem so in die Augen schaut, so reuevoll und aufrichtig... Benjamin kann einfach nicht gelogen haben.
    Und was habe ich denn zu verlieren?


    Dieser Gedanke manifestiert sich in meinem Kopf. Ich habe nichts zu verlieren. Ich werde einfach versuchen, ihm zu vertrauen. Und was auch immer dabei herauskommt, es betrifft nur mich. Holly kann sich jederzeit dafür entscheiden, ihm aus dem Weg zu gehen. Ja genau, so wird es sein.
    Und wenn er uns wirklich helfen will, dann wird sie mir noch dankbar dafür sein, dass ich es probiert habe. Ganz sicher.
    Unsere Biolehrerin mustert mich während der ganzen Stunde schon mit einer gewissen Sorge, die bei ihr Bauerzustand ist. Mrs. Blake ist eine herzensgute Frau, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Schulalltag für alle so angenehm zu gestalten wie nur möglich. Und genau aus diesem Grund achtet sie auch auf unser Wohlergehen, ganz besonders auf meines, als ich irgendwann einmal damit herausgerückt habe, dass ich an chronischen Schlafstörungen leide. Das wäre ja gar nicht gut, hat sie geantwortet, mit geweiteten Augen und einem Gesichtsausdruck, als hätte ich ihr gerade mitgeteilt, dass ich tödlich krank bin. Seitdem achtet sie ganz besonders auf mich und jedes noch so kleine Anzeichen verwandelt sie in eine ernste Krankheit.
    Während die anderen stumm arbeiten, kommt sie auf mich zu und berührt mich sanft an der Schulter. Sie weiß mich mit einem Nicken dazu an, nach vorne zu ihr ans Pult zu kommen.
    Holly schaut mich verwirrt und besorgt an, ich schenke ihr ein mühevolles Lächeln und versichere ihr kurz, dass alles in Ordnung ist.
    „Geht es dir gut, Lana?“, fragt Mrs. Blake mich, als ich sie fragend ansehe. „Du bist ganz blass und reagierst kaum.“
    „Ja, alles klar“, antworte ich ernsthaft. Aber genau das scheint sie noch weiter zu verunsichern.
    „Vielleicht ist es besser, wenn du dir für den Rest des Tages frei nimmst?“, schlägt sie vor und lächelt mir aufmunternd zu. „Bald stehen die Klausuren an und ich möchte eigentlich nicht, dass du jetzt fehlst. Aber wenn du willst, dann stelle ich dir ein Arbeitsblatt mit dem Material zusammen, das wir heute durchnehmen. Dann kannst du nach Hause gehen und dich etwas ausruhen. Denn wenn du jetzt krank wirst, dann verpasst du noch sehr viel mehr Stoff.“
    Ich schaue sie etwas perplex an. Sie ist wirklich bereit dazu, mir einen Freifahrtschein zu geben und mich nach Hause zu schicken? Einfach so? Und dann will sie mir auch noch eine Zusammenfassung geben?
    Wie beschissen muss ich eigentlich aussehen, dass sie sich so um mich sorgt?
    „Lana?“
    Ich blinzele verwirrt.
    „J-Ja“, stottere ich. „D-Das ist vielleicht besser. Ich fühle mich wirklich nicht gut.“
    „Habe ich es mir doch gedacht!“, stößt sie seufzend aus, setzt dann aber eine freundliches, wenn auch etwas tadelndes Lächeln aus. „Du musst wirklich besser auf dich aufpassen, ja?“ Sie streicht mir vorsichtig über den Arm und führt mich zurück zu meinem Platz, wo ich meine Sachen zurück in meine Tasche räume. Jeremy, der ein paar Reihen weiter hinten sitzt, mustert mich fragend und formt mit seinen Lippen „Was ist los?“. Ich zucke nur mit den Achseln und grinse entschuldigend.


    Nachdem mich Mrs. Blake mit einem aufmunternden Lächeln verabschiedet hat, schleiche ich durch die Gänge, vorbei an den Schließfächern, großen Pflanzen in viel zu kleinen Töpfen und flackernden Lampen. Das Sekretariat ist nicht weit entfernt, ich muss mich zuerst dort abmelden, bevor ich nach Hause gehen darf.
    Als ich um die Ecke biege, direkt auf den kleinen Raum zu, der zur Hälfte von einer Holvertäfelung und oberhalb davon von Glas abgetrennt ist, sehe ich den Kopf der Sekretärin, die zwar an ihrem Platz sitzt, sich aber scheinbar unterhält. Unser Direktor steht ebenfalls dort, aber ihm hat sie sich nicht zugewandt, sie fixieren beide eine dritte Person, die ich nicht sehen kann, weil die Ecken des Raumes komplett aus Holz bestehen, warum auch immer. Ich gehe zur Tür, die weit offen steht und von der aus ich den Schreibtisch sehen kann, der voll beladen ist mit einem Haufen an Akten und anderem Papierkram, und klopfe an den Rahmen.
    „Entschuldigung?“, stoße ich leise aus, als der Direktor seinen Satz endlich beendet hat. Er ist ein älterer Herr, Mitte fünfzig, würde ich schätzen, mit weißen, kurz geschorenen Haaren und Kotletten. Sein Gesicht ist faltig und er trägt einen alten, leicht ausgewaschenen Anzug mit einem hellblauen Hemd darunter. Als er mich bemerkt, lächelt mich der Direktor an.
    „Können wir dir helfen?“, fragt er freundlich.
    „Ich soll mich hier abmelden. Mrs. Blake hat mir gesagt, dass ich nach Hause gehen soll.“
    „Geht es dir nicht gut?“, mischt sich jetzt auch noch die Sekretärin ein, ein blondes, junges Ding mit einer nicht ganz optimalen Figur und einer Brille, die garantiert ohne Sehstärke ist und nur intelligent wirken soll. „Ja, du siehst wirklich sehr blass aus, geradezu kränklich. Ich habe ja letztens von meinem Bekannten- er studiert Medizin- gehört, dass etwas Sonnenlicht da Wunder wirkt. Und vielleicht solltest du dein Blutbild mal kontrollieren lassen, nicht dass deine Werte vollkommen außer Kontrolle sind“, plappert sie los. „Oder ist es reich psychologisch? Was für einen Unterricht hast du denn als nächstes? Schreibst du vielleicht eine Klausur? Nun, es ist verständlich, dass man da Angst vor hat, schließlich entscheidet so etwas über das ganze zukünftige Leben und-“
    „Nein“, unterbreche ich sie mit stark zurück gehaltener Schärfe, die trotzdem zum Teil ihren Weg in meine Stimme findet. „Nein, ich schreibe keine Klausur. Ich habe einfach in letzter Zeit viel Stress und kann nicht richtig schlafen.“
    Da höre ich ein Lachen aus der Ecke des Raumes, die ich vorher nicht einsehen konnte. Jetzt strecke ich meinen Kopf ein wenig weiter hinaus. Und als ich sehe, wer da steht, bleibt mir fast das Herz stehen.
    „Das kann ich mir gut vorstellen, Lana“, lächelt Benjamin mich an.
    „Sie kennen einander?“, fragt mein Direktor milde überrascht.
    „Ja“, antwortet er schlicht und schlendert zu mir herüber. „Soll ich dich nach Hause fahren?“
    „Ist nicht nötig“, antworte ich leise und versuche krampfhaft, ihm nicht in die Augen zu schauen. Nach fünf Sekunden ist dieser Kampf allerdings schon verloren.
    „Bitte Lana, das tue ich gerne“, antwortet er, und fügt dann etwas leise hinzu, als er seinen Arm um mich legt: „Für dich doch gerne.“
    Die Sekretärin saugt scharf die Luft ein und wirft mir einen giftigen Blick zu, anscheinend sieht sie ihre Eroberungspläne für Benjamin gerade in Rauch aufgehen.
    „Also ich weiß nicht“, näselt sie in die Richtung von unserem Direktor. „Nachher kommen noch Gerüchte auf, und Mr. Chamberlain muss sich verantworten.“
    „Nun, ich bin mir sicher, dass Mr. Chamberlain ein sehr vernünftiger, junger Mann ist. Nicht wahr?“, wendet sich der allerdings an Benjamin, lächelnd und scheinbar ohne auch nur den geringsten Zweifel an seiner Aussage. Die Sekretärin plustert ihre Wangen auf.
    „Natürlich“, versichert Benjamin ihm, greift in seine Hosentasche und holt einen Autoschlüssel heraus. Daran hängen noch viele andere Schlüssel, alle sehen sie gleich aus. Nur einen einzigen Anhänger hat er, das ich als das Familienwappen erkenne.
    „Gehen wir, Lana?“, spricht er mich an und nimmt mir so schnell, dass ich gar nicht protestieren kann, meine Tasche ab. Obwohl sie voll mit Büchern ist, scheint er das zusätzliche Gewicht gar nicht zu spüren.
    „Ich weiß ja immer noch nicht, ob es eine so gute Idee ist, ihm zu erlauben, eine Schülerin nach Hause zu bringen, die sich ganz offensichtlich von ihm angezogen fühlt“, schnaubt die Blondine mit einem deutlich hasserfüllten Unterton. Ich werfe ihr einen tödlichen Blick zu, kann aber nicht verhindern, dass mir das Blut in die Wangen schießt.
    Als ob ich... mich von ihm angezogen fühlen würde.
    Als ob. ALS. OB.
    Benjamin lacht nur ein wenig und legt mir seinen Arm um die Schultern, zieht mich etwas enger an ihn heran. Als würde er ihr zeigen wollen, dass es genau andersherum ist.
    Er verarscht sie ja nur. Nimmt sie auf den Arm.
    Dumm nur, dass mein Herz trotzdem einen Salto macht.


    [background='#ffffff']Irgendwann nimmt Benjamin seinen Arm endlich weg von meiner Schulter, und die Anspannung weicht wieder aus meinem Körper heraus. Ich atme einmal tief durch, als er mir die schweren Glastüren nach draußen aufhält und mich anlächelt. Mühevoll halte ich mich davon ab, ihn anzusehen und gehe ein paar Schritte weiter, damit ich nicht in Versuchung komme.
    Als wir durch das Tor gehen, nicke ich dem Wächter zu, der mich fragend anschaut und dem der Mund aufklappt, als er Benjamin hinter mir herlaufen sieht. Ich grinse etwas in mich hinein. Wie mag das jetzt für Außenstehende aussehen? Doch ganz sicherlich, als wären wir ein Paar, oder?
    Haha, ein abwegiger Gedanke. Ja, ziemlich abwegig.
    Auf dem Parkplatz bleibe ich stehen und sehe mich gezwungen, auf Benjamin zu warten. Wortlos läuft er an mir vorbei und steuert direkt auf definitiv sündhaft teuren Wagen zu. Ich gestehe, dass ich mich nicht viel mit diesen Dingern auskenne, wo ich ja noch nicht einmal einen Führerschein habe, aber selbst ich als Laie erkenne, dass das Zeichen, das vorne drauf ist, einen Wagen von Mercedes kennzeichnet.
    Mit einem Klicken seines elektronischen Schlüssels blitzen die Lichter kurz auf und die Tür entriegelt sich. Während ich auf den Beifahrersitz gleite, legt Benjamin meine Tasche auf dem Rücksitz ab und setzt sich dann seinerseits auf den Fahrersitz. Als er sich anschnallt, schaut er mich kurz an und lächelt dann, aber schon wieder sagt er nichts.
    Als wird vom Parkplatz herunterrollen, nehme ich endlich meinen Mund zusammen.
    „Wie hast du es eigentlich geschafft, dich in die Schule einzuschleusen?“
    „Ich habe doch gesagt, dass wir gute Kontakte haben.“
    „Ja, schon, aber ich meine... Was machst du denn den ganzen Tag da, wenn du uns nicht gerade verfolgst?“
    Er grinst breit und unterdrückt ein Lachen.
    „Offiziell bin ich ein Lehrer in Spe. Hab mein Studium zur Hälfte durch und muss jetzt ein Praktikum machen.“
    „Und inoffiziell?“
    „Inoffiziell bin ich da, um auf euch aufzupassen.“
    „Das heißt, du bist unser Babysitter?“
    „Da du kein Baby mehr bist wohl eher nicht.“
    „Wie alt bist du denn?“
    „21.“
    „Ich schätze, du weißt längst, wie alt ich bin?“
    „Stimmt“, antwortet er mit einem schiefen Grinsen.
    Ich schweige kurz und starre auf das Armaturenbrett, das schwarz schimmert. Meine Finger bearbeiten sich gegenseitig.
    „Ist schon etwas unfair, findest du nicht?“
    „Was?“
    „Dass ihr alles über mich wisst, ich aber nichts über euch.“
    Jetzt sagt Benjamin eine Weile lang nichts mehr. Erst als die Ampel grün wird es langsam Gas gibt und den Gang wechselt, seufzt er.
    „Ich verspreche dir, dass ich dir bald alles erkläre.“ Er schaut kurz auf seine Armbanduhr, ein sauteures Ding von Fossil, das weiß ich allerdings auch nur, weil ich vor kurzem eine Werbung gesehen habe. „Er sollte jetzt auch da sein. Sobald wir bei dir zu Hause sind, wird sich alles aufklären.“
    Ich runzele die Stirn.
    „Bei mir zu Hause?“
    „Du hast doch gesagt, dass du mir vertrauen wirst.“
    Leicht verwirrt nicke ich zögerlich. „Ja.“
    „Dann warte einfach noch etwas“, weist er mich ohne einen Blick oder ein Lächeln an.
    Und bevor ich es merke, biegen wir plötzlich in unsere Einfahrt ein. Eigentlich nur logisch, dass er weiß, wo ich wohne.
    Ich kämpfe mich aus dem Auto und merke, dass vor uns noch ein Wagen geparkt steht, den ich nicht kenne. Ein schwarz lackierter Geländewagen, mit dunkel getönten Gläsern. Sieht fast aus wie eines dieser Präsidentenautos, stelle ich fest.
    „Kommst du?“, reißt Benjamin mich aus meinen Gedanken. Er trägt meine Tasche schon wieder über seiner Schulter und schaut ungeduldig in Richtung des Hauses. Ich stolpere beinahe über meine Füße als ich zur Tür laufe. Ich greife ins vorderste Fach meiner Tasche und hole den Haustürschlüssel hervor. Als ich ihn in die Tür stecke und ihn umdrehe, öffnet sich das Schloss klackend.
    Beinahe ängstlich langsam drücke ich sie auf, und schau vorsichtig in den Flur, der allerdings menschenleer ist. Von weiter drinnen höre ich gedämpfte Stimmen, dann das Lachen meiner Grandma.
    Erleichtert öffne ich die Türe jetzt ganz und marschiere schnurstracks zum Wohnzimmer, wo Lulu auf unserem Sofa sitzt, mit einer Tasse Tee in der Hand, die grauen Haare ordentlich gebürstet. Sie lächelt jemanden an, der ihr gegenüber sitzt, mir allerdings den Rücken zuwendet.
    „Oh, Lana, da bist du ja schon“, stößt Lulu mit leichter Verwunderung aus. Ihr Blick fällt auf die alte Standuhr. „Doch eigentlich viel zu früh?“
    „Mrs. Blake hat mich nach Hause geschickt“, informiere ich sie und gehe langsam um den Sessel herum auf Grandma zu, damit ich mich auch setzen kann. Dabei haftet mein Blick auf ihrem Gesprächspartner, der sich mir ebenso zugewandt hat.
    Und bevor ich wirklich alles Details in seinem Gesicht erkannt habe, weiß ich schon, mit wem ich es zu tun habe.
    Vor mir sitzt Benjamins Vater. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Sie haben das gleiche, kantige Gesicht, die gleichen, mandelförmigen Augen, mit den dunkelbraunen Iriden. Nur ist sein braunes Haar von weißen Strähnen durchsetzt und er trägt eine rahmenlose Brille.
    Oh, und er ist ein Traumfänger. Ich sehe es ihm genau an. Benjamins Vater hat tiefe, dunkle Augenringe und seine Finger bearbeiten unruhig den Stoff unseres Sessels.
    Er lächelt mich an, dann schweift sein Blick herüber zu Benjamin, der meine Tasche in eine Ecke setzt und sich dann hinter ihm positioniert.
    „Benjamin, du bist ja auch da“, stößt er aus, mit einer Mischung aus Verwunderung und Freude. Seine Stimme ist locker, obwohl sie recht dunkel klingt. Es ist eine Stimme, von der man weiß, dass ihr Besitzer ein freundlicher Mensch ist.
    „Ich dachte mir, dass Lana jemanden brauchen kann, den sie kennt, wenn sie dich kennenlernt“, erklärt er und zwinkert mir zu. Ich sinke neben Grandma auf die Couch, Lulu streicht mir sanft über den Oberschenkel und wischt mir eine Strähne schwarzes Haar aus dem Gesicht.
    Vor uns auf dem Tische sehe den Stammbaum, über dem Holly und ich vor ein paar Tagen noch gesessen haben. Daneben liegt ein Tablett PC, der sich aktuell allerdings im Ruhemodus befindet und das Wappen der Familie zeigt.
    „Also konnten dich Benjamin und Nicholas überzeugen?“, fragt Mr. Chamberlain mit einem zufriedenen und erleichterten Lächeln. „Das ist schön, es geht nicht immer so reibungslos, musst du wissen.“
    „Ganz so war es auch nicht“, antwortet Benjamin, bevor ich etwas sagen kann. „Holly Ashdown schien sogar Angst vor uns zu haben.“
    „Für sie ist das alles noch sehr neu“, mische ich mich ein. Irgendwie habe ich das Bedürfnis, Holly zu beschützen. „Bis vor ein paar Tagen wusste sie nicht einmal, dass es andere wie sie gibt.“
    „Das ist auch kein Problem“, meint Mr. Chamberlain mit einer beschwichtigenden Geste. „Es war vermutlich auch falsch, euch einfach so in kaltes Wasser zu stoßen. Aber es war uns wichtig, euch so schnell wie möglich zu kontaktieren.“
    „Und warum genau?“, frage ich mit einer angehobenen Augenbraue. Lulu lacht etwas und drückt meine Hand.
    Mr. Chamberlain rückt seine Brille hoch und strahlt mich an.
    „Weil wir euch, Ludmilla und Lana Wells und natürlich auch Holly Ashdown offiziell in die Familie einführen wollen.


  • V. L U C I D
    [size=14]The Passionate Dreamwalker

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    Kaltes Wasser klatscht mir ins Gesicht. Ich hole prustend Luft und stütze mich kraftlos an meinem Waschbecken ab, in das laut rauschend Wasser hinein läuft. Keuchend drehe ich den Wasserhahn wieder zu und stolpere schon fast rückwärts auf den Badewannenrand zu, auf den ich mit setze und vorgebeugt sitzen bleibe.
    Irgendwie traue ich mich nicht, mich im Spiegel zu betrachten. Ich weiß ganz genau, dass ich furchtbar blass aussehen muss, und meine Augenringe erreichen heute sicherlich eine ganz neue Dimension. Meine Haare habe ich heute Morgen auch nicht gewaschen. Mit zitternden Fingern wische ich mir die nassen Strähnen aus dem Gesicht.
    Ihr fragt euch, was ihr verpasst habt?
    Ich habe taktischen Rückzug angetreten und-
    Ja, ja, okay. Ich bin geflohen. Jetzt zufrieden? Ich bin abgehauen, mit dem lahmen Vorwand, dass ich meine Tasche wegbringen möchte. Mit einem Blick auf meine Armbanduhr stelle ich fest, dass das jetzt schon eine Viertelstunde her ist. Bisschen zu lange, nur um eine Tasche abzuladen. Und so groß ist unser Haus leider doch nicht, dass ich mich herausreden kann, indem ich sage, ich hätte mich verlaufen.
    Eine ganze Viertelstunde hocke ich also schon in meinem Badezimmer, klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht und versuche krampfhaft mich nicht zu übergeben.
    Warum es mir so schlecht geht? Verdammt noch mal, wenn ich das wüsste!
    Vielleicht wollen mich meine 60% ja ärgern. Ja, das wollen sie garantiert. Was würde ich dafür geben, diese tolle Fähigkeit einfach an jemand anderen weiterzugeben...
    Es nützt nichts.
    Ich stehe langsam auf, drücke mich am Türrahmen ab und schaue in den Spiegel. Und, als hätte ich es nicht geahnt, die Sekretärin hatte Recht, leider. Ich bin extrem blass, gerade wenn man meine sonst von Natur aus leicht gebräunte Haut kennt, meine Augen sehen aus, als wäre ich auf Drogen, so verschwommen und dunkle scheinen sie, und unter ihnen bilden sich breite, violette Schatten. Aus meinem eingerissenen Mundwinkel fließt etwas Wundwasser, das eklig salzig schmeckt, als ich es auslecke. Meine Lippen brennen, als ich mit der Zunge über sie fahre.
    Missmutig öffne ich meinen Pferdeschwanz und schüttele mir die Haare auf, sodass sie wild von meinem Kopf abstehen. Das habe ich von meiner Mutter, unglaublich dichtes, immerzu leicht gekräuseltes Haar. Dass ich sie heute Morgen nicht ordentlich gebürstet habe, macht die Sache nur noch schlimmer.
    Ich werde mich einfach hier oben verstecken und warten, bis sie gegangen sind, fertig. Von ihnen möchte ich heute einfach keinen mehr sehen.
    Versteht mich nicht falsch, Mr. Chamberlain ist ein freundlicher und aufgeschlossener Mann. Aber ich habe einfach ein grässliches Gefühl, dass Gefahr droht. Nicht unbedingt von ihnen aber... Eher von dem Entschluss, ihren Plan zu verfolgen. Es bereitet mir starke Kopfschmerzen auch nur daran zu denken, dem Vertrag zuzustimmen.


    Schwankend stoße ich mich von meinem Waschbeckenrand ab und drücke die Türklinke herunter. Ich stolpere zu meinem Bett, den Blick auf meine Füße gerichtet, die in flauschigen Socken stecke. Als ich vor meiner Schlafmöglichkeit stehe, starre ich sie kurz an und lasse mich dann einfach darauf fallen. Das Gesicht in mein Kissen vergraben beginne ich leise zu murmeln. Mir fehlt einfach die Kraft, mich darüber aufzuregen, dass diese Leute sich so in mein Leben eindrängen, ohne mich zu fragen, was ich möchte.
    Na gut, streng genommen haben sie ja gefragt. Aber seien wir ehrlich, ein Nein hätten sie nicht akzeptiert, ganz bestimmt nicht.
    Und ganz im Ernst, was für ein Recht haben sie schon dazu, mich so zu überrumpeln? Was fällt diesen blöden Vollidioten ein, mich in der Schule zu besuchen und ganz beiläufig zu erwähnen:
    „Ach übrigens, du leidest dein ganzes Leben unter diesen Albträumen, weil du dein Gehirn nicht einsetzen kannst, haha.“
    Ja. Ja, genau das ist es, was ich hören möchte. Dass ich einfach nicht begabt bin, völlig unnütz und dazu auch noch eine Idiotin. Vielen Dank, wirklich. Vielen, herzlichen Dank.
    Ich spüre, wie meine Augen anfangen zu brennen. Ich bin einfach so müde und so fertig. Die halbe Nacht konnte ich nicht schlafen, während der ersten Hälfte wäre ich beinahe erstickt. Dann komme ich in die Schule und finde eine völlig aufgelöste Holly vor, dann kommt die werte Verwandtschaft und nur wenig später meint einer dieser Verwandten...
    Jetzt schreie ich meinen Frust doch ins Kissen. Ich strampele mit den Beinen, schlage um mich wie ein bockiges Kind. Aber was soll ich denn anderes tun? Ich will nicht mehr. Sie sollen mich doch bitte einfach in Ruhe lassen. Meine Verwandtschaft, meine Begabung, allesamt sollen sie doch zum Teufel gehen.
    Der plötzliche Anfall von Wut verschwindet genauso schnell, wie er gekommen ist. Ich bleibe reglos in meinem Bett liegen, der Gesicht vom Kissen verdeckt, eingehüllt in Schwärze. Es tut gut, einfach da zu liegen.
    Wenn es so bleiben könnte, wäre mein Leben wohl doch nicht ganz so beschissen.


    Moment mal.
    Wow. Wow, wow, wow.
    Mutiere ich gerade ernsthaft zu einer dieser dauernörgelnden Teenagertussis, die versprechen, sich das Leben zu nehmen, sobald sie nicht die neue Tasche von Gucci bekommen?
    Oh, nein. Das lasse ich nicht zu. Ich werde nicht in Selbstmitleid versinken. Nein, nein, nein! Reiß dich verdammt noch mal zusammen, Lana. Die ganze Sache klingt doch eigentlich gar nicht so schlecht.


    Mr. Chamberlain hatte mir meine Aufgaben innerhalb der Familie- das heißt, wenn ich den Vertrag unterschreibe- wie folgt erklärt:
    Jeden Nachmittag würde ich für eine oder zwei Stunden in das Gebäude kommen, dass das Familienunternehmen gemietet hatte. Dort würde ich mich in die Hände eines qualifizierten Ärzteteams begeben, die mich an irgendwelche Maschinen anschließen. Damit kann man meine Fähigkeit wohl etwas verstärken, damit ich mich schon einmal daran gewöhne, nicht mitten in einem Traum aufzuwachen, sondern im Korridor. So werden meine Gehirnströme nachhaltig gestärkt, und ich werde bald dazu fähig sein, den Korridor auch ohne diese Maschine zu besuchen.
    Zumindest so in der Art hat er es mir und meiner Grandma erklärt. Die ganzen Fachbegriffe und Mammutwörter habe ich bewusst jetzt mal herausgelassen, denn ganz ehrlich, die versteht doch sowieso keiner. Ich kam mir zwischenzeitlich vor wie in einer Episode auf Star Trek, nur leider gab es bei mir keinen Scotty, der mich raufgebeamt hat.
    Also nur brav lächeln und nicken, als hätte ich einen IQ von dreihundert und würde sofort alles verstehen. Hat an sich ganz gut geklappt, vor allem, da meine Grandma das meiste Reden übernommen hat, ich habe zwischendurch ein beschwichtigendes „Hm“ in der Raum geworfen.
    Ich kratze mich am Hinterkopf und seufze in mein Kissen hinein. Wie zum Teufel komme ich eigentlich immer in solche Situationen? Ich kann es einfach nicht verstehen. Ich will es auch gar nicht verstehen. Ich möchte einfach mein stupides Leben weiterleben dürfen, mich irgendwann mal verlieben, heiraten, Kinder kriegen und dann in Ruhe abnippeln. Ist das zu viel verlangt? Offensichtlich schon.
    „Hast du die Fotos gemacht?“
    Ich zucke zusammen und drehe mich so schnell ich kann um, starre in die Zimmerecke. Mein Puls schießt noch einmal einen Ticken höher, als ich sehe, dass Benjamin einen der Bilderrahmen von meiner Wand genommen hat und das Foto darin sieht.
    Ich blinzele verwirrt und bringe nur ein verdattertes „Hä?“ heraus.
    Wann, zum Teufel noch einmal, war Benjamin in mein Zimmer gekommen? Oder war er schon die ganze Zeit hier? Während ich wie ein kleines Kind mit den Füßen gestrampelt habe? Oh Gott. Warum hat er nichts gesagt? Mist, Mist, Mist!
    „Da sind ein paar wirklich schöne Aufnahmen dabei“, meint er, ohne von der Panik in meinem Gesicht Notiz zu nehmen, als ich hektisch meine Haare vor meinem Sichtfeld zur Seite wische und mit den Zähnen knirsche. Er schaut noch für ein paar Sekunden auf den Rahmen, dann schlendert er zu mir herüber und schenkt mir einen fragenden Blick.
    „Äh, nein“, antworte ich hastig, als mir endlich wieder die Frage einfällt, auf die er eine Antwort haben möchte. Schnell nehme ich ihm das Foto weg und drücke es an mich. Ich stolpere schon fast aus dem Bett, weiche ihm mit gebührendem Abstand aus und hänge den Rahmen dort auf, wo Benjamin ihn her hat. „Die sind von einer Freundin.“
    „Aha.“
    Mehr sagt er nicht. Wir schweigen beide und während ich aus dem Augenwinkel bemerke, dass er mein ganzes Zimmer mit seinen Blicken durchsucht, drehe ich mich mit dem Rücken zu ihm und tue so, als wären die Fotografien für mich auch völlig neu. Dabei hängen sie schon ein ganzes halbes Jahr hier.
    Olivia hat sie mir damals geschenkt, als sie das zweite Mal bei mir zu Besuch war. Weil sie fand, das meine Wand noch leer aussieht. Eines zeigt einen Wald im Herbst, mit goldenem Licht, dass durch die braunen Blätter scheint, ein anderes ist eine Aufnahme vom Sonnenuntergang über dem Meer, eine Urlaubsfotografie. In der Mitte hängen, nur mit einer kleinen Nadel an der Wand befestigt, eine Reihe Gruppenbilder von uns. Aus einem dieser Fotoboden, manchmal auch eine gestellte Fotografie, in der wir alle die Zunge herausstrecken. Ames ist in jedem Bild direkt neben mir und strahlt in die Kamera.
    Herrje, Ames. Wie es ihr wohl geht? Ich hatte eigentlich versprochen, sie heute zu besuchen. Mist.
    „Ist das dein Vater?“
    Benjamin steht plötzlich wieder neben mir und ich zucke von ihm zurück. Er scheint es nicht einmal zu bemerken, seine ganze Aufmerksamkeit liegt auf einem Rahmen, der auf meiner Holzkommode steht, ein großes Bild, schlechte Qualität, weil es schon so alt ist. Mein Vater hält mich in den Armen. Er kitzelt mich, deswegen bin ich etwas verschwommen, und mein Gesicht ist verzogen, aber wir lachen trotzdem beide in die Kamera.
    „Ja“, murmele ich und kratze mich am Arm.
    „Tut mir Leid.“
    „Was?“
    „Dass er tot ist.“
    „Passiert. Jeden Tag sterben Menschen, und irgendwann sind wir alle mal dran.“ Ich zucke mit den Schultern und wende mich von der Kommode ab, gehe herüber zu meinem Schreibtisch. Vorsichtig lege ich die ganzen Arbeitsblätter aus der Schule zusammen, klopfe sie auf der Platte ab und gehe sie noch einmal einzeln durch, als wäre es das Normalste, was es gibt. Als wäre nie etwas passiert.
    Ist es ja auch nicht. Und trotzdem sehe ich, wie meine Hand zittert.
    „Warum bist du eigentlich hier?“, frage ich, einfach weil es das Erste ist, was mir einfällt, weil ich mich irgendwie ablenken muss.
    „Wir haben uns Sorgen gemacht, weil du schon so lange weg warst“, antwortet er und an seiner Stimme höre ich, dass er näher kommt.
    „Warum ist Lulu dann nicht gekommen?“
    „Sie wollte das Mittagsessen machen, da habe ich vorgeschlagen, dass-“
    „Ist eigentlich nicht die feine Art, einfach so in das Zimmer eines Mädchens hineinzugehen, ohne vorher zumindest mal anzuklopfen“, unterbreche ich ihn. Meine Stimme überschlägt sich. Das Brennen in meinen Augen wird stärke, meine Fingernägel fahren kratzend über die Tischplatte.
    „Tut mir leid, ich-“
    „Aber hey, was habe ich eigentlich erwartet? So geht ihr die Dinge doch immer an, oder?“
    „Lana, ich-“
    „Nein, nein, ist schon okay. Ich weiß ja selbst nicht, was mit mir los ist. Ich habe keine Ahnung, wirklich. Und jetzt muss ich auch noch heulen. Keine schöne Sicht, ich weiß“, lache ich unbeholfen, als mir die ersten Tränen aus den Augenwinkeln kullern. Ein Schluchzen kriecht mir die Kehle herauf und ich zittere am ganzen Körper, als ich mir mit dem Handrücken über die Wange streiche. „Tut mir Leid, Benjamin.“
    Einige Sekunden passiert nichts, dann spüre ich auf einem ein Gewicht auf meiner Schulter. Eine Hand, die mich langsam umdreht, bis ich Benjamin ins Gesicht sehen muss. Er legt seinen Arm um meinen Rücken und drückt mich vorsichtig an sich, bis ich irgendwann aufhöre, Wiederstand zu leisten.
    Warum sollte ich auch. Er will mich nur trösten. Sich entschuldigen. Es ist doch egal, wie er es macht.
    Ich spüre die Wärme durch sein Shirt und merke, wie er mir behutsam über den Rücken streicht. Er spricht nicht, aber das ist gut so. Er muss nichts sagen.
    Es gibt schließlich kein Problem zum Lösen. Nichts, das wieder in Ordnung gebracht werden muss. Eigentlich ist ja schließlich alles in Ordnung. Ja, völlig in Ordnung. Ich habe meine Mum, meine Grandma, meine Freunde, meine neue Familie. Ich habe Leute, die mir helfen. Ich brauche kein Selbstmitleid.
    „Danke“, murmele ich in Benjamins Shirt hinein und drücke mich dann vorsichtig von ihm weg. Unsicher streiche ich mir durch die Haare, die wild von meinem Kopf abstehen und wage es erst einmal nicht, ihm in die Augen zu sehen. „Dein Shirt ist jetzt wohl ruiniert“, füge ich noch hinzu, als ich die Maskaraschliere darauf sehe.
    „Macht nichts“, schmunzelt er.
    Ich gehe rüber zu meinem Bett und lasse mich auf die Kante sinken.
    „Wenn ich zustimme, wie läuft das dann ab?“, frage ich irgendwann. Benjamin steht irgendwo in meinem Zimmer herum, vielleicht schaut er sich auch einfach wieder um. Ich spiele einfach an meinen Nägeln, die vorne völlig absplittern, und warte auf eine Antwort.
    „Es wird so ablaufen, wie William es dir gesagt hat.“ Benjamin steht irgendwann neben mir und setzt sich ebenfalls aufs Bett. „Wenn alles glatt läufst, kannst du ab morgen zu uns kommen und dort deine Fähigkeiten trainieren.“
    „Warum nennst du deinen Dad beim Vornamen?“ Das war mir auch unten schon aufgefallen. Wenn Benjamin etwas zu Mr. Chamberlain gesagt hatte, dann benutzte er immer seinen Vornamen. Es ist komisch. Ich kenne einfach niemanden, der seinen Dad nicht Dad nennt.
    Benjamin schaut zu mir herüber, das sehe ich aus dem Augenwinkel, aber ich schaue nicht zurück.
    „Er ist der Anführer der Familie. Alle nennen ihn William“, erklärt er. „Das habe ich einfach so übernommen. Ich glaube, es gibt keinen besonderen Grund. Es hat sich einfach so ergeben.“
    „Warum hat er ausgerechnet dich und Nicholas geschickt?“, stochere ich weiter. Es gibt endlich mal eine Gelegenheit, bei der ich all die Fragen stellen kann, über die ich schon so lange grübele. Oder solche, die mir jetzt erst einfallen.
    „Nicholas lebt schon bei uns, seit er ein kleiner Junge war. Seine Eltern denken, dass es besser für ihn ist, dort aufzuwachsen, wo seine Fähigkeit vollends verstanden wird. Er ist für mich wie ein Bruder, und für William wie ein Sohn. Uns vertraut er einfach am Meisten.“
    „Wie lange seit ihr schon hier?“
    „Man hat uns noch in der Nacht losgeschickt, in der ihr auf der Homepage wart. Schon in der ersten Nacht hier konnte Nicholas zwei geöffnete Türen finden, womit wir uns eigentlich sicher waren, dass ihr nicht per Zufall den Alarm ausgelöst habt. Dann haben wir zu Hause angerufen und uns ein Hotel gemietet“, erzählt er mir, den Blick auf das Fenster richtet, vor dem ein Baum sanft hin und her wiegt.
    „William hat sich dann von England aus um ein altes Bürogebäude gekümmert, damit wir dort unsere Einrichtung unterbringen können, die die Familie gleich losgeschickt hat. Danach haben Nic und ich uns ein Haus ausgesucht, das uns gefiel.“
    „Und das Auto?“
    „Das gab’s als Bonus dazu“, lacht er.
    „Ihr sokeid ja richtige Bonzen.“
    „Nein, wir sind nur sehr kontaktfreudig.“
    Ich schaue ihn mit hochgezogener Augenbraue an, Benjamin grinst breit, sagt aber nichts mehr.
    Also verfallen wir wieder in Schweigen. Er fährt mit seinem Blick quer durch mein Zimmer und bleibt schließlich an den Sternen an meiner Decke hängen, die leicht grünlich leuchten. Ich werfe die Beine vor und zurück, sie schlagen im Takt gegen den Bettrahmen.
    „Du vertraust uns nicht, oder?“
    Es klingt nicht wie ein Vorwurf. Aber ich merke, dass da etwas mehr drin ist als bloße Neugierde. So etwas wie Enttäuschung? Ach, ich weiß es nicht. Ich kann es einfach nicht deuten.
    Was wäre wohl passiert, wenn Benjamin nie ein Mitglied der Familie gewesen wäre. Würde dieses Gespräch dann anders verlaufen?
    Vermutlich würde es nie zu Stande kommen. Immerhin wäre er dann noch in England.
    Ich bin froh, dass er hier ist. Das bin ich wirklich. Mit Nicholas wäre ich nicht halb so gut klar gekommen, da bin ich mir sicher. Und trotzdem breitet sich wieder dieses unwohle Gefühl in meiner Magengegend aus. Ich spüre, wie mir die Galle hochzusteigen droht, mit einem verzogenen Gesicht schlucke ich sie hinunter.
    „Es ist nichts gegen euch“, murmele ich schuldbewusst. „Es ist nur so, dass...“ Ich verschlucke den Rest des Satzes. Es wäre Blödsinn, ihm von diesem Gefühl zu erzählen. Er würde mich vermutlich auslachen. Ich meine, es ist ja wirklich nur ein Gefühl.
    Eines, das mich innerlich auffrisst, aber...
    Benjamin schaut mich fragend an, aber ich schüttele nur den Kopf und nuschele: „Schon okay. Vergiss es.“
    „Wenn du etwas sagen willst, Lana“, beginnt er, und lässt den Rest im Raum stehen. Er zieht eine Hand aus seiner Hosentasche hervor und legt sie auf meine Schulter. Es ist nur eine leichte Berührung, aber auf mir lastet sie wie ein Fünftonner.
    „Es ist Blödsinn.“
    „Lana, wenn ich eines gelernt habe, dann, dass Menschen nur selten Blödsinn im Kopf haben. Und bei dir bin ich mir sicher, dass es noch sehr viel seltener passiert.“
    Oh, Mann. Das kann doch wohl nicht sein Ernst sein. Warum schmeißt er so mit Komplimenten um sich? Warum macht er es mir einfach so unglaublich schwierig?
    Ich seufze und lasse einen Vorhang dichten, schwarzen Haares vor mein Gesicht fallen.
    „Ich habe einfach ein komisches Gefühl. Wenn ich darüber nachdenke, dem Vertrag zuzustimmen, dann bekomme ich Bauchschmerzen. Wortwörtlich.“
    Er lacht nicht, was mich schon einmal beruhigt. Aber er zeigt auch sonst keine Reaktion, deswegen traue ich mich nicht, aufzuschauen.
    Hält er mich jetzt für einen Freak? Also noch freakiger, als ich ohnehin schon bin, an Traumwanderer dürfte er ja gewöhnt sein.
    „Gut, dass du mir das sagst“, murmelt er irgendwann. Lauter fährt er dann fort: „Dieses Gefühl kann etwas bedeuten.“
    „Echt jetzt?“, frage ich und schaue ihn an. Benjamin starrte gedankenversunken an die mintgrün gestrichene Wand und streicht sich mit den Fingern über die Lippen. Seine Augen sind fast geschlossen.
    „Es kann, Lana. Es muss nicht.“
    „Wie kommst du dann darauf?“
    „Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass Traumwandern die einzige Fähigkeit ist, die dir deine Hirnkapazität einbringt.“
    „Naja, doch“, gebe ich zu. „Schulisch gesehen haben mir die sechzig Prozent nämlich gar nichts gebracht. Wenn man mal von den vielen Tadeln wegen Schlafen im Unterricht absieht.“
    Er schmunzelt und streicht sich seine braunen Haare aus dem Gesicht. „Dann hast du dich vielleicht getäuscht.“
    „Du willst mir also sagen, dass ich zusätzlich zum Traumwandern jetzt auch noch eine Hellseherin bin?“
    Er legt den Kopf in den Nacken und schaut mich aus dem Augenwinkel an.
    „Ich weiß es nicht, Lana. Ich habe diese Fähigkeiten leider nicht geerbt. Alles was ich sagen kann ist, dass es nicht unmöglich ist.“
    „Es könnte aber auch einfach nur ein dummes Gefühl sein?“
    „Ja.“
    Ich fluche leise. Na wundervoll, noch etwas, mit dem ich mich herumschlagen darf. Als ob das Traumwandern nicht längst genug wäre, nein, jetzt bin ich auch noch Madame Lana, die psychotische Hellseherin, die durch Magenschmerzen Ärger voraussieht? Oder auch nicht?
    Frustriert stöhne ich auf und springe vom Bett herunter. Mit dem Blick auf meinen Füßen stampfe ich durch mein Zimmer, immer auf und ab, vorbei an meinem Bett, meiner Schreibtisch, meiner Kommode.
    „Ich werde also erst dann herausfinden, ob ich eine Hellseherin bin, wenn mir bei euch etwas passiert?“, frage ich und schaue Benjamin mit gerunzelter Stirn an.
    „Dir wird nichts passieren“, sagt er ernst.
    „Dann erklär mir mal bitte, warum die Schmerzen immer nur dann kommen, wenn ich daran denke, zuzustimmen? Und erzähl mir jetzt nichts von einer Magenverstimmung, ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen.“
    „Ich kann es dir nicht sagen, Lana“, murmelt er und kratzt sich an der Stirn. Für einen Moment öffnet er noch den Mund und schaut mich an, dann schließt er ihn aber unvermittelt wieder. Als hätte er es sich anders überlegt. „Ich kann dir nur versprechen, dass ich nicht zulassen werde, dass dir etwas passiert.“
    Er schöpft sinke ich zurück auf die Bettkante. Ich reibe mir über die brennenden Augen und ein Gähnen entkommt mir. Ich möchte am liebsten einfach nur tot umfallen. Aber ich schätze, das würden mir Mum und Grandma nicht erlauben.
    In einem plötzlichen Anfall von Leichtsinn lege ich meinen Kopf auf Benjamins Schulter, der mich zwar kurz fragend mustert, dann aber zu lächeln anfängt.
    „Ich will nicht mehr“, nuschele ich und schließe die Augen.
    „Du musst auch nicht. Sobald die Geräte morgen da sind, wirst du nachts gut schlafen können. Versprochen.“
    „Hm.“
    Ich rutsche näher an ihn heran, weil ich langsam das Gefühl bekomme, dass mir mein Nacken sonst „Auf Wiedersehen“ sagen würde. Und ich bin nicht scharf darauf, mit einer Halskrause herumzulaufen.
    Ich spüre, wie seine Finger durch mein verknotetes Haar fahren, ich merke sogar, wie sein Herz schlägt. Ganz ruhig und gleichmäßig, als gäbe es nicht, was ihn aus dem Konzept bringen könnte.
    Es ist im Grunde genommen echt krank, was ich hier tue.
    Seien wir mal ehrlich. Ich kenne Benjamin seit heute Morgen. Er weiß alles über mich, und ich so gut wie nichts über ihn. Gut, wir teilen über hunderte von Ecken etwas Blut, aber... Dass ich mich so an ihn kuschele, nicht einmal vier Stunden, nachdem er mich im Krankenzimmer so... So in die Mangel genommen hat.
    Ist das nicht etwas voreilig? Bin ich nicht etwas voreilig?
    Andererseits... Er ist doch derjenige, der mich dazu ermutigt. Er kommt in mein Zimmer, tröstet mich, baut mich auf. Benjamin ist wie eine Säule.
    Ich bin einfach froh, dass ich mich dieser Familiengeschichte nicht alleine stellen muss. Dass ich jemanden auf meiner Seite habe, der mein Geheimnis kennt, und es doch nicht teilt. Weil er nicht so ist, wie Holly oder Lulu. Er ist kein Traumwanderer und deswegen kann er objektiv sein. Und er weiß, wie sehr uns dieser Mist belastet.
    „Benjamin?“
    „Hm?“
    „Danke.“
    Seine Schultern beben kurz, als er etwas lacht.
    „Wofür denn das?“
    „Einfach dafür, dass du mir zuhörst. Und für mich da bist.“
    Er drückt sein Gesicht in mein Haar und zieht mich enger an sich.
    „Kein Problem“, raunt er mir ins Ohr. „Und wenn etwas ist, dann sagst du mir Bescheid, ja?“
    Ich nicke leicht und muss anfangen zu lächeln. Vielleicht ist es doch in Ordnung, dass es so schnell geht. Ich meine, warum auch nicht. Wenn es passt, dann passt es. Das war damals bei meinem Dad und meiner Mum auch so.
    „Lana?“
    Ich höre die Stimme meiner Grandma vor der Türe. Hektisch zucke ich zurück, stoße mir dabei den Hinterkopf an Benjamins Kinn an, der ebenfalls leise flucht. Schnell rutsche ich vor ihm zurück und richte meine Haare.
    „J-Ja?“
    Es ist eine Kurzschlussreaktion. Ich weiß nicht, warum ich nicht möchte, dass meine Grandma mich mit Benjamin zusammen sieht. Er schaut ebenfalls nur zu Tür, als wäre nichts gewesen. Genauso wie heute Mittag.
    Langsam öffnet sich die Türe und Lulu streckt vorsichtig den Kopf hinein. Als sie uns sieht lächelt sie und kommt ins Zimmer hineinspaziert.
    „Das Mittagsessen ist fertig. Benjamin, warum gehst du nicht schon einmal zu deinem Vater?“
    Benjamin nickt stumm, lächelt mich noch einmal kurz an und steht dann auf. Lulu schließt die Türe, als er verschwunden ist und lässt sich etwas stöhnend neben mir auf die Bettkante sinken. Ich ziehe die Füße an und falte sie zum Schneidesitz.
    „Alles okay mit dir?“, raunt sie mir mit einem wissenden Blick zu.
    Ich nicke und kratze mir über die Wange. Lulu konnte in mir schon immer lesen wie in einem offenen Buch. Sie braucht mich nur anzuschauen und weiß sofort, wie es mir geht.
    Vorsichtig legt sie mir ihre warme Hand auf die Stirn und sofort schleicht sich ein breites Grinsen in ihr Gedicht.
    „Dafür, dass nichts ist, bist du aber ziemlich heiß.“
    „Ich weiß“, antworte ich mit einem schwachen Lächeln. „Ich bin so heiß, ich glühe schon fast.“
    Aber sie geht nicht darauf ein. Stattdessen verschwindet ihre fröhliche Miene ebenso schnell, wie sie gekommen ist.
    „Ich werde dem Vertrag nicht zustimmen“, sagt sie und nimmt meine Hände. „Aber du solltest es vielleicht tun.“
    „Warum?“, frage ich und runzle die Stirn.
    „Ich bin alt, Lana. Ich habe mich schon daran gewöhnt, dass ich den Korridor nicht sehen kann. Aber wenn sie dich trainieren, dann wirst du ab jetzt ein besseres Leben haben.“
    Mein Herz beginnt laut zu pochen. Ich beiße mir auf die Lippen und frage mit zitternder Stimme: „Was redest du denn da, Grandma? Bist du... Bist du etwa krank? Ist es das?“
    Sie schüttelt den Kopf, die grauweißen Haare wippen fröhlich mit.
    „Es ist nur so, dass es sich für mich nicht mehr lohnt. Ich komme klar und ich möchte auch keine Veränderungen mehr.“
    Mein Puls beruhigt sich wieder etwas.
    „Jag mir doch nicht so einen Schrecken ein“, murmele ich.
    „William ist ein freundlicher Mann. Ich glaube nicht, dass er etwas im Schilde führt“, fährt sie fort, ohne auf meinen Einwurf zu achten. „Die Art und Weise, wie er von der Familie spricht... Ja, es ist vielleicht komisch, dass sie so viele Informationen über uns haben. Aber letztlich zählt doch nur, dass sie dir helfen wollen.“
    „Bin ich zu vorsichtig?“ Ich frage niemand bestimmten. Ich werfe es einfach so in den Raum hinein, während ich die Socken von meinen Füßen ziehe und zusehe, wie meine Zehen wackeln.
    „Auch wenn man niemandem vertraut kommt man durchs Leben. Es erspart einem vielleicht eine Menge Enttäuschungen. Aber man wird auch nie die Freude erfahren, dass jemand für einen da ist.“
    „Wie philosophisch“, merke ich an.
    „Aber wahr.“
    „Mh.“
    Lulu streicht mir langsam über den Kopf, greift dann zu meinem Nachttisch und nimmt sich die Bürste. Vorsichtig beginnt sie damit, meine Strähnen irgendwie zu ordnen.
    „Egal, wofür du dich entscheidest, ich bin für dich da und deine Mum auch“, merkt Lulu an. Sie hat ihren Blick auf die Fotografie auf meiner Kommode gerichtet. Dad strahlt uns von dort aus entgegen. „Und er wird auch über dich wachen.“
    „Ich weiß. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“


    Das Mittagsessen war mehr eine Tortur als alles andere. Die Stimmung schief irgendwie angespannt zu sein, auch wenn Mr. Chamberlain sich alle Mühe macht, sie irgendwie aufzulockern. Er begann ein leichtes Gespräch mit meiner Grandma und mir, allerding hatte ich nicht die Lust zu antworten, und Grandma schien immerzu in Gedanken versunken. Sie versäumte es sogar, mir einen vierten Nachschlag auf den Teller zu laden, wo das doch laut ihr die Mindestration eines Traumwanderers sein sollte.
    Benjamin sprach ebenfalls nicht. Er beobachtete mich aus dem Augenwinkel und streifte hin und wieder, scheinbar zufällig, meinen Arm oder meine Finger. Als ich fertig war, griff er unter dem Tisch nach meiner Hand und drückte sie kurz feste, zusammen mit einem aufmunternden Blick. Ich lächelte müde und mühsam zurück. Eigentlich wollte ich nur noch schlafen.


    Es war schon sechs, als sich Mr. Chamberlain und Benjamin endlich verabschiedeten. Ich weiß nicht, was ihn so lange hier gehalten hat. Die spannenden Monologe konnten sich zumindest nicht gewesen sein. Jedenfalls bedankte er sich für das leckere Essen und erst als ich das Scharren der Stuhlbeine auf den Küchenfliesen hörte, schreckte ich aus meinem Halbschlaf auf. Müde rieb ich mir die Augen und folgte den beiden in den Flur, der Höflichkeit wegen. Ich lehnte mich gegen die Wand und nickte ihnen mit einem erzwungenen Lächeln zu, als sie sich verabschiedeten und die Tür zufiel.
    Den Rest des Tages überlebte ich wie in Trance. Ich hielt mich davon ab, jetzt einzuschlafen, weil ich dann die halbe Nacht wach liegen würde, und dann würde ich den morgigen Tag nicht überleben. Ich wollte ausgeschlafen sein, wenn ich zur Firma kam, wie Mr. Chamberlain sie nannte. Man würde mich morgen Nachmittag abholen, dann würden sie mich zur Firma bringen. Ich würde die Methode ausprobieren, einmal nur, und dann konnte ich entscheiden, ob ich dem Vertrag zustimmen würde oder nicht. So einfach ist die Sache.


    Ich liege auf der Couch und starre Löcher in die Decke. Meine Hände sind in der Tasche meines Pullovers versteckt und fummeln an irgendetwas Hartem.
    Etwas Hartes?
    Ich runzele die Stirn und richte mich auf. Was habe ich denn da in der Tasche? Heute Mittag war das aber noch nicht da. Oder?
    Als ich meine Hand öffne, brauche ich ein paar Sekunden um zu sehen, was da in ihr liegt. Meine Sicht verschwimmt schon vor lauter Müdigkeit und ich habe rasende Kopfschmerzen, aber ich muss noch etwas durchhalten.
    Ich erkenne etwas Kleines, Kantiges, mit einer Schnur daran, die sich einmal um es herum schlängelt. Mit zitternden Fingern wickele ich das Objekt aus.
    Ein Wappen. Nein, nicht ein Wappen, das Wappen. Aber warum hängt es an einer Schnur?
    Ich runzele die Stirn. Irgendwoher kommt es mir doch bekannt vor.
    Erst, als ich meine Hand wieder darum schließe, fällt mir auf, dass noch etwas darin liegt. Es knistert, als meine Finger es zerdrücken.
    Ein kleiner Zettel, auf dem hastig ein paar Worte geschrieben sind. Ich reibe mir meine Augen und versuche angestrengt zu erkennen, was darauf steht.
    „Lana, wenn du heute Nacht schlafen gehst, halte meinen Schlüsselanhänger in der Hand und denke an mich. Ich halte meinen Traum für dich offen. B.“
    Ich runzele die Stirn, weil mir die Bedeutung der Worte erst langsam klar wird. B für Benjamin. Er hat mir also diese Nachricht zugesteckt. Und er hält seine Träume für mich offen? Was auch immer das zu bedeuten hat, irgendwie bringt es mich zum Lächeln. Ich schließe meine Hand wieder um den Schlüsselanhänger und richte mich mühsam auf.


    Lulu ist nicht erstaunt, dass ich schon schlafen gehen möchte. Sie streicht mir nur mein schwarzes Haar aus dem Gesicht und drückt mir einen Kuss auf die Stirn, dann wünscht sie mir eine gute Nacht und widmet sich wieder ihrem Fernsehprogramm.
    Langsam schluffe ich nach oben, die Augen halb geschlossen. Ich gähne nur noch vor mich hin und stütze mich am Geländer ab, damit mich nicht auf der Hälfte des Weges hoch mich die Kraft verlässt und ich die Treppe herunterkullere. Ich weiß nicht ganz, wie ich es schaffe, mich fertig zu machen. Ich spüre nur die ganze Zeit den Schlüsselanhänger in meiner Hand, als ob mich das davor bewahren würde, einzuschlafen.
    Irgendwann finde ich mich aber in meinem Bett wieder. Ich liege auf meinem Bauch, fühle den Druck der Bettdecke dagegen und drehe mich murrend um.
    Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass wir halb elf haben. Irgendwie habe ich es also tatsächlich geschafft, wach zu bleiben. Ich weiß nicht, wie ich die vier Stunden überlebt habe, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass genug Zeit vergangen ist. Ich lege meinen Kopf auf mein Kissen und lasse ihn darin versinken. Meine Beine ziehe ich eng an meinen Körper an, die Hände lege ich nebeneinander. Bevor ich das Licht ausknipse, schaue ich noch einmal den Schlüsselanhänger in meiner Hand an.
    Ich soll an Benjamin denken. Er wird mir seine Träume offen halten.
    Das Licht geht aus und mein Zimmer ist in Dunkelheit getaucht. Ich erkenne leichte Schemen im Schatten und die grünen Sterne an meiner Decke, die tröstend glühen. Und als ich meine Augen schließe, da taucht Benjamins Gesicht vor mir auf.
    Die dunkelbraunen Augen, die schmalen Lippen, die zu einem Lächeln verzogen sind,. Strähnen seines Haares fallen ihm ins kantige Gesicht, ich möchte sie ihm am liebsten zurückstreichen, ihn irgendwie berühren.
    Da sehe ich plötzlich ein kleines Glühen hinter ihm in der Dunkelheit. Benjamins Gesicht verschwindet langsam, dafür wird das Licht immer heller. Ich schaue direkt hinein, es brennt nicht in den Augen. Es umfasst mich wie ein wärmender Mantel, lädt mich ein.
    Und ich folge der süßen Bewusstlosigkeit.


  • VI. L U C I D
    Summer's lease hath all too short a date



    Wenn ich in einen Traum eintauche, dann ist es immer so, als würde ich aufwachen. Irgendwann beginnt mein Körper damit, seine Empfindungen wiederzufinden.
    Zuerst höre ich das Rauschen von Gras, das mit dem Wind tanzt. Ich höre Blätter, das Zwitschern von Vögeln, scheinbar weit entfernt aber so klar, als wären sie direkt neben mir.
    Irgendwann kommt die Wärme dazu, wie eine dünne Decke. Ich spüre den Windhauch an meinen Wangen wie einen sanften Kuss, die kleinen Grasfinger, die an meinen Armen und Beinen kitzeln.
    Der Duft von Blumen vernebelt mir für eine Sekunde das Hirn, als er auf mich einschlägt wie eine gewaltige Explosion an Gerüchen. Wie im Frühling riecht es, wie im Park, im Rosengarten. Intensiv und doch leicht wie eine sanfte Brise.
    Meine Finger zucken, als ich noch etwas anderes an meiner Wange spüre, eine leichte Berührung. Instinktiv öffne ich meine Augen, aber zuerst sehe ich nur einen vagen Schatten, der sich über mich beugt. Ich blinzle und hoffe, dass sie sich schnell an die plötzliche Dunkelheit gewöhnen.
    „Alles in Ordnung?“, höre ich den Schatten fragen, eine sanfte Stimme, die ich nur zu gut kenne. Noch bevor meine Sicht ganz klar wird, stoße ich seinen Namen aus.
    „Benjamin?“, krächze ich etwas überrumpelt. Strähnen seines braunen Haares wirken mit einem Mal, als würden sie leuchten. Und auch, wenn seine Augen im Schatten liegen, sie funkeln als wären sie beleuchtet.
    Er legt mir den Arm vorsichtig um die Schulter, als ich mich etwas kraftlos aufzurichten versuche. Das ist jedes Mal so, wenn ich in einem Traum aufwache. Ich brauche eine Weile um meine Körperfunktionen wieder geordnet zu haben, manchmal etwas länger, vor allem dann, wenn die Traumwelt der Echten so unähnlich ist. Aber diese hier scheint beinahe real.
    Wir sitzen in einem weiten Feld. Gras strahlt mir smaragdfarben entgegen, es ist hoch gewachsen, fast einen Meter, aber es tanzt im Wind und liebkost mich immer wieder. Über uns strahlt der Himmel in azurblau, eine unwirkliche Farbe, als hätte man die Farbintensität hochgedreht. Alles wirkt bunt und fröhlich und warm. Ich kann mich kaum satt sehen.
    „Gefällt es dir hier?“
    „Wunderschön“, stoße ich aus und setze schwankend einen Fuß auf. Benjamin ist sofort zur Stelle und reicht mir seine Hand, hilft mir mit einer kräftigen, aber fließenden Bewegung auf die Beine. Ich lasse seine Hand nicht los, als ich mich langsam im Kreis drehe.
    Vereinzelt stehen Bäume im Feld, Giganten mit Moosgrünen Blättern, Zweige, die perfekt symmetrisch gewachsen sind. Selbst der Stamm scheint in Honig getaucht zu sein, er glänzt in der gleißenden Sonne wie Bernstein.
    Irgendwo zwischen den Ästen entdecke ich Vögel, kleine, zierliche Körper in Regenbogenfarben, mit langen Schweifen und prächtigen Flügeln.
    „Das ist wie in einem Fantasy Roman“, murmele ich, die Augen starr auf die schönen Tiere gerichtet.
    „Ich lese gerne“, lacht Benjamin hinter mir. Er drückt meine Hand und ich drehe mich zurück zu ihm.
    „Wie hast du das gemacht? Das ich in deinen Traum gekommen bin?“, frage ich, als ich ihn für eine Weile stumm betrachtet habe. Er selbst scheint zu leuchten, wie eine kleine Sonne direkt vor mir. Und er strahlt diese Wärme aus, die mich ganz... merkwürdig fühlen lässt.
    „Das warst du selbst. Alles was ich gemacht habe, ist dir meinen Traum offen zu halten“, behauptet er.
    „Das hat bisher aber noch nie funktioniert. Ich bin doch selbst schon darauf gekommen, an jemanden zu denken. Ames zum Beispiel.“
    „Sie hat dir ihren Traum aber nicht offen gehalten. Außerdem erfordert es eine enge Bindung zueinander“, erklärt Benjamin und geht einen Schritt näher auf mich zu. Ich schaue einfach zu ihm hoch, denke nicht einmal daran, zurückzuweichen. „Dass du hier bist ist ein großer Vertrauensbeweis, Lana.“
    Ich nicke stumm und schaffe es erst, mich von seinen Augen loszureißen, als ein Vogel dicht neben mir landet. Er schaut mich aus großen, schwarzen Perlaugen an, legt den Kopf schief und hüpft auf mich zu.
    Benjamin führt meine Hand in seiner zum Vogel herunter. Wir gehen vor ihm in die Hocke, als er einen sirrenden Laut ausstößt, etwas, das klingt wie eine Geige oder eine Harfe, etwas dazwischen vielleicht. Ein Ton, der mir einen wohligen Schauer über den Rücken laufen lässt.
    Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen beobachte ich, wie er unsere Finger beäugt, die ineinander verschränkt sind. Ich spüre Benjamin direkt hinter mir, seinen kräftigen Herzschlag, seine Wärme. Ich fühle einen Hauch seines Atems auf meiner Wange und versteife mich nur für einen Augenblick.
    Ist das hier ein perfekter Moment? Einer von denen man nur zu träumen wagt?
    Ja, es ist nur ein Traum. Aber für mich fühlt es sich echt an und für ihn auch, das weiß ich, weil er mich so sanft in seinen Armen hält.
    „Hast du diesen Vogel erschaffen?“, frage ich, als er die Flügel ausbreitet und in die Luft hinaussteigt. Ich folge ihm mit meinem Blick, aber er ist schon verschwunden.
    Benjamin nickt und hilft mir, mich aufzurichten. Meine Beine zittern etwas, aber er nimmt mir die Last ab, als wäre er ein Teil von mir. Und dieser Gedanke reicht, um mir das Blut in die Wangen schießen zu lassen. Aber diesmal ist es mir egal. Ich drehe mich zu ihm um und schenke ihm mein Lächeln.
    „Wie hast du das gemacht? Das alles hier?“
    „Es gibt eine Methode, mit der man seine Träume steuern kann“, beginnt er und streicht sich beiläufig eine Strähne seines Haares aus dem Gesicht. Er lächelt unentwegt. „Wachträumen.“
    „Davon habe ich glaube ich schon einmal gelesen“, überlege ich laut und streiche mir über meine Lippen. Sie fühlen sich weich und voll an, nicht zerbissen und rau wie sie es in Wirklichkeit sind.
    „Es ist nicht einfach, aber ich hatte viel Zeit und weil es quasi das Familienbusiness ist...“ Er grinst breit und lässt den Rest des Satzes in der Luft hängen.
    „Lucid Dreaming“, stoße ich aus, als mir der Ausdruck plötzlich in den Kopf schießt.
    „Genau.“
    „Und du kannst jetzt alles passieren lassen, dass du möchtest?“
    „Vieles“, antwortet er. „Aber dich kann ich nicht steuern. Immerhin bist du nicht wirklich Teil meines Traumes. Du bist das einzige Reale hier.“
    Sein Blick schweift über die Wiese. Sie erstreckt sich ins Endlose, bis sich Grün und Blau weit entfernt vermischen und verschwommen werden.
    „Hast du einen Ort, den du besonders magst?“, fragt er irgendwann, schaut mich aber erst wieder an, als er zu Ende gesprochen hat. „Oder einen Ort, an dem du noch nie warst? Von dem du träumen würdest, wenn du könntest?“
    Ich überlege nicht lange. „Paris. Ich habe Bilder von Paris gesehen, vom Eifelturm, wie er in der Nacht zu leuchten beginnt. Da würde ich gerne einmal hin.“
    Benjamin lacht leise in sich hinein, als er mich mit dem Rücken zu ihm herumdreht und mir vorsichtig seine warmen Hände auf die Augen legt. Er drückt mich sanft an sich, legt sein Gesicht in meine Haare. Ich spüre, wie seine Lippen sich bewegen, aber er sagt nichts.


    Das Zwitschern der Vögel verklingt, das Windrauschen hört auf. Ich höre etwas entfernt Wasser sprudeln, eine zarte Symphonie eines Springbrunnens.
    Die Luft ist erfüllt vom Duft von Rosen und... Baguettes? Ich drücke meinen Kopf hoch und schnuppere in der Luft wie eine neugierige Katze.
    „Riecht gut, oder?“
    Ich nicke und muss kurz grinsen.
    „Ich habe gedacht das mit den Baguettes wäre nur ein Klischee“, kichere ich, noch immer blind. Langsam werde ich ungeduldig.
    „Nein, nicht wirklich. Als ich in Paris war sah es genau so aus.“
    Vorsichtig nimmt er die Hände von meinen Augen.
    Die Sicht raubt mir den Atem. Wir stehen direkt vor dem Eifelturm, der von kleinen Lichtern beleuchtet in die sternenklare Nacht hineinragt. Es sieht so aus als würden überall auf den Metallstreben kleine Glühwürmchen tanzen, aber es sind nur Lampen, die mal aus und dann mal angehen, ein Muster auf das Bauwerk zaubern.
    Wir sind ganz alleine, aber von fern höre ich Musik, eine Geige vielleicht. Eine tänzerische Melodie, zu der ich einfach mitsummen muss. Sie dringt mir durch Mark und Bein und bevor ich mich versehe, durchfährt mich ein wohliger Schauer.
    „Und?“
    Benjamin legt mir seine Hände auf die Hüften und sein Kinn auf meinen Kopf.
    „Wunderschön.“


    Wie gehen Hand in Hand unter dem Eiffelturm her. Ich weiß, dass es eigentlich nicht so sein dürfte, aber um die Streben wachsen Heckenrosen mit kleinen, rosanen Blüten die sich zwischen dunkelgrünen Blättern dem Licht entgegenstrecken. Der Kies unter unseren Füßen knirscht bei jedem Schritt.
    Wir gehen bis zur Mitte, dort halten wir vor einem Fluss an, der sich von rechts nach links unter dem Turm hindurchschlängelt.
    „Bist du dir sicher, dass das hier richtig ist?“, frage ich und deute mit einem schiefen Grinsen auf das azurblaue Gewässer.
    „Künstlerische Freiheit“, lacht Benjamin und hockt sich neben das Ufer. Als seine Hände in das Wasser gleiten, scheint es aufzuleuchten. Ich entdecke kleine, bunte Fische, die an seinen Fingern vorbeischwimmen.
    „Ist das hier auch künstlerische Freiheit?“ Ich schaue mich selbst im Spiegelbild an, das keinerlei Wellen schlägt. Der Fluss ist vollkommen ruhig, er wirkt eher wie ein langgezogener See.
    Ich starre mir selbst entgegen, nur bin ich im Spiegel viel hübscher als ich es gewohnt bin. Keine Augenringe, keine eingerissenen Lippen.
    Mein Teint ist makellos, von einem hellen Karamellton, mit leicht rosanen Wangen. Ich habe mit einem Male lange, schwarze Wimpern, die Art, für die die meisten Frauen töten würden. Meine Haare hängen mir in perfekten Locken die Schultern herunter. Als ich mich vorbeuge um mich näher zu betrachten, gleiten sie ins Wasser hinein, färben sich unter der Oberfläche dunkelblau.
    Sogar meine Augen strahlen noch viel heller als sonst. Jede Müdigkeit ist aus meinem Gesicht gewichen, jeder Makel. Ich bin perfekt, beinahe wie eine hispanische Puppe.
    „Das ist keine Kunst, Lana.“ Benjamins Gesicht taucht neben meinem auf. Er lächelt mein Spiegelbild an und streicht mir über die nackten Arme. Ich trage einen Hauch von einem Kleid, aber mir ist nicht einmal ansatzweise kalt. Ich habe das Gefühl, dass ich von allen Seiten von einer unsichtbaren Sonne gewärmt werde. „So sehe ich dich.“
    „Schleimer“, nuschele ich und lasse mir die Locken vors Gesicht fallen. Ich schaue weg, weiß aber selbst nicht genau warum.
    Benjamin lacht nur und zieht mich sanft zu sich heran.


    Ich weiß nicht, wie lange wir so verharrten, ich in seinen Armen unter dem Eifelturm, an einem azurblauen Fluss der nicht weiterfloss. Es fühlte sich nicht einmal so an, als würde die Zeit irgendwie vergehen. Sie war stehen geblieben wie das Gewässer vor uns. Und ich wollte nicht, dass sie weitergeht. Ich wollte hier bleiben, bei Benjamin, mit Benjamin, in Benjamins Armen.
    Wir schwiegen die ganze Zeit, weil keiner von uns die Ruhe stören wollte. Hinter uns rauschten die Springbrunnen, die Wasser in die Luft schossen, das von den vielen bunten Lichtern beleuchtet wurde. Es gab so viel zu entdecken in seiner Traumwelt, aber ich war zufrieden damit, einfach nur dort zu sitzen, nichts zu tun und zu schweigen.
    Es war ein merkwürdiges Gefühl einfach zu sitzen und die Atmosphäre zu genießen. Zu so etwas hatte ich meist keine Zeit.
    Nein, das ist nicht richtig. Ich habe durchaus Zeit, aber einfach nicht die Kraft etwas wirklich lange zu betrachten, zu erkennen wie schön es wirklich ist. Ständig denke ich nach, über den letzten Traum, über meine Freunde, meine Mutter, die Schule. Ständig drehen sich meine Gedanken im Kreis, kommen nie zur Ruhe. Selbst in der Nacht schaffe ich es meist nicht, mich zu entspannen, weil mich irgendetwas jagt oder ich Klippen hinunterstürze, was wirklich nicht Nummer Eins der Therapiemöglichkeiten gegen Stress ist.
    Aber hier habe ich nicht einmal das Bedürfnis mich irgendwie mitzuteilen. Ich mag Stille nicht, weil sie mir schnell unangenehm wird. Wenn meine Freunde ruhig sind, dann weiß ich, dass etwas passiert ist. Mein Körper rebelliert und ich werde nervös, daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Aber jetzt? Jetzt gerade genieße ich das Schweigen. Ich brauche nichts anderes. Und ich denke auch nicht wirklich nach. Alle meine Gedanken zerfließen zu einem leichten Fluss aus Fetzen, die nur ganz dezent durch meinen Kopf gleiten, wie ein Windhauch.


    Irgendwann, ich habe die Augen längst geschlossen, weil selbst die Schwärze dahinter mir plötzlich angenehm und wohltuend erscheint, spüre ich wie Benjamin sich bewegt. Ich öffne die Lieder und richte mich auf. Mein Arm ist taub, weil ich mich so lange darauf abgestützt habe und er prickelt und kitzelt als ich versuche ihn aufzuwecken. Ich muss etwas kichern.
    Benjamin schaut auf seine Armbanduhr und blinzelt mit einem leicht enttäuschten Gesichtsausdruck.
    „Was ist?“, frage ich und versuche einen Blick auf das Ziffernblatt zu erhaschen.
    „Es ist schon fast sechs“, antwortet er und runzelt die Stirn.
    „Und?“
    „Ich muss bald aufwachen.“
    Ich schweige und rücke etwas von ihm ab. Täusche ich mich oder strahlt das Wasser plötzlich nicht mehr so azurblau?
    „Die Zeit ist schnell vergangen“, murmelt der Braunhaarige und steht langsam auf. Als er die Arme von sich streckt, knacken sie ein wenig. „Das hätte ich nicht gedacht.“
    Ich werfe einen letzten, sehnsüchtigen Blick in die Ferne, durch den Bogen des Eifelturms hindurch auf die smaragdgrünen Grasflächen, die eingerahmt von einem schwarzen Bogenzaun zwischen den Kieswegen liegen. Sie glänzen im goldenen Schein der Lichter, genauso wie die Springbrunnen. Sie schießen ihr Wasser hoch in die Luft, wo es sich in einzelne Tropfen auflöst, die in allen Farben schimmern.
    „Wir können jederzeit wiederkommen“, raunt Benjamin mir zu, als er sich vorbeugt und mich sanft an den Schultern greift. Ich rappele mich auf schaue nach oben, wo die Spitze des Eifelturms nur ein kleiner Punkt ist, umrahmt von kunstvollen Metallstreben.
    „Hm“, brumme ich und reibe mir über die Stirn. Ich habe das Gefühl, als wäre ich gerade erst aufgewacht. Aber zumindest bin ich erholt, wenn auch etwas traurig, diesen Ort verlassen zu müssen. Es ist so schön hier. Warum kann ich nicht immer hier sein?
    „Bist du bereit?“, fragt er mich mit einem Blick auf seine Uhr, deren Konturen schon zu verschwimmen beginnen.
    Ich nicke langsam und hole tief Luft.
    Benjamin schaut mich noch einmal an, er studiert mein Gesicht und legt dann lächelnd seinen Arm um meine Taille. Ich lasse mich zu ihm ziehen, auch wenn mein Herz dabei viel zu heftig schlägt.
    „Wir sehen uns heute, ja?“
    „Ja“, murmele ich.
    „Versprochen?“, fragt er und als ich den Kopf senke, nimmt er mein Kind in seine Hand und hebt es leicht hoch. Ich schaue ihm in die Augen, deren Glanz langsam nachlässt. Aber nicht nur seine Augen, sein gesamter Körper scheint zu verschwimmen, verschwindet langsam in der Nacht von Paris, als würde man sämtliche Farbe aus ihm nehmen. Irgendwann sehe ich nur noch blass gefärbte Umrisse.
    „Versprochen.“


    Als ich meine Augen das nächste Mal öffne, dringt fahles Licht durch meine Fenster. Ich habe gestern wohl vergessen, die Vorhänge zuzuziehen, so müde war ich.
    Aber jetzt fühle ich mich zum ersten Mal seit Wochen wieder... erholt. Ja, ich fühle mich fit und gut und... Einfach gut eben. Für den Tag bereit.
    Ich strecke Arme und Beine von mir und raune mir selbst ein „Guten Morgen“ zu, fast schon überschwänglich schwinge ich meine Beine über die Bettkante.
    Und, ich kann es selbst nicht ganz fassen, ich tänzle tatsächlich durch mein Zimmer, hinein ins Bad, wo durch ein kleines Fenster die Sonne scheint. Meine grünlichen Glasfließen reflektieren das Licht und werfen bunte Flecken an die Wände.
    Was das schon immer so?
    Ich sollte mir wirklich mehr Zeit für solche Dinge nehmen. Warum immer vom Leben genervt sein? Warum immer über alles nachgrübeln?
    Im Grunde hat es doch keinen Zweck. Ich sollte die Dinge leichter nehmen, einfach mal verstehen, dass es dumm ist sich die ganze Zeit zu sorgen. Ja, so sollte ich es angehen.
    Und auch wenn das Bürsten meiner Haare diesen guten Vorsatz schon auf eine heftige Probe stellt, weil ich vor lauter Schmerzen immer wieder dazu versucht bin, ungehemmt zu fluchen, irgendwie halte ich es doch noch aus.
    Irgendwann sind meine dunklen Strähne dann also tatsächlich gezähmt. In meinem Waschbecken liegen überall schwarze, feine Haare, die zusammen mit etwas Wasser im Abfluss verschwinden.
    Tropfen rinnen über mein Gesicht hinab, kühl und wohltuend. Und als ich in den Spiegel schaue, da denke ich mir, dass ich doch gar nicht so schlecht aussehe. Sicher, die Unreinheiten auf meinem Gesicht sind nicht über Nacht verschwunden und auch meine Lippen brauchen wohl noch etwas Zeit, um die abgebissene Haut zu erneuern. Aber meine Augen wirken wacher, die dunklen Schatten auf einmal gar nicht mehr so schlimm. Zufrieden wippe ich vor meinem Spiegel auf und ab, halte mich am Waschbecken fest und versuche es mit einem freundlichen Lächeln.
    Na also. Warum immer so griesgrämig sein?


    „Du bist ja schon wach!“
    Ausnahmsweise bin ich einmal vor meiner Grandma unten gewesen. Ich habe es sogar fertig gebracht, Speck und Eier in einer Pfanne anzubraten. Beides brutzelt unter meiner Nase und wirft leichte Blasen.
    Um sieben höre ich Schritte auf der Treppe und eine halbe Minute später schlürft Lulu in ihrem weißen Morgenmantel hinein. Sie schaut zwei Mal hin, reibt sich aus Spaß sogar ungläubig die Augen, als ich ihr einen guten Morgen wünsche. Ich verdrehe meine und wende mich wieder der Pfanne zu.
    „Und gute Laune hast du auch noch.“ Grandma kommt gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Ich strecke ihr kurz meine Zunge heraus, zwinkere dabei aber.
    „Ich hatte einen guten Traum“, flöte ich und schließe die Augen. Der Eifelturm taucht vor mir auf, groß und leuchtend.
    „Na, das freut mich“, lächelt Lulu und streicht mir eine schwarze Strähne hinters Ohr, die mir immer wieder ins Sichtfeld fällt.
    „Tschuldigung, dass ich gestern so schlecht drauf war“, meine ich irgendwann, als das Klappern von Tellern und Messern verklungen ist. Grandma beugt sich neben mir über die Theke und greift sich das Brotmesser, das gefährlich nah an meinem Gesicht vorbeigezogen wird. Ich stoße ein Zischen aus und weiche etwas zurück.
    „Ist schon okay. Das war für uns alle eine große Überraschung, da ist es in Ordnung, wenn man etwas verwirrt ist.“
    „Und du willst sicher nicht mitkommen?“
    „Zur Firma?“ Grandma schüttelt lächelnd den Kopf. „Nein.“
    Ich hacke nicht weiter darauf herum. Stattdessen hebe ich die Pfanne vom Herd und trage sie rüber zum Tisch, wo ich Speck und Ei auf die Teller schiebe.


    Wir verbringen das Frühstück in einem leichten Plauderton, sprechen über das Essen, über unsere Nacht, wobei ich es sorgsam vermeide, Benjamins Namen zu verwenden und nur erzähle, dass jemand wohl von Paris geträumt haben muss, und über das Wetter. Ausnahmsweise ist es heute nicht bewölkt und das kleine Thermometer draußen, das ich durch die Scheibe beobachten kann, zeigt mir eine angenehme Temperatur von etwa zwanzig Grad an, was aus dem Grund merkwürdig ist, dass es zwei Wochen lang unglaublich schlechtes Wetter gegeben hatte und dieses sich ganz urplötzlich zu eitel Sonnenschwein wendete.
    Nicht, dass es mich stören würde, nein, ganz im Gegenteil. Es ist eine nette Abwechslung. Ich schaffe es sogar mich dazu bereit zu erklären, Lulu heute im Garten etwas auszuhelfen. Die Büsche müssen etwas geschnitten und die Beete umgegraben und neu bepflanzt werden, damit sie später schön blühen.


    Wir räumen gerade ab, als Mum gähnend in die Küche schlufft. Ihre schwarzen Haare stehen in alle Richtungen ab, was wohl an dem Haarspray liegt, das immer noch die Strähnen miteinander verklebt. Mascara klebt ihr unter den Augen, bildet dunkle, schmierige Schatten auf ihrer Wange.
    „Guten Morgen“, flöte ich ihr zu, erhalte als Antwort aber nur einen weiteren Gähner, der ihre Worte unkenntlich macht.
    „Wie viel Uhr haben mir?“, nuschelt sie, als sich die Schwarzhaarig kraftlos auf einen Stuhl fallen lässt und zusammensackt wie ein Sack Mehl.
    „Halb zehn“, antworte ich. Wow, die Zeit ist wirklich schnell vergangen. Unser Frühstück ist wohl ziemlich ausgiebig gewesen. Gut, wir haben auch mehr geredet als gegessen.
    „So spät schon?“
    Ich nicke und stelle ihr eine Tasse Tee vor die Nase. Sie dankt mir kurz und beginnt damit, mir mein Brot zu schmieren.
    „Wo warst du gestern eigentlich so lange?“, frage ich irgendwann. Ich sinke neben ihr auf den Stuhl und greife mir die Zeitschrift, die neben einer Blumenvase und einem Flechtkorb mit Früchten liegt.
    „Eine Kollegin ist kurzfristig krank geworden, da sollte ich einspringen“, erklärt Mum und schiebt sich den Toast in den Mund. Mit einem Bissen ist die Hälfte davon schon verschwunden. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so anstrengend ist, das nächtliche Klatschmagazin zu führen.“
    „Hast du wenigstens etwas gegessen?“, fragt Lulu und lächelt mir über den Tisch resignierend zu. Es ist mehr eine Fangfrage. Mum isst, wenn sie in Eile ist, nicht wirklich etwas, vielleicht einen kleinen Salat beim Italiener um die Ecke oder einen Müsliriegel. Und das ist nichts, was eine vielbeschäftigte Frau wie sie lange am Leben erhält.
    Gerade stopft sie nämlich schon den dritten Toast in sich hinein. Und das Monster in ihrem Magen schreit ganz offensichtlich nach mehr. Sehr viel mehr.
    „Ich kann nicht fassen, was für einen Blödsinn die sich da erzählen“, grummelt Mum mit einem giftigen Blick in eine unbestimmte Richtung. „Oh, sie hatte mal Lust auf eine andere Haarfarbe, sie hat sich bestimmt von ihrem Mann getrennt und die Kinder lässt sie auch zurück. Also ich wusste ja schon immer, dass sie eine schlechte Mutter ist“, äfft sie die näselnde Stimme einer Frau nach. „Leute, sie hat sich nur für eine andere Farbnuance entschieden. Mehr ist da nicht.“
    Ich muss etwas grinsen, als ich ihr die fünfte schmiere und rüberreiche. Meine Mum ist Hauptberuflich Moderatorin eines Nachrichtenjournals, das bedeutet, dass sie rational und objektiv über ein Thema spricht. Sie hasst es, wenn sie Reporter sieht, die diesen Pflichten nicht nachkommen, weil die ihrer Meinung nach einfach den Beruf verfehlt haben.
    „Mum? Hilfst du uns gleich etwas, den Garten zu machen?“
    Sie hebt blinzelnd ihren Kopf und schaut mich für einen Moment an, als hätte sie mich gerade zum ersten Mal gesehen.
    „Okay“, murmelt sie langgezogen. „Wer bist du und was hast du mit Lana gemacht?“


    Weil es die einfachste Aufgabe ist, bei der man nicht viel falsch machen kann, darf ich die Blumen aus den kleinen Plastiktöpfchen ins Bett verpflanzen. Lulu hat Orchideen gekauft, Tulpen und andere Blüten, die ich zwar vom Sehen her kenne, aber mehr auch nicht. Ich habe leider keinen grünen Daumen, meiner ist eher schwarz. Dabei mag ich Blumen ziemlich gerne. Damals bin ich oft mit Dad und Mum in den Park gegangen. Wir haben zwischen den hohen Hecken Verstecken gespielt. Bei dem Gedanken muss ich grinsen.
    „Also, spucks schon aus“, spricht Mum mich mit einem Berg an abgeschnittenen Ästen in den Armen auf einmal an. Sie grinst süffisant. „Wer ist er?“
    „Hä?“
    „Es gibt nur zwei Gründe für dich, so glücklich zu sein. Der eine ist, dass du keine Schule mehr hast, und da es noch keine Ferien gibt, schließe ich das aus.“
    „Und der andere Grund?“ Ich fahre mir mit dem Handrücken über die Stirn und drücke die kleine Schaufel in die aufgelockerte Erde.
    „Du bist verliebt.“
    „Bin ich nicht!“, stoße ich zu schnell aus. Viel zu schnell, als dass es glaubwürdig erscheinen würde. Und das Blut, das in meine Wangen schießt, trägt auch nicht gerade zu meiner Glaubwürdigkeit bei.
    Mum grinst nur noch breiter, lässt die Äste fallen und hockt sich neben mich.
    „Wer ist es?“, wiederholt sie mit strahlenden Augen.
    Ich beiße mir auf die Lippe und schaue weg, aber Mum bewegt sich einfach nicht weiter. Als sie irgendwann damit anfängt, mir in die Seite zu piksen werfe ich ihr einen bösen Blick zu. Beschwichtigend hebt sie die Hände, muss aber lachen.


    Ich spüre immer wieder, wie Mum mich anschaut und wenn ich sie dabei erwische, dann grinst sie mich wissend an.
    Ist es denn wirklich so offensichtlich? Irgendwie gruselig, dass man es mir ansehen kann. Aber andererseits... Ich habe es ja selbst irgendwie gemerkt. Meine gute Laune kann nicht von irgendwoher kommen, ganz urplötzlich. Ich habe es als erstes auf den guten Traum geschoben, den Benjamin für mich erschaffen hat, und zum Teil stimmt das auch. Aber einen Großteil hat er auch dazu beigetragen.
    Nur bin ich mir nicht wirklich sicher, ob ich wirklich verliebt bin. Ja, es fühlt sich gut an, von ihm festgehalten zu werden. Ich genieße seine Anwesenheit, ich freue mich darüber, wenn er mit mir spricht und mich anlächelt.
    Aber trotzdem muss ich mich die ganze Zeit fragen, ob es nicht doch etwas zu früh für so etwas ist. Gut, wir haben fast einen ganzen Tag zusammen verbracht, inklusive der Nacht. Und niemand kann hier behaupten, dass diese Nacht nicht schön war.
    Er macht es mir aber auch alles andere als einfach. Von Anfang an kam er mir näher, als es für einen Fremden üblich ist, was rückblickend merkwürdig ist, aber... Ach, ich weiß auch nicht. Es ist okay, schätze ich. Vielleicht muss es ja auch so schnell gehen.


    Um vier, als die Sonne hoch über uns im Himmel steht, sind wir endlich fertig. Das Gras ist geschnitten und leuchtet im Licht, der Baum ist etwas gestutzt, die halb verrotteten Blätter sind in einem Sack entsorgt und kleine Blüten leuchten aus den Beeten zu uns herüber.
    „Geh dich besser duschen, bevor sie dich abholen“, rät Lulu mir und erntet einen fragenden Blick von Mum.
    „Wer holt Lana ab?“
    „Och, nur ein Freund von ihr.“
    „Jeremy?“
    „Nein, erst ist neu an der Schule“, antworte ich, weil es mir spontan einfällt. Was ja auch nicht wirklich eine Lüge ist, auch wenn Benjamin kein Schüler ist.
    Ich kann es Mum einfach nicht sagen. Wie würde sie darauf reagieren zu erfahren, dass weit entfernte Verwandte nach uns gesucht haben? Sie würde mehr wissen wollen, warum und weshalb. Sie weiß nichts von unserer Fähigkeit uns so sollte es auch bleiben, denke ich. Also werde ich einfach mal so tun, als gäbe es keine Traumwanderer und Benjamin wäre ein ganz gewöhnlicher Junge. Was technisch gesehen ja auch nicht falsch ist, er ist ein ganz normaler Junge. Nur seine Verwandtschaft ist etwas freakig.


    Bevor Mum noch irgendwelche Fragen stellen kann lege ich die Schaufel beiseite, ziehe die Handschuhe aus und schlüpfe aus meinen Gartenschuhen heraus, verschwinde im Eiltempo ins Haus und stelle mich unter die Dusche. Ich spüre jetzt schon, dass meine Muskeln morgen protestieren werden, aber das viele Sonnenlicht und die Wärme haben meiner guten Laune noch einen Boost gegeben. Singend rubbele ich mir den Schmutz von meinen Armen und Beinen.
    Als ich aus der Dusche steige und mir ein Handtuch um den Kopf und ein anderes um den Körper wickele rieche ich wie ein wandelnder Fruchtsalat. Zur Feier des Tages habe ich das sauteure Kirschshampoo benutzt, dass es immer nur im Sommer zu kaufen gibt, und als ich an meinen Armen schnüffele rieche ich Aprikose und Zitronengras. Ich fühle mich leicht und glücklich und einfach nur gut.


    Als es an der Tür läutet trage ich mir gerade Mascara auf. Sogar die Motivation zum Schminken habe ich heute mal gefunden.
    Ich stapfe schon die Treppe herunter, da ruft Lulu nach mir. Ich freue mich darauf, Benjamin wiederzusehen. Es ist im Grunde noch nicht lange her, aber... Irgendwie ist es trotzdem schön zu wissen, dass er da ist und mich gleich anlächelt. Also setze auch ich mein Lächeln auf.
    Doch als ich um die Ecke biege verschwindet dieses Lächeln gleich wieder.
    Denn da steht nicht Benjamin.
    „Nicholas“, stoße ich mit dünner Stimme hervor als ich ihn sehe. Er hat eine neutrale Miene aufgesetzt, ausdruckslos und nichtssagend.
    „Bist du fertig?“, fragt er ohne einen Vorwurf, so sehr ich auch versuche einen Funken Genervtheit darin zu finde, er spricht völlig neutral. Nicholas schaut mich von oben bis unten an, dreht sich dann aber zu Lulu um, die mich etwas fragend ansieht.
    „Um sieben ist sie wieder zu Hause“, informiert der Junge mit den haselnussbraunen Haaren meine Grandma knapp, dreht sich dann ohne ein weiteres Wort um und verschwindet durch die Eingangstür.
    „Wer ist das?“, raunt Lulu mir verwirrt zu, als ich an ihr vorbeigehe.
    „Nicholas. Ein Cousin von Benjamin, aber sie leben schon sehr lange zusammen, also sind sie so etwas wie Brüder“, antworte ich leise und schaue mit einem zweifelnden Blick zum Türrahmen. Draußen scheint noch immer die Sonne, aber gerade habe ich das Gefühl, dass sie mich eher aus- als anlacht. Ich versuche, den dicken Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, aber es mag mir nicht ganz gelingen.
    „Er scheint... recht nett zu sein“, murmelt Lulu, sieht aber selbst nicht wirklich überzeugt aus.
    „Er schaut einen an als wolle er dich sezieren. Nett würde ich das nicht unbedingt nennen.“
    „Vielleicht ist er einfach nicht so offen wie Benjamin.“ Lulu zwingt sich zu einem Lächeln, das Falten in ihrem Gesicht wirft. „Man muss ihn sicherlich nur etwas näher kennenlernen.“
    Ich zucke mit den Schultern und werfe einen widerwilligen Blick durch die Tür. Nicholas steht am Auto und redet mit einem Anzugträger, der vorne im Mercedes sitzt. Er trägt eine dunkel getönte Sonnenbrille, deswegen sehe ich seine Augen nicht, aber ich bin mir sicher, dass er mich beobachtet.
    „Ich bin dann mal... weg“, murmele ich unsicher. Lulu streicht mir leicht über die Schulter und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln.


    Wir sitzen nun schon seit fünf Minuten schweigend im Wagen. Und jetzt verstehe ich auch wieder, warum ich Schweigen eigentlich nicht mag. Denn seit genau fünf Minuten rebelliert mein Magen und ich zerkratze mir Beine, Arme und Hände in regelmäßigen Abständen. Nicholas schaut stur aus dem Fenster, das Kinn in seine Handflache gestützt, und nimmt keinerlei Notiz von mir. Der Fahrer sagt ebenfalls nichts mehr, seit er mich beim Einsteigen mit einem „Guten Tag, Miss Wells“, begrüßt hat.
    Ich rutsche unruhig auf dem Ledersitz hin und her. Bei jeder Bodenwelle zucke ich zusammen spanne alle Muskeln an.


    Wir biegen in ein Gebiet ein, das ich nicht kenne. Es liegt mitten in der Stadt, dort wo riesige Bürogebäude sich in den Himmel strecken und die Glasscheiben die Sonne reflektieren. Ich sehe viele Menschen in Anzügen und mit Handys am Ohr, Klischees von Managern und Büroangstellten, so detailgetreu, dass ich schon versucht bin, etwas zu lachen. Ich halte mich zurück weil ich jetzt immer wieder merke, dass Nicholas mich aus dem Augenwinkel beobachtet. Er macht sich nicht einmal die Mühe, es irgendwie zu verbergen. Wenn ich zu ihm schaue und seine Augen auf mich gerichtet sind, dann starrt er mich einfach weiter an, bis ich seinen stechenden Blick nicht mehr aushalte.
    Ich bin normalerweise kein ängstlicher Mensch und schon gar nicht auf den Mund gefallen. Aber ich weiß, dass, wenn ich jetzt den Mund aufmachen würde, nur unsinniges Gestotter herauskommen würde. Mein Kopf ist wie leergefegt und egal wie sehr ich versuche mich davon abzulenken, ich kann nicht vergessen, dass Nicholas neben mir sitzt und mich beobachtet.
    Irgendwann biegen wir in eine Nebenstraße ein. Hier ist es nicht ganz so voll, es gibt weniger Hochhäuser und nur vereinzelt Menschen, die aber kaum Notiz voneinander nehmen. Der Mercedes rollt in eine kleine Einfahrt ein, die langsam im Bode versinkt. Vor einem riesigen, grauen Tor kommen wir zu stehen. Der Fahrer greift an sein Ohr- erst jetzt sehe ich den kleinen, schwarzen Knopf darin. Je länger ich diesen Typen beobachte, desto mehr komme ich mir vor, als wäre ich gerade auf dem Weg den Präsidenten zu treffen. Dieses ganze Getue ist doch irgendwie... affig- und flüstert Anweisungen, zusammenhängend aus ein paar Wörtern, die keinen Sinn ergeben, und Zahlen im dreistelligen Bereich, flüssig und ohne einen Verhaspler, als würde er sich gerade ein McMenü bestellen und nicht den Zugang in eine scheinbar bewachte Garage einfordern. Mit einem Blick aus dem Fenster stelle ich fest, dass an den Botenwänden zu beiden Seiten, die mir mittlerweile den Blick auf die Umgebung verwehren, nicht nur kleine Leuchten eingebaut sind, sondern auch Linsen, die genau auf uns gerichtet sind. Ich lege meine Hand gegen die getönte Scheibe und recke meinen Kopf ein wenig, um einen besseren Blick darauf zu erhaschen, aber da fährt der Mercedes schon in die Garage, die sich in Sekundenschnelle und lautlos geöffnet hat.


    Im Inneren der Garage ist es genau so, wie ich es erwartet habe. Eine einfacher Garage ohne jeden Schnickschnack. Es stehen ein paar Autos darin, die meisten sind recht unauffällig, aber ein paar schreien geradezu „Ich bin teuer“. Aber ansonsten könnte es jede andere Tiefgarage sein, vermutlich haben sie sich nicht die Mühe gemacht, sie zu verändern. Immerhin ist dieses Gebäude ja auch erst von drei oder vier Tagen gemietet worden. Und ganz ehrlich, viel Equipment braucht eine Garage auch nicht.
    Wir fahren etwas weiter durch, bis uns der Fahrer mit einer geschmeidigen Kurve zielgenau in eine Lücke manövriert. Er zieht die Handbremse an, steigt aus und öffnet zuerst Nicholas die Tür, der ohne einen Blick oder ein Dankeschön aussteigt und schon ein paar Schritte weitergeht. Ich greife die Klinke der Autotür und ziehe daran, drücke sie ein bisschen vor, da wird mir die Mühe auch schon abgenommen. Etwas perplex schaue ich unseren privaten CIA Agent an, der mir zu allem Überfluss auch noch die Hand reicht, als ich keine Anstalten mache, auszusteigen.
    Ich greife neben mir nach meiner Tasche und hieve mich selbst aus dem Auto, ohne auf die Hilfe einzugehen.
    „Danke“, nuschele ich und werfe dem Mann einen vorsichtigen, leicht beklemmten Blick zu. Erst wirkt er wie eine Steinstatue, dann sehe ich aber tatsächlich für nur eine Sekunde lang so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht.
    „Lana“, ruft Nicholas mich. Das ist das erste Mal, dass er mich beim Namen nennt. Nicht sonderlich verwunderlich, immerhin hat er bisher auch nicht wirklich mit mir gesprochen. Trotzdem blinzele ich verwirrt zu ihm herüber. Er steht etwa zwanzig Meter entfernt vom Auto, die Arme vor der Brust verschränkt, und klopft tatsächlich mit seinen Fingern auf ihnen herum. Ich lege die Tasche über meinen Kopf und halte mich am Riemen fest, als könnte er mich irgendwie vor den starren Blicken des Jungen beschützen.
    Stellt euch vor: Wirklich klappen tut das leider nicht.


    Der CIA Mann folgt uns schweigend die Treppen hoch. Ich hasse Treppensteigen, habe ich das schon einmal erwähnt? Nach einer Weile komme ich total aus der Puste und ich muss sogar etwas hecheln, wie ein Hund den man ein paar Stunden zu lange in der Sonne hat stehen lassen.
    Nicholas und der Mann dagegen scheinen vollkommen in Ordnung zu sein. Ersterer eilt voraus, als wäre ihm eine Bestie auf den Fersen oder als wolle er unter keinen Umständen mit mir gesehen werden, während der Zweite immer drei Stufen hinter mir bleibt, als wolle auch er mir nicht zu nahe kommen. Ich bin gefangen zwischen zwei schweigenden Typen, die mich in ihrer Mitte nach oben eskortieren. Was auch immer dort oben ist.
    Erst als ich mir ernsthaft darüber Sorgen mache, in den nächsten drei Minuten aufgrund Sauerstoffmangels zu sterben, bleibt Nicholas an einer Türe stehen. Wir sind schon an vielen vorbeigekommen, alle waren sie grau wie die Wände des Treppenhauses, auf jedem vierten Absatz gab es eine. Aber diese Türe hier ist schwarz angemalt, mit einer silbernen Klinke versehen und tatsächlich prangt hier das Wappen der Von Wellingtons breit drauf, die zwei Mohnblüten die Schwert und Schild umranken.
    Er wirft mir einen prüfenden Blick zu, als ich ihn nach zehn Sekunden schnaufend eingeholt habe, dreht sich dann um und öffnet die Türe. Hinter ihm liegt ein langer Korridor, ausgelegt mit einem dunklen, roten Teppich. An den Cremefarbenen Wänden kann ich eine Holzvertäfelung sehen, die mir etwa bis zur Hüfte reichen dürfte.
    Nicholas läuft weiter, ohne darauf zu achten ob ich und CIA Agent mitkommen. Ich werfe dem Mann hinter mir einen fragenden Blick zu, weil ich mir nicht ganz sicher bin, ob wir hier auch richtig sind. Ich meine, nach einer Firma sieht das Ganze eher weniger aus. Er bedeutet mir mit einer Geste, weiterzugehen. Meine Finger fummeln immer noch an dem Riemen meiner Tasche herum, die bei jedem Schritt gegen meine Hüfte klatscht. Ich schlucke mühselig den Klotz herunter und wiederstehe dem Drang, meinen Kopf zur Hälfte durch die Türe zu stecken und erst einmal zu schauen, ob hinter der Türe jemand steht, der mich erschrecken will.
    Im Grunde ein abwegiger Gedanke, aber hey. Wenn man siebzehn Jahre lang von einem Traum zum nächsten gejagt wird, dann bereitet man sich auf jede Eventualität vor, so abstrus sie auch sein mag. Das kann einen vor einer unangenehmen Überraschung bewahren. Und glaubt mir... Davon gibt es einige, die wirklich unangenehm sein können.


    Ich schleiche vorsichtig hinter Nicholas her, der sich nicht mehr umdreht, sondern zielorientiert durch den langen Gang wandert. Wir laufen an einem Haufen von Echtholztüren vorbei, die alle gleich aussehen. Bei siebzehn höre ich auf zu Zählen und schaue stattdessen an die Decke, die zu den Wänden hin in einen schönen, verschnörkelten Stuck übergeht.
    An den Wänden hängen einige wirklich schöne Bilder. Haruhi würde sie sich wohl stundenlang anschauen können. Sie ist eine geniale Malerin, aber ihren Eltern ist das eher weniger recht. Die kleine Japanerin hält sie mit guten Noten bei Laune, daher lassen sie sie meist in Ruhe, aber wenn sie ihnen sagen würde, dass sie nicht Physik und Chemie, sondern Kunst studieren möchte, ausgerechnet in Paris... Dann würde wohl ein Donnerwetter losbrechen.
    Der Mann in schwarz hinter mir räuspert sich unauffällig, als ich eines der Gemälde wohl etwas zu lange anstarre. Ich zucke zusammen und bewege mich mit starren und schnellen Schritten hinter Nicholas her, der am Ende des Ganges, wo der Weg rechts und links weitergeht, wartet und mich mit einem Funken Interesse beäugt.
    Oh wow, es kann Emotionen zeigen. Faszinierend.


    Ich weiß nicht, wie lange wir noch laufen, habe längst den Überblick darüber verloren, wie viele Türen wir jetzt passiert haben und in welche Richtung wir gehen. Würde man mich hier aussetzen, dann würde ich wohl erst nach zwei Wochen völlig ausgehungert irgendwo in einer Niesche gefunden werden, mit zerstrubbelten Haaren und irrem Blick.
    Die bildliche Vorstellung treibt mich etwas näher nach vorne zu Nicholas, der zielstrebig weitergeht, mit forschen, großen Schritten, als hätte er es eilig.
    Tatsächlich ist die nächste Tür offenbar die richtige. Woher ich das weiß? Ganz einfach. Es ist eine zweiflügelige Tür, groß und massiv. Die beiden Türknaufe sind scheinbar blitzblank poliert worden, und neben den Türangeln standen zwei Säulen, offenbar griechisch angehaucht, beide mit einer kunstvollen Vase und einem Strauch Blumen darin. Das schreit geradezu danach, dass das hier ein wichtiger Raum ist.
    Nicholas klopft an und als ich Williams Stimme höre, ruhig und tiefenentspannt, der fragt, wer denn da ist, lockern sich meine Muskeln etwas. Lulu hat Recht, William ist ein durchweg sympathischer Mensch, bei dem ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass er bösartig ist. Er würde vermutlich nicht einmal einer Fliege etwas zu Leide tun, so wie ich ihn einschätze.
    Vor allem aber bin ich froh, dass ich bald endlich mit jemandem reden kann. Es ist sicherlich eine Stunde vergangen, in denen meine Begleiter jede verbale Kommunikation auf ein Minimum reduziert haben, der eine weil es sein Beruf ist, der andere weil er scheinbar generell jeden Kontakt mit mir zu vermeiden versucht. Dieser stößt gerade auch die Türe auf.
    Das erste, was ich sehe, ist eine riesige Fensterfront, die mir nur den Himmel zeigt. Die Sonne scheint von schräg herein und beleuchtet ein großes Bücherregal auf der linken Seite, in der Dokumente und Ordner ordentlich nebeneinander gereiht sind. Ich kann einen Globus erkennen, in den jemand viele kleine, bunt Stecknadeln gesteckt hat, und an der linken Wand hängt ein gigantisches Stück Papier, auf dem in kleinen, schwarzen Lettern eine Reihe von Namen geschrieben ist. Ganz oben ist es nur eine einzige Zeile mit zwei Namen, doch unten breitet es sich über die gesamte Länge von sicherlich sieben Metern aus- verlasst euch da aber nicht auf mich, ich bin eine grässliche Schätzerin- und einige der Namen sind noch unordentlich dazwischen gequetscht worden.
    „Lana!“, höre ich Mr. Chamberlain sagen. Er sitzt in einem großen Ledersessel, steht aber sofort auf, als er mich sieht. Sein Lächeln ist freundlich und warmherzig, ich kann nicht anders als es zu erwidern. Der ältere Herr schüttelt meine Hand überschwänglich.
    „Wie schön, dass du da bist. Ich habe mich schon darauf gefreut, wieder ein Familienmitglied begrüßen zu dürfen!“
    „Danke sehr“, antworte ich mit einem etwas schiefen Lächeln, weil sein Eifer dafür sorgt, dass mein Arm etwas taub wird. Als er loslässt und sich seinem Schreibtisch zuwendet reibe ich ihn mir kurz und stelle erleichtert fest, dass das Gefühl schon wieder zurückkehrt.
    „Wie geht es dir, Lana?“, strahlt Mr. Chamberlain mich an, während er ein paar Dokumente, die über seinen Schreibtisch zerstreut sind, hastig zusammenlegt. Ich muss etwas grinsen, so sieht es bei mir auch aus. Kein Zweifel, dieser Mann kann einfach nicht bösartig sein.
    „Soweit ganz gut“, antworte ich und rücke meine Tasche nach hinten.
    „Das freut mich!“, stößt er aus und beginnt dann herzlich zu lachen. Er erinnert mich ein wenig an dieses Klischee von einem freundlichen Großvater, der in manchen Geschichten vorkommt. Die Sorte von Mensch, der einen als Kind auf seinen Schoß setzt und dir ein Märchen vorließt, dir zuliebe das Ende abändert, weil du es nicht magst.
    Ich muss etwas Lächeln und streiche mir eine Strähne von meinem Haar aus dem Gesicht. Bisher hält sich das schlechte Gefühl in meinem Magen noch zurück und darüber bin ich dankbar. Würde nicht gut kommen, wenn ich ihnen direkt auf den teuer wirkenden Teppich kotzen würde.
    „Bist du denn bereit für deinen ersten Besuch des Korridors?“
    Mr. Chamberlain lächelt mich wissend an, als ich mich automatisch etwas verkrampfe, sobald ich das Wort höre. Ob ich bereit bin? Nein, eigentlich nicht wirklich. Für so etwas ist man wohl nicht wirklich bereit. Aber ich bin aufgeregt, neugierig wie es in diesem Korridor so ist. Also nicke ich und vertreibe das schmerzhafte Pochen meines Herzens in die tiefen meiner Gedanken. Bald sehe ich ihn auch, sage ich mir. Nie wieder Albträume. Und: Mr. Chamberlain wir schon auf mich Acht geben. Und Benjamin hat mir versprochen, dass mir nichts passiert. Da kann gar nichts schief gehen.
    „Also dann“, raunt Mr. Chamberlain mir zu und legt mir seine Hand auf die Schulter. Er drückt mich sanft in Richtung der Türe, die unser CIA Mann uns sofort öffnet. „Dann würde ich sagen, lassen wir unsere Ärzte nicht länger warten. Sie sind schon ganz gespannt, wie sich das Gen bei dir auswirkt.“
    „Ich glaube nicht, dass es bei mir etwas Besonderes zu erwarten gibt“, lächele ich schief. „Ich bin nicht wirklich das, was man... begabt nennen würde.“
    „Oh, das stimmt nicht.“ Chamberlain drückt meine Schulter kurz etwas fester, so stark, dass ich merke, dass er es ernst meint, aber nicht so, dass es weh tut, ganz im Gegenteil. Es ist mir so etwas wie ein Händedruck, ein Zeichen der Zuneigung. „Jeder Traumwanderer ist etwas Besonderes.“




    Vielen, vielen Dank für die Verschiebung in den Profibereich <3


  • VII. L U C I D
    Our remedies often in ourselves do lie

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    Jeder von euch war sicherlich schon einmal in einem Krankenhaus. Ihr kennt garantiert alle diesen merkwürdigen, sterilen Geruch, der die Krankheit nie ganz überdecken kann, so säuerlich er die Luft auch schmecken lässt. Und diese glänzenden Linoleumfußböden, die bei jedem Schritt mit einem Turnschuh grässlich quietschen.
    Hier ist es noch schlimmer.
    Ich konnte Krankenhäuser ohnehin nie leiden. Viel zu oft bin ich schon unfreiwilliger Gast gewesen und kein Besuch hat meine Meinung über diese Anstalten gebessert. Sicher, anderen mag das Linoleum, das Desinfizier Mittel und die unglaublich langen Spritzen helfen. Mir nicht. Und deswegen mache ich um die meisten Krankenhäuser lieber einen Bogen.
    Als Mr. Chamberlain mich um die Kurve biegen lässt, nimmt er seine Hand von meiner Schulter und geht ein Stück voraus. Nicholas läuft hinter uns, das weiß ich dank des Kribbelns in meinem Nacken, das mir sagt, dass er mich wieder anstarrt.
    Diesmal vergeht die Zeit scheinbar schneller. Mr. Chamberlain flötet eine kleine Melodie und läuft im Takt dazu, irgendwann passe ich mich auch an, das kleine Lied bleibt mir in meinem Kopf hängen und ich summe in Gedanken mit dazu, so lange bis wir vor einer Aufzugtüre stehen. Das Display zeigt keine Zahl an, nur einen Pfeil, der nach oben zeigt. Irgendwann macht es „Bing“ und die silbernen Türen gleiten lautlos zur Seite.
    Die Kabine ist recht groß und für jeden gibt es ausreichend Platz. Ich bin aber ohnehin eher weniger der Typ mit Platzangst. Irgendwann gewöhnt man sich daran in Albträumen von Klaustrophobikern aufzuwachen, die sich die Seele aus dem Leib schreien, wenn sie davon träumen, in einer kleinen Kammer zu stehen. Manchmal, wenn mir das Geschrei zu sehr auf die Nerven geht, nehme ich mir etwas aus besagter Kammer und stopfe es ihnen zwischen die Backen, dann ist im Normalfall auch wieder Ruhe.
    Mr. Chamberlain steht in der Mitte des Aufzuges und wippt auf seinen Fußballen hin und her. Er hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt und seine Finger bearbeiten sich gegenseitig. Er erinnert mich etwas an meine Grandma, mit den dunklen, violetten Schatten unter den Augen und dieser Nervosität, die sich nie ganz aus seinem Körper verbannen lässt. Aber er lächelt und summt, als könnte nichts und niemand seine gute Stimmung irgendwie verderben. Das macht mir auf einer merkwürdige Art und Weise Mut.
    Mit etwas Glück würde ich ja auch irgendwann einmal so entspannt sein können. Jetzt gerade fühlte ich mich im Vergleich zu ihm eher wie ein gehetztes Kaninchen, das mit irrem Blick all das anstarrt, was irgendwie gefährlich sein kann. Nicholas zum Beispiel, der lehnt nämlich an der Wand mir gegenüber und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Er tippt mit dem Fuß in einem schnellen, hektischen Takt auf den glänzenden Boden des Fahrstuhls, scheint sich aber damit zu begnügen, die verspiegelte Decke anzustarren.
    Als das Kribbeln in meinem Bauch nachlässt und der Fahrstuhl stehen bleibt, sich die Türen gleitend öffnen, spaziert Mr. Chamberlain heraus. Er wartet nicht darauf, dass ich ihm folge, scheinbar ist er es gewöhnt, dass das ohnehin jeder tut. Ich tue mir jedenfalls selbst den Gefallen auszusteigen, weil Nicholas keine Anstalten macht, vor mir zu gehen und ich auf gar keinen Fall länger als nötig mit ihm irgendwo eingesperrt sein möchte.


    Diese Etage ist ganz anders als die obere. Hier ist gar nicht elegant und teuer. Die Flure sind mit diesem Linoleumboden ausgelegt, der aber eher dreckig wirkt, als hätten die Leute, die vorher hier gearbeitet haben, den Dreck unter ihren Schuhen in den Boden hinein gestampft. Die Wände sind mit einer fleckigen, gelblichen Tapete belegt, die an manchen Stellen allerdings schon wieder abblättert. Hin und wieder kann man die originale Farbe noch erkennen, ein Eierschalenweiß, das scheinbar nur deswegen noch vorhanden ist, weil vor den Stellen große Schränke gestanden hatten, die jetzt weg geräumt sind.
    „Stör dich bitte nicht am Aussehen“, lacht Mr. Chamberlain peinlich berührt, als ich mit einem kleinen Zucken reagiere, denn direkt neben mir liegt eine tote Ratte in der Ecke. Ich mache einen weiten Bogen darum und starre sie so lange an, bis ich mir sicher sein kann, dass sie wirklich tot ist und nicht gleich über uns herfällt, wenn wir uns umdrehen.
    Das findet ihr komisch? Hab ich aber alles schon einmal erlebt.
    „Wir sind schon bei den Aufräumarbeiten, aber wie es aussieht, hat die Firma, die zuvor hier drin war, nicht sonderlich viel von Sauberkeit gehalten.“
    „Das sehe ich“, stoße ich mit einem leicht entsetzen Blick auf einen riesigen Kaffeefleck oben an der Wand aus. Ernsthaft… Was haben diese Leute hier getrieben?


    Wir laufen noch eine Weile durch diese Flure und ich stelle fest, dass sie von Gang zu Gang sauberer werden. Bald gibt es keine Staubflocken mehr auf dem Boden, die Löcher in den Wänden sind gestopft und sogar die Tapete ist plötzlich wieder weiß. Die Chance von Tierzombieangriffen sinkt auch erheblich. Ich bin begeistert.
    Dafür wirken diese Flure zum ersten Mal wie ein Krankenhaus. Steril, unangenehm blitzblank, mit Neonlampen, die einen merkwürdig grünen Schimmer auf die Gänge werfen. Es hängt nichts an den Wänden, keine Bilder, keine Poster, nicht einmal diese kleine Schilder neben den Türen, auf denen die Raumnummer sonst steht, sind noch vorhanden. Von Fenster mal ganz abgesehen. Alles ist nur in Neonlicht getaucht. Diese Leere sollte die Gänge eigentlich breiter wirken lassen, aber mir kommen sie plötzlich unglaublich eng und drückend vor.
    „Da sind wir auch schon“, meldet sich Mr. Chamberlain von vorne. Er dreht sich schwunghaft um und bedeutet mir mit einer Geste durch die Tür zu gehen, die er mir aufhält. Jetzt, wo ich mehr darauf achte, was denn da ist, und nicht das aufzähle, was fehlt, fällt mir auf, dass wir uns am Ende eines Ganges befinden, der bis auf diese zweiflügelige Op-Türen keine weiteren Türen hat. Ich schaue kurz über die Schulter und sehe, dass der ganzen Flur keine weiteren Einbuchtungen sind.
    Nicholas taucht in meinem Sichtfeld auf und hebt eine Augenbraue. Er nickt in die Richtung seines Ziehvaters und verdreht die Augen, als ich nicht sofort weitergehe.
    Na wundervoll. Jetzt hält er mich also auch noch für eine Idiotin.
    Mit eingezogenen Schultern wende ich mich wieder Mr. Chamberlain zu, der mich resignierend anlächelt. Als ich langsam zu ihm gehe, greift er mich sanft an der Schulter und hält mich zurück.
    „Mach dir nichts draus“, murmelt er mir in Ohr. Er beobachtet Nicholas, der ausnahmsweise mal nicht starrt, sondern es geflissentlich vermeidet, auch nur einen Blick in unsere Richtung zu werfen. „Er ist am Anfang vielleicht etwas schwierig, aber ich bin mir sicher, dass ihr euch auf Dauer gut verstehen werdet.“
    Ich unterdrücke einen Kommentar á la „Da sind sie aber der Einzige“ und nicke mit einem tapferen, wenn auch ziemlich unüberzeugendem Lächeln. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass Nicholas und ich irgendwann mal warm miteinander werden. Ich meine, wie denn auch, wenn seine Blicke mich regelmäßig zu einem kleinen Eisblock erstarren lassen?
    Seufzend drehe ich mich zur Türe um und marschiere mit angespannten Muskeln hindurch.


    Als ich mich an die vielen, blinkenden Lichter gewöhnt habe, die vor meinen Augen tanzen wie in einer Disko, erkenne ich, dass der ganze Raum voll ist mit riesigen Maschinen, die sich übereinander bis an die Decke stapeln. Im Sekundentakt leuchten kleine Glühlämpchen in der Dunkelheit auf und ich höre Piepslaute in einer nervigen Regelmäßigkeit. Sie dauern für zwei Sekunden an, haben dann zwei Sekunden Pause und beginnen von Neuem.
    Die drei Menschen in strahlend weißen Kitteln sehe ich erst, als sie sich bewegen. Die plötzliche Schwärze brennt unangenehm in meinen Augen und zum ersten Mal wünsche ich mir eine Halogenlampe über meinem Kopf. Aber dieser Raum ist komplett dunkel und nur beleuchtet von den sechs Bildschirmen, die fahles, bläuliches Licht auf die Wände werfen.
    „Mr. Chamberlain“, begrüßt ein junger Mann ihn und nickt ihm strahlend zu. Ich sehe ihm an, dass er nicht zu den Traumwanderern gehört, auch wenn er zweifelslos genauso aufgedreht ist wie wir. Bei ihm scheint es allerdings eher der Tatendrang zu sein. Er schaut Mr. Chamberlain, Nicholas und mir abwechselnd ins Gesicht und strahlt uns an, als würden wir ihm geraden den Nobelpreis verleihen. „Ist sie das?“, fragt er und deutet auf mich. Bevor ich antworten kann geht er mit großen Schritten auf mich zu und ergreift mit seinen Händen meine Rechte. Als er sie schüttelte wippe ich vor und zurück vor lauter Schwung, den er hineinlegt. „Freut mich, freut mich! Mein Name ist Doktor Phillips. Ich bin für die medizinische Abteilung dieser Außenstelle verantwortlich.“
    „Äh“, antworte ich wenig geistreich und versuche irgendwie, die heftige Bewegung zu verlangsamen. Langsam aber sicher habe ich das Gefühl, dass er mir den Arm ausreißt. „Lana. Lana Wells. Freut mich auch.“ Denke ich.
    Er nickt eifrig und lässt- Gottseidank- endlich meine Hand los, tritt ein paar Schritte zurück und legt streicht sich über die stoppeligen Wangen. Man sieht dem Herren deutlich an, dass er das Labor wohl für eine Weile nicht verlassen hat. Seine Gesichtshaut ist ganz bleich, er hat Tintenflecken im Gesicht, die nur notdürftig verwischt wurden, und unter seinen Augen bilden sich dicke Tränensäcke. Aber aus irgendeinem Grund strahlt er so einen Tatendrang aus, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass er ein schlechter Mensch ist. Etwas überdreht und forsch vielleicht, aber ich schätze, das merkt er selbst nicht.
    „Ja, ja. Wundervoll. Loreen, wenn sie Miss Wells bitte untersuchen würden?“ Er wendet den Blick nicht ab und langsam beginne ich mich zu fühlen wie eine Laborratte. Schon gut, sage ich mir selbst. Zumindest gefrierst du bei seinem Blick nicht zu einem Eisblock. Halt es einfach für eine Weile aus.
    Hinter ihm steht plötzlich eine junge Frau, vielleicht Anfang zwanzig. Sie trägt ihre weißblond gefärbten Haare zu einem modischen Pagenschnitt, ihr rundes Gesicht ist zur Hälfte mit einer großen, eckigen Brille mit schwarzem Rand bedeckt. Ihre Augenbrauen sind rund gezupft, deswegen wirkt sie so, als wäre sie überrascht. Aber der Ausdruck in ihren Augen zeugt eher von wissenschaftlichem Interesse.
    „Komm bitte mit, Lana“, weißt sie mich an und schenkt mir ein freundliches Lächeln, das mir aber erst einmal einen Schauer über den Rücken jagt. Sie lächelt so… So berechnend. Nicht, weil sie es möchte, sondern weil sie weiß, dass sie damit sympathischer wirkt. „Lass uns doch einmal sehen, wozu du fähig bist.“


    Ich folge Loreen schon seit einer gefühlten Ewigkeit und es fühlt sich grässlich an. Versteht mich nicht falsch, sie gibt sich die größte Mühe, freundlich und zuvorkommend zu sein. Oder zu wirken, wie auch immer. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl, dass mich irgendwie an den Gang zu Mr. Chamberlains Büro erinnert. Hinter Nicholas herzulaufen fühlte sich ähnlich an. Wie ein kleiner, ungeschickter Hund hinter einem Leitwolf, der ganz genau wusste, was er tut. Man fühlt sich nutzlos und irgendwie dumm.
    Ich merke jetzt erst, dass ich die Schultern angezogen habe. Als ich sie löse ziehen und schmerzen meine Nackenmuskeln und ich verziehe leicht das Gesicht.
    Ich verstehe es nicht. Warum bin ich in der Gegenwart dieser Leute nur so unruhig? Ich meine, ich bin doch wirklich nicht auf den Mund gefallen und einschüchtern lasse ich mich nicht einmal von meinem Sportlehrer und das ist nur bei den Wenigsten der Fall. Normalerweise lassen einen die Schreie und die damit verbundenen Spuckeangriffe doch recht schnell mundtot werden.
    Aber hier? Hier bringe ich nur Gestotter heraus.
    Ist es, weil ich es bisher einfach noch nie mit Menschen wie mir zu tun hatte? Mal abgesehen von Lulu, aber sie ist meine Grandma, das zählt nicht. Ist es einfach deswegen, weil ich nicht genau weiß, wie ich mit ihnen umgehen soll? Weil sie so interessiert sind an unserer Fähigkeit, während ich sie am liebsten einfach loswerden möchte?
    Ich kratze mir über den Oberarm.
    Ganz ruhig, Lana. Wenn es dir nicht gefällt, dann gehst du und kommst nicht wieder. So ist es mit Mr. Chamberlain und Benjamin abgemacht.
    Apropos Benjamin… Wo steckt er eigentlich? Er hat mir doch versprochen, dass er mich abholen wird. Und auf mich Acht gibt. Aber nein, stattdessen schickt er seinen blöden Cousin, von dem er doch ganz genau weiß, dass wir nicht miteinander klar kommen. Ich meine, das muss er doch wissen. Oder?
    Naja. Bei unserem ersten Treffen war ich ihnen Beiden gegenüber nicht gerade höflich. Und danach habe ich immer nur einen von Beiden gesehen, Benjamin kann also gar nicht wissen, wie ich mich in Nicholas Gegenwart fühle. Nämlich ein kleines Beutetier, das schon mal sein letztes Gebet sprechen kann.
    Mein Magen rebelliert etwas, aber ich schlucke die aufkommende Übelkeit einfach herunter. Säure brennt in meinem Hals und ich huste etwas. Ich habe eine neue Stufe der Abneigung erreicht. Alleine der Gedanken an den Braunhaarigen treibt mir das Frühstück zurück an die frische Luft.
    „Da sind wir.“
    Loreen steht vor einer Türe, die genauso aussieht wie jede andere auch. Sie hält sie mir offen und wartet mit einem seligen Lächeln darauf, dass ich eintrete. Ich mustere Tür und Frau leicht kritisch, zucke dann aber mit den Schultern und folge bereitwillig. Ich meine, was soll schon passieren?


    „Größe liegt bei einem Meter und siebenundsechzig Zentimetern“, informiert Loreen mich. Ich durfte mich bis auf die Unterwäsche ausziehen und friere deswegen jämmerlich. Keiner hat daran gedacht, den Untersuchungsraum vorzuheizen. Zwischendurch bilde ich mir sogar ein, dass kleine Rauchwolken vor mir aufsteigen.
    „Gewicht…“, beginnt Loreen und beugt sich herab zu meinen Zehen, die ich anziehe. Bibbernd reibe ich mir über die Arme und versuche, so viel Wärme in meinem Körper drin zu halten wie möglich. Anscheinend findet die die Umgebung aber wesentlich interessanter.
    „57. Mh, für eine Traumfängerin deiner Größe ist das in Ordnung“, stellt die Weißblonde mit einem Achselzucken fest. Sie nimmt den Kugelschreiber, den sie sich hinters Ohr geklemmt hat, und beginnt auf einem Notizblock zu schreiben. Während der Stift über das Papier saust, fährt sie mit der Zunge über ihre Lippen und knabbert an ihnen.
    „Haarfarbe schwarz. Augenfarbe blau“, murmelt sie vor sich hin ohne aufzusehen. Als sie sich wieder gerade aufrichtet überreicht sie mir meine Hose. Mit zitternden Fingern- sie kommentiert es mit einem leisen Schmunzeln- nehme ich sie entgegen und schlüpfe hinein. Zwar hilft mir das obenrum eher weniger, aber es ist ein Anfang.
    „Ich nehme dir etwas Blut ab“, informiert die junge Frau mich und deutet auf einen Stuhl neben einem Tisch, auf dem nur einige Büroutensilien liegen, die aber unangetastet sind. Ich sinke darauf und halte ihr meinen rechten Arm hin.
    „Das piekst jetzt ein wenig.“
    Als die Nadel in meine Haut eindringt kneife ich für einen Moment die Augen zusammen. Es ist nur ein kurzes Stich und ich bin schon daran gewöhnt. In den Krankenhäusern hat man mir dauernd Blut abgenommen, weil sie dachten ich hätte Eisenmangel oder so.
    Dickes Blut fließt in das Röhrchen am Ende der Nadel und füllt es Tropfen für Tropfen auf. Loreen hat sich von mir weggedreht und sucht mit einer Hand nach einem Pflaster und einem Stück Mull, mit der anderen hält sie die Nadel fest.
    „Es wundert mich, dass du nicht jammerst“, fängt sie irgendwann in einem nebensächlichen Plauderton an. „Wir hatten schon Patienten, die sich geweigert haben, mir ihren vollständigen Namen zu verraten.“
    „Ich bin pflegeleicht“, behaupte ich ohne groß nachzudenken. Loreen lacht leise und drückt den weißen Stoff auf die Nadel, als sie diese aus meinem Arm zieht.
    „Ich kann verstehen, warum William so glücklich darüber war, dich gefunden zu haben“, fährt sie fort, ohne auf mich einzugehen. „Es läuft alles so glatt… Das sind wir gar nicht mehr gewöhnt.“
    Irgendetwas in ihrer Stimme lässt mich frösteln. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich wissen möchte, was sie damit anzudeuten versucht.
    „Also… Sie sind keine Traumfängerin, richtig?“, frage ich, einfach weil ich das Gefühl habe, dass es nötig ist, das Thema zu wechseln.
    „Das stimmt. Und bleiben wir bei Du. Ich fühle mich immer so alt, wenn man mich siezt.“
    „Wie kommt man dann auf so einen Job? Ich meine, außerhalb der Familie weiß doch niemand etwas von unseren Fähigkeiten.“ Familie. Das hört sich an, als wären wir Teil einer Mafia Gemeinschaft. In meinen Gedanken schleicht sich eine kleine, mit schlechtem, italienischen Akzent ausgestattete Stimme ein: ‚Lana, man wendet sich nicht gegen Familie.‘
    „Das stimmt ebenfalls.“ Loreen nickt. „Vielleicht hilft es dir, wenn ich dir meinen Nachnamen verrate. Ich heiße Loreen Shepherd.“
    Wusste ich es doch.
    „Du bist Nicholas Schwester“, stoße ich mit leicht säuerlichem Unterton aus. Nicht, weil ich wütend auf sie bin. Nein, ich möchte mich nur gerade selbst verprügeln, weil ich nicht von alleine darauf gekommen bin. Loreen und Nicholas haben den gleichen, bohrenden Blick, die gleiche, analytische Präsenz. Nur gibt sich seine Schwester sehr viel mehr Mühe damit, einigermaßen freundlich zu wirken, als mein neuer, bester Freund.
    „Du kannst ihn nicht leiden“, stellt die Weißblonde ohne jeden Vorwurf fest.
    Ich wage es nicht wirklich, ihr ins Gesicht zu sehen. Nein, ich mag ihn wirklich nicht. Irgendetwas an ihm macht es mir unmöglich, auch nur daran zu denken, dass er tief im Inneren doch etwas sympathisch sein könnte.
    „Niemand kann ihn auf Anhieb leiden.“ Als ich mit verwirrtem Gesichtsausdruck, der mich sicherlich sehr intelligent wirken lässt, aufblicke, zuckt Loreen nur die Schultern. „So ist mein kleiner Bruder nun mal.“
    „Ist es normal, dass er einen anstarrt, als würde man ganz oben auf der Speiseliste stehen?“, frage ich ohne großartig darüber nachzudenken.
    „Oh, nein“, antwortet sie leichthin und verzieht das Gesicht zu einem merkwürdig freudlosen Grinsen. „Den Blick bewahrt er sich für Leute auf, die ihn irgendwie interessieren. Du solltest dich darüber freuen, die meisten ignoriert er einfach.“
    „Hab nicht darum gebeten“, murmele ich vor mich hin und drücke auf dem Pflaster herum, dass Loreen mir über die Einstichstelle geklebt hat.
    „Es ist kein schlechtes Zeichen.“ Sie reicht mir mein Shirt und meine Jacke. „Es ist einfacher mit ihm klar zu kommen, wenn er an dir interessiert ist. Und allgemein ist er kein schlechter Kerl. Er konnte nur nie gut mit Leuten umgehen. Vielleicht, weil er zu viel von ihnen gesehen hat.“
    Für eine Weile schweige ich.
    „Wegen der Träume?“
    „Träume sind Illusionen“, murmelt Loreen. „Aber euch haben sie desillusioniert. Ihr habt mehr gesehen als wir anderen uns vorstellen können. Ich möchte wirklich nicht mit euch tauschen.“
    Ich beiße mir auf meiner Unterlippe herum. Sie hat recht. Nichts fürchte ich so sehr wie Albträume, denn auf eine abstruse Weise zeigen sie mir all das, wozu ein Mensch fähig ist. Und ich rede hier nicht von der guten Seite. Wenn man mit fünf schon mit ansehen darf, wie ein Träumender einen NPC zerfleischt… Das ist nicht unbedingt gut für die Psyche. Und wenn ich Lulu nicht gehabt hätte, die mir dabei geholfen hat, all diesen Mist irgendwie zu verarbeiten… Wäre ich dann genauso geworden wie Nicholas? Würde ich mich auch von allem abwenden, weil ich alles schon gesehen habe?
    Ich stoße ein tiefes Seufzen aus. Mein Kopf schmerzt schon vor lauter philosophischem was-wäre-wenn.
    „Ich kann dich nicht dazu bringen, ihm eine Chance zu geben“, reißt Loreen mich aus den Gedanken. Sie hält mir meinen Schal entgegen, den ich nach kurzem Zögern um meinen Hals knote. „Aber vielleicht gibst du ihm eine Chance. Er ist kein ganz so großer Kotzbrocken, wenn man es erst einmal mit ihm versucht.“


    Der Rückweg ist wesentlich entspannter. Loreen und ich plaudern über einige Dinge, von denen ich, wenn ich genauer drüber nachdenke, keine Ahnung haben, wie wir auf das Thema kommen. Wir beeilen uns nicht und schlendern einfach langsam vor uns hin. Eigentlich ist sie gar nicht so schlimm, wie ich anfangs dachte. Loreen hat diese gewisse überlegene Ausstrahlung, die auch Nicholas hat, aber im Grunde ist sie ziemlich freundlich. Und vor allem verständnisvoll.
    Klar, zwischendurch sind ihre Kommentare eine Nummer für sich. Loreen nimmt kaum eine Hand vor den Mund, das sollte ich eigentlich von meinen Freunden und auch von mir selbst gewohnt sein, aber während wir es tun, um zu provozieren oder rein aus Spaß heraus, sieht sie einfach keinen Grund darin die Dinge zu beschönigen. Sie ist eine typische Forscherin, betrachtet die Dinge so weit es geht nüchtern und antwortet dann, als würde sie wissenschaftliche Tatsachen präsentieren.
    „Glaubst du, die warten schon auf uns?“
    „Kann sein. Sollen sie warten.“ Loreen zuckt mit den Schulter und streicht sich durch die Weißblonde Mähne. „Ich bin ab sofort immerhin für dein seelisches Wohl verantwortlich, da müssen wir erst miteinander warm werden.“
    „Du bist also mein Seelenklempner?“
    „Psychologin, wenn ich bitten darf“, meint sie mit gespieltem, beleidigtem Unterton. „Ich habe nicht umsonst studiert.“
    „Wenn ich also ein Problem habe, dann kann ich zu dir kommen?“
    „Wann immer du willst“, bestätigt sie. „Ich gebe dir auch später meine Handynummer, auf der bin ich immer erreichbar.“
    „Wenn ich wollte, könnte ich dich also auch mitten in der Nacht wecken?“
    „Klar kannst du das.“
    „Und es würde dir nichts ausmachen?“
    „Solange du nicht anrufst um mich zu fragen, wie deine Mathehausaufgaben funktionieren...“
    Ich grinse stumm in mich hinein. Als wir in den nächsten Gang einbiegen- die sehen wirklich alle exakt gleich aus, ich habe keine Ahnung, wie diese Leute sich hier zurecht finden- geht Loreen ein paar Schritt vor und klopft. Von drinnen wird hereingebeten und sie öffnet die Türe.


    Dr. Phillips erwartet mich wohl schon eine Weile, denn er springt von seinem Drehstuhl auf, verheddert sich dabei mit seinem inzwischen dreckigen Laborkittel an einer Schraube und legt sich beinahe mit der Nase zuerst auf den Boden, schafft es aber gerade so noch, das Gleichgewicht wiederzufinden. Mr. Chamberlain ist nicht mehr hier und auch Nicholas kann ich nicht entdecken, was vielleicht gar nicht so schlecht ist.
    Während Phillips und Loreen ein leises, aber angeregtes Gespräch führen, kommt ein junger Afroamerikaner auf mich zu und deutet auf eine Türe, die zwischen zwei der großen, rodelnden Kästen liegt.
    Als ich die Türe durchschreite komme ich mir vor wie im tiefsten Winter. Nicht, weil es kalt ist, ganz im Gegenteil. Es ist nur alles so strahlend weiß. Weiße Decke, weißer Boden, weiße Liegen mit weißen Decken… Alles verschwimmt in diesem Raum ineinander. Nur der Mann neben mir hebt sich durch seine Hautfarbe von der Umgebung ab.
    „Endlich Ruhe“, murmelt er mit einem schiefen Grinsen. „Mein Name ist David. Ich bin Dr. Phillips Assistent.“
    „Freut mich“, antworte ich und meine es wirklich ernst. David scheint sich von der Eifer seines Vorgesetzen gar nicht anstecken zu lassen. Er sieht eher etwas gequält aus, als er seine Schläfen massiert.
    „Dieses blöde Gepiepse geht mir auf die Nerven“, meint er und stöhnt.
    „Mich hat es schon nach zwei Minuten genervt“, murmele ich und verziehe das Gesicht. „Dass Sie das so lange aushalten…“
    „Man gewöhnt sich an alles“, entgegnet er. David setzt gerade an, noch etwas zu sagen, da höre ich ein Rauschen, das durch den Raum schallt.
    „Lana? Hörst du mich?“
    Phillips Stimme klingt etwas verzerrt und erst als ich mich umsehe entdecke ich die eingebauten Boxen in den Wänden, aus denen die metallisch kratzende Stimme kommt.
    „Ja“, antworte ich laut und deutlich.
    „Sehr gut. David wird dir jetzt die Prozedur erklären und dann kann es auch schon los gehen.“
    Mein Herz macht einen ungewollt hohen Satz, der mir ein heiseres Quietschen entkommen lässt. Ich beiße mir auf meiner Lippe herum, bis sie unangenehm brennt und schaue hilfesuchend zu David, der sich in der Zwischenzeit an einer kleinen Auskerbung in der Wand zu schaffen macht. Er flucht leise vor sich hin, als er, was auch immer er versucht zu machen, nicht schafft.
    „David, David! Vorsichtig, mit Gefühl!“
    „Mit Gefühl“, grummelt der große Mann mit einem finsteren Gesichtsausdruck. „Ich bin doch ganz zärtlich.“ Der anschließende Schlag gegen die Wand zeigt mir zwar, dass das gelogen war… Aber zumindest springt die Klappe endlich auf. Zum Vorschein kommt eine Apparatur, die etwas Ähnlichkeit mit einem Kran. Sie ist etwa zwei Meter hoch und an dem „Arm“ hängen eine Reihe von Drähten, die in kleinen… Dingern enden. Ich kenne sie, aber ich weiß nicht, wie sie heißen. Man schließt sie an den Kopf an und dann messen sie die Gehirnströme.
    David rollt das Gerät auf dem weißen Ständer neben eine der Liegen und nickt zu dieser. Ich beäuge sie etwas skeptisch, aber da es augenscheinlich keine Hand- und Fußfesseln gibt, sehe ich keinen Grund, mich nicht darauf zu legen. Ich setze mich in die kleine Kuhle und schwinge die Beine über die Kante. Als ich es mir einigermaßen bequem gemacht habe, was gar nicht so einfach ist, weil nur der Nacken mit einem weißen Kissen gepolstert ist, beugt sich David über mich und versucht krampfhaft, seine Aggression gegenüber dem Gerät zu verbergen.
    „Ich bringe jetzt diese Drähte an deinen Kopf an. Damit können wir deine Gehirnströme messen und es mit leichten Stimuli einfacher für dich machen, den Korridor zu sehen“, erklärt er mir und zieht mir eine Art Haarnetz über. Dann nimmt der Assistent einen der Noppen und drückt ihn in das Netz hinein. Ich spüre, wie kalt die metallenen Spitze ist, die jetzt meine Kopfhaut streift. In einem Anflug aus Neugierde frage ich:
    „Wie heißen diese Noppen eigentlich?“
    David hält kurz inne und runzelt die Stirn. Ich deute auf den, den er mir schon angebracht hat und da scheint er zu verstehen. Er starrt den Noppen für eine kurze Zeit an und ich sehe schon fast, wie es in seinem Kopf raucht.
    „Keine Ahnung“, antwortete er letztlich und zuckt mit den Schultern.
    Meine Gesichtszüge entgleiten mir für einen Moment. „Sie sind doch ein Wissenschaftler… Müssten sie das nicht eigentlich wissen?“
    „Klar, offiziell schon“, grinst er mich an. „Aber ich heiße David, nicht Google.“ Ich unterdrücke ein Lachen und lege mich zurück in die Liege.
    „Man nennt sie Elektroden, David“, kracht es auf einmal aus den Lautsprecherboxen. David zuckt zusammen, lässt sich aber nicht anmerken, dass er diese Belehrung gehört hat. Ich grinse etwas und starre an die weiße Decke.
    Bisher ist es nicht viel anders als während der Behandlungen in den Krankenhäusern. Außer, dass dieser Raum selbst für eine ärztliche Räumlichkeit extrem steril gehalten ist. Aber vielleicht ist das auch nötig. Irgendeinen Grund wird es schon haben, ich glaube kaum, dass der Doktor einfach eine Vorliebe für Weiß hat.
    David friemelt noch für eine Weile an meinem Kopf herum, bis schließlich alle Drähte an dem Haarnetz befestigt sind und die Enden meine Kopfhaut streifen. Er überprüft sie noch einmal einzeln und nickt dann zufrieden.
    „Ich werde den Raum jetzt verlassen. Entspann dich einfach und hör Doktor Philips Anweisungen zu, okay?“
    Ich nicke mit einem leicht flauen Gefühl im Magen. Jetzt, wo es losgeht, bin ich doch etwas nervös. Ich glaube nicht daran, dass es weh tun wird, und selbst wenn, ich habe sicherlich schon Schlimmeres erlebt. Aber wenn ich daran denke, dass ich gleich zum ersten Mal den Korridor sehen werde… Wie das wohl ist? Wie sieht er aus? Wie fühlt es sich an?
    Ich schlucke die Nervosität herunter und nicke David tapfer zu, der mir mit seiner Hand noch kurz aufmunternd auf meine Schulter schlägt. Dann dreht er sich um und ich höre noch, wie sich die Türe schließt.
    Ich trommele mit meinen Fingern auf den Lehnen herum, zerbeiße mir meine Lippen und kratze mich am Kopf, denn bis sich Dr. Phillips endlich meldet, vergehen gefühlte Stunden.
    „Lana? Wir fangen jetzt an.“
    Ich nicke und hole einmal tief Luft. Okay. Los geht es.


    „Schließe jetzt bitte deine Augen, Lana. Und dann versuchst du, dir einen Korridor vorzustellen, mit Türen, der endlos lang ist.“
    Ich gehorche. Nach dem ewigen Weiß um mich herum ist es seltsam angenehm, nur Schwärze sehen zu können. Es strengt meine Augen nicht so an.
    Vor mir bildet sich ein langer Gang, dessen Ende ich nicht sehen kann. Die Decke schwebt in drei Metern Höhe über mir, alle paar Meter sehe ich einen schönen Kronleuchter. An den Wänden hängt eine cremefarbene Tapete und bis zur Hüfthöhe sind sie mit Holz vertäfelt, in die schöne Gravuren eingeprägt sind. Zwischendurch unterbricht auf beiden Seiten eine Türe das gleichmäßige Gebilde aus Holz und Tapete.
    „Gut so, Lana. Jetzt geh ein paar Schritte.“
    Ich weiß nicht genau, woran sie erkennen, dass ich so weit bin, aber gerade als ich alles genau vor Augen habe, die Details jetzt schärfer werden, die Farben ausgeprägter, da geben sie mir die nächste Aufgabe.
    Ich stelle mir vor, wie ich mich weiterbewege. Die Wände gleiten neben mir vorbei, ich rucke mit jedem Schritt etwas, als ich mich in die Schwärze vor mich bewege. Sie erscheint etwa zehn Meter vor mir, wie eine Trennwand, ein Vorhang aus Dunkelheit. Aber sie kommt nicht näher, egal wie viele Schritte ich auf sie zukomme. Sie scheint mit mir weiterzuwandern.
    „Weiter so, Lana. Stell dir jetzt vor, dass das Licht schwächer wird. Lass die Dunkelheit näher kommen. Hole sie ein.“
    Ich zögere für einen Moment. Erfahrungsgemäß ist es eigentlich keine gute Idee, in die Dunkelheit zu gehen. In etwa so gut, wie dem Ratschlag, ins Licht zu gehen, zu folgen.
    Aber was soll groß passieren? Es ist nur ein Bild in meinem Kopf, eine Vorstellung, die ich weiterspinne.
    Also gehe ich schneller. Ich höre meinen Atem, als würde ich mich tatsächlich beeilen. Höre Schritte und das Knarzen auf dem Boden. Aber die Dunkelheit weicht immer noch zurück, ich komme einfach nicht näher heran. Irgendwie frustriert es mich.
    Wenn es daran scheitert, dass ich diese blöde Schwärze nicht erreichen kann, wäre das wirklich ziemlich jämmerlich. Also lege ich noch einen Zahn zu, gehe über in einen schnellen Gang.
    Na warte!, denke ich und höre meine eigene Stimme mit einer gewissen Ungeduld in meinem Kopf nachschallen. Dich krieg ich!
    Und als ob die Schwärze meine Drohung gehört hätte weicht sie ebenfalls schnell zurück.
    Ich gehe über in einen leichten Lauf. Meine Schritte hallen an den Wänden wieder und meine Umgebung verschwimmt, als ich mich nur noch auf die Dunkelheit konzentriere.
    Weiter. Immer weiter. Und schneller. Ich krieg dich!
    Ich laufe und stoße heftige Atemzüge aus. Mein Brustkorb brennt und mein Kopf kribbelt. Weiter. Ich bin so schnell. Jetzt hole ich die Dunkelheit ein. Ich schaffe es. Ich schaffe es!
    Zehn Meter schrumpfen zu fünf. Nur noch drei. Zwei, einer! Ich kann meine Hand danach ausstrecken und streife den Schatten. Nur noch ein bisschen! Ein bisschen noch!
    Als die Dunkelheit plötzlich stehen bleibt gleite ich hindurch.


    Im ersten Moment fühlt es sich so an, als würde ich in Wasser springen. Es ist nicht kalt und auch nicht warm, aber seltsam schwerelos und dicklich. Es fällt mir schwer, mich zu bewegen.
    Meine Augen sind noch geschlossen. Ich bin scheinbar noch nicht richtig wach, genauso wie es bei jedem anderen Traum auch erst der Fall ist.
    Aber meine Finger zucken schon. Und meine Kopfhaut kribbelt.
    Ich sammle meine Energie und öffne die Augen.


    Erst denke ich, dass es mich nur in einen Traum verschlagen hat, dass das Experiment fehl geschlagen ist. Aber dann erkenne ich, dass es wirklich der Korridor ist. Er sieht nur ganz anders aus als ich ihn mir vorgestellt habe.
    Ich stehe auf einer milchigen Glasfläche, die etwa fünf Meter breit ist. Unter mir gibt es nur bläuliche Dunkelheit, in der kleine, bunte Sterne glühen. Die gesamte Umgebung scheint aus einem wunderschönen Nachthimmel zu bestehen, mit gespickt mit kleinen, strahlenden Lichtern und Wolken aus Sternenstaub, die sich rund um mich herum bewegen, langsam und kaum wahrnehmbar.
    Ich fühle mich unglaublich leicht, als wäre ich wirklich im Weltraum. Als ich probeweise einen Schritt vorgehe, bewege ich mich aber ganz normal. Unter mir wirbelt eine Wolke weißen Staubes auf, wo ich auf dem durchsichtigen Glasweg auftrete.
    Für einen Moment kommt mir ein Zweifel, ob dieses Ding mich auch wirklich halten kann. Ich sehe nirgendwo etwas, wo die Brücke befestigt sein könnte. Im Allgemeinen sehe ich nichts anderes als Nachthimmel, Sternen und dem Glasweg.
    Auch keine Türe, wie Holly sie erwähnt hat.
    In einem plötzlichen Anflug von Schwäche taumele ich zurück. Die Sterne verschwimmen für einen kurzen Augenblick zu Millionen von rasenden Sternschnuppen und der Gang auf dem ich stehe scheint zu vibrieren, zu beben, als wolle er mich abschütteln. Ich stolpere gefährlich nah an den Rand und rette mich mit einem unglücklichen Fall auf meine Knie zurück in die Mitte.
    Meine Sicht verschwimmt und kurze Zeit lang sehe ich nichts als komplette Schwärze.
    Und so plötzlich wie es gekommen ist, verschwindet diese Instabilität auch wieder.
    Mir ist kotzübel, als hätte ich ein paar Runden zu viel auf dem Rummel in einer dieser Foltermaschinen verbracht. Ich schwanke sogar auf dem Boden noch nach, auch wenn die Brücke sich längst wieder beruhigt hat. Heftig blinzelnd stütze ich mich auf dem Glas ab und schüttelte leicht meinen Kopf, um wieder Ordnung ins Chaos zu bringen.
    Was, zum Teufel, war das denn bitte?
    Ist etwas schief gegangen?
    Ich möchte es nicht zugeben, aber der Gedanke daran macht mir Angst. So ein Experiment hat man noch nie mit mir gemacht. Es könnte immer etwas schief gehen. Ich habe diesen Ort noch nie gesehen, und so schön er auch wirkt… Wie soll ich denn alleine hier wieder herauskommen?
    Für immer hier gefangen zu sein… Hört sich nicht so schön an.


    Es passiert eine Weile lang nichts, und ich traue mich aus irgendeinem Grund auch nicht, aufzustehen und weiter zu gehen. Wie mein eigener Korridor verschwindet auch dieser hier irgendwann in Dunkelheit, aber in einem fließenderem Übergang. Es gibt keine Trennwand aus Schatten, die sich irgendwann aufbaut. Bis zu einem gewissen Punkt kann ich den Boulevard aus Glas verfolgen, wie er immer und immer schmäler wird.
    Klar könnte ich versuchen, dem Weg zu folgen. Aber was genau würde mir das bringen?
    Mein Herz rast und mein Körper zittert. Ich weiß nicht genau warum. Ist es die Angst?
    Nein, die Anstrengung. Jetzt, wo ich darauf achte, merke ich wie schwer es mir fällt, eine klare Sicht zu behalten. Mein Atem geht nur stoßweise und ich kann nicht ordentlich denken.
    Warum ist das hier anstrengend? Ich sitze doch nur auf diesem Glasweg und warte? Das ist nicht wirklich mit einem Marathonlauf zu vergleichen. Und trotzdem fühle ich mich, als würde ich rennen. Meine Beine und Arme pochen unangenehm und der Versuch, eine Hand zu heben, wird mit einem lähmenden Gefühl bestraft, der sich in meinem gesamten Körper breit macht.
    Mein Atem wird noch flacher. Ich kann die Augen kaum mehr aufhalten.
    Was passiert, wenn ich hier ohnmächtig werde? Komme ich dann zurück? Bleibe ich hier? Oder lande ich an einem ganz anderen Ort?
    Will ich das wirklich herausfinden? Nein. Nein, will ich nicht. Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich spüre meine Finger nicht mehr, meine Beine sind lahm. Und mein ganzes Gesicht kribbelt. Die Ränder meiner Sicht färben sich langsam schwarz.
    Ich will nicht.
    Will nicht.
    Nicht…
    „Hier steckst du also?“
    Ich fühle mich, als hätte mich jemand aus dem Wasser herausgezogen. Ein schmerzhafter Ruck durchfährt meinen Körper und mit einem Mal sehe ich alles wieder gestochen scharf.
    Dummerweise auch die Person, die vor mir steht- und auf die ich in diesem Albtraum, der eigentlich keiner ist, im Normalfall auch verzichten könnte.
    Nicholas schaut mich von oben herab an und schlägt mit seinen Fingern einen Takt auf seinen verschränkten Armen.
    „Steh auf und folge mir“, weist er mich an, macht aber keine Anstalten mir irgendwie zu helfen. Was für ein Gentleman.
    „Ist das hier der Korridor?“, hauche ich noch etwas atemlos. Es ist alles wie vorher. Nachthimmel und Sterne, der Glasweg und uns. Ich reibe mir über die Arme und versuche etwas ungeschickt irgendwie aufzustehen. Dabei schwanke ich hin und her, auch wenn das Beben längst zu Ende ist habe ich das Gefühl, dass mein Körper immer noch durchgeschüttelt wird.
    Nicholas nickt und schaut sich kurz um.
    „Was machst du eigentlich hier?“, frage ich ihn, als ich neben ihm zum Stehen komme. Ich schaffe es, aufrecht zu bleiben, auch wenn meine Beine noch etwas zittern.
    Als Nicholas Blick mich trifft, zucke ich etwas zusammen, und zwinge mich dazu, den Sternenhimmel anzuschauen, der plötzlich wieder unglaublich interessant scheint. Und lange nicht so bohrend wie der Blick meines neuen Freundes.
    „Irgendwer muss dir ja den Umgang mit dem Korridor beibringen“, antwortet er. Ich gebe mir Mühe, dahinter Spott zu erkennen, aber alles was ich heraushöre ist eine gewisse Unruhe und Ungeduld.
    „Das heißt also, du bist mein Lehrer?“, frage ich mit einem etwas ungläubigen Gesichtsausdruck. Na, das fehlt mir gerade noch so. Da ziehe ich sogar noch den Coach vor, der mich vermutlich den Glasweg entlang rennen lassen würde, nur so als Aufwärmübung.
    Wieder nickt Nicholas und reibt sich über die Schläfen. Die dunklen Schatten unter seinen Augen treten noch viel stärker hervor, als in der Realität. Er sieht fürchterlich blass und kränklich aus.
    Als er sich mir dann aber zuwendet schafft er es sogar ein kleines, leicht schiefes Lächeln zustande zu bringen:
    „Herzlich Willkommen im Korridor.“

  • Hi, Cáithy!


    Nach langer, langer, LANGER Zeit wieder mal ein Kommi von mir^^
    Unter dem Zitat steht, wie es richtig ist:


    MFG
    Rexilius UHaFnir