[Blockierte Grafik: http://puu.sh/4jRUO.png]
Quelle
Information | Vote | Gewinner
Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr frei wählen könnt, wie genau ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten. Schreibt ihr einen besonders guten (hilfreich und gut durchdachten. Der Inhalt ist hier ausschlaggebend und nicht die Länge!) Vote, so habt ihr die Chance durch das FF-Komitee mit einem von drei Plätzen ausgezeichnet zu werden, die euch ebenfalls Punkte auf der Saisontabelle einbringen können. Hierzu ist es hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen zur Wettbewerbssaison 2013
Ihr könnt 6 Punkte verteilen
Der Vote läuft bis Samstag, den 05.10.2013, um 23:59 Uhr.
Genutzter Klang:
Die verdreckten grauschwarzen Gassen zogen an ihm wie eine flüchtige Halluzination vorbei. Der Dreck, der sich seinen Weg über die zerbröselten Fassaden fraß, war so charakterisierend für diesen Teil der Stadt geworden, dass sich keiner der schweigenden Passanten davon ablenken ließ und ungehindert von allem und jedem seinen einsamen Weg fortsetzen konnte. Wie Gespenster wanderten die Gestalten durch die verfaulten Reste ihrer Zivilisation, die Suche nach übrig Gebliebenem war alles, was sie noch hier hielt, vielleicht für ein paar Wochen, vielleicht noch für einige Jahre. Und manche werden in der Erkenntnis, schon immer von dieser Stadt gefangen zu sein, aus dieser Welt scheiden, in derselben Hölle, die sie schon von Beginn an mit spiegelglatten Klauen umklammerte und täglich mit Hoffnung auf einen Aufbruch, einen Impuls fütterte, bis die Mäuse kein Leben mehr brauchten, sondern vielmehr die Illusion. Eine Droge, die den Pilz, der die Dachrinnen hinunter schlich, gleich viel hübscher aussehen lässt. Oder zumindest verkraftbarer.
Irgendwann einmal, vor viel zu langer Zeit, war die Stadt einmal das gewesen, was ihre Bewohner jetzt von ihr träumten. Irgendwann einmal, da hatten die Leute keine Illusion gebraucht, um zu bleiben und die Stadt keine Klauen, um die Bewohner zum Bleiben zu zwingen. Und wirklich: Irgendwann einmal war es tatsächlich diese Straße, die den Menschen gezeigt hatte, was sie erreicht haben und worauf sie arbeiten, wofür sie Steuern zahlen und warum sie ihr Leben an keinem anderen Ort verbringen wollen. Das war lange her, zu lange als dass die Menschen diesen Zeiten nachtrauern könnten und selbst die, die das tun, finden darin keine Antworten.
Alles besteht aus Fragen. Unser Wissen rührt von ihnen, unsere Kommunikation funktioniert durch sie und in den tiefsten Abgründen der Seele sind es die Fragen, die uns zu dem machen, was wir sind und bleiben. Oder nicht bleiben.
Wo Menschen sind, sind Fragen. Wo Unmengen an Menschen sind, sind auch Unmengen an Fragen. Sie legen sich wie ein Schleier zwischen die Ruinen vergangener Visionen und tränken den Bürgersteig mit Verzweiflung und noch mehr Problemen, als man sie selbst schon mit sich trägt.
„Ignoranten.“, flüsterte er so leise, dass sich keiner der mürrischen Fußgängern bei seinem täglichen Rundgang gestört fühlte.
Beim Anblick der Menschen wurde einem der Unterschied zwischen lebendig und hektisch so klar wie sonst kaum: auch Zombies haben Termine und müssen pünktlich erscheinen. Schnelle Schemen, die sich für eine bessere Zukunft abrackerten und sich in Zukunft weiter abrackern werden. Es spielte für sie keine Rolle, was dieses Stadtviertel ihnen angetan hat und zu was es geworden war. Solange es Plakate mit lachenden Gesichtern waren, auf denen das Schmutzwasser gemächlich abperlte, glaubte man daran, dass die Zukunft besser wird, und viel schlimmer: man glaubte doch tatsächlich dass dieses Nest überhaupt eine Zukunft haben wird.
Auch er selbst stellte sich Fragen. Die Gestalt zog ihren Kopf noch weiter in den Trenchcoat zurück, ganz wie in einen schützenden Panzer, und rückte sich mit behandschuhten Fingern den Hut noch weiter über die Stirn, wo er bald die letzten sichtbaren Stellen seines Gesichts in Schatten hüllte. Ein Niemand braucht kein Gesicht, nicht in dieser Straße, nicht in dieser Stadt. Die Menge lechzte nach Antworten, auf ein Licht, dass sie aus dem Nebel leuchtet; dabei war es egal, wer oder was die gleichen Probleme hatte. So viele Menschen auf einem Fleck und jeder lebte für sich allein. Ironie des Schicksals, Ironie der Psyche.
Wie der Rachen eines Ungeheuers bogen sich die blanken Hauswände über die Gasse, schirmten den mit Abfall gesprenkelten Weg von den letzten Lichtstrahlen ab, die es noch durch die aschfahle Wolkendecke schafften und schluckten den Mann förmlich in ihren Schlund, denn freiwillig wäre er nie durch diese Gasse gegangen, sofern er hier überhaupt einmal irgendetwas freiwillig tat oder getan hat. Ein Fiepen war zu hören und nur schwach erkennbare Bewegungen in den Schatten verrieten die Ratten, wohlmöglich die einzigen Gewinner dieser unwirtlichen Umgebung. Überlebenskünstler nannte man sie, aber überleben war hier nie so ein schwieriges Problem, wie hier überhaupt leben und überleben zu wollen. Großzügig wich der dunkle Herr den breiten Pfützen aus, deren mattes Funkeln man gerade noch so in der Düsternis ausmachen konnte, und schlich an der Wand entlang aus der Gasse heraus, wo ihn ein kleiner Platz auf seine eigene, makabere Art schadenfroh empfing.
Die Beete wirkten leer, leb- und lieblos, wo eigentlich Blumen aus der Erde sprießen sollten, wucherte Unkraut, schlug seine Triebe zwischen die Pflastersteine und durchzog in einem Netz den ganzen Boden. Einige trostlose Häuser ringsherum schienen schweigend zuzusehen, wie der Brunnen im Zentrum weiter und weiter verkümmerte. Es war nur noch eine leere, weiße Mulde im Erdboden und einzig der Rost auf den Rohren und noch mehr Schimmel machten darauf aufmerksam, dass hier einmal Wasser geflossen war, kristallklares Wasser, das hier schwungvoll in die Höhe schoss und die Menschen verzauberte, sie dazu zwang, für kurze Zeit zu verweilen und für einen kleinen Moment einfach zu genießen.
Ein Genuss war es nun wirklich nicht mehr, der Ekel vor alldem war eine Härteprobe für den Gaumen und niemand würde sich Zeit nehmen, dieses Artefakt besserer Jahre weiter zu begutachten, genau wie alle Ruinen, die den Stadtteil bildeten. Ein Mosaik aus Nostalgie?
Vor einer zerkratzten Haustür blieben seine Füße demonstrativ stehen. Die Tür hing wackelig in der verwitterten Hauswand, im Grunde genommen war sie in keiner Weise ein Hindernis, selbst der Wind pfiff hörbar zwischen Rahmen und Tür hindurch. Vor den mit zerfressenen Vorhängen geschmückten Fensterscheiben schwangen je zwei Holztürchen, von denen sich die blaue Lackierung schon zur Hälfte gelöst hatte, in der Herbstbrise auf und zu. Jedes Mal, wenn sie gegen die Fassade schlugen, bröselte wieder etwas Putz ab und rieselte zu Boden. Aus den Fenstern fiel nur wenig Licht und beschien auch so nur die zahlreichen Müllsäcke, die sich wild auf der Straße verteilten.
Wie lange werden die Menschen brauchen, um sich aus diesem Sumpf zu lösen?
Der Mann nahm seinen Hausschlüssel aus dem Trenchcoat und steckte ihn in eine winzige Spalte unter dem Türgriff.
Wie lange werde ich brauchen?
Genutzter Klang:
Mit einem gewaltigen, fast schon bedrohlichen Zischen öffnen sich sowohl die vordere als auch die hintere Tür des Busses. Zwei Menschen steigen ein, einer setzt sich bereits, der andere zahlt scheinbar die Karten für beide. Ersterer ist noch jung und klein, während Letzterer bereits erwachsen ist. Er setzt sich neben sie und legt seinen Arm um sie. Er drückt sie fest an sich, als wolle er sie nie wieder loslassen, als wäre sie das Einzige, was er noch im Leben hatte. Ächzend schließen sich die Türen wieder, das Prasseln des Regens wurde leiser und ich vernehme es nur noch gedämpft an meinem Ohr, wie gesagt gegen die Fensterscheibe des Busses schlug. Die beiden lachen miteinander und auf dem Gesicht des Vaters war die pure Zufriedenheit zu sehen, als wolle er diesen Moment nie wieder gehen lassen. Er sieht glücklich aus. Sie blickt ihn mit großen Augen an; hält für einen Moment inne. Er schmunzelt zurück, sie legte ihren Kopf auf seine Brust und erlässt ihren Augenliedern für einige Sekunden die Arbeit. Auch sie war glücklich. Das dumpfe Surren des Motors wird stärker, dringt an mein Ohr und benebelt meinen Geist. Mit nunmehr ebenso geschlossenen Augen, wie das kleine, glückliche Mädchen, ertrage ich den Rest der Fahrt; ertrage das Brummen und das Prasseln. Der Bus hält, zischend öffnen sich die Türen. Ich steige aus. Die Regentropfen erschlagen mich, benetzen meine Haut und meine Kleidung. Ich dreht mich um, sehe in den so warm und geborgen wirkenden Bus, wo Vater und Tochter noch immer Arm in Arm sitzen. Das Surren lässt nach.
Ich erinnere mich.
Sie neigte sich zu mir herunter, legte die Arme auf mein Bett. Ich war bereits in meine Decke eingehüllt und obwohl sie mich immer wärmte, fror ich in diesem Moment. Draußen fegte der Wind durch die Straßen und hämmerte bedrohlich gegen mein Fenster. Sie lehnte sich langsam über mich und berührte meine Stirn mit ihren Lippen.
„Gute Nacht, mein Schatz“, hörte ich sie sagen. Die Dunkelheit in meinem Zimmer erdrückte mich, ich fühlte mich eingeengt und bewegungsunfähig, aber sie war bei mir. Und das machte mich glücklich. Genauso war mir auch bewusst, dass ich sie glücklich machte. Ich schloss die Augen. Für eine Sekunde entfloh ich der Schwärze des Raumes, fühlte mich frei. Doch ich kehrte gerne wieder, denn meine Mutter war dort.
„Gute Nacht“, hauchte ich zurück und mit dem letzten Wort schlief ich ein. Meine Mutter stand auf, beobachtete mich noch einige Sekunden und verließ dann leise das Zimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und so schien ein kleiner Lichtkegel in meinen Raum, der die Dunkelheit vertreiben sollte. Der Wind peitschte gegen die Fensterscheibe.
Sowohl meine rechte, als auch meine linke Hand, hatten die Beiden in Besitz genommen. Wir liefen den sandigen Weg gemeinsam, alle drei. Zu beiden Seiten konnte man den Stimmen lauschten, wie Menschen kauften, wie Menschen verkauften. Wie sie plauderten oder sich angeregt unterhielten. Wie sie lachten, Spaß hatten. Wie sie trauerten und weinten. Nur schwach drangen die Lichter der Laternen und Kerzen an mein Auge, viel zu fixiert waren meine Sinne in dieser Sekunde auf meine Eltern. Ich hörte sie zählen, von drei abwärts. Bei eins brachten sie zusammen gewaltige Kraft auf und hoben mich dadurch in schwindelerregende Höhen. Zunächst hatte ich einen Schock, doch dann fühlte ich mich wohl. Der Moment, in dem ich in der Luft schwebte, schien für eine Sekunde ewig zu sein. Ich genoss ihn. Ich landete mit den Füßen wieder auf dem Boden. Ich lachte. Ich hörte sie lachen. Nur schwach, aber ich hörte sie.
„Engelein, flieg!“
Die Menschen um mich herum waren fröhlich. Meine Eltern waren es auch. Und ich war es auch. Das flackernde Licht einer Kerze fiel in mein Auge und ich stockte für einen Augenblick. Sie sahen zu mir hinab, ich sah zu ihnen hinauf. Wir hielten inne, dann lachte ich. Und sie lachten mit mir.
Ich liege in seinen Armen, doch wäre ich viel lieber in anderen. Trotzdem dankte ich ihm. Es interessierte ihn nicht, dass sein Hemd voller Tränen war. Dass ich ihn beanspruchen musste, um meine Trauer wegzustecken. Er hörte mir zu. Er antwortete. Er machte mir Mut. Tränen hatte ich vergossen, nun hörte ich damit auf. Seine Worte spendeten Trost, seine Arme um mich herum Geborgenheit. Ich fühlte mich wohl, obwohl ich traurig war. Er streichelte mir über den Kopf, während es in unserem Wohnzimmer heller wurde. Ein Lichtstrahl schien durch das Fenster herein, die Sonne lugte hinter der Wolkendecke hervor. Ich lächelte, sie tat es auch.
Ich komme an, stehe vor einem großen Tor. Es ist offen, und ich trete ein.
Wir saßen im Auto, alle drei. Mein Vater fuhr, meine Mutter saß neben ihm. Ich war auf der hinteren Bank. Wir spielten gemeinsam ein Spiel mit Worten, wir lachten gemeinsam und dann schwiegen wir gemeinsam. Ich freute mich auf unseren Urlaub, sie taten es auch. Die Sonne schien, es war warm. Ich schlief eine Weile. Als ich wieder aufwachte, hatten sich bereits einige Wolken vor die Sonne geschoben. Ich runzelte die Stirn. Und unsere Fahrt ging weiter und weiter.
Helles Licht. Laute Geräusche, ähnlich dem Aufeinanderprallen von Dingen. Schreie. Schmerzen durchfuhren meinen Körper. Mein Mund ist wie gefesselt, meine Hilferufe waren verstummt. Ich hörte einen Regentropfen auf die Fensterscheibe fallen, sah meine Eltern an. Meine Augen schlossen sich.
Vor einem großen Stein komme ich zum stehen. Ich knie nieder und schließe die Augen, um Tränen zurück zu halten. Es regnet noch immer, meine Klamotten, meine Haare und meine Haut sind bereits durchnässt. Doch ich spüre es nicht. Ich öffne meine Augen wieder und lese die Inschrift des Steines. Es ist schon elf Jahre her. Ich greife in meine Tasche und hole einen wohl geformten Stein aus ihr heraus. Ich lasse mir keine emotionale Regung anmerken. Sind dort überhaupt andere Menschen? Ich sehe sie nicht, doch will ich sie auch nicht sehen. Der Stein in meiner Hand wird bereits etwas nass. Ich lege ihn auf die Erde, vor das weitaus größere, ebenfalls steinerne Denkmal, und atme seufzend aus. Ein Tropfen Wasser kullert meine Wange hinab; ich kann nicht sagen ob es eine Träne oder ein Regentropfen ist.
Der Stein hat die Form eines Engels. Er würde nie wieder fliegen.
Genutzter Klang:
Das taufeuchte Gras kitzelt ein wenig zwischen meinen Schulterblättern, die die saftigen grünen Halme zerdrücken, als ich die Hände unter meinem Kopf verschränke. Meine steifen Muskeln schmerzen mittlerweile ein wenig, wie ich erschöpft feststelle. Dennoch halte ich ganz still, als sich eine Libelle auf meinem nackten Fuß niederlässt. Ich richte mich in Zeitlupe auf und und beobachte sie. Sie schaut mich ebenfalls einige Sekunden lang an, ehe ihre dürren, flexiblen Flügel hastig zu vibrieren beginnen und sie sich vom Wind davontragen lässt. Versunken verfolge ich, wie ihr kompakter Körper immer kleiner wird, bis ich ihn nicht mehr zwischen den hohen Baumkronen ausmachen kann.
Mit einem hohlen Seufzen lege ich den Kopf erneut ab. Konzentriert lausche ich auf das stete Zwitschern der Zikaden, das beruhigende Rauschen sich brechender Wellen am Strand, meine quälend unaufhaltsamen Herzschlag. Mein Puls geht angenehm langsam. Ich wische den dünnen Schweißfilm fort, der sich aufgrund des feuchten Klimas auf meiner Stirn gebildet hat, und befeuchte meine salzigen Lippen. Ich rühre mich so wenig wie möglich, damit mich der schlanke Schilf und die satten, zerzausten Wildblumen, die sich gefährlich unauffällig in der lauen Luft wiegen, nicht bemerken und aus ihrer Mitte verstoßen. Eine von ihnen welkt.
Es ist ein schöner Spätsommermittag. Die Leute haben sich zur Ruhe gelegt; sie genießen den Schlaf der Unschuldigen, damit sie sich alsbald wieder tatkräftig auf ihre jeweiligen Arbeit stürzen können. Bestimmt träumen sie von ihrer Zukunft, die sie bereits verwirklichen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Von ihren Liebsten, Freunden und Familienmitgliedern. Vielleicht finden sie in ihren Träumen das reine, vollkommene Paradies. Vielleicht stürzen ihre angestaute Frustration, ihr Hass, ihre Trauer auf sie ein, überschwemmen und erdrücken sie.
Sie alle bereiten sich intuitiv auf den Nachmittag, ein Morgen, eine neue Dekade, ein neues Leben vor. Ich hingegen kann diesen Ort nicht verlassen, da ich dadurch das Letzte zerstörte. Das, was mir lieb und wertvoll ist und mir bleibt. Mein Ufer der Demut, mein Olymp der Nostalgie, meine Insel des Wir.
Als könnte ich dieses gläserne Fauteuil mit einer unvorsichtigen Bewegung zerbrechen, sodass ich mich an seinen Scherben verletzte, seinen unvorstellbar hohen Wert fällte und fiele, fiele, fiele. Das Fauteuil, das wir in endloser, gewissenhafter Arbeit gemeinsam geblasen haben, vor langer Zeit, und auf dem ich nun ruhe, unfähig, mich zu entfernen.
Träume, Ideale, Vergangenheit. Unsere Vergangenheit.
Du bist nicht hier. Du wirst nicht zurückkehren. Nie wieder wird einer von uns an Glücksmomenten, Hassgefühlen, Leidenschaft und Schmerz des anderen beteiligt, dafür verantwortlich sein.
Ich gestatte meinem Verstand nicht vollends, diese Information zu verarbeiten. Lieber liege ich dort, in dieser Waldlichtung, kaum einen Kilometer vom Pazifischen Ozean entfernt, und bade in Sonnenlicht und Erinnerung.
Fühle
Finger, die über meine harten Schultern reiben,
Atem, der meinen Nacken wärmt,
Haar, braun wie Kastanien und weich wie Milch an meiner Haut.
Ein Lächeln, flüchtig wie ein wildes Tier,
eine Bewegung, geschmeidig und elegant,
eine Stimme, tief, klar und schwingend.
Fühle deine Bewunderung, deine Anziehung, deinen Respekt, dein Bedauern. Spüre deine schmeichelnden Worte.
"Du, Haru, bist wunderschön. Du bist intelligent. Du bist humorvoll. Freundlich. Loyal. Ehrlich. Großzügig. Du bist einzigartig.
Du bist niemals zu viel und immer genug. Du bist wertvoll. Ein Diamant. Eine Perle. Unglaublich.
Du bist stark. Machtvoll. Du veränderst die Welt."
Zeit kennt keine Grenzen. Ich schwebe.
Doch in dem Moment, als du zögerst, zittrig Luft holst, dein Blick nervös davonschnellt, lässt das unbeschreibliche Gefühl in meinem Bauch schlagartig nach. Und ich weiß, dass ich nicht hören will, was nun kommt. Ich weiß, dass von diesem Moment an alles schlimmer sein wird, als ich es mir jemals vorstellen könnte.
"Nur, Haru, es tut mir leid. Ich werde mich auf eine lange Reise begeben müssen. Die Situation drüben ist eskaliert. Ich rede von einem handfesten Krieg. Sie brauchen alle Männer, die sie kriegen können, und auf jemanden wie mich verzichten sie bestimmt nicht... Ich mache es für dich, weißt du. Für deine Sicherheit."
Mir ist klar, dass es für Einspruch, Klagen und Weinen zu spät ist. Er hat seinen Entschluss gefällt. Ebenso lässt er mir keinerlei Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Steht einfach auf, macht sich von meinen Händen los und geht langsam in Richtung des Piers. Dreht sich kurz um und winkt zum Abschied. In seinen Augen sehe ich kein Gefühl. Er lässt es nicht zu.
Lässt mich ohnmächtig und versteinert inmitten der dunkelroten Wildblumen zurück.
Ich strecke meine Hand aus und erreiche doch nur kaltes, glattes Glas.
Mein Körper zwingt sich ganz von allein in eine aufrechte Position und meine schmutzigen Füße bewegen sich von selbst, zertreten die unschuldigen Grashalme und tragen mich fort. Zerbrechen. Sie geben erst nach, als sie Sand erreichen. Die kleinen, samtweichen Körner fühlen sich ganz warm an meinen Beinen an, meinen Rippen, meiner Wange. Neben ihr verwandeln sie sich, mischen sich mit Salz und Wasser und werden ganz unansehnlich braun.
Ich frage mich, ob ich dich erreichen würde, wenn ich so schnell rennen könnte, dass mich der Ozean transportierte. Pfeilgeschwind. Dieses unerbittliche, grausame Gewässer. Vielleicht gefröre seine Oberfläche, betrauerte ich meinen Verlust nur lange genug.
10'082'000 Meter. Selbst wenn eine ebenmäßige, menschenleere Allee anstelle von Wasser vor mir läge, müsste ich ein Jahr lang jeden Tag marschieren, bis meine Knochen erkalten, meine Muskeln ersteifen, meine Atemzüge ersterben würden. Unmöglich.
Natürlich könnte ich zu Seemännern gehen, mithilfe eines Segelboots diesen überheblichen Pazifik bezwingen, doch würde ich es tun? Könnte ich es, nachdem du mir mit derart deutlichen Worten zu verstehen gegeben hast, dass ich dir fernbleiben soll? Könnte ich es, in der Aussicht, möglicherweise deinen erstarrten, zerbrechlichen, transparenten, leblosen Körper zu sehen?
Wir werden uns nicht wiedersehen, Haru. Es ist unmöglich."
Mit diesen Abschiedsworten im Hinterkopf kapituliere ich. Es ist so viel einfacher, sich der Einsamkeit zu opfern, sich dem klaffenden Loch in meinem Inneren hinzugeben.
"Die Realität ist für diejenigen, denen es an Vorstellungskraft mangelt", sage ich laut. Genieße den kräftigen, selbstsicheren Klang der Worte. Und schließe die Augen.
Während mich die Wellen spielerisch umfließen und ich mir vorstelle, dass sie mich einfach davontragen und herabziehen, vernehme ich dumpfe, lauter werdende Schritte. Das Rascheln von Stoff, als sich jemand herabbeugt. Eine markante Stimme. Mein Herz überschlägt sich.
"Und die Zukunft gehört denjenigen, die das Heute nicht zu schätzen wissen."
Und doch nicht.
Du bist es nicht.
Zu wahr, um schön zu sein
Ich blicke in diese großen Augen, die ich nicht kenne und mir doch schon seit geraumer Zeit die Geschichte erzählen, wie es dazu kam, dass sie nicht blau und nicht grün wurden, und wundere mich. Der Fremde streckt mir eine Hand entgegen, die ich dankbar ergreife. "Du kannst dich sicher fühlen bei mir", sagt sein Blick, der mindestens so tief ist wie die See, die in meinem Rücken tobt.
"Ich bin für dich da. Du bist nicht die Einzige, die das, da sie liebt, an den Krieg verloren hat. Wir müssen zusammenbleiben."
Er, den ich in meinem Leben zum ersten Mal sehe, schlingt seine Arme um meine Hüfte, hebt mich hoch und trägt mich über ein Meer aus Glasscherben, ohne den Schmerz zu fühlen.
Genutzter Klang:
Atlantis ging unter.
Es herrschte heilloses Chaos: Überall liefen Menschen in heller Panik durch die Straßen, alle einer instinktiven Richtung folgend. Nur Oriam taumelte ihnen im Sintflutregen entgegen. Er war taub für das todesängstliche Kreischen der Atlanter um sich herum, das Weinen der Kinder, die im Gedränge der fliehenden Massen ihre Eltern verloren hatten; war blind für die Leichen, die die Gehwege säumten, von Pferden, Ochsen oder anderen Menschen zu Tode getrampelt, erschlagen von herabfallenden Trümmern oder aus Verzweiflung aus blau brennenden Gebäuden gesprungen. Perlmuttfarbene Fliesen und kunstvolle Buntglasfenster bedeckten den Marmorboden mit ihren schimmernden Scherben. Manche Atlanter versuchten, Porzellangeschirr, Goldschmuck oder Edelsteinstatuetten mit sich zu nehmen und zu retten, doch letztlich behinderten die Wertgegenstände sie nur und gingen ohnehin verloren.
Ein Beben ging durch die Straßen, stärker als bisher. In der Nähe stürzte eine über einen Kanal führende Brücke in sich zusammen. Eine blau leuchtende Kugel brach aus einer Straßenlaterne und fiel mitten in eine Gruppe Atlanter. Indigoblaues Feuer, das der Regen nicht löschen konnte, explodierte zwischen ihnen. Die Flammen des Ozeans, Atlantis‘ sagenumwobene Energiequelle, verzehrten ihre einstigen Nutzer, ohne Asche zu hinterlassen oder auch nur Rauch zu erzeugen.
Wo die Menschen nicht weiterkamen, stießen sie sich gegenseitig zur Seite, sodass einige von ihnen in die Kanäle fielen. Atlanter lernten Schwimmen, noch bevor sie ihren ersten Schritt taten, was ihnen jetzt nicht länger von Nutzen war: Die Kanäle führten kein Wasser mehr. Eine Frau stellte sich Oriam auf seiner einsamen Wanderung durch die Hölle in den Weg, flehte ihn an, ihrem kleinen Sohn zu helfen, der bewusstlos in einem Kanal lag. Oriam versperrte sich erst kaltherzig ihrem Betteln; als sie ihn nicht weiterließ, schlug er ihr so heftig ins Gesicht, dass ihr Kopf herumruckte und sie zu Boden fiel. Fassungslos betastete sie ihre aufgeplatzte Lippe. Der Schock in ihren meerblauen Augen wich erst Vorwurf, dann Wut. Sie rappelte sich auf und rief nach einem anderen, den sie belästigen konnte.
Oriam indes suchte eine Seitengasse, weil auf den Hauptstraßen kein Weiterkommen mehr war.
Ob Lassia ihre Familie gefunden hatte?
Seine Geliebte hätte sich vielleicht nicht so sehr über ihr Wiedersehen gefreut, hätte sie gewusst, mit wem Oriam die Zeit ihrer Trennung, während derer er als Botschafter durch den Mittelmeerraum gereist war, überbrückt hatte. Trotz seiner Affären mit Kontinentlerinnen aller Länder liebte er sie, sonst wäre er nicht zu ihr zurückgekehrt – nach Atlantis. Endlich hatten sie ihre Verlobung feiern können, waren dann jedoch mittendrin vom ersten Erdbeben unterbrochen worden. Lassia hatte sich überstürzt aufgemacht, ihre Eltern zu suchen, während Oriam wie alle anderen zum Hafen gegangen war. Vielleicht, so die allgemeine Hoffnung, könne man auf einem Schiff die Insel verlassen. Erdbeben, wenn auch nicht so starke, waren in Atlantis keine Seltenheit, und es gab entsprechende Notfallpläne. Doch die Schiffe lagen auf Grund – das Meer hatte sich zurückgezogen, sammelte Wasser für den alles vernichtenden letzten Schlag…
Oriam war klar, dass er Lassia nie wiedersehen würde.
Sein Unterbewusstsein, dem er die Leitung seiner Schritte überlassen hatte, führte ihn schließlich zu dem Ort, an dem er seiner Verlobten das erste Mal begegnet war: Der Park, in dem sonst Kinder fröhlich spielten, Lachen und Sonnenschein vorherrschten, war finster und erfüllt von alles durchdringenden Regenschleiern. Bis auf deren stetes Hintergrundrauschen war es hier erstaunlich ruhig im Vergleich zu den Hauptstraßen. Blumen aus allen bekannten Ländern wurden vom Sturm gnadenlos zerfetzt oder von blauen Flammen verbrannt. Zahme Gazellen und Rehe, die hier friedlich gegrast hatten, seit Oriam denken konnte, waren geflohen, noch vor dem ersten Beben. Doch selbst die Flamingos und Silberreiher, die fortgeflogen waren, hatten ungefähr dieselben Chancen, die Insel lebend zu verlassen, wie die Süßwasserfische im Parkteich. Auch die Fische spürten die Gefahr: Sie schwammen verzweifelte Bahnen, griffen in ihrer Panik sogar Artgenossen an. Oriam sah in ihnen eine Miniaturversion der Stadt und ihrer menschlichen Bewohner.
Denn genauso stumpfsinnig wie Fische, wenn nicht sogar noch ignoranter, hatte sich der Senatorenzirkel des Inselreichs gegeben. Nachdem Oriam nach Atlantis zurückgekehrt war, hatte er die Herrscher der Stadt augenblicklich aufgesucht, um sie zu warnen.
Man lehrte atlantische Kinder, ihr stolzer Staat bringe Wohlstand und Demokratie in die Länder des Mittelmeeres, treibe gerechten Handel, lehre sie technische und wissenschaftliche Errungenschaften. Doch das war nur ein geringer Teil der Wahrheit. Tatsächlich waren es nur die Atlanter selbst, die diesen Wohlstand genossen. Mit Waffengewalt wurde beschafft, was sich im gerechten Handel nicht erwerben ließ, neue Rechts- und Regierungssysteme erzwungen. Wer sich den hochkomplexen Gesetzen nicht beugte, wurde hart bestraft – während Atlanter für dieselben Verbrechen nicht belangt wurden. Immer wieder kam es zu Aufständen, die von den eigenen Landsleuten oft blutig niedergeschlagen wurden. Die atlantischen Besatzungstruppen waren zwar nicht groß, aber waffenstark, und konnten immer darauf zählen, dass die Heimat im Atlantik Verstärkung schicken würde, sollte es zum Äußersten kommen – zumindest bislang.
Doch das schlimmste, was Atlanter den Kontinentlern antaten, war, ihre Götter töten zu wollen. Als bekennende Atheisten kannten sie keinerlei Götter. Die Erkenntnis, dass der Mensch für sein eigenes Handeln und Schicksal verantwortlich war, mochte sie technisch und wirtschaftlich weit gebracht haben, doch für Gläubige war es die schlimmstmögliche Vorstellung. Vehement wehrten sie sich gegen das giftige Gedankengut der Inselbewohner.
Daher hassten die Bürger, wo auch immer Oriam hingekommen war, die Atlanter: Von der Hochkultur der Ägypter – die immer im Schatten des viel weiterentwickelten Atlantis stand und nie dahinter hervorkommen konnte –, über die Staaten der Griechen und Römer – die ihnen wie begeisterte Kleinkinder nacheiferten, sie aber doch verachteten –, bishin zu den barbarischen Stämmen der Germanen – die sich zwar nichts aus Zivilisation und Technik machten, aber dafür Eitelkeit verabscheuten. Sie alle und ihre Nachbarländer hatten begonnen, ihre zahlreichen Götter anzubeten, sie bei Atlantis zu rächen.
Oriam hatte die Mitglieder des Senatorenzirkels dazu angehalten, die Stadt augenblicklich zu evakuieren, wusste er doch nicht genau, wann der göttliche Richtschlag sie ereilen sollte. Doch diese hatten ihn nur zurückgewiesen. Ihrer Ansicht nach hatte er zu viel Sympathie den unterentwickelten Kontinentlern gegenüber, was wohl daran läge, dass er in Rom geboren und aufgewachsen war. Böse Zungen behaupteten sogar, er sei gar kein reinblütiger Atlanter, weil seine Augen eine Nuance zu grün, das eigentlich tiefschwarze Haar der Inselbewohner eine Spur zu braun sei. Angeblich war auch sein Atlantisch nicht ganz akzentfrei, obwohl er seine Muttersprache noch vor Latein gelernt hatte. Außerdem, hatten die Senatoren hinzugefügt, seien die Götter der Kontinentler nichts weiter als Hirngespinste und könnten ihnen nicht gefährlich werden.
Das zu behaupten, war jetzt das Verhängnis der Göttermörder, die nur an ihre eigene Macht glaubten. Unbezwingbare Gewalten, eigentlich selbst untereinander verfeindet, hatten sich zusammengeschlossen, der Atlanter Existenz vom Antlitz der Erde zu tilgen.
Oriam sah auf. Über ihm strahlte der Stern von Atlantis, ein Leuchtturm, dessen Spitze, gleich einem blauen Stern über dem Horizont schwebend, den atlantischen Seefahrern die Richtung in die Heimat wies. Er war so hoch, dass man ihn bei klaren Nächten selbst bis zur Erdkrümmung sehen konnte. Aus den Gewitterwolken, die ihn im weiten Umfeld umkreisten wie eine Sonne, krachte ein Blitz in den Turm und teilte ihn in zwei ungleiche Hälften. Unendlich langsam fiel die abgebrochene Spitze um und zeugte somit von der aberwitzigen Höhe des Bauwerks. Wie ein Komet kam der saphirblaue Stern hernieder, schien direkt auf Oriam zuzuhalten. Doch anstatt ihn unter sich zu begraben, donnerte die Spitze, für Oriams allem verschlossene Ohren fast lautlos und eine leichte Erschütterung auslösend, in den Fischteich und einen nahen Hain. Bäume barsten unter der schieren Wucht des Aufschlags, der die filigranen, aber stabilen Metallstreben des Turms verbog wie Draht. Die Glaskugel, die etliche Generationen den Stern von Atlantis gestellt hatte, zerbrach und übergoss das Wäldchen mit unlöschbarem Feuer. Schlamm spritzte auf und sprenkelte Oriam wie dickflüssiges Blut.
In Oriams von Todesgewissheit benebelten Geist mischte sich die Frage, warum der Schlamm sich so warm anfühlte, war der ewig gießende Regen doch eiskalt. Er sah an sich hinab. Das, was seine Tunika aus bester atlantischer Kelpseide dunkel färbte, war keine aufgeweichte Erde – es war Blut. Ein Holzsplitter hatte sich in seine Magengegend gebohrt; allein der Teil, der noch aus seiner Seite ragte, war so lang wie sein Unterarm. Beim Anblick seines eigenen Blutes erreichte endlich auch der Schmerz Oriams gedämpfte Wahrnehmung, und er brach zusammen.
Und lachte, weil von den vielen Möglichkeiten, einen Atlanter heute umzubringen, die kontinentalen Götter ausgerechnet einen Holzsplitter für ihn gewählt hatten.
Und er lachte, weil er letztendlich Recht gehabt hatte, und der Senatorenzirkel, der sich für allwissend hielt, nicht. Doch Oriam empfand kein Triumphgefühl – sondern Bitterkeit. Irgendwie hatte er gehofft, noch etwas mehr Zeit zu haben. Vielleicht wäre es ihm sogar gelungen, Lassia zu überreden, mit ihm Atlantis zu verlassen.
Nur am Rande nahm er wahr, wie der Regen nachließ. Von Osten her erhob sich eine Wand, schwärzer noch als die Sturmnacht selbst. Sie rollte über die atlantischen Gebäude hinweg, zerquetschte sie wie ein gefräßiger Seestern ein Schwammskelett. Selbst die Flammen des Ozeans erstickten unter der schwarzen Masse.
Der Blutverlust forderte seinen Tribut: Noch bevor die Riesenwelle Oriam erreichte, hatte er sich bereits der Schwärze des ewigen Vergessens hingegeben.
Atlantis ging unter.
Genutzter Klang:
Langsam, beinahe schleichend, nahm das Auto, in welchem ich mich befand, an Geschwindigkeit auf. Ich versuchte zu ignorieren, dass kurzzeitig mein Magen rebellierte. Eher grenzwärtig bekam ich folgend mit, wie meine Mutter versuchte, mit mir zu reden - sie wusste, dass ich keinesfalls in der Gemütslage dazu war.
Ich sah mit meinen beinahe grauen Seelenspiegeln hinaus in die trübe Welt, welche durch den gerade aufkommenden Regen noch melancholischer wirkte, als ich mich fühlte. Wenn das überhaupt möglich war. Die einzelnen Tropfen prasselten energisch und drängend gegen die Fensterscheibe, liefen an dieser hinab, und in Gedanken versunken zeichnete ich ihren Weg mit meinem Finger nach, der eine trübe Spur auf der Scheibe hinterließ.
Ich dachte an ihn. An den Menschen, wegen dem es in meiner Brust ebenfalls zu regnen schien, mein Herz bedeckt von den dunkelsten Wolken. Wir waren gerade zusammen gekommen. Ich dachte an sein Lächeln, seinen schüchternen Blick, als er mir einst seine Liebe gestanden hatte. Ich wollte ebenfalls lächeln, spürte jedoch nur müde, wie meine Wangen rot wurden. Wir waren glücklich gewesen. Jeden einzelnen Tag hatten wir gelacht. Wieso also wollte uns das Schicksal einen Streich spielen?
Umziehen, hatten meine Eltern gesagt. Nur eine Weile.
Die Weile sollte Jahre andauern. Ich biss mir auf die Lippe, bis ich einen rostigen Geschmack in meinem Mund wahrnahm, der meine Sinne verschleierte. Es schmerzte, jedoch vermochte der Schmerz nicht, meine Trauer zu überschatten. Die Trauer, die mich in dem Moment völlig unvorbereitet traf, als ich an den folgenden Moment zurückdachte - ich spürte Tränen in meinen Augenwinkeln, die mir sogleich die Wangen hinabliefen und ihre dunklen Spuren auf meiner blassen Haut hinterließen.
Es war erst vor ein paar Minuten geschehen. Noch immer konnte ich seine Wärme spüren, als wären seine Arme auch jetzt noch präsent. Ich erinnerte mich an seine letzten Worte, die unseren Abschied besiegelt hatten. Mein Herz klopfte laut und schmerzhaft gegen meine Brust, als wollte es zerspringen.
Keine Sorge, Schatz. Die Zeit wird vergehen. Wie er so positiv, so mutig denken konnte, war mir noch immer ein Rätsel.
Bald bist du wieder hier - sind wir wieder zusammen. Bei den Worten hatte er mir eine Träne von der Wange gewischt, unwissend, dass es ein Regentropfen gewesen war.
Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben. Ab da hatte es vollends zu regnen begonnen, sowohl draußen als auch in meiner Brust. Schluchzend hatte er mich in die Arme geschlossen. Hatte mein Gesicht zärtlich in seine Hände genommen und mich ein letztes Mal geküsst. Meine Lippen kribbelten bei der Erinnerung. Plötzlich erreichte eine kleine Perle aus salziger Flüssigkeit meine Unterlippe, blieb dort bestehen und fiel dann hinab, um sogleich einen dunklen Fleck auf meiner Jeans zu hinterlassen. Plötzlich vibrierte eben diese, ich erschrak und hielt kurz den Atem an. Eine Sms? Mit zitternden Händen griff ich an meine Hosentasche, angelte mehr schlecht als recht die kleine, mobile Apperatschaft heraus. Tatsächlich leuchtete der Display, und als ich seinen Namen las, den Namen, den ich auszusprechen nie überdrüssig sein würde, machte mein Herz einen lauten Satz und ich riss unwillkührlich meine Augen auf. Langsam, in der Absicht, bloß nichts zu überstürzen, wanderte mein Daumen zu der Taste, die den Posteingang öffnen würde. Die dunklen Ziffern stachen von dem weißen Hintergrund hervor, welcher mich beinahe blendete. Ich überflog die Zeilen zunächst - dann nochmal, von Unglauben gepackt, nochmal und nochmal und immer wieder. Bis ich den Sinn hinter ihnen verstand. Doch ich sollte nicht zum reagieren kommen.
Es wurde plötzlich ungemein laut im Auto, es ratterte und schien von der Fahrbahn abgekommen zu sein. Mein Blick wanderte nach vorne, durch die Windschutzscheibe konnte ich das Grauen, welches uns unmittelbar bevorstand, genau erkennen. Ein Abgrund. Meine Mutter schrie, ein lauter, schriller Schrei, der noch lange in meinem Gehör verblieb. Um uns zu retten, riss sie noch das Lenkrad herum, doch es war bereits zu spät. Ich saß nur da, mein Handy im Schoß, mit zitternden Fingern. Mein Atem ging schwer, und eine Träne nach der anderen verließ ihr zuhause, tief verborgen in meinen Augen. Selbst wenn ich hätte schreien wollen, so wäre nur ein warmer Lufthauch aus meiner Kehle an die Oberfläche gedrungen. Es brachte nichts mehr. Der Regen, der unaufhaltsam auf die Erde hinab stürzte, übertönte ohnehin ein jedes Geräusch. Ein letztes Mal blickte ich dem Himmel entgegen.
Regnet es bei dir noch immer?, fragte ich mich, während das Auto immer schneller in die Tiefe stürzte. Es knackste kurz in meinen Ohren. Meine Unterlippe zitterte. Ich konnte nur an ihn denken, ungeachtet der Tatsache, dass ich wahrscheinlich sterben würde. Oder der Tatsache, dass es ihm egal war.
Ich schloss meine Augen, meine Lider beschützten mein Augenlicht vor der kommenden Qual - schlimm genug, dass ich nichtmal mehr dazu imstande war, mir meine Ohren zuzuhalten, denn Mutters angsterfüllte Schreie drohten, mich anzustecken. Ein letztes Mal sah ich sein Gesicht vor mir, sein wunderschönes, maskulines Gesicht, welches tatsächlich schöner war, als alles, was ich kannte. Ich lächelte unlogischerweise. Wie passend, dass ich ohne ihn gar nicht mehr leben wollte.
Mit meinen Lippen formte ich stumm seinen Namen, als das Auto aufschlug. Ein lautes Geräusch, wie berstendes Metall, welches zusätzlich noch gegen Eisen schlägt, machte mich kurze Zeit taub. Ich wusste nicht, ob es danach noch explodierte. Ich wurde jedenfalls ziemlich schnell ohnmächtig, jedoch stetig mit dem Bild des Jungen vor meinen Augen. Meine Lider flatterten, ich hörte nur noch entfernt, wie Mutter meinen Namen rief. Mein Kopf dröhnte, etwas Nasses floss meine Schläfen hinab, und ich hoffte, dass es der noch immer fallende Regen war, der mich umgab. Wie war ich eigentlich aus dem Auto gekommen?
Ein rostiger Geschmack schlich sich in meinen Mund, drehte meinen Magen um und verschleierte meine Welt vollends, bis ich nichtmal mehr dazu fähig war, ihn vor mir zu sehen. Ich spürte, wie mit fortlaufender Zeit auch mein Bewusstsein schwand. Vollends. Es fühlte sich kurz an, als befände ich mich auf Wolken - nassen Wolken, die mich gütig in Empfang nahmen. Dann spürte, hörte, sah ich gar nichts mehr. Dachte nicht mehr. Ich war nur leicht.
Der Regen prasselte unermüdlich weiter auf mich hinab, als wollte er meinem Abgang eine gewisse Dramatik verleihen. Als würde der Regen nur für mich existieren. Tatsächlich ging die gesamte Szenerie in der Schleierhaftigkeit des starken Regens unter. Es regnete die ganze nächste Nacht.
Als man später mein Handy gefunden hatte, war die Sms noch immer geöffnet.
Tut mir Leid. Mit uns, das geht nicht. Vergiss mich bitte.
Manchmal ist es wirklich erstaunlich, wie das Schicksal spielen kann. So sollte man sich wirklich vor Augen halten, was es bedeutet, wenn man zu jemanden sagt: Ich kann nicht ohne dich leben. Ich hatte dies versucht, für ein paar Sekunden. Und es endete in der Abnormalität, welche das Schicksal für mich bereitgehalten hatte.
Genutzter Klang:
Sechzehn Uhr und dreiundzwanzig Minuten.
Warum ist er nicht hier?
Ich ziehe mir die blütenweiße Decke über den Kopf.
Es ist Mittwoch. Er hat heute um drei seine letzte Stunde Unterricht. Mit der Bahn ist man in einer viertel Stunde hier. Spätestens.
Warum kommt er dann nicht?
Ich atme tief ein, grabe meine Fingernägel in meine Handfläche. Meine Zähne zerbeißen meine Lippen. Ich spüre etwas Warmes in meinem Mund. Es schmeckt metallisch und bitter.
Bitte nicht.
Nicht er auch noch.
Bitte nicht.
„Viola?“
Ich zucke zusammen. Mein Körper schnellt hoch und ich drehe mich mit großen Augen zur Tür.
Meine Ärztin steht halb im Raum. Sie lächelt milde, dieses mütterliche Lächeln, das voll von Fürsorge ist.
„Ja?“, flüstere ich.
„Du hast Besuch.“
Ich vergesse zu atmen, blinzle zwei Mal schnell.
Er hat mich nicht vergessen.
Er ist da.
Ich vergrabe meine Hände in den Stoff meines Pyjamas und nicke.
Das alte Gesicht verschwindet, es dauert einige Sekunden in denen ich leises Flüstern hören kann. Sie redet über mich. Warnt ihn vor. Dass es mir schlechter geht.
Aber es geht mir besser.
Mein Herz schlägt wieder, in die höchsten Höhen, himmelhochjauzend.
Und da schreitet er durch die Tür.
„Tut mir Leid, dass ich so spät bin!“ Sein Gesicht ist zu einer albernen Grimasse verzogen, er zeigt mir sein schiefes Grinsen. Seine Wangen glühen und er atmet schnell.
Er ist gerannt. Nur für mich.
„Die Bahn kam einfach nicht. Da habe ich den Bus genommen, aber der braucht länger.“
Er sinkt neben meinem Bett in den mintgrünen Sessel, lehnt sich zurück und legt den Kopf in den Nacken. Strähnen seines braunen Haares kleben ihm an der schweißnassen Stirn. Aber er lächelt.
Ich beobachte ihn, jede seiner Bewegungen. Seine Finger, die auf der Lehne auf und abfahren, ruhelos, aber sanft. Seine Brust, die sich unter der Jacke hebt und senkt. Seine Augen, die erschöpft die Decke mustern.
Ich folge seinem Blick zur Deckenleuchte, die das Zimmer eigentlich in kaltes Licht taucht.
Jetzt ist sie aus. Fahles Licht dringt von draußen durch die Fenster, die grünen Vorhänge färben es ein.
Es ist nicht hell draußen. Wolken verdecken schon den ganzen Tag den Himmel, sperren ihn aus dieser Welt, stimmen die Gemüter ruhig und wehmütig.
Aber für mich ist der Himmel blau. Er hat meine Wolken vertrieben.
„Wie geht es dir heute?“, fragt er mich, aber ich zucke nur mit den Schultern. Ich kann ihm nie lange in die Augen sehen, die so glühen wie kleine Smaragde.
„So wie immer“, antworte ich leise und tonlos.
„Weißt du schon, wann du zurückkommst?“ Er richtet sich auf und beugt sich leicht vor. Er versucht, meinen Blick einzufangen. Aber ich schaue aus dem Fenster. „Die anderen vermissen dich.“
Ich kann nur schnauben.
Er öffnet den Mund, aber über seine Lippen kommt kein weiteres Wort.
Das ist eine Lüge. Niemand von ihnen vermisst mich.
Die Karte, die Blumen. All diese Genesungswünsche, nichts davon war wirklich ernst gemeint gewesen.
Die Karte habe ich zerrissen. Habe die kleinen Fetzen aus dem Fenster geworfen wie Konfetti. Auf dass die Lügen zu Boden sinken.
Asche zu Asche.
Lügen zu Brennnesseln und Würmern.
Nur ein Fetzen davon liegt noch in meiner Schublade. Aufbewahrt in dem Buch, das er mir mitgebracht hat, als er mich zum ersten Mal besuchen kam. Und neben diesem Fetzen, auf dem mit leichter, leserlicher Schrift sein Name steht, liegt eine getrocknete Blume. Meine Schätze.
Mehr habe ich hier nicht.
„Sie haben es nicht so gemeint“, beginnt er, aber ich schüttele nur den Kopf. Wir haben schon so oft darüber gesprochen. Er weiß, dass er sich selbst belügt.
Aber er will einfach nicht, dass die Welt grausam ist.
Er will eine gute Welt, eine schöne Welt.
Die Welt, die er für mich baut, wenn er hier ist. Wenn er bei mir ist und mich aus dem Grau herausführt.
„Willst du spazieren gehen?“
Er lässt das Thema fallen.
„Ja.“
Es ist kühl auf dem Flur, durch die leicht geöffneten Türen der anderen Patienten dringt ein Lufthauch, der meinen Bademantel an meine Beine drängt. Ich wickele den Stoff enger um meinen Körper und lege meine Arme eng um meine Brust.
Im Gang hängen kleine Bilder, Farbtupfer in endlosem weiß. Sie wirken gezwungen, unnatürlich, wie einen Sonnenstrahl im tiefsten Sturm. Aber er ist fahl und bringt nur wenig Hoffnung.
„Haben die Ärzte irgendetwas Neues gesagt?“, spricht er mich an, als wir um die Ecke biegen.
„Nein“, antworte ich leise, den Blick auf meine Füße gerichtet. Ich trage diese grässlichen Krankenhausschlappen. Das ist peinlich.
Aber ihm scheint es nichts auszumachen.
Er besucht mich jeden Tag. Vielleicht ist es mittlerweile zur Gewohnheit geworden. Vielleicht hat er auch nur Mitleid mit mir.
Es ist mir egal. Ich bin nur froh, dass er kommt.
„Sie sagen immer das Gleiche. Wenn ich zunehme, dann kann ich zumindest wieder nach Hause.“
„Wie viel musst du denn wiegen?“
Ich kichere. „So etwas sage ich dir nicht.“
Wir gehen die Treppe hinunter. Meine Hand liegt auf dem Geländer, er steigt hinter mir herab.
Als wir den untersten Absatz erreichen, bleibe ich stehen.
„Wenn es noch lange dauert... Wirst du dann nicht mehr kommen?“
Er antwortet nicht. Er geht nur an mir vorbei, einige Schritte voran.
Und dann dreht er sich um. Und grinst.
„So schnell wirst du mich nicht los, Viola!“, lacht er, verschränkt die Arme vor der Brust und schaut mich an, als wolle er fragen, was er nur mit mir tun soll. Ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht. Er sieht aus, als hätte man ihn angeschossen.
„Wenn du allerdings willst, dass ich nicht mehr komme-“, beginnt er, aber ich unterbreche ihn schnell.
„Nein!“, antworte ich laut und hastig. Zu schnell. Zu aufgebracht. Er schaut mich kurz mit einem seltsamen Ausdruck in seinen Augen an.
Ich berühre nur kurz seinen Arm und nicke zum Ende des Ganges. Dort ist die Tür zum Hof. Sie steht nur einen Spalt weit offen. Wind pfeift hindurch.
Regen prasselt.
„Ist das nicht zu kalt?“, fragt er mich und schaut prüfend an mir herunter.
„Es geht schon“, antworte ich.
Ich möchte einfach heraus.
Aus diesen sterilen, kalten Fluren.
Möchte die Kühle spüren, die kleinen Tropfen, die meine Haut hinabrinnt. Die Geräusche von Wind und Regen hören.
Er fragt nicht weiter, er geht einfach voraus. Kurz vor der Tür dreht er sich noch einmal zu mir herum, mit einem fragenden Blick. Sein Haar wird vom Wind herumgewirbelt.
Ich folge schnell.
Es ist kalt, aber ich genieße das Gefühl.
Ich bin wieder lebendig.
Wie eine kümmerliche Pflanze, die im Regen erblüht.
Wir stehen unter dem Vordach, starren ins Gras, das vor uns in den Böen wiegt. Meine Haare werden mir ins Gesicht geblasen, tanzen um mich herum, genauso wie meine Kleidung.
Es fühlt sich unglaublich an.
Als hätte ich es noch nie erlebt.
Da mache ich den ersten Schritt.
„Viola?“
Aber ich gehe einfach weiter. Schritt für Schritt.
Erst nur meine Hände und Füße.
Schließlich stehe ich im Gras, lege den Kopf in den Nacken und warte. Die Tropfen laufen mir die Wangen hinunter, streichen über meine Haut.
Wie Tränen.
Tränen des Glücks.
Ich drehe mich, erst ganz langsam. Setze meine Schritte vorsichtig um, wie ein Kind das zu Gehen lernt.
Und dann werde ich mutiger. Und schneller. Und ausgelassener.
Ich lache, frei und laut, als wäre ich alleine auf dieser Wiese. Als gäbe es die Klinik nicht. Als wäre ich vollkommen gesund. Als wäre dort nie jemand gewesen, der mich angefeindet hat.
Irgendwann höre ich ein weiteres Rascheln.
Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie er näher kommt, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das mein Herz laut schlagen lässt. Feine Regentropfen laufen an seinem Haar herunter.
Er wartet, bis ich vor ihm stehen bleibe, der Stoff klebt an meinem Körper und ich zittere jämmerlich. Ich schwanke, aber ich bin glücklich.
Ich bin am Leben.
„Warum bist du nicht immer so?“, fragt er mich leise, zieht seine Jacke ab und hält sie schützend über unsere Köpfe. Wir sind uns nah. Ich spüre die Wärme, die von ihm ausgeht.
Meine Sonne.
„Ich weiß nicht“, lächele ich erschöpft.
Ich kann nicht?
Ich will nicht.
Nicht jeder soll es sehen.
Als die Kraft aus meinem Körper weicht, da fängt er mich auf. Legt seinen Arm schützend um mich, als wolle er mich vor allem beschützen, was noch kommen mag.
„Ich bringe dich besser zurück. Das war wohl zu viel des Guten.“
„Vom Guten kann es niemals zu viel geben“, nuschele ich in sein Shirt, das ganz nass. Meine Augen fallen zu.
Er führt mich sanft. Irgendwann spüre ich keine Tropfen mehr. Dann hören die Geräusche auf.
Wärme umhüllt mich.
Als ich mühevoll meinen Kopf hebe, ist sein Blick auf mich gerichtet. Er lächelt, aber er ist besorgt.
„Bleibst du bitte bei mir?“, frage ich aus einem Impuls heraus.
Er scheint nicht mal überrascht.
Er streicht mir nur über meinen Arm. Sein Gesicht verschwindet in meinen Haaren, ich spüre, wie er seine Lippen sanft auf meinen Kopf drückt.
Ich muss lächeln. Ein müdes, aber glückliches Lächeln.
„Immer, Viola.“
Genutzter Klang:
An einem kalten September tag saß ich bei meinem Piano und sah aus dem Fenster. Draußen regnete es in Strömen. Es war einer der trostlosen Tage, die ich in meinem Leben verbrachte. Zu leben hatte ich nicht mehr lange, denn ich litt an Krebs. Damit ich mich von diesen Gedanken ablenken konnte, ging ich in meine Küche. Sie war schlicht in Weiß gehalten mit einer schwarzen Arbeitsfläche. Ich holte aus dem silbernen Kühlschrank die Milch und leerte sie in meine Pinke Tasse auf der ,,Hangover-cup´´ stand. Ich stellte die Milch zurück in den Kühlschrank und öffnete die Schublade daneben, aus der ich Kakao holte. Ich nahm mir einen kleinen Löffel aus einer anderen Lade, löffelte das Kakaopulver in meine Tasse und rührte um. Anschließend ging ich die Treppen hoch in mein Schlafzimmer. Ich hatte pinke Wände, einen Schwarzen Teppichboden und ein riesiges Fenster mit einem Balkon. Ich ging zum Fenster und starrte mit sehnsüchtigem Blick in die Weiten der Yakate-Ebenen. Als ich kleiner war habe ich immer mit Lucas und Leonid auf den weiten, grünen Wiesenfluren gespielt, doch mit der Zeit wurde auf der Ebene immer mehr gebaut und nun schmückten das eine Ende des einst so wunderschönen Naturorts Wolkenkratzer und Hochhäuser. In Gedanken versunken hätte ich fast nicht bemerkt, dass es an der Haustür klingelte. Ich ging schnellen Schritts die Treppen hinab in den Flur, an dessen Ende die braune Holztür lag. Ich öffnete die Tür und freute mich, dass vor mir Leonid stand. Er hatte kurze, braune Haare und wunderschöne, blaue Augen, in die ich mich immer wieder verlor. Leonid lächelte mich an und sagte:,, Hallo Raina! Ich wollte mal nach dir sehen und erkundigen, wie du mit deiner Krankheit zurechtkommst. ´´
,, Danke, das ist sehr nett von dir. Komm doch rein, oder willst du im Regen stehenbleiben? ´´
Ich hielt ihm die Türe auf und wir gingen in das Wohnzimmer. Ich setzte mich an mein Klavier und er auf den Polstersessel.
,, Willst du mir etwas vorspielen? ´´
,, Jetzt nicht, aber später dann. ´´
Ich hustete heftig und fühlte mich ehrlich gesagt nicht besonders wohl, doch ich wollte nicht, dass sich Leonid noch mehr Sorgen um mich machte, deshalb verschwieg ich es.
,, Geht es dir gut, Rain? ´´
,, Wann hast du mich das letzte Mal so genannt? Es muss schon Ewigkeiten her sein. ´´
,, Ja, das könnte hinkommen. Aber deine hellblauen Haare und deine silbernen Augen sind dir erfreulicherweise auch geblieben. ´´
,, War das ein Kompliment? ´´
,, Was sollte es anders sein? Du bist wunderschön. ´´
Ich errötete. Hat er das wirklich gesagt? Findet Leonid Miyuku mich wirklich attraktiv? Als ich meine Stimme wiederfand erwiderte ich: ,, V-Vielen Dank Leo. Das schmeichelt mir wirklich. ´´ Leonid ging auf mich zu und kniete sich vor mich hin. Meine Augen sahen in seine tief blauen Augen und er fragte mich: ,, Rain, ich liebe dich schon seit wir Kinder waren und bevor du an deiner Krankheit stirbst wollte ich dich fragen…Also…Liebste Raina! Willst du mich heiraten? ´´
Er holte aus seiner Hosentasche einen kleinen Behälter heraus und öffnete diesen. In ihm war ein wunderschöner Goldener Ring mit einem Diamanten darauf. Er nahm meine rechte Hand und steckte ihn an meinen Ringfinger. Leonid stand auf und hatte eine nervöse Mimik aufgesetzt. Ich stand ebenfalls auf und sagte: ,, Lieber Leonid! Ich liebe dich auch schon seit ich denken kann und würde natürlich liebend gerne deine Frau werden. ´´
Ich umarmte ihn und küsste ihn dann. Als sich unsere Lippen berührten fühlte es sich an als würde die Zeit stillstehen. Er schloss ebenfalls seine Arme um mich und wir küssten uns innig. Nach einigen atemberaubenden Augenblicken entfernten sich unsere Lippen voneinander und wir lächelten uns an. Ich war voller Glücksgefühle doch plötzlich spürte ich, wie mich ein Schwächeanfall überkam und ich mich schnell niedersetzte. Ich wusste nun, was los war. Der Krebs zeigte nun seine Wahre Macht und will mir nun die Kräfte rauben, ich wünschte, ich hätte etwas unternehmen können doch ich war machtlos. Angeschlagen drehte ich mich zu meinem Klavier und begann zu spielen.
Pling! Pläng! Pling!
Das Piano ertönte in meinem Lieblingslied. Ich spielte und spielte bis ich spürte, dass der Krebs immer weiter in mir nagte. Als ich das Lied beendet hatte, konnte ich fast nicht mehr meine Augen offen halten und fiel nach hinten. Starke Arme fingen mich auf und mit Tränen besetzte Augen sahen in meine.
,, E-Es ist zu spät. E-Es tut mir Leid, L-Leonid. ´´
,, Nein! Nicht jetzt, bitte, verlass mich jetzt nicht! ´´
,, Ich kann nichts dagegen tun…Es tut mir Leid. ´´
Die letzten vier Worte flüsterte ich nur mehr da ich keine Kraft mehr aufbringen konnte, normal zu sprechen. Das Letzte, was ich sah bevor ich starb, waren seine weinenden Augen, das Letze was ich spürte, seine warmen Lippen auf meinen, das Letzt was ich hörte war der prasselnde Regen, der mich zum Abschied an all die trostlosen Tage erinnerte, an denen ich niemanden hatte und das Letze an das ich dachte war, mein Lieblingslied, das sich noch immer in meinem Kopf abspielte. Leo hatte es extra für mich geschrieben. Es hieß, Kiss the Rain…
Genutzter Klang:
Andächtig gingen die Truppen die fahle Landstraße entlang. Der Weg war sandig und endete, als hätte er niemals existiert. Die Soldaten des Königs waren gehüllt in seine Farben; Königsrot und Meeresblau. Die Wimpel mit dem Wappen unseres Königreichs wurden stolz präsentiert, wie ein Willkommensgeschenk an unsere Gegner, die nun wahrscheinlich ein Leichtes hatten, uns zu entdecken und unschädlich zu machen, bevor wir zu einer richtigen Bedrohung werden konnten.
Wo die Landstraße endete, begann ein Hügel aus saftigem, frischen Gras, hinter dem sich das Schlachtfeld befand. Oben angekommen hatte ich eine freie Sicht auf den Platz, an dem schon so mancher Krieg zwischen Ellion und Bârack stattgefunden hatten, auf den Platz, auf dem meine Vorfahren ihr Leben gelassen hatten. Es war an der Zeit, dass er wieder zu unserem Königreich gehören sollte. Und obwohl ich so dachte, war es der schlimmste Anblick, der sich mir je offenbart hatte.
Der Kampf pausierte momentan und kein Stückchen menschlicher Existenz war auf dem Schlachtfeld zu sehen, was uns in der gegenwärtigen Lage wahrscheinlich das Leben rettete, und doch wies es seine Zeichen auf, wohin das Auge reichte. Der Boden war karg und aufgewühlt, stellenweise sogar ausgebrannt. Vereinzelt sah man dunklere Flecke, die das geschulte Auge unschwer als Blut identifizieren konnte. Die jahrelange Ausbildung als Soldat seiner Majestät hatte mich nicht im Mindesten auf diesen Anblick vorbereiten können; und mein Kampf hatte noch nicht einmal begonnen. Ich schauderte.
Im Lager angekommen, legten wir eigentlich bloß unser Gepäck ab und machten uns seelisch und körperlich auf die bevorstehende Schlacht bereit. Jedem von uns war bewusst, dass der nächste Angriff noch vor der Dämmerung erfolgen würde.
Nach und nach sammelten sich die Soldaten Ellions vor dem Lager, bereit und wild entschlossen. Auch ich wollte mich gerade zu ihnen begeben, als ich durch einen Griff an meinem Oberarm zurückgehalten wurde. Ich drehte mich um, um zu sehen, wer es sich erlaubte, mich zu packen und blickte in das Gesicht meines alten Freundes Seja. Ich erinnerte mich noch an die fröhlichen Stunden, als wir beide im Hof unserer Eltern mir Holzschwertern gekämpft hatten. Aber anstatt der funkelnden Kinderaugen, die sich mit der Erinnerung in mein Gehirn gebrannt hatten, blickten mir nun stumpfe, braune Seelenspiegel entgegen, in denen kein Fünkchen Freude mehr Platz zu finden schien.
„Was machst du hier?“, fragte er mich. Seine Stimme klang heiser, angeschlagen, unwirklich.
„Ich werde für mein Königreich kämpfen“, erwiderte ich, wie es nur ein unerfahrener Neuling tun konnte.
„Du wirst sterben Melad! Ist dir das egal?“
„Machst du dir Sorgen um mich?“ Mich verwunderte seine Aussage. Wir hatten uns seit mehr als einem Jahrzehnt nicht gesehen und jetzt versuchte er mich vom Kämpfen abzuhalten?
„Wir können diesen Kampf nicht gewinnen. Ich habe die Truppen aus Bârack gesehen. Nur die Hälfte unserer Männer, die das Feld betreten haben, sind zurückgekehrt, während in ihren Reihen kaum ein Duzend Soldaten fielen. Es ist unmöglich. Glaub mir.“ Drängend sah mich Seja an, doch seine Augen blieben matt. Er hatte zu viel gesehen und wollte nicht, dass es weiterging. Aber es ging um mein Land, meine Ehre. Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich mich zum Soldaten hatte ausbilden lassen. Ich würde keinen Rückzieher machen.
„Ich werde dort rausgehen, ich werde kämpfen und wenn es sein muss, dann werde ich ehrenhaft sterben, aber ich werde mich nicht hier verkriechen und Schande auf Ellion bringen. Niemals.“ Ich war entschlossen
„Warum?“ Seine Frage klang verächtlich. Ich verstand ihn. Aber ich würde nicht bleiben.
„Erinnerst du dich noch, wie wir damals spielten, dass wir für unser Königreich den mächtigsten aller Drachen und einhundert Mann in nur einem Tag besiegten?“ Man sah ihm die Antwort deutlich an und auch ich versank in der Erinnerung an eine friedvolle Zeit, in der all das hier nur ein Spiel gewesen war. Aber jetzt, jetzt war es bitterer Ernst. Und doch so gleich. „Wir taten es aus Stolz. Wir taten es aus Pflichtgefühl. Wir taten es, weil wir schon damals wussten, dass es einmal unser Leben bestimmen würde.“
Eine lange Pause entstand und verdrängte die Luft zwischen uns. Ich war mir nicht sicher, ob ich jemals wieder würde atmen können. Sekunden zogen sich in die Länge und in meinen Ohren dröhnte es, als würden schon jetzt direkt neben mir die Kanonen abgefeuert werden.
„Es ist unmöglich“, sagte er in den Raum zwischen uns, der mir weiterhin so luftleer schien, wie eine ausgebrannte Kerze, die allen Sauerstoff gefressen hatte.
„Dann müssen wir halt das Unmögliche überwinden“, entgegnete ich und lächelte ihn an. Siegessicher. Ich wusste, was ich tat und tat es gut.
Und ich hatte Angst. Ich hatte große Angst. Aber das Unmögliche würde mich nicht aufhalten. Und wie es schien, hatte ich ihn angesteckt. Er seufzte und für den Bruchteil einer Sekunde, zogen sich auch seine Mundwinkel leicht nach oben. Diese Geste füllte den Raum zwischen uns wieder mit Sauerstoff und ich atmete erleichtert auf. So könnten wir es schaffen. Zusammen gegen den Rest der Welt, genau wie wir es als Kinder schon getan hatten.
„Und du glaubst, wir schaffen das?“
Mein Lächeln wurde breiter. „Wenn wir nicht um, sondern mit unserem Leben kämpfen, dann kann uns noch nicht einmal das Unmögliche aufhalten. Genau wie früher.“ Dieses Mal hielt sich sein Lächeln schon etwas länger. „Traust du mir?“ Ich hielt Seja meine Hand hin.
Er besah sie sich, schaute mir in die Augen und schlug ein. „Ja.“ Das Funkeln war zurückgekehrt.
Geschlossen standen wir den Truppen Bâracks gegenüber. Noch warteten beide Seiten auf den ersten Schlag der anderen, aber der Kampf knisterte bereits in der Luft.
Ich weiß nicht mehr, wer den ersten Schlag gemacht hatte. Ich weiß nur noch, dass ich an Sejas Seite auf unsere Gegner zulief und wusste, dass wir unmöglich gewinnen konnten. Und genau das schaffen mussten.
[/tabmenu]