Oh wow, ein Saisonfinale
Die Legende von Distortia
„Mann, es ist so langweilig, ich sterbe gleich“, murmelte Tilda und trottete hinter ihrer Klasse her. Eigentlich hatte sie sich auf diesen Schulausflug ja gefreut. Sie besichtigten ein altes Schloss, das von außen wie von innen unglaublich beeindruckend war und schon allein durch sein Dasein eine Geschichte zu erzählen schien. Eine Geschichte von alten Zeiten, von Herrschern und Reichen, die seit Jahrhunderten zerfallen waren. Das kalte, fast schwarze Gemäuer strahlte eine eiskalte Aura der Macht und Dominanz aus.
Tilda ließ ihren Blick über ein Gemälde schweifen, auf dem ein relativ junger Mann mit einer fremdartigen Kreatur zu sehen war, die für sie ein bisschen wie der Herrscher der Unterwelt selbst aussah. Was den Mann wohl dazu getrieben hatte, sich ausgerechnet mit so einem Wesen abbilden zu lassen? Wollte er sich als der Bezwinger der Drachen inszenieren und damit seine Macht zum Ausdruck bringen? Wie ein reales Wesen wirkte das Monster mit den leuchtend roten Augen jedenfalls nicht.
Fast wäre Tilda in ihre Mitschülerin Sara hineingerannt, denn die Klasse blieb abrupt stehen. Der Guide wandte sich an die Gruppe und deutete auf das Bild. Nachdem sie die Schüler mit dem Satz „Mein Name ist Frau Fischer und ich bin heute euer Guide“ begrüßt hatte, machten sich alle einen Spaß daraus, sie als eben solchen anzusprechen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien sie den ironischen Unterton überhaupt nicht zu bemerken.
„Dieses Gemälde zeigt den ursprünglichen Besitzer dieser Burg, den Grafen von Distortia“, erzählte der Guide. „Der Legende zufolge beherrschte er einst die ganze Welt.“
„Und was ist das für ein Vieh neben ihm, Guide?“, fragte Sara.
Die Frau sah sie für einen Moment lang finster an. „Das ist kein Vieh“, sagte sie dann. „Den Legenden zufolge gehorchte dem Grafen ein mächtiger Drache, der die Welten kontrollierte. Den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte kann man natürlich anzweifeln.“
„Gut, dass sie uns darauf hinweist, dass man nicht alle Märchen glauben sollte“, murmelte Tilda. Sie hatte doch ursprünglich gehofft, dass sie heute interessante Fakten über dieses Schloss lernen würde. Stattdessen hatte ihr Lehrer wohl die Märchenführung für Grundschüler gebucht.
Nachdem nun jeder die seltsame Drachenkreatur und ihren Besitzer bestaunt hatte, setzte sich die Klasse endlich wieder in Bewegung.
„Dort hinten befindet sich die Bibliothek des Grafen“, erzählte der Guide, als sie an einem mit einer Schnur abgesperrten Gang, der zu einer großen Tür führte, vorbeigingen. „Sie ist jedoch nicht für Besucher geöffnet, um die alten Bücher zu schützen.“
„Wie viele Bücher befinden sich dort denn?“, fragte Tilda tatsächlich interessiert. Sie liebte Bücher. So viel lieber wäre sie jetzt dort in der Bibliothek gewesen statt bei dieser sterbenslangweiligen Führung.
„Genau neuntausenddreihundertsechsundsiebzig“, antwortete die Frau. „Jedoch würdest du die meisten davon nicht lesen können, da sie in einer Sprache verfasst sind, die noch kein Wissenschaftler entschlüsselt hat.“
„Was ist das denn für eine Sprache?“, fragte ein Mitschüler.
„Nun, sie hat keinen offiziellen Namen“, erklärte die Frau weiter, „deswegen wird sie nur als die ’Sprache des Grafen’ bezeichnet. Nirgendwo auf der Welt konnten bisher weitere Schriftstücke in dieser Sprache entdeckt werden und sie scheint auch mit keiner uns bekannten Sprache verwandt zu sein. Es wird vermutet, dass der Graf sie selbst entwickelt hat, um geheime Informationen vor ungebetenen Gästen zu schützen.“
Die Klasse bewegte sich weiter, doch Tilda blieb staunend stehen. Die Bibliothek, diese geheimnisvolle Sprache … Das alles reizte sie so sehr. Sie wollte so gerne mehr darüber erfahren, das alles mit eigenen Augen sehen, doch andererseits wollte sie auch keinen Ärger. Wobei … Sie war beim Lehrer sehr beliebt, bei so gut wie allen Lehrern sogar, so viel Angst vor Ärger musste sie da doch gar nicht haben, oder? Sie konnte sich ja einfach irgendeine gute Ausrede einfallen lassen, bis sie wieder zur Klasse zurückkommen würde. Manchmal musste man eben ein Risiko eingehen.
Unbemerkt schlich sich Tilda unter dem Seil durch und huschte in den Bibliothekssaal hinein. Zum Glück stand die Tür einen Spalt offen, um Besuchern einen Blick zu gewähren, und war auch nicht mit Glas oder Ähnlichem abgetrennt.
Mit offenem Mund blieb Tilda stehen und staunte. Der Saal war gigantisch. Bis zur Decke stapelten sich die Bücher in riesigen Regalen, wenn man diese Bauwerke überhaupt noch als solche bezeichnen konnte. Sie waren kunstvoll verziert und sahen aus, als wären sie in einem Stück aus Stein geschlagen worden. Dort standen Bücher in allen Formen, Farben, Größen und Dicken. So viele Bücher an einem Ort hatte Tilda noch nie zuvor gesehen. Sie konnte sich kaum bewegen, kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Dies musste das Paradies sein. Dann bemerkte sie eine Leiter, die vor einem der Regale stand. Wie praktisch! Vielleicht war sie ja sogar der erste Mensch, der eines dieser Bücher seit Hunderten von Jahren in den Händen halten würde. Dieser Gedanke war so spannend. Schnell kletterte sie hinauf und sah sich die Bücher in Reichweite an. Einige wirkten sehr abgegriffen, als würden sie bei der kleinsten Berührung auseinanderfallen. Andere wirkten dagegen fast wie neu, nur etwas verstaubt. Zögerlich griff sie nach einem Buch mit einem braunen Ledereinband. Es sah zwar nicht sehr eindrucksvoll aus, aber aus irgendeinem Grund war ihr Blick an genau diesem Buch hängengeblieben.
Tilda hustete kurz, als sie den Staub vom Buch wischte. Vorsichtig schlug sie eine Seite auf. Dort war ein offenbar mit Tinte handschriftlich verfasster Text, doch die Wörter ergaben keinen Sinn. War das diese fremde Sprache? Sie war etwas verwundert darüber, dass diese Sprache lateinische Buchstaben verwendete. Ob der Graf sie wirklich erfunden hatte? Eine eigene Sprache, das wäre sehr cool.
Langsam blätterte Tilda durch die nicht lesbaren Seiten, äußerst fasziniert von dem Ganzen, als ihr auf einmal etwas entgegen rutschte. Da, mitten im Buch, lag ein großer Schlüssel. Als sie sich im Bibliothekssaal umsah, bemerkte sie eine Tür zwischen den Regalen. Ob der Schlüssel für diese Tür bestimmt war? Nachschauen konnte sie ja zumindest. Sie stellte das Buch zurück ins Regal und kletterte die Leiter hinunter. Dann ging sie zur Tür. Sie war verschlossen. Von der Größe her konnte der Schlüssel zum Schloss passen. Sie steckte ihn hinein. Dann drehte sie vorsichtig. Tatsächlich – die Tür öffnete sich!
Dahinter lag ein kleiner Raum, in den kein Licht von draußen fiel. Alles war staubig und wirkte, als wäre es die letzten paar Jahrhunderte nicht betreten worden. Tilda aktivierte die Taschenlampenfunktion ihres Smartphones, um besser sehen zu können. In dem Raum befand sich … anscheinend nichts. Der Boden und die Wände bestanden aus ungleichmäßigen, rechteckigen Mauersteinen, doch ansonsten schien hier absolut gar nichts zu sein. Dennoch trat Tilda ein und sah sich den Raum genauer an. Ein bisschen unwohl fühlte sie sich dabei, denn wenn nun die Tür zugestoßen würde, wäre sie allein in der Dunkelheit gefangen. Aufmerksam sah sie sich um, als sie etwas Merkwürdiges sah: Einer der Mauersteine im Boden war anders. Nein, das war kein Mauerstein. Sie kniete sich hin, um es genauer betrachten zu können. Das war kein Mauerstein. Das war ein Buch. Ein Buch, das perfekt getarnt in den Boden eingelassen worden war. Tilda hob das Buch aus dem Boden. Der Einband war schwarz und kalt. Sie schlug die erste Seite auf. Etwas überrascht stellte sie fest, dass der Text hier sogar deutsch war.
„Dieses Buch möge erklären, wie man die Weltherrschaft erlangt.“
Das Erlangen der Weltherrschaft … Waren die Legenden etwa tatsächlich wahr? Aber wenn das so war, dann durfte dieses Buch unter keinen Umständen in die falschen Hände geraten. Tilda überlegte kurz, was sie tun sollte. Konnte sie es einfach so einstecken? Vermutlich wusste sowieso niemand von seiner Existenz, also würde es nicht auffallen. Aber aus einem alten Schloss ein Buch stehlen? Sie rang mit sich selbst, doch dann öffnete sie ihren Rucksack und ließ das Buch vorsichtig hinein gleiten.
Nun verließ sie schnell das kleine Zimmer und sperrte es wieder ab. Den Schlüssel steckte sie zurück in das Buch, in dem sie ihn gefunden hatte. Dann verließ sie unbemerkt die Bibliothek und suchte ihre Klasse wieder. Sie würde ihnen einfach erzählen, dass sie kurz stehen geblieben war und die Gruppe dann aus dem Blick verloren hatte, das würde schon glaubwürdig genug sein.
Erschöpft ließ sich Tilda auf ihr Bett fallen. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihrem Lehrer weiszumachen, dass sie sich in diesem Schloss, durch das quasi nur ein einziger, abgegrenzter Weg führte, verlaufen hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte. Möglicherweise hatte sie einmal mehr einfach mehr Glück als Verstand.
Tilda zog das alte Buch aus ihrem Rucksack. Es sah auf den ersten Blick tatsächlich ein bisschen wie Stein aus, in dem dunklen Raum hatte sie das ja nur auf die Lichtverhältnisse zurückgeführt. Vermutlich war es nun am besten, wenn sie es irgendwo versteckte, bevor es noch jemand fand. Erstens würde das Ärger für sie bedeuten und zweitens unter Umständen auch welchen für die Welt. Sie überlegte. Wo könnte sie so etwas am besten verstecken? Der Dachboden wäre eine recht klischeehafte Lösung, oder der Keller. Sie könnte das Buch auch im Garten vergraben oder in den Kratzbaum der Katze integrieren oder unter ihre Matratze legen. Sie war sich noch nicht sicher und etwas müde, also entschied sie sich für die im Moment einfachste Lösung: Unter ihrer Matratze.
Nach einem derart stressigen Tag gab es für Tilda nur eines, was sie so richtig entspannen ließ. Also fuhr sie ihren Laptop hoch und scrollte über die Facebook-Startseite. Dort gab es lustige Katzenfotos, schlechte Witze, interessante Zitate ohne Quellenangabe, zwielichtige Artikel, definitiv nicht auf sie zugeschnittene Werbeanzeigen … Alles eben, was man brauchte, um sein Hirn effektiv abschalten zu können. Doch zwischen alledem entdeckte sie auf einmal etwas anderes. Einen Post ihrer Mitschülerin Sara. Er begann ja ganz harmlos damit, dass diese den Tag als „total chillig“ beschrieb. Doch es gab eine Kommentarschlange darunter. „der beste teil war da wo tilda sich verlaufen hat lol“, schrieb irgendwer. „Haha ja, wie blöd kann Man sein“, antwortete irgendwer anders. Auf diesen beiden Beiträgen häuften sich die Haha-Reactions. Wütend klappte Tilda den Laptop wieder zu. Diese Leute waren einfach unmöglich.
Nun lag sie auf ihrem Bett und wusste nichts mit sich anzufangen. Sie musste wieder an das Buch denken, das nun direkt unter ihrem Kopf lag. Vielleicht schadete es ja nicht, einen Blick zu wagen. Sie holte das Buch zu sich und fing an, darin zu blättern, als sie merkte, dass anscheinend nur die Inhaltsbeschreibung auf der ersten Seite auf deutsch verfasst war, denn schon auf der nächsten Seite fand sich wieder diese mysteriöse Sprache. Sie blätterte weiter, bis sie auf etwas sehr Interessantes stieß: Mitten im Text waren immer wieder einzelne Brocken, die die Funktion der fremden Sprache erklärten. Dort stand erklärt, wie man Sätze bildete, wie man die Sprache aktiv anwendete, gar ganze Vokabellisten waren mitten im Fließtext versteckt. Nun waren ihre Neugierde und ihr Wissensdurst geweckt. Sie wollte diese Sprache lernen und dieses Buch lesen. Also fing sie an, sich hindurchzuarbeiten.
„Schritt eins: Bändige Giratina“, las Tilda. Sie hatte Monate gebraucht, um die Sprache so weit zu beherrschen, dass sie den Sinn von ganzen Sätzen verstehen konnte. Doch nun war es so weit. Sie konnte endlich damit beginnen, zu lernen, wie man die Welt beherrschte. Nicht, dass das ihr Ziel war, aber es war dennoch unglaublich interessant. Giratina … Wer oder was war Giratina? Der Text erzählte etwas von einem Tor zu einer anderen Welt, das man öffnen musste, um Giratina zu treffen. Das klang einfach zu verlockend. Eine fremdartige Welt mit eigenen Augen zu sehen, was konnte es Interessanteres geben?
Schritt für Schritt befolgte sie die Anweisungen. Sie musste die Sonne zu einer gewissen Uhrzeit aus einem gewissen Winkel auf einen Spiegel scheinen lassen, dann diesen schlagartig verdunkeln und „Giratina, ich rufe dich“ rufen. Sie verstand den Sinn nicht ganz, doch es würde bestimmt schon seine Richtigkeit haben.
Tilda bemerkte erschrocken, wie sich der Himmel schlagartig schwarz färbte. Das Tuch, das sie zum Verdunkeln benutzt hatte, wurde in den Spiegel gesogen und in diesem entstand ein riesiges, schwarzes Portal.
„Wenn du mich sprechen willst, dann komm in meine Welt“, erklang eine Stimme in der Sprache des Grafen aus dem Spiegel. Zögerlich näherte sich Tilda dem dunklen Strudel. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und sprang hinein.
Sie fand sich tatsächlich in einer völlig anderen Welt wieder. Der Himmel glühte lilafarben bis grün, der Boden bestand aus tiefschwarzem Sand, so schwarz, dass man meinen konnte, er würde alles Licht absorbieren. Es gab Wasserfälle ohne Anfang und ohne Ende, schwebende Bäume und Gebirge, die aussahen, als wären sie an den Himmel geschraubt.
„Komm zu mir, wenn du es wagst“, sprach die Stimme.
Tilda wagte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Auf einmal stolperte sie, als wäre die Erdanziehung plötzlich extrem angestiegen. Sie stand wieder auf und ging vorsichtig weiter. Tatsächlich schien die Schwerkraft zu schwanken, mal fiel es ihr schwer, überhaupt auf den Beinen zu bleiben, mal hatte sie das Gefühl, fast abzuheben.
Dann erblickte sie das Wesen.
Eine schwebende Schlange mit Stacheln an der Seite und langen Auswüchsen auf dem Rücken blickte auf sie herab. Sein Gesicht war wie von einer goldenen Maske bedeckt und seine Augen leuchteten blutrot. Ein bisschen erinnerte sie das Wesen an den Drachen auf dem Gemälde des Grafen.
„Bist du Giratina?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete der Drache.
„Bist du auch das Wesen, das dem Grafen gehorchte?“, fragte sie weiter.
„Ja“, antwortete der Drache erneut.
„Was ist dieser Ort? Und warum sahst du auf dem Gemälde so … anders aus?“
„Dies ist die Zerrwelt, mein Zuhause“, erklärte Giratina. „Ich sehe, du hast meine Sprache gelernt. Also bist du würdig, dass ich dir deine Fragen beantworte. Mein Körper ist sehr wandelbar, betrete ich eine andere Welt, passe ich mich dieser an. Hier ist die Gravitation sehr sprunghaft und an vielen Orten so leicht, dass es möglich ist, ohne Anstrengung zu schweben. Auf eurer Welt jedoch ist die Gravitation gleichmäßig und stärker, sodass ich Beine und Flügel brauche, um mich mit möglichst wenig Energieaufwand fortzubewegen. In jeder Welt, in der ich erscheine, habe ich eine geringfügig andere Form.“ Das Ungetüm hielt einen Moment lang inne. „Sag mir, Mensch, warum bist du hier?“, fragte es dann. Tilda überlegte einen Moment, was sie antworten sollte.
Tilda saß auf ihrem Thron im schwarzen Schloss, das nun ihr gehörte, neben ihr lag Giratina. Über ihrem Kopf hing ein Gemälde, das sie zusammen mit ihrem mächtigen Drachen zeigte und allen künftigen Generationen auf einen Blick klarmachen sollte, dass sie die mächtigste Frau der Welt war.
„Weißt du, Giratina“, sagte sie und streichelte ihrem treuen Freund über den Kopf, „eigentlich wollte ich ursprünglich gar nicht die Weltherrschaft erringen. Aber der Gedanke war auf einmal so … reizvoll. Ich konnte nicht widerstehen.“ Ihr Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Aber ich bereue die Entscheidung kein bisschen.“
Doch die Erde starb noch nicht
Welten fallen sehen,
Welten brechen sehen,
Freunde sterben sehen,
doch stehts g'rade stehen.
Glauben aufgegeben,
ausgelöschte Leben,
Hoffnung nie verloren,
bin wie neugeboren.
Kämpfen ohne Gründe,
töten ohne Gründe,
morden ohne Gründe,
Menschlein, voll der Sünde.
Nie die Augen schließen
vor dem Blutvergießen,
Träume nie verloren,
bin wie neugeboren.
Nein, ich werd' niemals knien!
Ich steh auf
und kämpf bis zum Tod
und drüber hinaus!
Nein, ich werd' niemals fallen!
Ich bleib steh'n,
du hältst mich nicht auf!
Über Grenzen geh'n.
Freiheit für alle Monster
war ein Traum,
für den wir gelebt.
Hast uns ihm beraubt.
Freiheit von dir, du Virus,
ist ein Traum.
Ich mach ihn heut' wahr.
Du zerfällst zu Staub!
Menschenkind, du stehst im Weg
uns'rer langersehnten Freiheit.
Für dein jähes Ende ist
heut' gekommen deine Zeit.
Unten eingesperrt zu sein
bis in jede ferne Endzeit
ist doch so viel besser noch
als dem Tode längst geweiht.
Menschenkind, du stehst im Weg
aller Freiheit dieser Erde.
Nur dein Tod versichert mir,
dass kein Leben mehr zerbricht.
Menschenkind, glaubst wohl daran,
dass ich mich dir fügen werde.
Nein!
Denn heute sterbe ich nicht!
Menschenkind, du stehst im Weg
alles Lebens dieser Erde.
Mit Entschlossenheit kämpfst du,
wenn die Erde noch so bebt.
Hoffnungen und Träume sind's,
die ich nie verlieren werde.
Nein!
Denn diese Welt überlebt!
Altes Wissen
21.05.957 n.G.S.
Heute ist es mir seit Monaten zum ersten Mal erneut gelungen, mehrere Atome zu fusionieren und ein neues Element herzustellen. Element #379: In den meisten seiner Eigenschaften Gold sehr ähnlich, jedoch weitaus leichter verformbar und aufgrund seiner Atommasse etwa fünfmal so schwer. Leider ist es seit der neuen Regelung vom 9.2. nicht mehr möglich, neu erschaffenen Elementen einen Namen zu geben; zu gern hätte ich dieses neue Gold nach meiner geliebten Frau benannt. Selbst, wenn dieses Wort kein Gewicht hat und wenn niemand dies je lesen wird, sei an dieser Stelle festgehalten, dass Element #379 Christinium heißt.
29.05.957 n.G.S.
Es ist unglaublich, ich muss eine Glückssträhne haben. Erneut gelang es mir, ein unentdecktes Element zu erschaffen. Es geschah fast durch Zufall, als ich versuchte, mehr des Elements Christinium zu synthetisieren und seine Wechselwirkungen mit „echtem“ Gold zu untersuchen. Es entstand ein neues Element, #458. Seine Eigenschaften sind sehr überraschend, denn es scheint neben Brom, Quecksilber und Ruvinium eines jener Elemente zu sein, die unter Normbedingungen flüssig sind; doch selbst das ist nicht alles. Seine Eigenschaften sind denen von Wasser verblüffend ähnlich, nein, sie gleichen jenen sogar. Gefrierpunkt und Siedepunkt, elektrische Leitfähigkeit und Dichte – es scheint geradezu unmöglich. Morgen möchte ich versuchen, an einige Spatzenmäuse zu gelangen, um an ihnen zu testen, ob dieses „Wasser“ auch trinkbar ist.
03.06.957 n.G.S.
Es ist unfassbar. Seit drei Tagen trinken die Tiere nichts als das von mir synthetisierte „Wasser“ und es zeigt sich keinerlei Veränderung an ihren körperlichen Eigenschaften. Sie leben, sie sind gesund und so aufgeweckt wie üblich. Ich überlege, in einigen Tagen auch einen Versuch am Menschen durchzuführen.
15.06.957 n.G.S.
Meine geliebte Christine war außer sich vor Wut, als ich ihr gestand, dass ich unser Wasser seit etwa einer Woche durch ein neu entdecktes Element ersetzt hatte. Dabei konnte ich zwei äußerst interessante Beobachtungen machen: Erstens fiel ihr die Veränderung nicht auf, was bedeuten muss, dass dieses neue „Wasser“ für Menschen genauso verträglich sein dürfte wie herkömmliches Wasser. Zweitens begann die Flüssigkeit in ihrem Becher, den sie während unseres Gesprächs in der Hand hielt, bei ihrem Wutausbruch unvermittelt zu sieden. Anscheinend zeigt dieses Element eine gewisse Reaktion auf menschliche Emotionen; was genau es damit auf sich hat, muss noch weiter erforscht werden.
30.06.957 n.G.S.
Meine Fusionskammer ist kaputt, zerstört von einem neuen Element. Als ich damit experimentierte, dachte ich zuerst, sie würde brennen, doch die Messgeräte zeigten keine größeren Auffälligkeiten an und es waren keine Spuren der Verwüstung zu erkennen. Im Inneren sah ich eine Flamme, doch sie schien komplett ruhig zu sein, nichts zu verbrennen und keinen Ursprung zu haben. Ich wurde unruhig, denn es konnte nur bedeuten, dass irgendwo Sauerstoff in die Maschine eingedrungen war und das neue Element gerade verbrannte. Jedoch war es in diesem Falle auch sehr unwahrscheinlich, dass sich die Maschine nicht aus Sicherheitsgründen selbst abgeschaltet hatte. Mit meiner wachsenden Unruhe musste ich zusehen, wie auch die Flamme wuchs. Panisch versuchte ich, die Messergebnisse noch schnell festzuhalten, doch meine Maschine konnte ich dabei nicht mehr retten. Als ich die Ergebnisse später analysierte, musste ich feststellen, dass diese Flamme allen Anscheins nach selbst das neue Element war, welches sich in keinem der drei üblichen Aggregatzustände befand, sondern in Form von Plasma existierte. Sobald die Fusionskammer repariert ist, werde ich das Experiment unter höheren Sicherheitsvorkehrungen wiederholen.
07.07.957 n.G.S.
Auch meiner Frau blieben die merkwürdigen Wechselwirkungen zwischen ihr und dem von mir gewonnenen Wasser nicht verborgen. Heute beobachtete ich, wie sie sich einen Becher einfüllte und es mit Handbewegungen schaffte, das Wasser in der Luft schweben zu lassen. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie mir, dass sie selbst nicht wisse, wie genau sie das mache; die Flüssigkeit folge einfach ihren Gedanken. Ich musste an die Ereignisse in meinem Labor von vor einer Woche denken; das „Feuer“-Element hatte sich mit meiner wachsenden Nervosität ausgebreitet. Möglicherweise reagieren die Elemente auf die extrem schwachen elektrischen Signale, die von unserem Gehirn durch unsere Schädeldecke dringen. Dafür müssten sie aber hochsensitiv sein; ich vermute dahinter die hohe Elektronenanzahl.
01.08.957 n.G.S.
Die Fusionskammer ist endlich fertig repariert. Ich habe erneut eine geringe Menge des Elements #474, des „Feuer“-Elements hergestellt. Da ich diesmal ganz ruhig blieb, breitete es sich nicht unkontrolliert aus, dafür konnte ich einige neue Beobachtungen machen: Im Vakuum in der Maschine bleibt das Element stabil und verändert sich nicht, an der Luft jedoch zerfällt es nach wenigen Sekunden, sofern es keinen Brennstoff gibt, der die Flamme weiter nährt. Ich gehe davon aus, dass das Element mit einem Bestandteil der Luft reagiert, wodurch sich die einzelnen Atome in der Luft zerstreuen. Um dies zu überprüfen, sind jedoch noch weitere Experimente erforderlich.
01.08.957 n.G.S., Nachtrag 23:47 Uhr
Als ich heute Nacht aufstand, weil ich auf die Toilette musste, schnipste ich wie aus einem Reflex mit den Fingern und staunte nicht schlecht, als ich auf einmal eine Flamme in der Hand hielt. Als die Flamme als Reaktion auf meinen Schreck plötzlich rapide anwuchs, wusste ich sofort, dass es sich um mein Element handelte, und zwang mich, mich zu beruhigen, worauf die Flamme erlosch. Ich ging in die Küche, um die Verbrennungen, die ich mir zugezogen hatte, mit Wasser zu kühlen. Inzwischen war auch meine Frau aufgewacht und fragte mich, was los sei. Weiterhin wies sie mich darauf hin, dass ich das von mir synthetisierte Wasser benutzte. Ich zeigte ihr die Verbrennungen an meiner noch nassen Hand, doch als sie diese berührte, ließ der Schmerz auf einmal nach. Eine höchst interessante Entdeckung: Die Verbindung zwischen meiner Frau und diesem Wasser scheint tiefer zu gehen als bloße Kontrolle.
13.08.957 n.G.S.
Meine Glückssträhne in der Elementarforschung hält an: Heute konnte ich ein neues Element, #481, synthetisieren. Es ist unter Normbedingungen gasförmig, außerdem ist es farblos. Um zu überprüfen, ob das Gas toxisch ist, leitete ich etwas davon in einen Behälter mit Spatzenmäusen, doch diese zeigten keine Reaktion. Der Gedanke mag naiv wirken, doch ich hegte den Verdacht, erneut ein Element entdeckt zu haben, das in seinen Eigenschaften uns bekannten Stoffen ähnelt, also setzte ich die Tiere in einen Behälter, in dem sich nichts als dieses Gas befand; und tatsächlich, sie zeigten selbst nach einigen Minuten noch keinerlei Anzeichen von Atemnot. Ich überprüfte den Inhalt des Behälters und stellte fest, dass außer diesem Gas nichts darin enthalten war, woraus ich darauf schloss, dass dies eine unerschöpfliche Quelle von Atemluft sein könnte. Das Element musste dieselben Vorgänge im Körper auslösen können wie normale Luft, ohne sich selbst dabei zu verändern.
08.09.957 n.G.S.
Heute wollte ich mir mit meiner geliebten Frau die Mondfinsternis ansehen, doch als diese begann, klagte sie plötzlich über Unwohlsein und Kopfschmerzen. Ich holte ihr schnell ein Wasser und sie versuchte, sich von den Schmerzen abzulenken, indem sie damit herumspielte, allerdings wollte es nicht funktionieren. Als die Finsternis wieder vorbei war und der Mond hell erstrahlte, ging es ihr jedoch schlagartig wieder besser und das Wasser folgte auf einmal ihrem Willen. Ich frage mich, wie dieser Zusammenhang zu erklären ist. Möglicherweise liegt ein ähnliches Prinzip vor wie bei Ebbe und Flut.
15.09.957 n.G.S.
Erneut gelang es mir, ein neues Element herzustellen, #493. Es ist ein Feststoff, ein spröder Klumpen. Fast möchte ich behaupten, er erinnert an Erde. Nach den Entdeckungen der letzten Monate würde es mich kaum noch wundern, trotz dessen, dass all diese Entdeckungen für sich betrachtet höchst verwunderlich sind. In einem ersten Impuls habe ich den Klumpen zerkleinert in einen Blumentopf gegeben und einen Samen hineingesteckt. Wenn hier wirklich etwas wächst, ist das die unglaublichste Entdeckung des Jahrtausends. Ich habe die vier mythologischen Ur-Elemente entdeckt und entgegen allem, was uns die Wissenschaft bisher sagt, handelt es sich dabei tatsächlich um chemische Elemente.
25.09.957 n.G.S.
Zuerst wollte mich meine Frau für verrückt erklären, als ich ihr den Topf überreichte, doch trotz allem nahm sie ihn an und pflegte ihn für mich, und tatsächlich, inzwischen wächst dort eine kleine Blume. Es ist wahrlich unglaublich. Wasser, das man trinken kann, Luft, die man atmen kann, Feuer, das nicht von Sauerstoff genährt werden muss, und jetzt fruchtbare Erde. Nächsten Monat findet ein wissenschaftlicher Kongress statt, dort werde ich meine Entdeckungen auf jeden Fall vorstellen.
31.10.957 n.G.S.
Heute fand der Kongress statt, auf dem ich meine Erkenntnisse vorstellen konnte. Die Kollegen waren erst skeptisch, doch schließlich war jeder einzelne von ihnen begeistert. Es wurde beschlossen, dass diese Elemente noch weiter untersucht werden müssen, doch wenn festgestellt werden kann, dass sie tatsächlich unbedenklich sind, ist geplant, sie auf der ganzen Welt zugänglich zu machen. Es könnte eine Revolution auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien sein!
Begeistert von dem Wissen, das die Menschen vor Jahrhunderten schon besaßen, stellte Charan das alte Buch zurück an seinen Platz. Nun war es an der Zeit, Wan Shi Tongs Bibliothek zu verlassen, bevor der Besitzer ihn fortjagen würde, er hatte ohnehin schon erfahren, was er wissen wollte. Als er durch das Tor trat, spürte er den kühlen, musternden Blick des Eulengeistes in seinem Nacken. Er beschloss, sich den Schauer, der ihm dabei über den Rücken lief, nicht anmerken zu lassen, und richtete seinen Blick geradeaus.
Vor ihm stand der alte Sandsegler seines Großvaters, auf dem bereits drei Männer auf ihn warteten.
„Hast du gefunden, was du gesucht hast?“, fragte einer von ihnen. Charan nickte nur und sprang auf. Es gefiel ihm nicht, wofür dieses Wissen gebraucht werden sollte.
In Windeseile durchquerte das Gefährt die Wüste, bis endlich eine Stadt in der Ferne zu sehen war. Die Stadt, in der Charan sein ganzes Leben verbracht hatte. Doch so vieles hatte sich über die Jahre hinweg verändert.
Vor den Mauern der Stadt blieb der Sandsegler stehen und die Männer traten durch das vor einigen Jahren eingestürzte Tor. Damals hatten einige Wasserbändiger angegriffen. Ein großer Teil der Stadtmauern und einige Häuser wurden durch den Kampf zerstört, doch der Feind konnte schließlich in die Flucht geschlagen werden. Doch noch einmal sollte das nicht geschehen können.
Während er sich seinen Weg nach Hause bahnte, ließ er seinen Blick über das verwüstete Stadtbild schweifen. Er hasste den Zustand, in dem die Welt gerade zu sein schien. Ab und zu kamen Reisende vorbei, doch auch sie wussten von nichts als Krieg zu berichten. All der technische und kulturelle Fortschritt, der die Welt der Vergangenheit geprägt hatte, war verloren, zerstört von der Macht der Elemente, die niemals hätten sein dürfen. Und nun sollte ausgerechnet er es sein, der den Plan für einen nächsten Angriff schmiedete.
Charan betrat sein Haus. Am Tisch saß sein Sohn Manik, der ihn wohl schon erwartete.
„Warst du erfolgreich?“, fragte er neugierig, seine Augen leuchteten wie die Sterne, für die er sich so sehr interessierte.
„Wie man es nimmt. Ich weiß jedenfalls, wann wir die Wasserbändiger angreifen müssen, um ihre Schwachstelle ausnutzen zu können“, antwortete sein Vater. „Und du kannst mir diesmal sogar helfen.“
„Wirklich, Vater? Sag schon, was kann ich tun?“ Sein Gesicht strahlte nun wie die Sonne.
„Hilf mir, herauszufinden, wann die nächste Mondfinsternis stattfindet. In dieser Zeit sind sie machtlos und wir können sie endlich zurückdrängen.“
Auch in Charans Gesicht war ein Funken Hoffnung zu sehen. Hoffnung, dass durch seinen Beitrag dieser nutzlose Bürgerkrieg gewonnen und damit beendet werden konnte. Er war kein Bändiger, der an der Front die Kämpfe ausfocht, doch das musste er auch nicht. Denn er wusste, dass auch er ein sehr mächtiges Element auf seiner Seite hatte – das Element des Wissens.