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13: Abschiedsgeschenk
Ein sanfter Wind kitzelte Gregorios Antlitz und zwang den Seemann, seine Sicht von den schwarzen Haaren zu befreien. Dies war sein Lieblingsmoment an jedem neuen Morgen. Bei noch nicht ganz aufgegangener Sonne am Bug des Schiffes, das er die „Esmeralda“ gentauft hatte, zu stehen und die leichte Gischt zu spüren, wenn der Rumpf die salzigen Wellen zerschlug war schon seit Jahren sein ruhiges Ritual, den Tag zu beginnen. Besonders, wenn sich die See, wie heute zur Abwechslung von ihrer friedlichen Seite zu zeigen schien. In der selben Ansicht, trat soeben Offizier Daran an seine Seite.
„Guter Fahrtwind ohne Sturmanzeichen.“, kommentierte er die Wetterlage mit Blick in den Himmel, wo schon die ersten Wingul auszumachen waren.
„Da werden wir wohl noch am Mittag ankommen.“, antwortete Gregorio mit starrem Blick aufs Meer.“
„Und genug Zeit haben, auszuladen, bevor wir heute Abend die Kneipen heimsuchen.“, ergänzte der Offizier lachend.
Auch diese Bemerkung entlockte keine Reaktion. Stattdessen drehte er sich Richtung Osten, jener Richtung, aus der ihn gerade der erste Sonnenstrahl des heutigen Tages traf. Die Spiegelungen und Lichtreflexe waren ihm ein willkommenen Schauspiel und entlockten ein Lächeln. Die Mannschaft würde ihn sicher auslachen, wenn sie wüssten, dass er solche Naturschauspiele liebte. Einfach nicht männlich genug.
„Dann geh' mal alle aufwecken, damit wir das Wetter nutzen können. Ich kümmere mich mal um meinen Sohn.“
„Wird gemacht, Kapitän.“
Mit zügigen Schritten entfernte sich Daran und ging unter Deck, wo bis auf ihn, Gregorio und Navigator Morgan noch alle Mitglieder seiner Besatzung im Tiefschlaf waren. Manchmal wünschte er sich wirklich, selbst noch Decksmann zu sein und das einfach Leben zu genießen. Das Sagen zu haben war aber schließlich auch nicht schlecht. So schlenderte er gemütlich über das Deck zum hinteren Teil des Schiffes, wo sich seine Kapitänskajüte befand. Anstatt selbige zu betreten, wandte er sich nach links und stieg eine kleine Treppe hinab, wo eine weitere Tür war. Seine Schritte waren längst vorsichtiger geworden und auch den Türgriff umfasste er möglichst geräuschlos. Ein letztes Mal holte Gregorio tief Luft. Sicher befand sich der Faulpelz noch im Tiefschlaf.
Mit einem Ruck öffnete der Kapitän die Tür nach innen und stürmte auf das Bett zu, das an der linken Wand stand.
„Hoch mit dir, Junge!“, rief er erheitert und hatte schon die Faust, mit der er seinen Sohn zu wecken gedachte, erhoben. Er erstarrte einen Moment, als er erkannte, dass unter dem zerwühlten Bettzeug niemand mehr lag. Nur eine Sekunde später, erhielt er einen heftigen Schlag auf den Kopf. Dann packte jemand seinen Arm, woraufhin er einen Tritt in den ungeschützten Bauch einstecken musste.
„Bist du bescheuert?“, fragte erstaunlicher Weise der Angreifer.
„Wie lange willst du den Mist eigentlich noch durchziehen?“
Gregorio drehte sich um und blickte in das Gesicht seines Sohnes.
„Du hast dich hinter der Tür versteckt? Das ist doch eigentlich viel zu banal, Cedric.“
„Scheiß doch drauf!“
Die aufgehende Sonne blendete Vater und Sohn, als sie wieder ins Freie traten und zwang sie, schützend die Hand vor ihr Gesicht zu halten. Während sich Cedric ans Heck verdrückte, trat Gregorio nach vorne ans Steuer, den Blick auf die Mannschaft gerichtet, die gerade an Deck gekrochen kam. Ein weiteres Mal holte er tief Lust.
„Nennt ihr das etwas Bewegung, ihr müdes Pack? Los, setzt die Segel und seht zu, dass wir vorankommen. Wer saufen kann, kann auch anpacken, das unterscheidet die richtigen Männer von den Taugenichtsen!“, rief er wie ein einzelnes Wort und mit rauer Stimme. Und wieder einmal durfte er sich daran erfreuen, dass jeder Mann an Deck ihm immernoch seinen Respekt zollte, indem seine Anweisungen prompt befolgt wurden.
„Navigator!“
Der mittels Titel gerufene Morgan war sofort an seiner Seite.
„Kapitän?“
„Ans Steuer. Ich muss mit dem Miesepeter reden.“
„Aye.“
Ein grinsten konnte sich der Navigator nicht verkneifen. Gregorio entging dies zwar nicht, begab sich aber dennoch sogleich ans Heck, wo sein Sohn, wie jeden Tag die Wassermassen betrachtete, die sie hinter sich ließen.
„Mir gefällt dein ständiges zurück Sehen nicht. Im Leben musst du nach vorne sehen, Junge.“
Cedric gab darauf keinerlei Antwort, rieb sich stattdessen die noch etwas müden Augen und fuhr sich durchs kurze Haar.
„Wer saufen kann, kann auch anpacken.“, äffte er die Worte seines Vaters nach.
„Toll gesagt. Klingst schon fast wie ein waschechter Pirat.“
Gregorio stützte sich neben ihm an die Reling und folgte seinem Blick.
„Als Freibeuter sind wir von denen kaum zu unterscheiden. Der Unterschied ist, dass wir einen Teil unserer Beute an den König abdrücken, damit er das toleriert.“
Anschließend grinste er breit.
„Und du kannst mir glauben, dass der Alkohol einen Mann schneller auf den Boden befördern kann, als der härteste Knochenjob.“
Das Schmunzeln, das für einen Moment Cedrics Gesicht einnahm, wenn auch nur kurz, konnte man definitiv als Erfolg bezeichnen.
Cedric änderte seine Position und lehnte mit dem Rücken an die Reling, den Blick verträumt gen Himmel gerichtet. Eigentlich sollte er sich ja glücklich schätzen. Nicht jeder war so gesegnet, einen vom König unterzeichneten Kaperbrief zu erhalten und frei übers Meer segeln zu dürfen. Im Moment war das Königreich noch in viele Teile zersplittert und jene Gebiete von den verfeindeten Parteien hart umkämpft. Schiffe anderer Nationen anzugreifen und ihre Fracht mit dem König zu teilen, war sowohl für sie als auch ihn ein Gewinn. Doch angesichts der Meldungen zahlreicher Erfolge an den Fronten schien es nicht mehr lange zu dauern, bis der König sein Ziel eines vereinigten Reiches erreichen würde. Mit etwas Glück, würde der Krieg noch in diesem, seinem neunten Jahr enden und somit der Nutzen von Freibeutern zunehmend entfallen. Doch nicht nur das war der Grund, weshalb es Cedric mehr und mehr aufs Land zog.
„Wirst du mich denn diesmal endlich meinen Weg gehen lassen, Vater?“
Gregorio war für gewöhnlich ein Mann der guten Laune, doch immer wenn das alte Thema von seinem Sohn aufs neue angesprochen wurde, gab es dafür keinen Platz mehr. Er seufzte.
„Ich verstehe einfach nicht, warum du es so eilig hast, von diesem Schiff runter zu kommen.“
„Eilig?“, wiederholte Cedric mit fragendem Blick.
„Ich bin 16 Jahre alt. Andere haben in meinem Alter schon keinen Kontakt zu ihren Eltern, da sie ihr eigenes Leben leben.“
Sein Vater nickte leicht, lächelte etwas gequält und machte den Eindruck, als könne er verstehen, als könne er nachempfinden. Glücklich war er aber nicht.
„Und du willst mir jetzt ernsthaft vorwerfen, dass ich als Vater meinen Jungen noch etwas länger bei mir haben möchte?“
Für kurze Zeit sahen sich Vater und Sohn nur schweigend an. Es wirkte, als ob beide vehement versuchten, den Standpunkt des Anderen zu verstehen. Doch irgendwie hatten sie doch nur ihre eigenen Ziele im Kopf. Eine Wasserfontäne zerschlug die Stille, die wohl nur zwischen den Beiden herrschte, waren doch die Stimmen der Crew ebenso gut zu hören, wie die brechenden Wellen. Ein Wailord hatte ungesehen das Schiff flankiert, tauchte aber sogleich wieder ins tiefe Blau und verschwand spurlos.
„Du weißt, dass ich vorhatte, dieses Schiff eines Tages dir zu überlassen, Cedric.“
Er wich seinem Blick aus.
„Ja.“
„Also warum? Warum willst du es nicht zulassen, dass ich dir das vermache, was ich mehr liebe, als alles andere. Dieses Schiff würde dein Leben zeichnen. Es bedeutet viel Verantwortung, “, mit ausgestrecktem Arm zeigte er hinaus auf die See, “doch dafür trägt es dich in die Zukunft.“
Nun suchte Cedric gezielt den Blick seines Vaters.
„Ich will nicht das, was für dichwertvoll ist, sondern für mich!“
Wieder herrschte kurz eigenartige Ruhe.
„Dein Schwert.“, fuhr er schließlich fort.
Verwundert löste Gregorio die Waffe von seinem Gürtel und hielt es ihm vor.
„Das?“
„Mhm.“, nickte Cedric nur und fixierte es mit sehnsüchtigen Augen, dachte aber nicht daran, es einfach aus der Hand zu reißen. Seit Jahren trainierte er mit seinem Vater nun schon den Schwertkampf, besaß aber immernoch keine eigene Waffe. Wenn es auf See in ein Gefecht ging, hatte er stets die Aufgabe, mit ein paar anderen Männern das eigene Schiff zu verteidigen. Nur war dies so gut wie nie der Fall gewesen, denn die Angriffe seines Vaters waren gut geplant und effektiv. Zudem hatte er immer eines dieser schäbigen Schwerter bekommen, mit denen die Mannschaft ausgestattet wurde. Keine Waffe, die er als seine eigene betiteln wollte. Es musste ja nicht unbedingt Gregorios Schwert sein, aber eine eigene Klinge stellte ohne Zweifel Cedrics absolute Spitze seiner Wunschliste dar.
„Dein Schiff trägt mich. Ich will nicht getragen werden. Ich will selbst voranschreiten. Du sagst, es bringt mich in die Zukunft, aber ich will meine eigene Zukunft gestalten.“
Schließlich ballte Cedric energisch die Fäuste.
„Das Schiff bedeutet Verantwortung. Ein Schwert bedeutet Vertrauen!“
Gregorio konnte kaum fassen, was er hörte. Viel weniger noch, mit wie viel Herz sein Sohn diese Worte aussprach. So staunte der Kapitän mit großen Augen und offenem Mund auf das Kind, das er großgezogen hatte. War er denn tatsächlich so blind gewesen, nicht mitzukriegen, wie Cedric erwachsen geworden war? War er wirklich dumm genug, dass er nicht begriffen hatte, was sein Sohn wirklich wollte? Resignierend ließ er den Kopf hängen.
„Diesen Worten wirst du Taten folgen lassen müssen, mein Junge.“
Ardenia war eine typische Hafenstadt, wie sie im Buche stand. Auf hohen Stegen, bestehend aus starkem Holz hatte man fast die Hälfte der Siedlung direkt über dem Wasser erbaut, während man Gebäude aus Stein nur ab dem Ufer vorfinden konnte. Dafür war der erstgenannte Bereich deutlich lebhafter aufgrund der ein- und auslaufenden Schiffe. Obwohl man die Größe des Hafens bestenfalls als durchschnittlich bezeichnen konnte, war Aboria aufgrund seiner Lage eine vielfach angesteuerte Route. So auch für Freibeuter Gregorio und seine Mannschaft an diesem Mittag.
An einem zentral gelegenen Pier angelegt, machte sich die Crew sofort ans Abladen. Wie jedes Mal gingen Sie dabei eifrig und mit viel Fleiß vor, denn ein jeder von ihnen wusste, sobald diese Arbeit erledigt war, hieß es Alkohol trinken und hübsche Frauen verführen. Besonders zu letzterem hatte man auf See viel zu wenig Gelegenheit.
Cedric war heute ausnahmsweise von dieser Arbeit befreit worden und sah deshalb nur zu, wie die Männer erbeutete Rohstoffe und Kisten voll Handelsware, die ihre Geldbörsen füllen würden, aus dem inneren des Schiffes und an Land trugen. Besonders die gewonnene Seide würde aufgrund ihrer hohen Nachfrage einiges einbringen. Gregorio stand derweil schon am Pier und unterhielt sich mit einem schick gekleideten Mann, der mittels Feder die angelieferte Ware auf Pergament festhielt. Kein Unbekannter, sein Name war Antonio. Cedric wusste, dass sein Vater diesen Kerl immer sehr genau auf die Finger schaute, da er gerne Mal mit den Zahlen jonglierten, um sich selbst etwas dazu zu verdienen. Auch heute würde er sicher wieder versuchen, seinen Vater in seinen Beschiss mit einzubeziehen und wie jedes Mal zuvor abgewiesen werden. Zumindest ließen das Gregorios drohende Gesten und eindringliche Worte, die er gerade an ihr richtete, vermuten. Cedric beobachtete aus der Ferne, wie eine kurze aber heftige Auseinandersetzung zwischen den Männern entstand. Er musste ihre Worte nicht verstehen, um zu erkennen, dass der Schreiber noch ein paar Flüche loswurde, ehe er angesäuert von dannen zog. Aber erst nachdem sein Blick noch einmal kurz an Cedric haften blieb, allerdings an dem Jungen abprallte.
Verträumt blickte Cedric an Land und sehnte sich nach dem, was sich hinter der Küste befand. Hoffentlich würde er heute zum letzten Mal das Abladen miterleben.
Das Abladen der Fracht nahm noch einige Zeit in Anspruch. Doch auch nachdem die letzte Kiste für den König von Bord war – Gregorio hatte wie immer von allen Waren etwas als seinen Anteil behalten dürfen – musste sich Cedric noch gedulden, bis er seinen Vater sprechen konnte. Wie es üblich war, kam nach der Arbeit sofort die Belohnung für die Crew. Erhalten würde sie jene einmal mehr in der örtlichen Kneipe, dessen Rum und Wacholdervorräte sicher auf eine harte Probe gestellt wurden. Als Kapitän würde Gregorio wohl traditionell die erste Runde zahlen, ehe jeder für seinen eigenen Suff verantwortlich war. Bis zur Rückkehr seines Vaters verweile er so lange an Deck des Schiffes und nutzte die Zeit, um sich seine Worte schonmal zurecht zu legen.
Sicher würde er wieder versuchen, Cedric von seiner Entscheidung abzuhalten. Rein verbal versteht sich. Obwohl sich Cedric fragte, was wohl passieren könnte, wenn er es tatsächlich drauf anlegen würde, sich nur durch Gewalt dazu bringen zu lassen, auf dem Schiff zu bleiben.
Er lachte leise in sich hinein. Wahrscheinlich wäre es ein einziges Durcheinander.
Die Sonne war längst einem klaren Nachthimmel voller glänzender Sterne gewichen und der Klang der seichten Wellen bildeten die Einzige Geräuschkulisse, befanden sich doch Musik und Gelächter der Betrunkenen zu weit entfernt. Eine einsame Gestalt trabte ruhigen Schrittes den Steg entlang auf das Schiff zu. Cedric erkannte Gregorio bereits an der Silhouette. Sein alter Herr trat ihm mit fast schon gelangweiltem Gesichtsausdruck entgegen.
„Bitte sag mir, dass du dich nicht schon betrunken hast.“, eröffnete Cedric das Gespräch.
„Ein Kapitän muss mehr trinken und viel mehr vertragen können, als jeder seiner Männer.“
Ein tiefes Seufzen entsprang ihm. Er sah in die Ferne.
„Aber heute bin ich keineswegs in der Stimmung dazu.“
„Hat Antonio wieder versucht zu bescheißen?“
Ein Nicken.
„Ich habe mich ziemlich unbeliebt gemacht, nur weil ich dafür sorge, dass alles seine Richtigkeit hat. Mir ist es lieber, wenn mir der König wohlgesonnen ist. Muss Antonio sich halt wen anderen für seine krummen Geschäfte suchen.“, erzählte er mit sanfter Stimme. Irgendwie wirkte er abwesend.
„Aber ungeachtet dessen, wie klein oder groß die Strapazen heute oder an allen anderen Tagen waren, ich konnte mich nicht beklagen. Denn ich hatte das Privileg, dabei zuzusehen, wie mein Sohn heranwächst, Tag für Tag.“, fuhr er mit einem stolzen Lächeln fort.
„Doch nun ist mein Sohn schon so weit, dass er mich nicht mehr braucht. Was du heute morgen zu mir gesagt hast, war sowohl wohltuend als auch schmerzhaft für mich. Aber du bist tatsächlich am Punkt angelangt, an dem ich dir nichts mehr beibringen kann.“
Einen kurzen Moment nahm sich Gregorio Zeit in die großen, erwartungsvollen Augen seines Sohnes zu blicken, dessen Herz immer mehr vor Aufregung zu pochen begann.
„Ich hatte andere Wünsche für deine Zukunft. Doch ich bin dein Vater und werde der letzte Mensch auf Erden sein, der sich dir in den Weg stellt.“
Cedric konnte kaum fassen, was er vernommen hatte.
„Du gibst mir also meine Chance?“
Wieder ein Nicken.
„Du bist bereit, deinen eigenen Weg zu finden. Auf dass er dich zu deinem Platz in dieser Welt führen möge.“
Cedric zweifelte. War das real? Sein Vater erlaubte ihm endlich, das Schiff zu verlassen? Wo waren die Einwände, die Proteste und Versuche, ihn doch noch für eine weitere Fahrt an Bord zu behalten? Er hatte diesen Moment herbeigesehnt und nun schien es, dass der alte Herr ihn sogar freiwillig fort gehen lies. Unsicher, was er entgegnen sollte, kratzte Cedric sich verlegen am Hinterkopf. Auf einmal kam er sich im Moment wie der Böse vor.
„Du weißt hoffentlich, dass ich das nicht etwa will, weil ich es auf dem Schiff gehasst habe.“, erklärte er. „Im Gegenteil, ich hatte es gut bei dir. Nur ist es...“
„Was sollen auf einmal die Erklärungen?“, unterbrach Gregorio ihn.
„Jetzt glaub mal nicht, ich wüsste nicht genau, wie du dich fühlst. Jeder Junge will den Schritt zum Mann hinter sich bringen. Das ging mir in deinem Alter nicht anders. Dass du es gut bei mir hattest, will ich hoffen, denn es war auch jeden Tag aufs Neue mein einziges Ziel. Ich habe dich im Kampf ausgebildet und alles dafür getan, dass du auch bereit bist, wenn du diesen Schritt tun möchtest. Jetzt sei auch wirklich ein Mann und zögere nicht.“
Das entlockte dem Sohn ein Lächeln. Und so umarmte er seinen alten Herrn familiär, was dieser ihm sofort gleich tat.
„Ich danke dir, Vater. Du hast deine Arbeit gut gemacht.“
„Ich danke dir, mein Sohn. Denn du wirst es zu etwas bringen, das weiß ich.“
Als sie wieder voneinander abließen und sich in die Augen sahen, war alles verschwunden. Sorgen, Zweifel, oder Reue wurden komplett aus ihren Körpern verbannt und ließen Raum für Freude, Dankbarkeit und Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen.
„Versprich mir, dass es kein 'Lebe wohl' ist, Cedric.“
„Ichschwörees dir.“
Das Lächeln wurde noch ein Stück breiter.
„Wir werden morgen wieder auslaufen. Für dich habe ich ein Zimmer in der Hafentaverne bezahlt. Also nutze die Nacht, um dich von allen zu verabschieden und fange mit dem morgigen Tag dein neues Leben an.“
„Das werde ich.“
Mit einem Rest Wehmut im Herzen und Stolz im Gesicht trat Gregorio nun bei Seite und ließ seinen Sohn passieren, der äußerlich sehr gefasst wirkte. In seinem Inneren jedoch brannte ein Inferno an Gefühlen, welches durch Worte nicht zu beschreiben war. Wie nannte man jene Momente, die schmerzten und gleichzeitig Freude brachten? Sollte ein dafür geeigneter Begriff existieren, so war er Cedric nicht bekannt. Doch unnötiges Geschwafel brauchten sie auch nicht. Es war das Richtige, daher tat er, wie ihm geheißen wurde und verließ das Schiff. Kein zurück blicken. Kein Zögern. Kein Grund zur Trauer. Denn Cedric hielt endlich sein eigenes Schicksal in Händen.
Die Verabschiedung der Mannschaft brachte Cedric kurz aber herzlich hinter sich. Es waren allesamt Männer, mit denen er jahrelang gefahren war, doch auch sie wollte er in Zukunft nicht vermissen. Ein jeder von ihnen wusste längst um Cedrics Vorhaben und gab ihm ausnahmslos Glückwünsche und wertvolle Ratschläge mit. Anschließend wollte er sich auf das Zimmer begeben, von dem Gregorio gesprochen hatte.
Wie versprochen musste Cedric nur dessen nahmen erwähnen und erhielt sogleich einen dick gegossenen Schlüssel aus Kupfer, der für eines der Zimmer im ersten Stock gedacht war. Die knarrenden Holztreppen hochsteigend machte sich der Junge allerlei Gedanken über den morgigen Tag. Er besaß eigene finanzielle Mittel, um sich einige Zeit lang versorgen zu können, schließlich hatte er bei jeder Einkunft, die das Schiff gebracht hatte, seinen Anteil am Gewinn erhalten. Und im Gegensatz zum Rest der Crew war dieses Gold nicht im nächsten Hafen an Wirte oder Frauen in aufreizenden Kleidern weitergegeben worden. Stattdessen hatte sich Cedric fast jede Münze gespart, um für sich selbst sorgen zu können.
Also würde er morgen wohl erst einmal Vorrat für die nächsten Tage besorgen, sowie eine Landkarte, die ihn präzise durchs Landesinnere führen würde. Dieser Gedanke fachte das Feuer der Sehnsucht noch weiter in ihm an. Schließlich hatte er in seinem Leben kaum etwas anderes getan, als mit seinem alten Herrn zur See zu fahren. Wie das Leben im Herzen des Festlandes aussah, konnte er aus eigener Erfahrung nicht sagen. Doch nun würde er weit mehr zu sehen bekommen, als nur Küste und Hafen. Wälder, Gebirge, Ländereien und Großstädte. All das wollte er sich ansehen. Und irgendwo dort, das spürte er, würde er seine Chance finden, ein eigenständiges Leben aufzubauen. Ja, ein eigenes Leben, das von niemandem kontrolliert wird, Cedrics innigster Wunsch: sein eigener Herr sein.
Am hinteren Ende des Ganges der oberen Etage angekommen, zog er seinen Schlüssel hervor, um die eben erreichte Zimmertür aufzuschließen. Doch in jenem Moment, als er das Schlüsselloch ausfüllte, hielt sein ganzer Körper inne. Etwas hatte die Aufmerksamkeit des Jungen vollständig eingenommen. Ein Licht, das stark und flackernd durch das Fenster zu seiner Rechten seinen Augenwinkel erreicht hatte. Neugierig spähte er aus einem Spitzen Winkel durch das Glas um nach der Quelle zu suchen. Der Anblick war ein Stich ins Herz.
Ein Schock, der seinen gesamten Leib durchfuhr, weitete Cedrics Augen. Ohne erkennbare Ursache stand eines der Schiffe in Flammen. Und dieses erkannte er unter tausenden wieder. Es war die Esmeralda. Und die lodernde Feuerbrunst hatte bereits das ganze Deck in Beschlag genommen und fraß sich nur zu Mast und Kapitänshaus. Doch wie? Und warum?
Sofort hastete Cedric wieder zurück, sprang über das Geländer auf die Treppe hinunter und scheiterte beim Versuch, das Gleichgewicht zu halten. Ein unsanfter Sturz, der purzelnd an einer Wand im Erdgeschoss sein Ende fand, war die Folge. Den Schmerz völlig außer Acht lassend rappelte er sich auf, spurtete aus der Tür und den Steg entlang. Doch selbst, als das Schiff noch gute zehn Meter entfernt war, zwang ihn die sengende Hitze der Feuerbrunst, stehen zu bleiben. Mit einer Mischung aus Schock und Ungläubigkeit betrachtete Cedric das Szenario. Wie um alles in der Welt konnte das passieren? Wie war es möglich, dass binnen von Herzschlägen jede Planke, jedes Holzbrett und das Segel lichterloh brannten?
Ein weiteres Mal wurden Fragen unwichtig, denn Cedric vernahm einen Schrei. Jener sollte ihm lange im Gedächtnis hängen bleiben, denn es war die panische und schmerzerfüllte Stimme seines Vaters. Der Kapitän des Schiffes war nirgends zu sehen. Zu hoch ragten bereits die Flammen der Feuerbrunst, als das er irgendwo zu erblicken gewesen wäre. Gleichzeitig nahmen sie Cedric jede Chance, irgendwie auf das Schiff zu kommen, ohne sein eigenes Leben dabei zu verlieren. Alles was er konnte war zusehen. Zusehen und lauschen, wie die gequälte Stimme des alten Herrn nach einiger Zeit leiser und leiser wurde, ehe sie letztendlich verstummte. Erst Jahre später würde Cedric es aufgeben, sich immer wieder zu fragen, warum er nicht jeder Vernunft trotzend an Bord gegangen war, um ihn zu suchen. Die Gewissheit, ob es tatsächlich die Angst war, selbst den Feuertod zu erleiden, würde er niemals erhalten. Er würde sich nur erinnern können, wie die ungeheure Hitze ihn aufgehalten hatte und zum Feigling werden lies.
Geschwächt von dem brennenden Element knickte der Mast des Hauptsegels um und kippte ins salzige Meer. Die stolze Flagge der Esmeralda mit dem Königssymbol glitt sanft durch die Luft und verschwand ebenfalls in den Flammen. Das Knacken des berstenden Holzes erfüllte noch lange die ansonsten so stille Nacht.
Später würde Cedric nicht mehr sagen können, wie er sich dazu überwunden hatte, den Ort des Geschehens zu verlassen. Wie sollte man sich umdrehen und laufen können, wenn direkt vor den eigenen Augen der wichtigste Mensch auf Erden qualvoll gestorben war? Wie um alles in der Welt hatte er etwas derart widerliches fertig gebracht? Er wusste es nicht, würde es auch in Zukunft niemals wissen, doch irgendwann in dieser sehr späten Nacht stand er wieder im Oberen Stockwerk der Taverne. Der Schlüssel, den er hatte stecken lassen, wartete an selbiger Stelle noch auf ihm. Mit bedrückter Miene und gesenktem Kopf nahm er ihn in die Hand. Cedric hielt inne. Wie zuvor in der Nacht schaute er nach rechts aus dem Fenster. Die Mannschaft der Esmeralda, die die Katastrophe erst viel später bemerkt hatte, war immernoch mit dem löschen des Brandes beschäftigt. Das Feuer war deutlich kleiner, aber noch nicht erloschen. Und die Überreste Gregorios würde man sicher nicht als solche Identifizieren können. Cedric hatte ihnen auf dem Steg keine Aufmerksamkeit geschenkt, als er sie passiert hatte. Sie waren ihm egal. Mit seinem Vater und dessen Schiff wurden ihm Familie und Heimat genommen. Was aus den Männern wurde, war ihm scheißegal. Er wollte weg. Nur weg.
Mit bebendem Atem wandte Cedric sich von dem Geschehen draußen ab und drehte den Schlüssel um. Das Zimmer das er betrat erhielt keinerlei Beachtung von ihm. Übernachtungszimmer in solchen Tavernen sahen alle gleich aus. So stapfte er mit Blick gen Boden gerichtet zu dem Bett an der gegenüber liegenden Wand und lies sich kraftlos in selbiges Fallen. Die Hände über den Kopf schlagend kauerte er sich zusammen und litt. Er litt unter Schmerzen, die nicht zu beschreiben waren. Es war Leid, welches er seinem Schlimmsten Feind nicht wünschen würde und dass seine Brust zu zerquetschen schien.
Als er sich auf die Seite drehte und die rechte Hand dabei ausstrecke, spürte Cedric plötzlich etwas. Unerwartet war sein Handrücken auf etwas hartes gestoßen und als er aufblickte, lag neben ihm auf der Decke etwas. Ein Schwert.
Cedric identifizierte die Waffe sofort, was ihn blitzartig nach oben schießen und aufkeuchen lies. Die simple Schwertscheide war kaum von denen tausend anderer Schwerter zu unterscheiden. Doch dieser mit dunkelbraunen Leder umwickelte Griff mit der dünnen Parierstange...auch der Ansatz der breiten Klinge blitzte hervor. Das war zweifelsfrei Gregorios Waffe.
Cedrics Emotionswelt brach in einen Trümmerhaufen und Tränen bahnten sich ihren Weg ins Freie, als er begriff. Jahrelang hatte er sich nach Verantwortung ins Form eines eigenen Schwertes gesehnt und nun hatte sein Vater ihm seines zu Abschied hinterlassen. Sie war sein Abschiedsgeschenk, sein Vermächtnis. Die Waffe fest an sich drückend vergrub er das Gesicht im Kopfkissen und gab sich Trauer und Reue hin. So lange, bis sämtliche Tränen, die sein Körper hergeben wollte, vertrocknet waren und ihn nurnoch die jagenden Bilder der heutigen Nacht wach hielten und quälten.