Information | Vote | Gewinner
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Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr frei wählen könnt, wie genau ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten. Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf Medaillen. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zur Wettbewerbssaison 2014
Wer neben den Votes noch weitere Kritik für dein Werk erhalten möchte, aber kein eigenes Topic erstellen will, der kann dies gerne in unserem Einzelne Werke-Topic tun!
Zitat von AufgabenstellungDas Thema dieser Runde lautet:
Freie kurze Geschichte
Bei diesem Wettbewerb ist es egal, wo und wann eure Erzählung spielt, welche Charaktere ihr auswählt und ob es eine traurige, liebliche oder tragische Erzählung wird. Euch sind dieses Mal keine Grenzen gesetzt - lasst eurer Fantasie also freien Lauf!
Ihr könnt 12 Punkte verteilen, maximal 6 an eine Abgabe
ZitatAlles anzeigenID: [DEINE USERID]
AX: X
AX: X
Beispiel:
ID: 27258
A16: 3
A1: 5
A3: 1
A7: 1
A9: 2
Der Vote läuft bis Montag, den 10.11 um 23:59 Uhr.
[tab=Abgaben]
Hallo. Ich bin ein kleiner Fisch und lebe im großen weiten Meer. Meinen Namen musst du nicht kennen, du würdest mich hier ohnehin nicht wiederfinden. Zum Einen ist der Raum, den du nach mir absuchen müsstest, einfach viel zu groß und zum Anderen sehen Fische für dich doch alle gleich aus. Wir alle ähneln uns so sehr, dass du mich von den anderen nicht unterscheiden könntest. Der Masse folgen, möglichst mit niemandem zusammenstoßen, nichts anderes ist die Aufgabe eines jeden von uns. Wie ich bereits sagte, du würdest mich also nicht wiederfinden. Doch was genau kann ich, ein einfacher Fisch, so weit entfernt der Menschheit, dir schon großartiges erzählen? Nun ja, es mag nicht viel sein, doch ich werde es versuchen.
Es ist schon lange her, die Erinnerungen sind schon leicht verblasst. Das Wasser wurde nur mit wenigen, dunklen Strahlen an der Oberfläche beleuchtet. Es war kalt. Wir hatten gerade die Nahrungssuche beendet und somit eine Ruhepause eingelegt. Freizeit, wie du es vielleicht nennen würdest. Freizeit, die ich nutze, um langsam in ''ihre'' Richtung zu schwimmen.
„Hey“, begann ich leise. Ich hatte sie bereits mehrere Male in unserem Schwarm gesehen, sie jedoch nie angesprochen. Aus Angst, aus Feigheit, ich weiß bis heute nicht, warum ich es nie zuvor getan hatte. Vielleicht hatte Poseidon auch einfach den Plan, dass ich den Mut dazu erst an diesem konkreten Tag erhalten sollte.
„Sprichst du mich jetzt auch deswegen an?“
„Wegen was?“
Sie machte eine kurze Pause, dachte nach. Ihre Augen vermittelten ein leichtes Gefühl der Überraschung.
„Wegen der Krankheit?“
„Du bist krank?“
Ich wusste nichts von einer Krankheit, wichtige Neuigkeiten erreichten mich grundsätzlich etwas später als den Rest. Aber irgendwie war es auch typisch: Da spreche ich einmal in meinem Leben einen anderen Fisch an und dieser ist krank.
„Ja“ Erneut legte sie eine kurze Pause ein, die Überraschung in ihren Augen hatte sich in einen stark melancholischen Ausdruck verwandelt.
„Schwer?“
„Ja“
Es war eine so unvorstellbar schwierige Situation. Ich hatte sie nur wenige Male zuvor gesehen, sie mich überhaupt nicht. Mir schossen zwar einzelne Wörter in den Kopf, allerdings keine mit Sinn gefüllten Worte, die ich hätte aussprechen können. Was meinen Kopf letztendlich wirklich verließ, war ein leichtes Stottern dieser kurzen Wörter. Und ihr schien es nicht anders zu ergehen – ihre Antworten waren ebenso kurz und prägnant.
„Ich werde auch nur noch wenige Tage gemeinsam mit euch schwimmen“, fuhr sie fort. Ihre Stimme war so leise, so zärtlich und doch, auf eine gewisse Art zerbrechlich.
„Dann bleibe ich mit dir hier“ Ich wusste nicht, warum ich das gesagt hatte. Ich wusste so vieles an diesem Tag nicht. Vielleicht lag es ja an den Regentropfen, die das Meer an eben jenem Tag mit weiterem Wasser gefüllt hatten. Dennoch, meine entschlossen rasche Antwort hatte in ihrem Gesicht ein leichtes Lächeln verursacht.
„Wer bist du überhaupt?“
Auch ich musste nun etwas lachen, oder zumindest ein wenig schmunzeln.
„Ach, das ist nicht weiter wichtig, ich bin doch nur ein kleiner Fisch“
„Aber zumindest der erste kleine Fisch, der ohne zu zögern, mit mir hier bleiben möchte“
„Das ist doch selbstverständlich“
„Ist es das?“, sie wartete kurz, „Ich meine, du wirst vom gesamten Schwarm getrennt und müsstest alleine leben“
Erneut musste ich leicht lächeln, während sie mich fragend ansah.
„Was soll ich in einem Schwarm, der nicht gemeinsam mir dir auf deine letzten Tage warten kann?“
Ich wartete mit ihr, acht Tage lang. Anschließend war ich allein.
Das ist meine Geschichte, die Geschichte eines einfachen Fisches. Oder besser gesagt unsere Geschichte, die zweier Fische. Ich hatte nicht vor, dir etwas besonders moralisches mit auf den Weg zu geben oder dich zu belehren, also lasse ich das jetzt auch weiterhin. So etwas hätte wohl auch nicht in meiner Macht gelegen. Vielleicht kannst du aus der Geschichte ja trotzdem etwas mitnehmen. Vielleicht schaffst du es ja sogar, mir zu antworten, denn ein wenig langweilig kann es hier schon sein, wenn man ganz alleine ist.
Grüße aus dem Meer,
Ein einsamer Fisch.
Weiter. Immer weiter. Der Gedanke schoss Jenny wieder und wieder durch den Kopf, während sie sich panisch durch das Unterholz des Ewigenwaldes kämpfte. Das Bild von Guardevoir ließ sie nicht los, wie es da auf der Erde lag, blutüberströmt und mit einer fürchterlichen Wunde in der Brust. Und der Gesichtsausdruck der Person, dessen Pokémon diese Wunde geschlagen hatte. Die Augen waren zu kalten Schlitzen verengt und der Mund zeigte den Anflug eines grausamen Lächelns. Als Jenny erkannt hatte, dass es für ihre Freundin Guardevoir zu spät war, hatte sie die Flucht ergriffen. Das mörderische Pokémon hatte jedoch noch ihren rechten Arm mit seiner Klaue streifen können. Blut tropfte aus der Wunde. Sie wusste, dass sie eine Spur hinterließ, der man nur zu leicht würde folgen können, doch was sollte sie tun außer wegrennen? Sie wusste nicht einmal, wo sie war, da sie sich mit Guardevoir in diesem großen Wald verirrt hatte. Diesen Moment der Verwundbarkeit hatte ihr Angreifer ausgenutzt. Wahrscheinlich hatte er sie schon seit längerer Zeit beobachtet und abgewartet. Er war hinter dem Gegenstand her, den sie an ihrem linken Handgelenk trug. Das wusste sie. Doch war es nicht der einzige Grund, warum er hinter ihr her war. Sie kannte den jungen Mann und ihr war klar, dass er mehr als einen Grund hatte, sie zu hassen und... zu töten.
Sie stolperte über eine Wurzel und fiel hin. Ein sengender Schmerz durchzuckte ihren rechten Arm, als sie auf ihn fiel. Sie kämpfte sich mühsam hoch. Ihre Kräfte ließen allmählich nach. Sie war verzweifelt, hatte keine Ahnung, wo sie war, ihre beste Freundin war tot und jemand war entschlossen sie umzubringen. Nur ihre Angst gab ihr die Kraft, weiter zu rennen. Auf einmal stockte sie und kam keuchend zum Stehen.
Vor sich sah sie im durch die Baumkronen fallenden Mondlicht eine riesige Gestalt. Ein glänzender, gehörnter Kopf wandte sich ihr zu. Ihr entfuhr ein Schrei. Das Pokémon hatte sie aufgespürt und rannte nun brüllend auf sie zu. Dann stoppte es abrupt. Für einen naiven, unendlich erleichternden Moment dachte sie, es würde ihr Leben verschonen, aber dann spürte sie, dass jemand ihren unverletzten Arm packte.
„Nein!“, schrie sie voller Panik, doch der Trainer ließ sie nicht los, sondern verstärkte seinen Griff um ihren Arm so heftig, dass sie das Gefühl hatte, er müsse jeden Moment mit einem hässlichen Knacken brechen. Der junge Trainer zerrte grob den Armreif von ihrem Handgelenk und stieß Jenny, als er es geschafft hatte, von sich. Sie fiel mit dem Gesicht voran auf den schlammigen Waldboden. Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen. Für einen Moment konnte sie vor Tränen und Dreck nichts mehr sehen. Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und versuchte aufzustehen, doch ihr Angreifer packte sie ein weiteres Mal, drehte sie zu sich herum und presste ihr die Arme an die Seiten, sodass sie sich nicht mehr rühren konnte und gezwungen war, ihn anzustarren, in seine Augen zu sehen, die nun weit aufgerissen waren. Aus ihnen funkelte ihr blanker Wahnsinn entgegen.
„Warum?“, schluchzte sie.
Der junge Mann lächelte. Es war kein Lächeln, welches Freude zeigte, es war kalt und schien all den Hass, den er ihr entgegenbrachte, auszudrücken.
„Du fragst mich auch noch, warum?“, zischte er. Seine Augen rollten wild in ihren Höhlen. „Du weißt sehr genau warum! Erst hast du mich verlassen! Dann hast mich verraten! Und schließlich, als hättest du mein Leben nicht schon genug ruiniert, hast du mir genommen, was mir rechtmäßig zustand! Und damit meine Trainerkarriere beinahe zerstört! Aber diesmal nicht. Nein, diesmal nicht. Diesmal habe ich mich gewehrt.“ Er lachte laut auf und Speicheltropfen flogen auf Jennys Gesicht. Ihr wurde schlecht.
„Du bist wahnsinnig!“, schleuderte sie ihm entgegen und spuckte ihm ins Gesicht. Er zuckte kurz zusammen. Dann verzerrte sich sein Gesicht zu einer furchterregenden Grimasse. „Du bist komplett durchgedreht!“
„Vielleicht“, sagte der junge Mann mit einer plötzlichen Ruhe, die Jenny mehr Angst einjagte als sein bedrohliches Zischen. „Ja, vielleicht. Aber wenn, dann ist das nicht meine Schuld! Sondern deine! Du hast das Monster erschaffen, dass sich nun gegen seine Schöpferin auflehnt!“
Jenny wurde für einen Moment schwarz vor Augen. Eine Ohrfeige weckte sie wieder. Sie lag wieder auf dem Waldboden.
„Oh nein, du wirst wach sein, wenn du dem Tod gegenübertrittst!“, schrie der Junge, den sie einst geliebt hatte. Er lachte noch einmal kurz und scharf auf. Dann nickte er seinem Pokémon stumm zu. Der Boden erbebte leicht, als Jenny es auf sich zukommen sah. Sie war vor Angst wie paralysiert. Ein gewaltiger, metallisch glänzender Arm reckte sich für einen Moment gegen das Mondlicht, dann stieß er auf die kleine, zerbrechliche Gestalt am Boden hinab. Das letzte, was Jenny sah, waren die kalten grauen Augen, wie sie wild in ihren Höhlen rotierten.
„Hilfe! Im Moor von Nevaio! Wir waren unterwegs am Aussichtshügel und dann ka–“
Ein zerknitterter, feuchter und halb abgerissener Zettel, chaotische Handschrift und mitten im Wort nur noch ein großer Strich bis zum oberen Rand gewischt. So wurde die Notiz heute Morgen im Briefkasten vom Pokémon-Center gefunden und ans Schwarze Brett gehängt. Ich bin eigentlich nur gerade auf der Durchreise zur Pokémon-Liga, aber nachdem ich feststellte, dass niemand hier etwas über die Notiz und ihre Hintergründe zu wissen scheint und wahrscheinlich auch nichts darüber wissen will, bin ich erst recht neugierig geworden. Ist dort im Moor vielleicht ein besonders starkes Pokémon aufgetaucht und treibt sein Unwesen? Das wäre das ideale Training auf meinem Weg zum möglichen Erfolg, und wer weiß, vielleicht könnte ich es sogar fangen und zähmen?
So mach ich mich nach dem Frühstück schließlich auf zur Weiterreise, nehme aber den Umweg, fernab der Straßen, über das Moor. Es ist windstill und bewölkt, noch nicht zu alter Mittag im Herbst. Die Sonne ist hinter den Wolken verschwunden, und so liegt das ganze Land im Schatten.
Je tiefer ich in die verwässerte Landschaft voranschreite, desto dichter und sichtversperrender wird der tief hängende Nebel. Meine Augen vermögen mir kaum noch zu sagen, wo ich hintrete – es ist alles weiß und trotzdem dunkel. Ich bleib stehen und wühl in meinen Taschen, um Noxana herauszuholen, damit sie mir von hier an den Weg erleuchte. Noxana ist mein treues Skelabra; ich habe sie vor knapp sieben Jahren noch als Lichtel an einem ähnlich einsamen Ort gefunden, und seit jeher erfüllt sie mir jede Dunkelheit mit ihrem kühlen, klaren und purpurnen Schein. Der Nebel weicht kampflos zurück vor ihr.
Wir folgen weiter dem menschgemachten Weg, der uns vorbei an stillen Tümpeln und durch offene Waldstücke hindurch führt. Nach geschätzt einer halben Stunde erreichen wir eine dunkelbraune Holzhütte vor einer gelbgrünen Wand. Begleitend zur Hütte steht der übliche Satz an Informationstafeln, und siehe da, wir haben den Aussichtshügel gefunden! Hier scheint jedenfalls noch nichts zu sein. Ich entscheide mich für die Besteigung des Hügels, und oben wäre es dann im doppelten Sinne des Wortes leichter, weiter zu sehen.
Ich erreiche den Gipfel und sehe eine weite, flache Fläche, dekoriert von kleinen Bäumen, und ein paar Sitzbänken. Alles auf einer Insel im weißen Nebelmeer. Was sollte hier nun sein? Es ist still. Still wie auf dem Friedhof. Ich schicke Noxana voraus, um potenzielle Illusionen aufzudecken, und eh ich mich verseh, blitzt an einem Gebüsch in der Ferne eine Gruppe von kleinen, blutroten Lichtern auf.
Ich komme näher. Und ich lerne, dieses Gebüsch, das ist gar kein Gebüsch. Vor mir steht ein… ich habe so etwas noch nie gesehen. Grün wie Efeu und schwarz wie Öl liegt dort ein mittelgroßer Haufen von ineinander verschlungenen Kreaturen. Ob sie leben oder tot sind, kann ich von hier nicht sicher sagen. Skelabras Licht in ihren Augen ist nur eine unheimliche Reflexion des Stillen. Keine Reaktion.
Ich wage mich noch näher, neben Noxana nun auch mit Daidoron, meinem starken Trikephalo, dabei. Mich führt die Neugier. Sowas würde doch in jeden Reiseführer gehören, doch steht es in keinem! Ich komme näher. Ich erkenne, dass die Kreaturen mindestens schwer verletzt sein müssen. Liegen dort noch immer regungslos im Gras und die Körper sind geschunden wo ich nur hinseh. Mehr Wunden und Narben als Haut, kann man das überhaupt sagen? Die hängenden Köpfe ebenso; deformiert zu erstaunlicher Ungleichheit, doch alle drei, die ich von dieser Seite sehen kann, sind größer als ein junges Kind. Jeder von ihnen trägt eine Krone aus veilchenvioletten Zacken, nicht unähnlich der von Daidorons Haupt. Ebenso gemeinsam haben sie die Augen, diese blutroten Augen.
Ich trete nun komplett an das Bild heran, immer noch keine Reaktion. Mittlerweile bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob es sich hier wirklich um einen Haufen von erstarrten Kreaturen handelt oder ob… oder ob dies alles ein einziges Gebilde ist. Ich fass es an. Ich schnelle sofort mit der Hand zurück. Und was ich da gerade angefasst hab, es ist warm! Und meine Hand, die ist voll mit Dreck, den ich noch nie gefühlt habe. Aber immer noch keine Reaktion. Was ist das hier?
Ich schleich mich um den Haufen, der die Größe eines mittleren Transporters hat, und begutachte ihn. Kurz bevor ich meine Runde gedreht hab, hält mich eine laute, tiefkrächzende Stimme.
„Wie ich sehe, bist Du heil angekommen!“
Was? Ich dreh mich um. Ich sehe einen Mann in einer weiten schwarzen Robe mit Kapuze, deren Schatten sein Gesicht verdeckt. Die Ärmel sind so lang, dass auch seine Hände nicht zu sehen sind. Was ich sehe, sind verwaschene und verblasste Muster auf der Kleidung, wieder efeugrün und veilchenviolett, aber nur noch andeutungsweise. Ich bin festgefroren, habe keine Worte.
„Mach Dir über mich keine Gedanken, mein Junge. Zieh Deine Waffen… UND KÄMPFE!“
Dieser halserschütternde Schrei hat ein Echo. Und von diesem Echo regt sich langsam das Biest nun hinter mir. Noxana hat besser aufgepasst als ich, sie trägt mich sofort an einen sicheren Platz ein paar zehn Meter weiter. Trikephalo entfesselt eine Finsteraura auf das Ungeheuer, und die ganze Umgebung erscheint für einen Augenblick in einem graphitgrauen Schatten mit nur den Akteuren als abgeblendete Lichtquelle. Daraufhin wieder Stille, und das ebenso fahle Tageslicht kehrt zurück. Wir warten gespannt auf den Zug der Gegenseite.
„Worauf wartest Du, mein Junge? Ihr werdet nicht immer so viel Zeit haben. GREIF AN!“
Ich versteh das nicht. Wollen wir hier überhaupt kämpfen? Ich weiche im vorsichtigen Rückwärtsschritt zurück und meine Freunde tun es mir gleich. Und das Ungeheuer… es folgt uns.
Ich wende mich ab. Ich gehe. Ich schau mich um. Abstand bleibt gleich. Ich renne. Ich schau mich um, ich stolper über eine Wurzel, ich falle. Das Ungeheuer hält gleichzeitig an. Der unheimliche Mann kommt langsam hinterher.
„Flucht ist zwecklos, mein Junge. Es ist Eure Energie, nach der es uns dürstet!“
Während ich mich wieder zurück auf meine Beine kämpfe, beginnt Daidoron, das Biest unkontrolliert anzugreifen. Ich befehle ihm, aufzuhören. Ich will ihn in seinen Pokéball zurückrufen, aber treffe ihn nicht. Derweil regnet Drachenpuls um Drachenpuls auf den Berg aus schwarzem Fleisch hernieder.
„Gut so, mein Junge, gut so. Bring all Deine Freunde, zeigt uns Eure Stärke!“
Ich nehme das Angebot nicht an, das muss doch eine Falle sein. Daidoron jedoch ignoriert mich komplett und als er feststellt, dass ich gar nicht mehr versuche, ihn einzufangen, stellt er die Fernangriffe ein und schlägt mit seinen nackten Zähnen auf das Ding ein, und immer noch ohne Gegenwehr.
Das geht so nicht! Daidoron kann doch nicht einfach so gegen mich rebellieren. Noxana allein reicht nicht; ich helfe ihr mit Flaahgor, meinem Bisaflor. Fesselt ihn mit Irrlicht und Egelsamen! Beide treffen, aber Daidoron bemerkt uns auf der Stelle und erledigt Noxana in einem düsternisgetränkten Atemzug, während ich meinen Ring an der anderen Hand berühre und Flaahgor zu seiner mächtigsten Form heranwächst. Daidoron will mir immer noch nicht gehorchen, Flaahgor harrt die nun gegen ihn gerichteten Attacken aus. Es reicht, es muss sein. Ich schicke Selene, Guardevoir, mit Zauberschein. Treffer und Absturz, Daidoron am Boden.
Ich will ihn nun einfangen, aber genau in dem Moment springt er wieder in die Luft wie als ob nichts gewesen sei. Gleichzeitig fällt mir wieder der Mann im Hintergrund auf, wie er seltsam umhertänzelt, und wie ich jetzt seine erste Hand in Richtung Himmel gestreckt und seltsame Figuren zeigend erkennen kann. Seine Haut ist irgendwie blass gelbgrün und die Fingernägel sind länger als meine eigenen Finger. Er spricht nicht mehr mit mir, er murmelt nur noch unverständliche Dinge vor sich hin. Meine verbliebenen Freunde kämpfen weiter selbstständig gegen Daidoron. Das große Biest schaut zu. Der vom Mann gesteuerte Daidoron lockt uns allerdings in eine Falle. Er zieht den Kampf bewusst zu der Kreatur hin, versucht sie als fleischlichen Schutzschild zu verwenden, und so steckt das Ding nun Treffer von allen Seiten und Mächten im Sekundentakt ein. Und ich, ich bin einfach nur überfordert.
Der Mann setzt seine Rituale fort. Es kommt soweit, dass eine Mondgewalt selbst ihn nur knapp verfehlt, und dann erkenne ich in diesem reinen Licht eine große Anspannung in seinem Körper. Er bewegt sich im Takt des Herzschlags, er atmet laut und schwer. Er bewegt nun auch den zweiten Arm. Er wühlt sich mit der Hand durch den Ärmel, bis sie vertikal nach oben gestreckt frei liegt. Auf dieser zweiten Hand steckt ebenfalls ein Ring, und er glüht. Er brennt lichterloh. Die dreiköpfige Hülle beginnt ebenfalls zu glühen, und ich ahne Böses.
Das schmerzgenährte Geschöpf schwillt an, platzt aus allen verbliebenen Häuten und sowohl der Mann als auch Daidoron gehen in ihm auf. Weglaufen können wir nicht; wir müssen gegen dieses Monster kämpfen und es besiegen – sonst werden wir Daidoron womöglich nie wieder sehen. Nur wie eigentlich sollen wir gegen etwas gewinnen, das durch erlittene Angriffe zu wachsen scheint?
Ich gebe Selene und Flaahgor eindeutige Befehle, aber vor ihrer erfolgreichen Ausführung sind beide endgültig geschlagen. So etwas fürchterlich Starkes habe ich noch nie gesehen. Ich befreie meine letzten beiden Pokémon.
Flieht!
Nachdem sie endlich den Matheunterricht hinter sich gebracht hatte, nahm sich die blasse Schülerin den düsteren Mantel, den sie auf ihr Bitten von ihrem Vater erhalten hatte und schlüpfte hinein, ehe sie sich ihre blaue Umhängetasche nahm und den stickigen Klassenraum verließ, der sich aufgrund der hohen Temperaturen und seiner Lage im Schulgebäude schnell aufgeheizt hatte. In der Ferne konnte man erkennen, wie sich schon erste Gewitterwolken bildeten und näher kamen, um Abkühlung zu versprechen. Das erleichterte die Weißhaarige sehr, als sie die Treppen bedächtig nach unten schritt, bevor sie einen Fuß auf den Schulhof setzte, der zu ihrem Missfallen voller lauter, ungestümer Schüler war, die es kaum erwarten konnten, das warme Wetter zu genießen und baden zu gehen. Sie selbst verkroch sich aufgrund ihrer Anfälligkeit für Sonnenlicht lieber im Haus ihrer Familie und schmökerte in ihren Büchern, oder schlief ein wenig, nur um abends oder teilweise auch nachts nach draußen zu gehen und in der kühleren Luft ihr Training zu vollführen, baden zu gehen oder das Zielen mit dem Bogen noch zu perfektionieren.Unbewusst anmutig schritt das Mädchen voran, während eine leichte Briese die Regenwolken mit dem Donnergrollen über die Schule schob und den nachtfarbenen Mantel ein wenig flattern ließ. Auch ihre Haare wurden von dem aufkommenden Wind erfasst und wirkten nun wie ein dichtes Schneegewirr, wie sie um den wohlgeformten Kopf mit der kleinen Stupsnase und den silberblauen Seelenspiegeln flogen. Allgemein hatte die Tochter der Agenten sehr feine, feminine Züge an sich, wohl eines der wenigen Merkmale, die ihre Mutter ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Außerdem wirkte sie durch das schwarze Kleidungsstück sehr dünn und schwächlich, was jedoch nicht der Realität entsprach, da sie durch intensives Training ihre Kräfte weiter fortgebildet hatte. Als Mica schließlich den ersten Fuß von der marmornen Treppe des Schulgebäudes setzte, hallte ein tiefes Donnergrollen über den Hof und ließ die anderen Jugendlichen zusammenfahren. Währenddessen hatte sich wie immer eine scharr von Jungen und Mädchen versammelt, die ihre weißhaarige Mitschülerin auf Schritt und Tritt verfolgten, sich jedoch kaum trauten, in deren undurchdringliche, doch klare und leicht saphirfarbenen Seelenspiegel zu schauen.Während die Stiefel der Weißhaarigen über den staubtrockenen Rasen der Schule traten, tropfte es erst leicht, dann jedoch immer stärker auf den Körper der Agententochter und durchnässte an den offenen Stellen des Mantels die dunkelblaue Schuluniform, die wohl niemandem hier so auf den Leib geschnitten saß, wie sie es bei Mica tat. Ohne die Aufmerksamkeit von der verträumten Schülerin abzuwenden, liefen die Klassenkameraden schnell unter die Dächer des Fahrradschuppens, der zu beiden Seiten des Hofes gelegen war. das nun nasse, schneefarbene Haar legte sich auf Micas Rücken und in ihrem leicht lächelnden Gesicht ab, das gen Himmel schaute, während einzelne feuchte Strähnen um ihren Kopf peitschten und Wassertröpfchen verloren.Plötzlich erfasste eine Windböe das Mädchen und ließ den Mantel, wie auch die Haare wie eine Fahne im Wind wehen, während weiteres Donnergrollen die Umgebung ängstigte, jedoch nicht sie, sodass sie, weiterhin ohne etwas zu sagen, sich von dem Schulhof entfernte und den Weg nach Hause einschlug. Dazu benutzte sie keines ihrer treuen Pokemon, den immerhin würde diesen das Wetter nicht bekommen und außerdem genoss sie die seltene Abkühlung der Luft aus vollen Zügen, wollte noch ein wenig verweilen in den Tränen des Himmels, die nun wie ein Geschenk wirkten.
Nachdem sie schließlich zuhause angekommen war, musste die Schülerin feststellen, dass es schon wieder aufgehört hatte, zu regnen, wobei ihr ein kleiner Seufzer entfuhr, als sie die Tür öffnete und sie durch die Scheune, in der sie ihre Pokemon ausruhen lassen ließ. Nachdem sie ihre Tasche in der Küche abgestellt hatte, schrieb sie eine kurze Nachicht an Aurora, dass bei ihr alles in Ordnung war, sodass diese sich keine Sorgen machen musste. Außerdem noch eine mit fast demselben Inhalt an die Agentur ihrer Eltern, sodass auch Yuki und Luze, die sich noch auf einer wichtigen Mission befanden, diese ohne Sorge um ihre Kinder in Ruhe ausführen konnten.Es war nicht das erste Mal, dass die Weißhaarige sich dazu entschieden hatte, allein in dem großen Haus zu verweilen und auf alles Acht zu geben. Immerhin musste das ja einer erledigen und andererseits wollte die Teenagerin ihrer Tante nicht auch noch zur Last fallen, da sich ja ihr kleiner Bruder in ihrer Obhut befand. Mica wusste, dass es ihren Eltern nicht gefiel, wenn sie so alleine war und jederzeit etwas passieren konnte, doch das Mädchen tröstete sie damit, dass sie nun alt genug war, um nicht mehr so leicht ein Opfer für Entführungen zu werden.Während sie mit einem leichten Lächeln an ihre Eltern dachte, zog sich das Mädchen erst die nassen Klamotten aus, die sie sorgfältig über einen Stuhl hing und wählte dann Top und kurzen Rock aus, ehe sie sich auch die Haare ein wenig nach oben band, um sich dann auf den kleinen Schemel zu setzen, der vor ihrem diesjährigen Weihnachtsgeschenk, einem Keyboard stand. Schon vor einer ganzen Weile hatte sie angefangen, Stunden zu nehmen und war auch durchaus erfolgreich, doch schon bei Auftritten im kleinen Familienkreis war das Mädchen unheimlich nervös. Trotzdem hatten ihr Luze und Yuki diesen Wunsch, wie auch viele andere erfüllt, sodass sie nun beinahe täglich die Finger über die schwarzen und weißen tasten bewegte und nebenbei sang, um sich erneut in eine harmonischere Welt zu bewegen und ihre kleine, schüchterne Seele ein wenig aufleben zu lassen. während die Weißhaarige sang, bemerkte sie manchmal gar nicht, welche Lautstärke und Kraft ihre Werke bekamen und wie sie damit das Haus erfreute, indem sie wohnte. doch diesmal war niemand da, der sie hörte, als sie die Gefühle offen zeigte, die niemand hinter der leisen Fassade erwartet hätten.
Schließlich jedoch musste die kleine Prinzessin wieder zurück in die echte Welt, als der sie sich so gerne zurückzog, wenn sie sich einsam fühlte, auch wenn viele Menschen um sie herum waren. Sie hasste es, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, mit welcher Tat auch immer. Mica würde immer schüchtern bleiben, genauso, wie naturwissenschaftliche Fächer ihr ein Graus waren. Doch jetzt musste sie sich diesen Aufgaben stellen, dachte sie bei sich und schlug das Chemiebuch auf. Diese verdammten Formeln, damit hatte die Weißhaarige schon in Mathe ihrer Probleme, wann sie welche nehmen musste, konnte, sollte. das Mädchen empfand dieses sture Einsetzen und Ausrechnen genauso schlimm, wie das Auswendiglernen in Physik und Biologie, deshalb sehnte sie die Zeit in zwei Jahren herbei, in der sie diese Fächer fast alle los sein würde. Nach einer Weile, in der die Teenagerin versucht hatte, sich Fakten zur Anomalie des Wassers einzuprägen, beließ sie es dabei und klappte ihr grünes Buch zu, das sie sorgfältig zurück in ihr kleines Bücherregal stellte. Dann ging sie herunter in die offene und kirschfarbene Küche, um sich ein Glas Limonade zu holen. Auf ein Mal machte sich ein mulmiges Gefühl im Körper der Fünfzehnjährigen breit, das sich Sekunden später bewahrheiten soll. Die Weißhaarige spürte, wie ein elektrischer Schlag durch ihren Körper fuhr, ehe sie die letzte Stufe der Treppe hinunterfiel und alles um sie herum schwarz wurde.
Zufrieden ließ der Unbekannte sein Blitza in den Pokeball zurück, während ein süffisantes Lächeln seine Lippen zierte und seine Augen amüsiert aufblitzten. Endlich hatte er etwas gefunden, mit dem er an seinen rechtmäßigen Besitz kommen würde. Niemals würden diese Beiden ihr Kind in Gefahr kommen lassen und wenn sie das Gör gesund wieder sehen wollten, würde Sie sich seine Forderungen beugen müssen, so dachte der Braunhaarige, als er das Anwesen mit seinem Köder im Arm verließ. Vorsichtig legte er die Schülerin auf den Rücksitz seines Wagens, strich sanft über die blassen Wangen des Mädchens. Auch, wenn sie hübsch war, an die Schönheit und Eleganz ihrer Mutter kam das Kind seiner Meinung nach nicht heran. Vorsichtig legte er der Kleinen Hand- und Fußfesseln an, um ihre Flucht zu verhindern, ehe er die Tür zuschlug und sich in Bewegung setzte. Schon bald würde er sein Ziel erreicht haben, bald wäre Yuki sein.
Ein gleichgültiger Nashornkäfer bahnte sich kräftigen Schrittes vor mir seinen Weg über die furchige Borke. Mit schnellen Zügen ließ ich meinen Bleistift über das Papier meines Zeichenblocks huschen, um seine Züge zu verewigen, während ich müde und ruhegebietend die Melodie eines alten, melancholischen Lieds aus meiner frühen Kindheit in den Regen summte.
Über mir trohnte die Krone der mächtigen Erle, auf deren größtem Astabzweig ich einen Unterschlupf vor den herabprasselnden Tropfen gefunden hatte. Ich liebte diesen Ort – er befand sich nahe des Dorfs meiner Geburt – riesige Felsen ragten aus dem Boden hervor, und neben einem kleinen Teich am Rande eines Gebirgspfads stand der Baum, auf dem ich schon unzählige Stunden meines Lebens verbracht hatte.
Gerade als der Käfer dabei war, mein Blickfeld zu verlassen, hörte ich etwas, das mir in dieser Gegend fast unwirklich und unpassend vorkam. Eine helle Stimme rief zu mir herauf, die eines Mädchens, das offenbar unter mir an der Erle stand. Ich beugte mich den Stamm hinunter. Sie stand auf den Wurzeln der Baums, die in den Teich hineinbrachen, scheinbar, um einen besseren Blick auf mich erhaschen zu können. Ihre Kleidung triefte vor Nässe, fast so, als hätte sie den Wetterumbruch nicht erwartet. Es kam praktisch nie vor, dass hier Menschen aufkreuzten, weswegen mich die Situation erst ein wenig übermannte, doch ich bekam Mitleid und wies ihr still die Stelle an der Rinde, an der sie am leichtesten hinaufklettern konnte.
Kaum einen Augenblick später saß sie vor mir und versuchte vergeblich, sich von der Nässe zu befreien. Sie zog ihren roten Wollpullover vom Körper und wrang ihn über dem Teich aus, was mich bemerken ließ, dass selbst ihre Bluse völlig durchnässt worden war. Plötzlich hielt sie mir ihre nasse Hand hin.
»Ich bin Halla«, sprach sie. Ein kurzes Bibbern überkam ihren Körper, bevor sie weitersprach. »Dieses Wetter, oh je. Danke, dass du mich hochgelassen hast. Ich habe gerade deine Stimme gehört, und bevor es aufhört zu regnen, kann ich ohnehin nicht nach Hause, also dachte ich, ein bisschen Gesellschaft wäre nett. Wie heißt du?«
»Helena«, antwortete ich. Das Mädchen trug blondes, offenes Haar und war vom Teint her fast so blass wie ich. Äußerlich wirkte sie nur wenige Jahre jünger, vielleicht siebzehn.
»Unsere Namen passen ja gut zusammen!«, rief sie aus, offenbar erfreut darüber, einen Anschluss gefunden zu haben. »Wurdest du auch vom Regen überrascht? Was machst du hier?«
Ich zeigte ihr wortlos mein Notizbuch und sie blätterte mit einem großen Grinsen im Gesicht darin herum. Schließlich händigte sie es mir wieder aus, und begann ihre Haare zu sortieren, während sie allerhand seltsamer Dinge erzählte.
»Du kannst super gut mit Bleistiften malen!« Ich zuckte angesichts dieser Wortwahl kurz zusammen, hatte aber keine wirklich Gelegenheit, sie zu verbessern. »Ich wünschte, das könnte ich auch.«
Dann solltest du üben, dachte ich mir.
»Mir gefällt dieser Ort«, fuhr sie dann fort, und ehe ich es mir versah, hatte sie eine Polaroid-Kamera gezückt und ein Photo von mir geschossen. Nach einer Weile konnte ich es mir ansehen. Es war ganz gut. Ein schmales Gesicht, das man einer zwanzigjährigen zuschreiben würde, war darauf zu erkennen. Ich wirkte auf diesem Bild ein bisschen weniger gelangweilt, als ich es für gewohnlich tat. Außerdem sahen meine Haare angenehmerweise völlig in Ordnung aus – der französische Zopf hatte gehalten und sie stachen deutlich hellweiß aus dem Bild hervor. Sie schien auch mit dem Bild zufrieden zu sein und ließ es geschwind in einem Album verschwinden, das dann seinen Weg zurück in ihre Tasche fand. »Manche regen sich darüber auf, wenn man einfach Bilder von ihnen macht. Du bist mir sympathisch, weil du es in Ordnung findest.«
Warum auch nicht. Ich hatte lange genug Zeit, mich an mein Gesicht zu gewöhnen. »Ich mag es, zu phrotgraphieren«, plauderte sie weiter aus dem Nähkästchen. Ich fand es recht angenehm, dass sie redete, ohne dass man sie fragen musste. Das ersparte mir Arbeit. »Ich habe mir vorgenommen, ein Bild von einer bestimmten Sache zu machen. Bis ich das geschafft habe, werde ich vermutlich immer eine Kamera mit mir herumtragen.«
Es folgte eine kurze Stille. Als ich merkte, dass sie nicht von alleine weiterreden würde, fragte ich: »Was ist das denn für eine Sache?«
Sie wirkte das erste Mal etwas schüchtern, fast verlegen. »Ein Regenbogen.«
Meine Augen funkelten auf. »Ist das dein Ernst? Es gibt keine Regenbögen! Die sind doch ein altes Märchen. Eine Sache, die Mütter ihren Kindern erzählen, wenn sie sie ins Bett bringen.«
Sie schaute meiner klaren Verneinung ihres Lebenstraums angemessen entgegnend drein. »Es gibt sie«, behauptete sie schließlich. »Ein Schwall aus Licht, der sich über den ganzen Himmel bahnt und alle Farben enthält, die es gibt! Wäre das nicht wundervoll auf einem Photo?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist Unsinn. Regenbögen existieren nicht. Wie sollte das denn gehen? Es heißt, sie würden auftauchen, wenn es regnet, während die Sonne scheint! Das funktioniert nicht! Regen kommt aus Wolken, die verbergen die Sonne. Entweder das eine oder das andere.«
Die letzten zwei Sätze betonte ich gezielt so, als würde ich mit einem kleinen Kind reden. Halla war davon nicht besonders begeistet, entschied sich aber, darauf nicht weiter einzugehen.
»Kennst du die ganze Geschichte?«, fragte sie dann. Natürlich kannte ich die ganze Geschichte. Ich entschied mich aber, ihr das nicht mitzuteilen. Entweder sie würde wollen, dass ich die Geschichte rekapituliere, oder aber sie würde sie mir erzählen. Ich habe in meinem Leben schon genug Worte gesagt, sodass ich versuchte, so sparsam wie möglich mit ihnen umzugehen.
»Weißt du, in Wahrheit ist dieses Photo nur ein Mittel zum Zweck. Einer alten Legende zu Folge kann man die Herrschaft über die Welt, oder besser gesagt, über den Planeten an sich reißen, wenn man jedes Wunder kennt, das er zu bieten hat. Es gibt nur wenige, die das glauben, und naja, man denkt halt, es wäre eine alte Geschichte, die bezwecken soll, dass man die Natur mehr wertschätzt. Aber weißt du was?«
Sie hinterließ eine kleine Kunstpause, in der das Prasseln des Regens weitaus stärker gegen meine Trommelfelle presste, als mir lieb war. Mir stieg Blut in den Kopf und mein Atem wurde etwas schwerer, aber bei Leibe nicht aus Wut.
»Ich glaube, es stimmt. Es heißt, vor hundert Jahren gab es ein Mädchen, das die Herrschaft über die Welt an sich gerissen hat, indem sie alle Wunder fand, und dann hat sie alle Regenbögen der Welt versiegelt, damit niemand ihr die Herrschaft wieder nehmen kann.«
»Kluges Kind«, warf ich ohne besondere Betoung ein.
»Naja, ich habe Bücher von ihr gelesen. Sie hat irgendwann aufgehört zu schreiben. Aber so wie sie schrieb, glaube ich nicht, dass sie die Macht behalten wollte. Ich glaube eher, sie wollte einfach selbst entscheiden, an wen sie die Macht weitergeben würde.«
Ich rutschte auf der Rinde ein wenig nach hinten, sodass sich der Baumstamm direkt an meinen Rücken schmiegte. »Du möchtest also die Weltherrschaft an dich reißen?«
Halla nickte.
»Wer sagt, dass sie überhaupt noch herrscht? Vielleicht hat sie das Amt schon weiteregegeben und es gibt einen neuen Weltherrscher.«
»Möglich … aber dann würden die Regenbögen ja zurückgekehrt sein, glaube ich jedenfalls …«
Das Mädchen schien ein bisschen verunsichert, und sie nutzte die Gelegenheit, um wegen der Kälte noch einmal ihren Körper durchzuschütteln. Es verging ein kurzer Augenblick, dann sah sie mir direkt in die Augen. Es war ein durchdringender Blick, ein Blick, vor dem ich mich nicht schützen konnte. »Ich habe lange nach dem Ort gesucht, an dem diese Herrscherin geboren wurde und endlos viele Menschen nach ihr befragt. Es hat lange gedauert, aber mittlerweile habe ich denke ich ein ziemlich gutes Bild von ihr.«
Ein Schauer jagte über meinen Rücken.
»Ihr Name war übrigens Helena. Hübscher Name, findest du nicht?«
Einen Augenblick lang fühlten sich meine Glieder an wie Steine. Nichts von dem, was sie sagte, hatte mich wirklich geschockt oder verunsichert, doch sie traf mich gänzlich unerwartet in einer Umgebung, die mir vertraut war und in der ich mich sicher fühlte. Ich wünschte mir, ich wäre in diesem Moment souveräner aufgetreten, doch so war ich diesem jungen Wesen völlig ausgeliefert, und ich denke, sie war sich dessen absolut bewusst. Ich konnte kaum glauben, wie sehr diese Halla, die mit Ehrgeiz, Naivität und grenzenloser Habgier versuchte, einem irren Ziel nachzujagen, mich an mich selbst erinnerte, auch wenn ich alle diese Züge schon lange abgelegt hatte.
Eine Weile blickte ich ins rauschende Blätterdach und tat nichts. Ich wartete einfach darauf, dass die Zeit verging, hatte keinen Antrieb, etwas zu tun oder zu sagen. Doch noch immer spürte ich Hallas Blick auf mir heften, der ein Gefühl in mir entfachte, das ich schon lange nicht mehr verspürt hatte. Dieses Gefühl war Interesse.
»Also, meine Liebe, wie sieht es aus? Hast du dich entschieden? Darf ich einen Regenbogen sehen?«
Sie hielt spielerisch ihre Kamera vor ihre Brust und legte ein selbstsicheres Lächeln auf. Es fiel mir nicht schwer, dieses Lächeln zu erwidern.
»… Vielleicht.«
„Hey, Patrik –“
„Sch!“, unterbrach ich meinen besten Freund, Manuel, der mich nur fragend ansah. Einen Augenblick wagte ich es nicht, zu atmen, dann vernahm ich wieder die lieblichen Klänge ihrer Stimme. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht und blieb dort, bis mir einfiel, dass Manuel noch nie viel von Musik gehalten hatte und niemals verstehen würde, was ich so faszinierend fand an dieser Stimme.
„Wer ist das?“, fragte er nun flüsternd. Vielleicht hatte ich mich ja geirrt, aber ich meinte, ein klein wenig Neugierde in dieser Frage zu hören. Doch leider konnte ich sie ihm nicht beantworten.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte ich so leise und so schnell ich konnte zurück, um ja keinen Ton des Liedes zu verpassen. Ich stand schon eine ganze Weil hier auf dem kalten, kahlen Flur vor der angelehnten Tür und lauschte ihrer Stimme. Sie sang immer das gleiche. Eine Melodie, so melancholisch und so gefühlvoll, dass ich mich nicht von ihr lösen konnte. Dann machte das Mädchen im Inneren des Raumes eine Pause. Es war die dritte, seit ich begonnen hatte, ihr zuzuhören. Eigentlich wollte ich nur meinen Füller holen, den ich in der Musikstunde hier vergessen hatte, aber sobald sie zu singen begann, war alles andere unwichtig.
„Lass uns doch reingehen“, sagte Manuel in dem Augenblick, in dem sie gerade für eine neue Runde ansetzte; das spürte ich. Wütend funkelte ich meinen Freund an, als er Anstalten machte, die Tür zu öffnen. Auf keinen Fall würde ich jetzt da rein gehen. Ich konnte sie doch nicht unterbrechen!
Stille.
Einen entsetzlichen Augenblick hielt ich die Luft an. Würde sie nun raus kommen und uns erwischen, wie wir vor der Tür standen?
„I’m still waiting for the day“, drang es kurz darauf durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Erleichtert atmete ich wieder aus. Sie hatte ihn nicht gehört.
Die erste Strophe über standen Manuel und ich wieder stumm vor dem hintersten der Musikräume. Der anbrechende Winter zog alle Wärme aus diesem heizungslosen Flur, aber ihre Stimme schien das nicht zu beeindrucken. Sie füllte den Raum mit einem Gefühl aus tiefster Seele, das so kalt hätte sein müssen und doch so warm dahin floss. Es fühlte sich an wie eine Sehnsucht, die als Sirup an den Fingern kleben blieb. Da interessierte es mich doch nicht, dass ich meine Zehen schon fast nicht mehr spürte.
Manchmal bildete ich mir ein, die Töne zu sehen, wie sie dem Lichtstrahl folgten, der sich in den Flur ergoss. In diesem Abschnitt gab es keine eigenen Lampen, da sich normalerweise niemand hier lange aufhielt; vor allem nicht, wenn kein Sonnenlicht durch die alten Fenster schien. Doch draußen wurde es dunkel und je dunkler es war, desto besser konnte man lauschen. Und sich vorstellen, wie die Töne um einen herum schwebten.
„Du hast nur Angst.“ Manuels Stimme drang während des zweiten Refrains wie ein Schnitt an meine Ohren. Er verstand es doch nicht. Ich würdigte ihm keines Blickes, während die Sängerin zu dem Teil des Liedes überging, der voller Zweifel steckte. Schon beim ersten Mal hatte mich auch der Text fasziniert und mit jedem Durchlauf verstand ich etwas mehr. „Will there be that someday, will there be that time?“ Eine Textzeile, die mir jedes Mal einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Und mit jedem Mal nagten auch an mir immer größere Zweifel, ob das „Irgendwann“, wenn alles besser werden soll, tatsächlich einmal kommen würde.
„Du willst doch wissen, wer sie ist; warum gehst du dann nicht rein?“, fragte Manuel, glücklicherweise immer noch mit gesenkter Stimme, als aus dem Inneren des Musikraumes das Klavier erklang. Das Stück hatte ein Zwischenspiel, das jedes Mal ein kleines bisschen anders klang. Scheinbar konnte sie es noch nicht so gut. Aber auch im Tastenspiel fand sich diese Hingabe, diese Leidenschaft und Sehnsucht, die in jedem einzelnen Ton des Liedes schwang.
„Ich will sie nicht unterbrechen, klar?“, zischte ich ihn an. „Sie singt viel zu schön!“
„Wie lange stehst du denn schon hier?“, konterte er. „Lange genug, um das Stück zehnmal gehört zu haben. Jetzt solltest du endlich herausfinden, wer da drinnen steht, bevor sie uns vor der Tür bemerkt und für durchgeknallte Stalker hält!“
Eindringlich sah er mich an, doch ich antwortete nicht. Denn jetzt, direkt nach dem Zwischenspiel kam meine Lieblingsstelle. Sie war wie ein Hilferuf, der mich umschlang und ein Stückchen näher an die Tür zog. Und wie ich da so stand, gebannt von den Worten und von der Musik, musste ich daran denken, dass Manuel vermutlich recht hatte. Wahrscheinlich hatte ich einfach Angst hinein zu gehen. Aber nicht, weil ich dann einem irgendeinem Mädchen gegenüber stand, sondern weil ich dann dem Mädchen gegenüber stand, das diese Worte sang, als würde es sich nichts sehnlicher wünschen, als dass jemand sie hört. Doch was würde passieren, wenn dem so wäre? Wie würde sie auf Zuhörer reagieren? Ich hatte Angst, diesem Mädchen in die Augen zu sehen.
„I’m still waiting for the day …“
Das Stück endete, wie es begonnen hatte. Aber es klang nicht nach einem Ende. Es klang nach einem Ausruf voller Verlangen, dass der Tag, der alles ändern würde, endlich kommen sollte. Aber er kam nicht. Und deshalb sang sie immer weiter. Wie sehr ich mir für sie wünschte, dass der Tag kommen würde. Ich wollte mir nicht vorstellen müssen, dass sie ein Leben lang auf diesen Tag wartete. So sehr ich mir auch wünschte, dieser Augenblick würde nie vergehen und sie würde ewig weiter singen, so sehr hoffte ich auch, dass sie es irgendwann nicht mehr musste, weil es keinen Grund mehr dafür gab. Irgendwann …
Doch dieses Mal schien die Pause länger als sonst. Dann hörte ich etwas rascheln. Sie nahm ihren Mantel.
„Mist!“, dachte ich und überlegte fieberhaft, wie wir nicht als durchgeknallte Stalker dastehen könnten. So schnell es ging abhauen?
Zu meinem großen Glück, war Manuel nicht so ergriffen von dem Lied gewesen, sodass er schneller reagieren konnte als ich. Er öffnete die Tür.
Viel zu hell schien das Licht der Deckenleuchte auf uns hinab und ich brauchte einen Moment, um mich an alles zu gewöhnen. An die Helligkeit. An die Wärme. Und an die Stille.
„Hallo Nala“, sagte Manuel fröhlich, ehe ich vollkommen in dem Raum angekommen war und das Mädchen überhaupt gesehen hatte. Und dann endlich konnte ich wieder etwas erkennen. Da stand sie, die sie so unglaublich gesungen hatte, direkt vor mir, neben einem der Tische. Den Mantel hatte sie schon angezogen und legte gerade den Schal um ihren Hals und die langen, braunen Haare.
„Hallo“, erwiderte Nala deutlich zurückhaltender. Ich versuchte mir vorzustellen, wie dieses schüchterne Mädchen diese Stimme beherbergen konnte, und scheiterte kläglich. „L-lasst euch nicht aufhalten. Ich wollte sowieso gerade gehen.“
„Ach, schon gut.“ Ich verstand nicht, wie Manuel dieses Gespräch so leicht fiel. Ich selbst schien gar nicht da zu sein, bis Nalas Blick auf mir ruhte. Ein Blick, voll tiefer Wärme.
„Wir sehen uns dann ja morgen“, sagte sie und schenkte mir ein kurzes Lächeln; und in dieser Sekunde war es nicht mehr schwer, mir vorzustellen, dass sie dieses Lied sang. Ein Lied voller Traurigkeit und Sehnsucht, dessen Noten noch immer in der Luft zu schwingen und den gesamten Raum mit der Wärme ihrer Augen zu erfüllen schienen.
Sie wandte sich zum Gehen und war schon in der Tür, kurz vor der Stelle, an der ich die ganze Zeit gestanden und zugehört hatte, als Manuels Stimme noch einmal die Stille durchbrach: „Ein sehr schönes Lied.“
Was mache ich hier draußen eigentlich?
Man hat mir immer gesagt, dass es nachts gefährlich sei. Und trotzdem befinde ich mich nun außerhalb unseres Reviers am Waldrand. Allein. Bei anbrechender Dunkelheit. Aber wen würde es schon kümmern? Niemand würde nach mir suchen. Ganz bestimmt.
Angelehnt an einen Baum denke ich nach, schließe meine Augen. Auf einmal vernehme ich leises Flügelschlagen. Panisch suche ich nach dem Auslöser, finde aber nur ein Vivillon vor, das auf mich zusteuert. Noch dazu eines dieser violetten, die gibt's ja wie Blätter im Wald!
"Was willst du? Verzieh dich!", fauche ich es bestimmt an, so gut es mir eben in meiner Verfassung möglich ist. Zu meinem Erstaunen lässt es sich davon aber nicht beirren. Es traut sich sogar noch weiter zu mir!
"Aber, was ist denn das für ein Ton, den ein Psiau da an den Tag legt?", meint dieses tadelnd, stets darauf bedacht, ein fröhliches Gesicht zu machen. Mir wird gleich schlecht, wenn ich das weiter so sehen muss.
"Ich mein's ernst!" Mit diesen Worten springe ich auf, zücke angriffslustig die Krallen und versuche, trotz meiner ohnehin schon kleinen Statur, bedrohlich zu wirken. Das Vivillon scheint aber nicht beeindruckt zu sein. Warum auch.
Demotiviert lasse ich von der Anspannung ab und mich wieder ins Gras fallen. Was hat das alles auch für einen Sinn? Es hat mir ja nicht mal was getan und so ist mein Verhalten absolut grundlos.
Keine Ahnung, wie lange ich so schon gelegen bin, aber ich höre nach wie vor das beständige Flügelschlagen in meinen Ohren. Langsam frage ich mich doch, ob dieses Vivillon etwas von mir möchte.
Ich richte mich also auf, nur um in ein besorgtes Gesicht zu blicken. Kann das überhaupt sein? Normalerweise sehe ich diese Falter immer so vergnügt und jetzt ...
"Kann ich ... wie geht es dir?", meint dieses darauf zögernd, den Kopf leicht gesenkt.
Na toll, jetzt hab ich auch noch so jemanden am Hals. Ich verdrehe die Augen.
"Wie soll es mir schon gehen? Es geht einfach."
"Darf ich fragen, wie du heißt?"
"Was verdammt noch mal ist eigentlich dein Problem?", fahre ich entrüstet und mit erhobener Stimme hoch, sodass sich mein Gegenüber - oder eher Obenüber - erschreckt und etwas zurückweicht.
Verdammt, das wollte ich nicht erreichen! Ich suche Blickkontakt mit dem Untergrund, um nicht in sein Gesicht zu sehen.
"Tut mir leid. Ich heiße Izem."
"Ein schöner Name! Aber ... wie ein Löwe siehst du mir allerdings nicht aus", meint daraufhin das Vivillon mit schiefgelegtem Kopf. Abermals fauche ich.
"Meine Eltern wollten, dass ich stark wie ein Pyroleo werde, deswegen der Name. Aber daraus wird wohl nichts mehr, so wie es aktuell steht."
"Warum das?"
Innerlich fluche ich über mich selbst. Warum muss ich auch immer zu den falschen Zeitpunkten mit Informationen herausrücken? Noch dazu mit etwas so Persönlichem!
Damit zurechtkommend, dass ich mich wohl oder übel nicht mehr aus der Situation befreien kann, seufze ich kurz auf. Irgendwie ...
"Es ist nichts", sage ich leise resignierend und drehe mich von dem Falter weg. Ich will nichts mit ihm zu tun haben.
Auch wenn ich meinen Blick abwende, so kann ich doch noch hören. Wahrnehmen, wie dieses Vivillon weiter mit seinen Flügeln schlägt und langsam näher kommt. Es hat einen beruhigenden Klang.
"Izem." Es spricht meinen Namen mit solch einer Warmherzigkeit aus, obwohl ich so gemein gewesen bin. "Liegt dir etwas auf dem Herzen, das du loswerden möchtest?"
Warum möchte es mir helfen? Wir kennen uns doch nicht und wer weiß, ob wir uns nach diesem Tag je wieder sehen werden! Aber ... warum fühle ich mich dann so entspannt? Soll ich ...
Ich seufze noch einmal.
"Es ist so", beginne ich nun, drehe mich wieder zu ihm hin und sehe ihm in die Augen, "Man akzeptiert mich in meinem Clan nicht. Zumindest nehme ich das an. Niemand will etwas mit mir zu tun haben und stattdessen werde ich als Einzelgänger abgestempelt. Izem, der einsame Löwe. Heute überkam es mich und ich suchte einfach das Weite." Ich setze kurz ab und schlucke, um Tränen zu unterdrücken. "Weit weg von diesen Idioten."
"Verstehe." Vivillon reagiert eher verhalten und scheint wohl zu überlegen, was es sagen soll. "Und das ist alles?"
"Wie, ob das alles ist? Ist das etwa nicht genug?!" Ungewollt erhebe ich wieder meine Stimme, nur um dafür Unverständnis zu ernten.
"Doch, du hast recht", meint der Falter daraufhin ruhig, "aber so, wie sich das anhört, versuchst du selbst nicht einmal, mit anderen zu kommunizieren. Du wartest nur darauf, dass andere auf dich zukommen."
"Aber das stimmt doch gar nicht!" Mittlerweile schreie ich schon, was mich selbst überrascht, da ich normal eher ruhig bin.
"Bist du dir sicher?"
Ich stocke und denke nach. In diesem Moment wird mir allerdings erst bewusst, wie recht dieses Vivillon doch mit seiner Meinung hat.
Ich sehe beschämt zu Boden. Warum ist mir das nie aufgefallen? War ich etwa geblendet in meinem Stolz, den ich durch den Namen bekommen habe? Ist mir das alles zu Kopf gestiegen?
Mit der Erkenntnis kommen die Tränen und ich kann nicht mehr anders. Ich lasse sie einfach gewähren, mich überwältigen und einnehmen, um die Trauer auszuspülen. Hass steigt plötzlich in meinem Inneren auf. Hass auf mich, dass ich nicht schon eher daran gedacht und einfach alles für selbstverständlich hingenommen habe.
"Es ist gut, lass alles raus", sagt Vivillon sanft und flattert an meine Seite.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Als ich mich beruhigt habe, war es bereits dunkel, während der große Mond sich ins Firmament erhob. Zurück bleiben nur dieses Vivillon, das sich die ganze Zeit über nicht wegbewegt hat, und ich. Ruhiger als zuvor.
"Wie geht es dir?", fragt es interessiert.
Ich muss nicht lange überlegen. "Besser. Und ... danke." Ein Blick in seine Augen verrät mir, dass es mit der Antwort wohl zufrieden ist und wieder zu einem Lächeln ansetzt.
"Das freut mich!", antwortet es lachend. "Sag, jetzt, wo dir leichter ist, möchtest du eben mit mir mitkommen?"
Die Reaktion verwundert mich, aber ich bin ihm ohnehin etwas für seine Hilfsbereitschaft schuldig. Meine Neugierde für das Ungewisse siegt wieder einmal.
"Ja, gerne!"
Ohne ein weiteres Wort fliegt Vivillon los und durch die junge Nacht, geführt vom Licht der Sterne und stets darauf bedacht, dass ich ihm folgen kann. Ich laufe, laufe immer weiter über die vielen Gräser, um zu sehen, was es mir wohl zeigen möchte. In dieser Zeit kommt in mir ein merkwürdiges Gefühl hoch und ich frage mich, warum ich mich ihm überhaupt anvertraut habe? War es vielleicht das, was ich so gern wollte; Aufmerksamkeit und Verständnis?
"Wir sind da!"
Von einer kleinen Erhebung können wir einen relativ großen See überschauen; ein Rundumblick kann ihn kaum erfassen. Ich trete ein paar Schritte vor und suche alles ab. Was will mir dieses Vivillon wohl zeigen?
Auf einmal sehe ich ein Licht aufleuchten. Es fliegt zur Mitte des Sees hin. Plötzlich taucht noch ein Licht auf! Und noch zwei und noch mehr! Innerhalb kurzer Zeit ist der See erfüllt von einem merkwürdigen Lichterspiel; sie tanzen in der Luft und scheinen Muster in den Himmel zu malen. Als ich einen genauen Blick auf das Geschehen werfe, bemerke ich, dass sich zwischen diesen Gestalten noch weitere befinden und ebenfalls Formen beschreiben.
"Sind das etwa ...?", beginne ich mit offenem Mund, will die Antwort aber nicht aussprechen, die mir gedämmert hat.
"Volbeat, ja", beendet Vivillon meinen Satz und lacht daraufhin. "Meine Schwestern haben mir erzählt, dass heute wohl ein geeigneter Abend dafür wäre und ich wollte dir das zeigen, weil es zu deiner Situation passt." Ich blicke es verwundert an. "Auch wenn es so wirkt, als würden alle Volbeat um Illumise werben, so gibt es auch welche, die sich nicht trauen und eher abseits tanzen, in der Hoffnung, sie werden entdeckt. Unter diesen gar Millionen Lichtern fallen sie jedoch nicht auf und so müssen sie sich unter die anderen mischen und sich bemühen, gesehen zu werden."
"Das wusste ich gar nicht", gebe ich erstaunt zu und ernte dafür einen freundlichen Blick.
"Du siehst, du bist also nicht allein auf dieser Welt und auch, wenn du jetzt vielleicht noch nicht so stark leuchtest wie andere, so wird dich irgendwann jemand entdecken und dich als weiteren Stern akzeptieren."
"Millionen Lichter", hauche ich noch einmal. "Wie du und ich?"
"Exakt! Mir ging es im Übrigen auch einmal so wie dir und da wollte ich dir ebenfalls helfen, so wie mir geholfen wurde."
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht und es fällt mir schwer, die Situation zu verstehen. War es etwa das allein, was dieses Vivillon wollte oder möchte es vielleicht noch mehr erreichen? Da fällt mir ein ...
"Wie lautet dein Name? Du hast ihn mir bis jetzt nicht verraten."
Vivillon scheint kaum überrascht, richtet seinen Blick aber wieder auf den Lichtertanz.
"Tamrat", sagt es dabei leise. "Ich heiße Tamrat."
Wunder. Was für eine schöne Bedeutung; ob es sich dessen wohl bewusst ist?
Ein plötzliches Lachen bestätigt meine Annahme und ich stimme freudig mit ein.
„Heute Nacht wird es stürmen“, meinte Gerald mit prüfendem Blick auf das offene Meer. Vom Horizont zogen Gewitterwolken auf, die sich ohne Zweifel in den nächsten Stunden an der Küste entladen würden. „Findest du nicht auch, Hammel?“ Der Fischer sah zu seinem Hund, der zu Füßen seines Herrn prüfend den Sand beschnupperte. „Dass du mir nicht wieder von einem Krebs in die Schnauze gezwickt wirst!“ Gerald schnalzte, zupfte an Schimmels Zügeln, und das gutmütige Maultier folgte gehorsam, den Karren mit Treibholz mit sich ziehend. Noch hatte Gerald an diesem Tag eine eher beklagenswerte Ausbeute gehabt, doch er würde diese Nacht jedes bisschen Brennmaterial brauchen, wenn der Ozean seinen Zorn gegen das kleine Fischerdorf warf, an dessen Rand er lebte.
Hammel war vorausgelaufen, um den von kaltem Herbstabendlicht bedachten Strand nach Tang und verendeten Fischen abzusuchen, die die Ebbe auf dem Sand zurückließ. Jetzt bellte der große, schwarze Wasserhund seinem Herrn zu, sprang dabei immer wieder übermütig zu ihm und zurück zu seinem Fundstück. „Was ist denn, mein alter Freund?“, fragte Gerald. Der Hund ließ keine Ruhe. Der Fischer seufzte und hielt Schimmel an, noch etwas schneller zu laufen. Auch für Gerald selbst war das kein einfacher Weg. Auch wenn er nur wenig mehr als dreißig Lenze zählte, fühlte er sich gut ein Dutzend Jahre älter. Wie viel gäbe er um die Lebenslust seines Hundes!
Seine Knochen und müden Gelenke schmerzten, als er und das Maultier bei Hammel ankamen. Dieser hatte etwas entdeckt, das Gerald erst für einen grauen hässlichen Findling abtun wollte. Als seine alten Augen jedoch genau hinschauten, offenbarte sich ihm die wahre Natur des Gegenstandes, der zur Hälfte in der Brandung lag: Eine riesige Muschel, im Umfang bestimmt so groß wie ein Wagenrad! Gerald ließ Schimmel stehen und hinkte näher ans Wasser, besah sich das Schalentier genauer. „Schaut wie eine Auster aus“, sagte er zu Hammel, der begonnen hatte, das Ding zu beschnuppern. „Und in Austern findet man Perlen!“ Bei dem Gedanken an die Gemme, die dieser Gigant in sich bergen musste, leckte sich Gerald die Lippen. Welch ein Vermögen das sein musste!
Mit größter Kraftanstrengung hievte der Fischer die Muschel aus dem Wasser und zog sie auf den Strand. Mit bloßer Hand ließen sich die beiden gefurchten Schalen nicht auseinanderschieben. Also holte er aus dem Karren seine Axt, die er stets mit sich führte, um Treibholz, das zu schwer zum Anheben war, in handlichere Teile zu hacken. Mit jahrelang geübter Genauigkeit hieb er das Beil in die haarfeine Spalte zwischen den Schalen und hebelte die obere aus ihrer Angel. Hammel beobachtete ihn interessiert dabei.
Endlich schaffte es Gerald, die Auster zu öffnen. Herr und Hund blickten zusammen hinein, doch nur der Fischer wurde beim Anblick des Inhalts von grausamen Erinnerungen heimgesucht: Das Bild seiner kleinen Tochter, dahingerafft vom Fieber in einer einzigen Nacht, und seine geliebte Frau, die ihr Leben daraufhin dem Meer überantwortet hatte. Jahre waren die beiden schon fort, doch ihre toten, bleichen Körper wollten nicht aus Geralds Erinnerung verblassen.
In der Muschel lag ein junges Mädchen, kaum vier Jahre alt, zusammengerollt wie ein schlafendes Entenküken. Ihre Haut war so weiß wie das glanzlose Perlmutt an der Innenseite der Austernschalen. Glücklicherweise hatte die Axt sie nicht verletzt, dennoch regte sie sich nicht. Zitternd beugte Gerald sich zu ihr hinab und legte eine Hand auf die eiskalte Schulter, prüfte ihren Atem.
„Sie lebt noch!“, rief er so unvermittelt, dass Hammel zusammenfuhr. Eilig zog Gerald den verschlissenen Mantel aus, der ihn bislang vor dem scharfen Seewind geschützt hatte, und wickelte das Mädchen in den wärmenden Stoff.Er durfte nicht zulassen, dass auch sie noch starb!Die Muschel, das Treibholz und seine eigenen körperlichen Gebrechen vergaß Gerald, als er die Kleine höchstselbst zu seiner Hütte am Dorfrand trug, dicht gefolgt von Hammel und Schimmel.
„Bin froh, dass es dir besser geht“, sagte Gerald zu dem Mädchen, das ihn mit wachen Augen musterte. Nichts hatte sie gesagt, seit sie erwacht war, saß nur da und streichelte Hammel und Lümmel, den faulen Kater. Am Kaminfeuer und durch Hund und Katz war sie schnell aufgetaut, bis sie schließlich diese wunderschönen Augen geöffnet hatte, die grau waren wie die sturmumtoste See. „Dabei könnte ich schwören, dass sie vorher fast blau waren.“
Draußen tobte das Unwetter, heulten Sturmgeister und tanzte der Regen einen wilden Reigen gegen Dach und Wände. Normalerweise drückte ein solcher Wind immer den Rauch durch Schornstein und Kamin in Geralds Stube, doch heute schien er dem Fischer wohler gesonnen zu sein. In seiner Hütte roch es nach Salz, Algen und frischem Fisch, ganz so wie das Meer an einem sonnigen Tag, wenn die Netze jedes Mal gut gefüllt in die Fischerboote eingeholt wurden. Gerald nickte zufrieden. „Ein schöner Duft.“
Plötzlich hob der Hund den Kopf und hechtete zur Tür, um zu infernalischem Bellen anzuheben. Lümmel schrak auf und verschwand in Windeseile unter dem nächstbesten Möbelstück. Auch das Mädchen rollte sich in Geralds Mantel zusammen, bis es wieder so wenig Raum einnahm wie zuvor in der Auster. Sie zitterte am ganzen Körper, und aus ihrem Gesicht sprach blanke Angst.
„Was ist denn nur los?“, wollte Gerald wissen und sich erst um das Mädchen kümmern, es trösten; doch hielt er Hammel für die Quelle ihrer Angst. So ging er zu dem Hund rüber und zog ihn am Halsband von der Tür weg. „Ruhig, du dummer Köter!“ Der barsche Befehl seines Herrn ließ Hammel endlich verstummen,der zum Kamin zurücktrottete, um sich vor die kleine Besucherin zu legen und knurrend zum Eingang zu blicken.Es klopfte, und Gerald, der niemandem wünschte, bei diesem Sturmgewitter draußen herumzulaufen, öffnete, um den armen Tropf und tausende Tropfen hereinzulassen.
Vor dem Fischer stand ein baumgroßer Mann in lederner Reiterkluft, der sich zum Schutz gegen das himmlische Wasser in ein Öltuch gehüllt hatte.Trotz des Unwetters machte er keine Anstalten einzutreten. „Man hat mir gesagt, du hast in deinem Haus ein kleines Mädchen aufgenommen“, sagte der Fremde ohne jede Begrüßung. Er schielte an Gerald vorbei und entdeckte das Kind. „Ich habe Anweisung, es mitzunehmen.“
Gerald drehte sich zu seinem Gast um; das Mädchen sah den Reiter mit schreckgeweiteten Augen an und schüttelte widerwillig den Kopf. „Tut mir leid, aber ich glaube, sie will nicht mit Euch gehen“, erwiderte Gerald.
„Was du glaubst, steht nicht zur Diskussion, Fischer“, spuckte der Fremde und drängte den Älteren beiseite, ging auf das Mädchen zu.
Gerald stolperte rückwärts und fing sich knapp, bevor er hinfiel. Der Mann hatte die Kleine, der der Mantel runtergefallen war, am Arm gepackt, zerrte sie gnadenlos zurück zur Tür. Dabei schrie seine Gefangene aus Leibeskräften gegen seine überlegene Kraft, den raschenden Regen und den pfeifenden Wind an. „Lasst sie los!“, verlangte Gerald und versuchte, das Mädchen zu befreien, doch der Reiter schubste ihn nur von sich, sodass der Fischer nun doch schmerzhaft zu Boden stürzte. Hammel tobte wie ein Höllenhund, doch getraute sich nicht, den brutalen Fremden anzugreifen. „Lasst sie los, sie will nicht mit Euch gehen!“
„Mach dir keine Sorgen, alter Mann“, meinte der Fremde fast versöhnlichen Tonfalls. Dabei versuchte er, das verzweifelt um sich schlagende Mädchen vor sich her aus der Hütte zu schieben. „Sie wird schon eine Weile vermisst, und ihre Eltern haben mich damit beauftragt, sie zu finden.“ Jetzt packte er das Kind so grob an beiden Oberarmen, dass es vor Schmerz kreischte. „Deine Maman und dein Papa warten auf dich“, sagte er hart und trug die Kleine in die nächtliche Finsternis und den strömenden Regen.
Dagegen konnte Gerald, der ächzend aufstand, nichts einwenden. Er wusste selbst, wie furchtbar es war, seine Tochter zu verlieren. Wie schrecklich, wenn einem das Liebste im Leben genommen wurde.
Gerald erhaschte über die breiten Schultern des Reiters einen Blick auf das blasse Gesicht des Mädchens, das flehentlich zu ihm herübersah.
Für einen Moment war dieses Gesicht das Einzige, das Gerald wahrnahm. Das Nächste war seine Treibholzaxt, die normalerweise bei der Schaufel neben der Eingangstür an der Wand lehnte, doch jetzt plötzlich in seinen Händen ruhte. Entschlossenen Schrittes folgte er dem Fremden, packte den Stiel des Beils fester und schwang es mit aller Kraft.
Triefend nass und müde kehrte Gerald zurück. Der Sintflutregen hatte das Blut vor seiner Tür und von seiner Kleidung abgewaschen, auch Schaufel und Axt waren wieder rein. Ins Warme eintretend, stellte Gerald das mörderische Werkzeug und die Pechlaterne neben der Tür ab und schleppte sich zum Kamin. Er schlotterte vor Kälte und der Gräueltat, die er vollbracht hatte, barg das Gesicht in den Händen und weinte. Das Treibholzfeuer schaffte es nicht, seine steifen Glieder aufzulockern.
Das Mädchen, das wieder bei Hammel und Lümmel gesessen hatte, kam zu ihm und schlang die dünnen Arme um seinen Hals. Ein leises Lächeln auf den Lippen, streichelte Gerald ihr das zottige, braunalgengelbe Haar. „Niemand darf dich mir wegnehmen“, sagte er mit grimmigem Zorn. Sie küsste ihn auf die stoppelige Wange, und Gerald erfüllte die sanfte Wärme eines perlweißen Sandstrandes, vergoldet vom Scheinder Sommersonne neben einem azurblauen Meer.
(Fandom: Attack on Titan / Shingeki no Kyojin)
Der Rauch brennt in den Atemwegen, sammelt sich in der Kehle und explodiert dort mit aller Macht, sodass das Atmen für einen viel zu langen Moment stillsteht. Obwohl alles im Begriff zu Fallen ist, steht nichts in der Umgebung.
Die Schreie klingen wie die von wilden Tieren. In die Ecken der verwinkelten Stadt getrieben, fauchen, beißen und schlagen die Menschen um sich – in der verzweifelten Hoffnung, ihren Angreifern zu entkommen. Doch die Jäger sind überall. Doch im Gegensatz zu anderen Jägern der Natur wie Löwen oder Wölfen, verstecken sie sich nicht; nicht einmal der pure Versuch, sich unbemerkt an ihre Beute heranzuschleichen ist nötig. Ihre Macht ist viel subtiler als Krallen und Fänge.
Ihre Beute war nicht auf sie vorbereitet.
Wie ein Schwarm böswilliger Hornissen fallen sie über die Stadt hinter der Mauer her. Weitaus größer als die Gattung der Menschen sind sie, mit ausdruckslosen Mienen ohne Merkmale und regelrecht miteinander austauschbar. Unter ihren Füßen zermalmen sie das Leben.
Was zurückbleibt, sind zertretene Blüten ohne einen Namen.
Die Titanen überrennen die Mauer ohne Halt. Was bis vor ein paar Minuten noch der Schutz der restlichen Menschheit war, ist nun nur noch ein Tor für den Tod. Und der Tod ist blutig, grausam und alles andere als schnell. Das Blut sammelt sich, fällt auf die Erde hinab wie Regen. Doch es ist nicht genug.
Es wird nie genug Blut fließen, um die Titanen zufrieden zu stellen.
Sie flehen, schreien, betteln um das kostbare Leben. Doch es reicht nicht, um nur einen der Riesen zum Innehalten zu bewegen. Ohne Rücksicht reißen sie die Menschen auseinander, lassen sie lebendig in ihre gewaltigen Münder fallen und werfen sie gegen die Hauswände, gerade einmal nur halb so hoch wie sie es sind. Die Gefühle wie Rücksicht oder Angst sind ihnen fremd. Oftmals werden sie als nichts Besseres als Tiere bezeichnet.
Doch sie haben ebenso viel mit diesen gemein wie Menschen mit Pflanzen.
Tiere folgen Instinkten, sie töten, um zu überleben. Titanen töten und fressen nur des Vergnügens Willen.
Keiner der Menschen kämpft.
Auf den teilweise zerstörten Dächern der Stadt stehen die Beschützer. Doch auch sie sehen mittlerweile hilflos zu Boden, beobachten passiv den Untergang der menschlichen Rasse. Ihre Waffen sind nutzlos, aufgebraucht wie ihr einstiger Mut. Bereits nach nur wenigen Minuten, einer Handvoll von Sandkörnern der Zeit, sind die Hälfte ihrer Kameraden und Kameradinnen den Titanen zum Opfer gefallen. Als sie versuchten, diese aus den Fängen des Feindes zu retten, starben auch einige von ihnen an dieser Torheit; die, die es mit Not schafften zu überleben, konnten nur tatenlos dastehen. Mit einer verzweifelten Hilflosigkeit mussten sie den Tod ihrer Freunde miterleben.
Dieser Kampf, dass ist ihnen bewusst, war schon in dem Augenblick entschieden, als der mächtige Titan das Loch in die Mauer riss und die Feinde in die Sicherheit eindrangen. Und der Mut ist schon lange der Angst, bodenlos wie ein Schacht, gewichen.
Niemand, so begreifen sie, wird ihnen beistehen.
Niemand wird sich ihrer erinnern.
Niemand wird ihre Schreie hören, erkennen und zu Hilfe eilen, wenn die Titanen mit ihren Leben spielen wie eine Katze mit der bereits halb toten Maus.
Aus der einstigen Sicherheit wurde ein aussichtsloses Gefängnis.
Sie sind gefangen im Käfig, mit gestutzten Flügeln dem Untergang geweiht.
Ein junger Soldat jedoch kämpfte weiter, kämpfte, bis das Blut der ihn zum Opfer fallenden Titanen seine Wangen befleckte. Seine Schwerter zerrissen das Fleisch seiner Gegner, brachte sie zu Fall und ließ sie dort liegen, auf den Trümmern seiner einstigen Heimat.
Eren kämpfte bis zum bitteren Ende.
Dieses kam zu früh, zu schnell – zu unaufhaltsam. Kein Schrei durchdrang die Stille seines Ablebens, nur der Schrei seines Freundes. Doch auch dieser verhallte ungehört von der Welt, in einer neuen Zeit, grausamer als jede Erdenkliche zuvor. Das Feuer, welches zuvor in dem Mann brannte, verlosch mit einem Schlag.
Was zurückblieb, war nur sein dunkles Blut auf den Dachschindeln.
Die Rekruten der Einheit stehen auf den Dächern. Sie blicken mit ausdruckslosen Mienen auf das Elend zu ihren Füßen. In der Luft liegt der Gestank von Blut und Rauch, die Schreie noch lange nicht verstummt. Aber von Augenblick zu Augenblick werden es weniger; bald werden auch die Letzten verstummt sein. Kein Echo mehr, nichts wird von ihrer Existenz zeugen.
Der blonde Junge, der den Tod seines besten Freundes und Beschützer mit ansah, zittert im leichten Wind, der von Osten kommt. Seine Ausrüstung ist unbrauchbar. Mittlerweile sind die Titanen bis zu dem Punkt vorgedrungen, wo die Vorräte des Gases aufbewahrt werden. Keine Möglichkeit mehr, dort lebend oder auch nur unbemerkt hinzugelangen.
Er hebt den Kopf, seine Wangen scheinen eingefallen. „Sie werden unsere Freiheit stehlen…“ Sein Wispern ist kaum hörbar angesichts der umfassenden Stille um ihn herum.
Niemand wiederspricht ihm, so tief sitzt bereits die Mutlosigkeit. Sie alle haben bereits kapituliert.
Nur eine nicht. Ihr roter Schal weht wie eine Fahne im Wind. Ein Zeichen.
„Wenn wir uns unsere Freiheit einfach so stehlen lassen, ja.“ Sie sieht ihre Kameraden und Kameradinnen an.
„Aber eines dürft ihr nie vergessen: Wir sind nicht das Essen.“
Ein Lächeln in der Dunkelheit und Grausamkeit.
„Wir sind die Jäger!“
Doch am Ende
steht der Anfang.
Und das Leben
würfelt weiter.
Ich starre angestrengt auf das braune Ackerland zu meinen Füßen, doch die Furchen und Risse im ausgetrockneten Boden verschwimmen immer stärker, je mehr ich meine Augen zusammenkneife, und ich kann nicht verhindern, dass die Welt um mich herum zu einem einzigen Farbenmeer zerschmilzt, bis ich nicht mehr unterscheiden kann, was hell und was dunkel, was warm und was kalt ist. Nur die sengende Hitze über mir ist allgegenwärtig, und in diesem Augenblick ist sie das einzig konstante in meinem Leben.
Es ist heiß, selbst für die dritte und letzte Sommerwende, und hätte ich nicht solche Angst vor dem, was passieren könnte, sollte ich meine Arbeit niederlegen, säße ich jetzt schon längst wieder im luftig kühlen Schatten des kaum einen Meter entfernten Schuppens, einen Krug Wasser in der einen, ein stärkendes Stück Bróus in der anderen Hand, und würde es mir gut gehen lassen. Aber da ich – als ehrenhafte Bürgerin Yqejlas – selbstverständlich weiß, was mir wiederfahren würde, sollte ich derlei frevelhafte Taten wagen, lasse ich es bleiben, widme mich wieder voll und ganz der eintönigen Arbeit, die einschläfernd sein könnte, wäre sie nicht so schrecklich kräftezehrend, und füge mich – wie jeden Tag aufs Neue – meinem Schicksal.
Mein Name ist Myna Dione und obwohl ich heute auf den Tag genau siebzehn Jahre alt werde – oder eher gesagt meine siebzehnte Calende bekomme – bin ich wenig optimistisch und noch weniger guter Laune in Anbetracht der mir von nun an offenstehenden Möglichkeiten – etwas, das für mich eher ungewöhnlich ist und selten vorkommt. Aber trotz der Tatsache, dass ich ab dem heutigen Abend als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft gelte und morgen, am Tag des Vollmondes, zu diesem Anlass ein großes Fest gegeben wird, kann ich mich einfach nicht für dieses außergewöhnliche Ereignis erwärmen, geschweige denn ist es mir möglich, mich darauf zu freuen. Ich würde es niemals laut aussprechen, selbst daran zu denken fällt mir schwer, aber ich halte wenig von solcherlei Ritualen und erst recht halte ich nichts von dem Aberglauben, der fest mit diesen verbunden ist und ein undurchdringliches Netz aus leeren Verheißungen spinnt. Selbstverständlich bin ich ein guter Untertan der Höchsten Yqejlas und ein Teil von mir ist unglaublich stolz und erwartet sehnsuchtsvoll den Botschafter, der heute bei Sonnenuntergang vor meiner Haustür erscheinen wird; aber ein mindestens ebenso starker, anderer Teil meiner selbst hat nicht länger vor, sich zu unterwerfen, immer schön Bitte und Danke zu sagen und so zu tun, als wäre ich blind für das, was da draußen geschieht. Dass es meinen sicheren Tod bedeuten würde, sollte ich eine Rebellion starten oder auch nur den Verdacht erwecken, eine Rebellin zu sein, ist wohl das einzige, was mich jemals daran gehindert hat und wahrscheinlich auch immer daran hindern wird. Denn natürlich weiß ich, wie das Schicksal mit jenen vorgeht, die es wagen, die göttlichen Gesandten, die Angelos, zu hintergehen; als beinahe Erwachsene dieser Welt weiß ich auch, dass eben dieses Schicksal hart und unerbittlich zu solchen ist, die sich gegen es auflehnen, aber barmherzig und gutmütig zu denjenigen, die sich ihm Untertan machen und sich nicht vom Wege abbringen lassen. Warum ich dennoch meine Zeit an solch dunkle und nicht gerade sichere Gedanken verschwende? Vielleicht liegt es an den Gerüchten, die seit Monaten im Umlauf sind und in denen von einer Gruppe Aufsässige die Rede ist, die vorhaben, dem Schicksal, den Angelos und damit den Göttern zu trotzen. Vielleicht ist es aber auch etwas anderes, denn es wäre mehr als naiv und dumm, diesen nebulösen Legenden, über die nur heimlich getuschelt und getratscht wird, dermaßen zu vertrauen, um sich ihretwegen gleich in Träumereien zu versinken – also wird stets wieder aus ihnen aufgewacht und weiter gearbeitet.
»Myna?« Just in diesem Moment reißt mich eine tiefe, raue und vollmundige Stimme wie bestellt aus meinen Gedanken und schleudert mich in das Hier und Jetzt zurück. Als ich aufblicke, sehe ich Hyron, einen stattlichen Mann mittleren Alters, der mit seinen frechen Augen und den kleinen Grübchen aussehen könnte wie ein Jungspund, wären da nicht die sorgenvollen Falten auf seiner Stirn und die stets hektischen Hände, die nur allzu leicht sein wahres Alter verraten. Auch jetzt nesteln sie an etwas herum, was an sich eigentlich ein gutes Zeichen ist – aber seine Augen, sonst so verschmitzt, jetzt jedoch nervös umherschauend und düster vor Sorge, verraten ihn und lehren mich eines besseren. Irgendetwas scheint geschehen zu sein und als mein Blick auf den Gegenstand fällt, den seine eigenlebigen Hände so unruhig drehen und wenden, drehen und wenden, weiß ich auch, warum er derart nervös ist – und für einen Moment setzt mein Herzschlag aus.
»Myna.« Hyron bleibt stehen, nur wenige Fuß von mir entfernt, und betrachtet mich wie das erste Mal, als wir uns getroffen haben. Damals hatte ich erst fünf Calenden gezählt und elternlos vor einem brennenden Haus gestanden, fasziniert von den züngelnden rotschwarzen Flammen, die an dem Holz geleckt und das Gebäude schließlich zum Einsturz gebracht hatten. Eine Gruppe reisender Händler hatte mich gefunden und der Blick, mit dem ich damals bedacht wurde, war genau der gleiche, den ich jetzt, zwölf meiner Calenden später, erneut auf mir spüre und der mich unbehaglich auf den Boden unter mir starren lässt, als könne ich dort eine Antwort auf das Rätsel in den Augen meines Gegenübers finden. Aber das Ackerland, rau und spröde unter meinen Füßen und auch sonst überall, wohin man schaut, kann mir die Fragen nicht beantworten, genauso wenig wie es der Schnee an jenem Tag und den Tagen danach konnte. Niemand kann mir die Antworten geben, da niemand sie weiß. Also tue ich genau das gleiche wie damals.
»Gib schon her.« Unsanft schnappe ich mir das in schwarzes Papier eingewickelte Päckchen – und bin eine Sekunde lang verwirrt: Warum ist es kein wärmender Schal? –, wende mich ab und lass meine mittlerweile brennenden Augen den Horizont absuchen. Ich will Hyrons Gesicht nicht sehen; ich weiß, wie seine Augen fragend leuchten, seine Mundwinkel sanft zucken würden, als müsse er über einen schlechten Witz lachen, sich aber erst mit all seiner Kraft dazu durchringen. Ich weiß auch, wie seine Schultern langsam absinken, seine heitere Miene erschlaffen würde. Und er weiß, dass ich es weiß, also sagt er nichts, sondern dreht sich um und geht, und das ist auch gut so. Ich höre seine schweren Schritte auf der trockenen Erde, fühle den aufgewirbelten Staub in meinen Augen glühen wie heiße Kohlen – und bevor er um die Ecke des Schuppens verschwinden kann, wirbel ich herum, mache einen Satz nach vorne und schlinge meine Arme ungelenk um seine Taille. Er erstarrt, genau wie damals, aber die Worte, die nach einer Ewigkeit voller Qualen und Schmerzen aus meinem Mund kommen, sind anders als sie es vor all den Jahren waren. An jenem Tag hatte der Anfang gestanden – jetzt ist es das Ende.
»Ich werde dich immer lieben«, sage ich leise und meine nassen Tränen hinterlassen silberne Spuren auf seinem braunen Hemd und in seinem Leben. Silber, die Farbe des Schicksals, der Götter; Gold ist die Farbe der Angelos; Rot steht für Macht und Weiß symbolisiert Reinheit. Mein Päckchen ist schwarz und wir beide wissen, was das bedeutet.
»Für immer und ewig«, flüstere ich und drücke ihn näher an mich, unfähig, auch nur ein weiteres Wort zu sagen. Und auch Hyron schweigt; wir beide wissen, was geschehen wird.
Ich muss sterben.
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Der Vollmond scheint
auf mich herab.
Ich schau hinauf
– und spring.
Der Aufprall auf den harten, mit Staub bedeckten Boden ist unsanft und doch richte ich mich sofort wieder auf. Meine Glieder schmerzen, doch ich halte weder inne noch lasse ich meine Gedanken die Ausweglosigkeit meiner Situation umkreisen.
Das einzige, was ich mache, ist zu rennen.
Ich renne um mein Leben.
Mokas erste Wahrnehmung entsprach beinahe dem Nichts. Da war nur Finsternis. Ein undurchdringliches Dunkel, so tief, dass nie eine Nacht erblickt wurde, die dem auch nur ansatzweise gleichkam. Doch trotz dieser scheinbar gänzlichen Abwesenheit des Lichtes, glimmte in der Ferne ein weißer Schein, ein einziger Gedanke, der nur schwierig zu fassen war. Mokas Geist wuchsen die Flügel einer Motte. Sie flog zum Licht, ins Licht, durch das Licht hindurch.
Mokas Erwachen war ruhig und nur langsam öffnete sie ihre Augen. Über ihr rauschte der Wind durch die Blätter nebelverhangener Bäume, unter ihr berührten ihre nackten Finger den leicht feuchten Erdboden. Ihre Lungen füllten sich mit klarer, kühler Luft die ihren Mund rein wusch, als handle es sich um wundersames Wasser. Der Frieden in Mokas Körper saß tief, unverrückbar wie ein Felsen in ihre Seele eingraviert und war so vollendet und rein, wie der Geist eines ungeborenen Kindes, das keinerlei Leid kannte. So vollkommen, dass Moka sich nicht fürchtete vor dem fremden Wald, in dem sie erwacht war, ganz ohne Erinnerung daran, wer sie war und wie sie hierher gekommen war. Auch der Verlust ihres Gedächtnisses selbst konnte sie in keinerlei Weise aus der Ruhe bringen. Tatsächlich dachte sie nicht einmal darüber nach, fühlte sie sich doch so wohl in ihrer Haut, dass ihre Gedanken und Sinne vernebelt in den Wald blickten. Also erhob sich Moka, zog ihren leichten Körper in die Höhe und tapste auf bloßen Füßen einen von weißen Steinen gepflasterten Pfad entlang, ruhig und ohne jede Hast. Die Luft war erfüllt von Geräuschen, die sanft an ihre Ohren drang. Vom Rauschen des Windes, dem Rascheln der Bäume, dem Heulen einer Sirene, Schritten hastig laufender Tiere und dem Gesang einer Nachtigall. Ein sanftes, beruhigendes, wenn auch etwas aufdringliches, Piepen erklang immerzu, regelmäßig wie der Schlag eines gesunden Herzens. Mokas Blick erfasste jeden Stein, jeden Baum, jedes Tier und schweifte immer wieder in den Himmel, wo ein wundersamer, grüner Vogel seltsame Bahnen zog. Er flog ein Stück geradeaus, schraubte sich in die Höhe und stürzte zeitgleich mit dem Ertönen des die Luft durchdringenden Piepens wieder hinab, glitt noch einen Moment länger durch den Himmel und begann dann von Neuem. Seine langen, grünen Schwanzfedern hinterließen langsam verblassende Spuren, wie es auch Flugzeuge zu tun pflegen. Der Anblick beruhigte Moka, soweit dies denn überhaupt noch möglich war in Anbetracht des Friedens, der in ihrem Herzen weilte. Nur schwer konnte sie ihre Augen von dem Vogel abwenden und auf den von Bäumen flankierten Pfad vor ihr lenken.
Als es ihr schließlich doch gelang, entdeckte sie einige Schritte von ihr entfernt ein Tier, das sich auf dem Weg niedergelassen hatte. Es starrte wie wartend in Mokas Richtung und als ihre Blicke sich trafen, stürzte Moka von einer seltsamen Freude erfasst auf den Hund zu und presste ihren Körper an sein weiches, braunes Fell, so als wäre dies die natürlichste Sache der Welt.
»Wer bist du?«, fragte sie und blickte in seine tiefbraunen Augen.
»Ich«, sprach das Tier daraufhin gewichtig, »bin Treue.«
Der Hund sprang in den Wald und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Moka sah ihm nur einen Moment nach und trottete dann weiter, so als habe sie die ungewöhnliche Begegnung bereits wieder vergessen.
Schon nach kurzer Zeit hatte sie sich vollends in den Tiefen des Waldes und seinem wundersamen Anblick verloren. Hinter jedem Baum schien sich etwas zu verstecken, alles lebte, alles sprach. Ein kaputtes, rotes Fahrrad lag neben dem Pfad und schwieg. Moka lachte unbeschwert auf, denn sie fühlte sich heimisch.
»Wer bist du?«, rief sie in den Wald hinaus, sodass ihre Stimme von den Bäumen widerhallte.
»Ich bin Inspiration«, pfiff ihr die Antwort mit tausend Stimmen und doch wie aus einem Mund entgegen.
Eine blasse Erinnerung erwachte bei diesen Worten in Mokas Händen. Sie ergriff einen Stock und begann, das Bild eines Baumes in den Erdboden zu malen, doch schon nach kurzer Zeit gab sie auf. Sie war nicht zufrieden mit ihrem Werk.
Noch bevor die negative Empfindung ihr Herz erreicht hatte, stieß das Mädchen beinahe mit einer Frau zusammen und vergaß die Zeichnung. Die Frau schien etwa fünfzig Jahre alt zu sein und lächelte, als Moka ihre Hand ergriff und konzentriert auf die langen, blonden Haare starrte, die an manchen Stellen bereits zu ergrauen schienen.
»Wer bist du?«, fragte sie und konnte einen kindlich anmutenden Unterton in ihrer Stimme dabei nicht verbergen.
»Ich bin Liebe«, antworte die Frau so sanft, dass sich ein tiefes Gefühl von Geborgen-, und Sicherheit in Moka ausbreitete.
Doch da löste die Dame ihre Hände auch schon vorsichtig, verschwand hinter den tausenden Bäumen und ließ das Mädchen allein zurück.
In der Ferne schlang sich der Pfad weiter durch den Wald. Moka folgte ihm, vorbei an Büschen, einem Bienenstock, Dachsbauten, einem von Laub bedecktem Autowrack, unscheinbaren Blumen und einem Bach.
Sie war schon eine ganze Weile gelaufen und wollte gerade stehen bleiben, dem regelmäßigem Piepton lauschen und sich ein wenig ausruhen, da eilte plötzlich eine Gestalt vor ihr über den Weg. Die gehetzt wirkende Person hielt inne, als sie Moka aus dem Augenwinkel zu entdecken schien und wandte ihr den Kopf zu. Nun konnte das Mädchen erkennen, dass es sich um einen ganz in Weiß gekleideten Mann handelte, der sich kaum von den Steinen unter ihren Füßen abgrenzte.
»Wer bist du?«, fragte sie etwas misstrauisch, aber keinesfalls beunruhigt und reichte ihm die Hand für einen respektvollen Händedruck, den er fest erwiderte.
»Ich«, keuchte ihr Gegenüber, erschöpft von seinem schnellen Gang, »bin Hoffnung.«
Und schon rannte er weiter und ließ nur das Geräusch seines keuchenden Atems zurück, das schon bald in der Ferne verklang.
Die Unruhe des Mannes hatte Mokas eigene Müdigkeit hinweg gefegt. Sie starrte mit festem Blick in die Ferne und fragte sich plötzlich, ob es irgendwo ein Ziel gab, etwas, das zu erreichen sich lohnte. Über ihr flog der grüne Vogel noch immer seine Bahnen, so beständig wie der gleichmäßige Piepton. Es war angenehm warm, geradezu gemütlich inmitten all des Lebens des Waldes. So war es gut, befand Moka. Selbst wenn es nirgendwo irgendetwas gab, konnte sie an diesem Ort bleiben, solange sie es wünschte. Sie musste sich nicht beeilen, die Reise fort zu setzen von der sie nicht einmal wusste, ob es sie denn wirklich gab und ob sie als solche bezeichnet werden konnte. Doch Moka wollte auch nicht stehen bleiben, oder von dem Pfad abkommen, dessen unbekanntes Ende noch immer ihre Neugierde weckte und so folgte sie ihm weiter.
Nach einiger Zeit wurde der Weg immer schmaler und die zuvor gleichmäßig angeordneten Steine lagen plötzlich wie willkürlich mal auf-, mal nebeneinander, auf-, und untereinander, sodass Moka immer wieder zu stolpern drohte. Bald schon schmerzten ihre Füße. Sie wurde des Weges müde, denn je weiter sie kam, desto kälter wurde es und das Piepen, welches zuvor angenehm leise im Hintergrund erklungen war, drang nun aufdringlich hell an ihre Ohren. Das strahlend grüne Licht, das der fragwürdige Vogel verursachte stach in Mokas Augen wie ein greller Scheinwerfer, der direkt in ihr Gesicht gerichtet war. Sie wollte dorthin umkehren, wo der Pfad begehbarer, die Temperatur angenehmer und das Piepen leiser war. Ihretwegen konnte dieser nervige Ton sogar gänzlich verstummen. Ihr einziger Trost war, dass der Anblick des Waldes neben dem Pfad weiterhin wunderhübsch geblieben war. In tausend, hellen Farben schien er zu erstrahlen. Sicher konnte sie einen Umweg gehen, vorbei an den grünen Bäumen, ihren saftigen Früchten und den bunten Blumen.
Gerade wollte Moka den Pfad verlassen, da bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Person. Sie wandte den Kopf und spürte fast zeitgleich, wie heiße Tränen ihr Gesicht benetzten. Vergessen war der Wald. Sie stürzte den Pfad entlang, verlor beinahe den Halt, stolperte keuchend ein paar Schritte vorwärts, bis der Mann sie schließlich auffing und sie vor einem Aufprall bewahrte. Sie lag in seinen Armen, die warm und stark um ihren bebenden Körper geschlungen waren, der erfüllt war von dem tiefsten aller Gefühle.
»Wer bist du?« wimmerte Moka, ihre Stimme fast stumm.
Sie sah ihn lächeln, als sie ihm ihr Gesicht zuwandte.
»Ich bin Vertrauen«, flüsterte er liebevoll, hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen und trat beiseite.
Einen Moment lang wollte Moka den vertrauten Fremden festhalten. Doch als sie sah, auf was er den Blick freigegeben hatte, vergaß sie ihn wie all die anderen Gestalten, denen sie zuvor begegnet war.
Der Pfad vor ihr hatte sein Ende gefunden. Nichts lag dahinter außer einer schwarzen, wie Nebel wabernden Wand und einem weißen Krankenbett, auf dem ein Mädchen saß und mit den Beinen schaukelte. Langsam ging Moka auf sie zu. Sie bewegte sich vorsichtig in Anbetracht des bedrohlichen Dunkels. Als sie letztendlich vor dem Bett stand, erhob sich ihr seltsam vertraut wirkendes Gegenüber. Moka war ihr so nah, dass sie sogar die Spiegelung in der Pupille des Mädchens sehen konnte. Es war, als betrachte sie sich selbst im Spiegelbild eines Spiegelbildes eines Spiegelbildes.
»Wer bist du?«, fragte Moka und auch wenn das laut kreischende Piepen beinahe jedes ihrer Worte übertönte, konnte sie die Antwort des Mädchens deutlich verstehen.
»Ich bin alles.«
Leise fiel die große, cremefarbene Tür in ihre Angeln, während ich mich gleichzeitig in mein kleines Bett in der Ecke des Raumes fallen ließ. Die Decke über meinem Bett ging schräg nach unten und bot somit Schutz vor Licht und Helligkeit, aber auch Platz für etliche Poster, sowie Bilder, die mir direkt nach dem aufstehen ein Lächeln ins Gesicht zaubern sollten. Und für gewöhnlich - selbst wenn es mir schlecht ging - gelang es auch, meinen Mundwinkeln ein leichtes zucken zu entlocken. Dabei war das meist nicht einmal eine bewusste Reaktion meinerseits, sondern eine meines Körpers. Er tat es einfach, weil es ihm und mir gut tat. Ob er damit allerdings sagen wollte, dass er es genoss zu lächeln oder die Bilder an der Wand zu betrachten sei dahin gestellt. Mein Körper war nämlich ein Mysterium für sich. So fand er auch heute, im fahlen Licht der Dämmerung das weiche Bett, auf das ich mich werfen konnte. Tief atmete ich aus und drückte mich dabei tiefer in die Laken und die zwei Kissen unter meinem Kopf. Die Versuchung jetzt einfach einzuschlafen, war groß. Ich sollte vielleicht einfach früher ins Bett gehen, mein Körper würde es mir gewiss danken. Doch das konnte ich nicht, weil ich zumal lang keine Ruhe fand und einfach nur wach im Bett lag und andererseits wollte ich meine Freizeit auch nicht unbedingt mit Schlafen verschwenden. Ich hatte sowieso so wenig davon. Meine Schule lag eine Autostunde von meinem Wohnort entfernt und da ich jeden Tag bis zur 10 Stunde Unterricht hatte, kam ich einfach immer spät nach Hause. Irgendwann sollte ich dann vielleicht auch noch lernen und Hausaufgaben machen, wodurch sich mein Zeitfenster weiter reduziert und wenn ich dann noch etwas esse oder im Haushalt helfe, kann es vorkommen, - kann?? - dass ich bis spät abends auf den Beinen bin, ohne meiner Seele auch nur eine Sekunde wirkliche Ruhe gegönnt zu haben.
Vielleicht sollte ich gestehen, dass ich nicht immer jeden Tag bis um 17 Uhr Unterricht hatte, was nichts daran änderte, dass ich dort dennoch fest saß. Die Busverbindung - ja ich hatte immer noch keinen Führerschein in meinem Alter - war reichlich schlecht und Busse fuhren nur in großen Abständen, weshalb es oft vorkam, dass ich eine gute Stunde auf den nächsten Bus warten musste. In dieser Zeit saß ich in der Schulbibliothek. Ein normaler Mensch hätte wohl gelernt oder Hausaufgaben gemacht. Gut, dass ich nicht normal war, denn ich lernte nicht. Ich schrieb. Wenn ich nämlich schrieb, so war ich nicht einfach nur Saphira Anzenhofer aus der 13. Klasse auf der Fachoberschule. Nein, wenn ich schrieb, war ich ein Künstler, der sang ohne je ein Wort benutzt zu haben und malte, ohne je einen Pinsel gehalten zu haben. Ich flog, während meine Gedanken sich selbst formten und mir ermöglichten, mich auszudrücken, wie ich es sonst nie gekonnt hätte.
Und erneut ist die Versuchung groß, einfach einzuschlafen. Genau jetzt und hier, während draußen bereits die Sonne untergeht. Doch ich kann nicht, denn genau in diesem Moment klingelt mein Handy und meldet mir eine neue Nachricht auf Facebook an. Zuerst bin ich sicher, sie ist von Magdalena, doch ein Blick auf den Bildschirm belehrt mich eines besseren. Schon ironisch, wie schnell gute Laune von 100 auf 0 sinken kann, wenn einem eine gewisse Person ihre Ankunft ankündigt. Denn geschrieben hat mir kein anderer als Christopher, die Flamme meiner besten Freundin. Ich kann ihn einfach nicht ausstehen, denn er ist das genaue Gegenteil von mir. Ja, er ist durchaus klug und zielstrebig und man kann ihn bestimmt auch als nicht schlecht aussehend bezeichnen, wenn man denn auf so einen Typ Junge steht, aber ich kann trotzdem nichts mit ihm anfangen. Zumal unsere Konversationen immer im nichts verlaufen, da sie nach einem "Wie geht’s" und "Was machst du gerade" meistens ihr Ende finden. Und wieso tue ich es mir dann überhaupt an? Weil Magdalena mich darum gebeten hat! Ich seufze nur und klappe mein Handy auf. Heute - so nehme ich mir vor - führen wir ein "echtes" Gespräch, nur worüber? Was kann ich ihn fragen? Was will ich wissen? Kurz sitze ich da und lasse mir diesen Satz durch den Kopf gehen, bevor ich bereits am tippen bin.
Montag 20.10.2014
Saphira
(21:48): Hi
Christopher
(21:55): Guten Abend
Saphira
(21:55): So, ich bin - wie ich vielleicht angedeutet habe - keine Freundin und Künstlerin des Small Talk, weshalb ich es toll fände, wenn wir über irgendwas Festes diskutieren würden. Hättest du ein bestimmtes Thema, welches du vorschlagen möchtest?
Christopher
(22:06): Hm nee eigentlich ned
Saphira
(22:06): Dann schlage ich ein Thema vor, wenn ich den darf? Weil es mich einfach interessieren würde, wie du darüber denkst, also erlaube mir die Frage, wie du zu Homosexualität stehst?
Und dann folgte Stille. Er brauchte sowieso immer so lange zum Antworten, doch dieses Mal ließ er mich eine halbe Stunde auf meine Antwort warten. Wobei, ...es mir lieber gewesen wäre, er hätte sie für sich behalten.
Christopher
(22:37): Meiner Meinung nach gibt es nur echte liebe zwischen Mann und Frau!!
Lange starrte ich den Bildschirm an, als würden sich die Worte verändern, als würde ich sie umbauen können, sie löschen oder sie dazu bringen können, ihm im Halse stecken zu bleiben, seine Finger, die es wagten mir diesen Satz zu schreiben in Flammen aufgehen zu lassen. Langsam stieg etwas in mir auf, was ich nur zu gut einzuordnen wusste und je länger ich meine Hände über den Touchscreen meines Smartphones streichen ließ, ohne auch nur einen Buchstaben zu betätigen, desto größer wurde meine Wut. "Meiner Meinung nach gibt es nur echte Liebe zwischen Mann und Frau..." Immer und immer wieder spuckte mein Gehirn mir diesen Satz entgegen, so als wäre er in einer Endlosschleife gefangen, verschleppt und weg gezerrt von der Dunkelheit meiner Gedanken. Und dann setzte ich an etwas zu schreiben. Etwas mit Hass und Wut getränktes, etwas, das meinen GefühlenLuft machen sollte, etwas, was ich ihm am liebsten entgegen schreien wollte, doch kurz bevor ich auf Senden drücken konnte, überlegte ich es mir anders und löschte den gesamten Text! Dann klappte ich mein Handy zu, was schwerer war als gedacht, da ich immer noch zitterte, zitterte vor purer Wut, kochte vor ...vor...ich wusste es nicht zu umschreiben. Fühlte mich wie ein brodelnder Vulkan, doch gefährlicher, sein Opfer im Unwissen lassend, wann und ob ich ausbrechen würde. Immer noch zitternd legte ich das Handy bei Seite, doch es war nicht daran zu denken, dass ich Ruhe fand. Und so lag ich in meinem Bett, die dunkle, kalte Wand betrachtend. War sie schon immer so kahl gewesen?
Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und sprang aus dem Bett, in meinem Zimmer herum tigernd, nicht wissend, was ich eigentlich wollte. Doch mein Körper wusste es – schien es zu wissen. So fand ich mich innerhalb kürzester Zeit mit unserem Haustelefon in der Hand wieder, während ich die Nummer von Magdalena eingab und es klingeln ließ. Einmal, zweimal, dreimal. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen wollte, doch ich wusste, dass ich reden wollte, reden musste. Sonst würde ich heute keinen Schlaf mehr finden können. Und schließlich hob jemand ab. Sofort erkannte ich Magdalenas Stimme. Für gewöhnlich entlockte sie mir ein Lächeln, doch nicht heute. „Er ist so ein Arsch!“, eröffnete ich das Gespräch. Ich konnte ihr verwirrtes Gesicht förmlich vor mir sehen und merkte, dass es vielleicht klüger gewesen wäre anders zu beginnen, wie zum Beispiel mit einem „Hier ist Saphira“, aber das störte mich gerade wenig. „Saphira? Könntest du mir bitte sagen worum es geht? Ich verstehe kein Wort!“ Natürlich nicht, ich war manchmal echt kompliziert. „Ich hab mit deinem Typen gechattet und er hat lauter Scheiße gelabbert. Ich musste mich echt zusammen nehmen ihn nicht zu beleidigen“, erläuterte ich. „Und was hat er gesagt?“ „Er hat gesagt, dass es nur zwischen Mann und Frau echte Liebe geben kann“. Kurz war es still, doch ich hörte sie atmen, also war sie noch dran. „Echt? Cool J“. „Sag mal bist du blöd? Das ist echt das letzte! Mit cool hat das nichts zu tun!“ „Dir ist klar, dass ich seine Meinung teile! Wenn du ihn beleidigst muss dir klar sein, dass ich zu ihm halte!“. Und dann legte ich auf. Ohne ein Wort des Abschiedes, ohne Begründung, einfach so. Ich kämpfte gegen den Drang an, das Telefon an die Wand zu werfen, konnte es aber gerade noch unterdrücken. Stattdessen lief ich langsam zu meinem Bett und sank vor diesem zusammen. Ich fühlte mich so schlecht wie nie zuvor. Nicht wegen dem, was dieser Idiot gesagt hatte, sondern wegen dem, was Magdalena gesagt hatte. Verstand sie überhaupt das Ausmaß ihrer Worte? Verstand sie überhaupt, wieso ich sauer war? Wieso ich mich verletzt fühlte? Ich dachte sie wäre anders, ich dachte ich könnte ihr vertrauen, mich ihr irgendwann offenbaren. Ich dachte sie wäre ein Freund. Ich schien geirrt zu haben…
Vor langer Zeit erwachten zwei Legenden, die einst Wasser und Land schufen aus ihrem tiefen Schlummer um ihren ewigen Kampf fortzusetzen.
Groudon, ein riesiges rotes dinosaurierähnliches Wesen, entstieg der Lava eines ausbrechenden Vulkans.
Sein Brüllen klang wie Donnergrollen. Während Groudon den neu entstandenen Berg hinabstieg, breitete sich die glühend heiße Magma über das Land aus und zerstörte alles Leben um sich herum. Ganze Wälder gingen in Flammen auf. Menschen und Pokemon flohen vor der Naturgewalt. Überall, wo die Lava auf Wasser traf, erkaltete sie und schuf neues Land.
Aus den dunklen Tiefen der Meere erwachte Kyogre, ein gigantischer Fisch, der sogleich zur Wasseroberfläche aufstieg und Wellen formte, die ganze Schiffsflotten mit sich rissen. Kyogre schuf einen langen Regen, welcher sich über dem Wasser ergoss, sodass der Meeresspiegel stark anstieg und viele Inseln überschwemmte. Als die Flut das Festland erreichte, wurden ganze Städte und Wälder vom Wasser verschluckt. Häuser und Bäume wurden von den Wellen mitgerissen, sodass Menschen und Pokemon ins Landesinnere flohen, wo sie allerdings bereits von brodelnder Lava erwartet wurden.
In ihrer Not erschufen die Menschen mit einer uralten inzwischen längst vergessenen Macht eine rote und eine blaue Kugel, die ihnen die Kontrolle über Groudon und Kyogre ermöglichen sollten. Doch als sie die Kugeln aktivierten, begannen die beiden sich zu entwickeln. Beide wuchsen auf doppelte Größe an und gewannen an Macht. An Groudons Körper floss flüssige Lava entlang und formte ein Omega-Symbol. Kyogres Körper begann stellenweise zu leuchten und ebendieses Leuchten formte ein Alpha-Symbol. Die beiden Giganten hatten die Photomorphose durchschritten. Die Kugeln hatten alles nur noch schlimmer gemacht. Überall trafen nun Unmengen an Lava und Wasser aufeinander und erschufen große Berge aus erkaltetem Stein. Kyogres Regenschauer wuchs zur Sintflut an, doch Groudon verstärkte die Macht der Sonne so stark, dass die meisten Regentropfen verdampften.
Die Menschen suchten nun Schutz am einzigen Bauwerk, das der Macht der beiden Pokemon bisher hatte trotzen können. Dem Himmelsturm. Dort beteten sie zu Rayquaza, dem grünen Drachen, welcher vom Himmel aus über die Welt wachte. Rayquaza erschien, doch selbst er konnte gegen die wütenden Giganten nicht mehr viel ausrichten. Seine Stürme schafften es nicht, das Wasser und die Lava zu verdrängen, oder gar Groudon und Kyogre nur zu treffen. Zu groß war ihre Macht durch die Photomorphose geworden. Erschöpft flog der Drache wieder zum Himmel hinauf, während die Welt weiterhin auf ihren Untergang zusteuerte.
Und als selbst der Himmelsturm den Naturgewalten nicht mehr länger trotzen konnte, erschien das Wunschpokemon Jirachi. Es nahm sich der Wünsche der letzten Überlebenden an und sandte einen Hilferuf ins schwarze Nichts, wo in der Finsternis das mysteriöse Pokemon Deoxys lebte.
Deoxys schickte einen Kometen, der erfüllt war von einer uralten Macht, zur Erde hinab. Rayquaza, welcher sich niedergeschlagen in die Ozonschicht zurückgezogen hatte, sah in dem Kometen eine Gefahr für die Erde und wollte wenigstens diesen aufhalten, damit er zumindest etwas hatte tun können und das Gefühl des Versagens vielleicht nicht ganz so groß war. Der grüne Drache schoss auf den fremden Himmelskörper zu und zerschmetterte ihn mit seinem Schweif, sodass viele kleine Bruchstücke auf die Erde niederregneten.
Doch ein Teil der Macht, die in diesem Kometen eingeschlossen war, ging auf Rayquaza über. Der grüne Drache spürte plötzlich neue Kraft. Außerdem fühlte er sich stärker als jemals zuvor. Sein Körper begann zu leuchten und Delta-Symbole leuchteten auf. Mit der neu gewonnenen Kraft kehrte auch sein Selbstvertrauen zurück, sodass Rayquaza zurück zur Erde sauste und Winde hinter sich herzog, die mächtiger waren als jemals zuvor. Heftige Stürme wehten nun über der Welt. Das Wasser wurde davon geblasen, und die Lava erkaltete auf der Stelle. Groudon und Kyogre hatten keine Chance mehr gegen Rayquazas Macht. Die Photomorphose verschwand, genau wie die beiden die rote und blaue Kugel. Die Legendären kehrten wieder zurück an jene Orte, an denen sie erwacht waren und fielen erneut in einen tiefen Schlaf. Aus der zerstörten Welt wuchs einen neue heran, und die Menschen und Pokemon begannen erneut den Planeten zu bevölkern.
Bis irgendwann wieder die Legendären erwachen würden, um über das Schicksal der Welt zu urteilen.
Ein Wassertropfen zittert im Hahn. Beinahe schüchtern löst er sich und fällt ins Waschbecken. Das stetig tropfende Geräusch in sonst vollkommener Stille verleiht dem Raum eine unheimliche Atmosphäre. Ich atme tief ein und sehe in den Spiegel. Ein bleicher Totenschädel starrt mir entgegen. Wenn ich nicht wüsste, dass sich darunter eine junge Frau befindet, wäre ich sogar erschrocken. Ihr weißes Haar ist auf der Höhe ihres Kinns glatt abgeschnitten. Dunkelblaue Augen taxieren mich. Eine Kerze flackert neben dem Waschbecken vor sich hin und verstärkt den gruseligen Eindruck.
Weißes und schwarzes Make-Up haben mein Gesicht in eine Fratze wie aus einem Horrorfilm verwandelt. Die Farbe in meinem Haar werde ich vermutlich eine Weile lang nicht los, aber sie erfüllt ihren Zweck. Halloween kann beginnen.
„Bist du fertig?“, ruft mir eine Stimme jenseits der Tür zu.
„Gleich“, antworte ich. Dann zupfe ich ein wenig an dem schwarzen Kleid herum, welches ich mir angezogen habe, und lächele mein Spiegelbild an. Durch das Spiel meiner Gesichtsmuskeln verzieht sich der unheimlich grinsende Totenschädel. Mein Kostüm ist perfekt. Ich sehe oft, wie sich die Mädels bei der Wahl ihrer Kostüme darin zu übertrumpfen versuchen, wer den meisten Sexappeal ausstrahlt. Für mich ist das nichts. An Halloween ist es Brauch, seine Mitmenschen zu erschrecken, und nicht, sie zu verführen. So sehe ich das. Darum ist mein Kleid eher altmodisch gehalten.
Ich öffne die Badezimmertür und stoße beinahe mit Fen zusammen. Die Chinesin schaut zu mir hoch und klatscht bewundernd in die Hände.
„Du siehst toll aus! Dieses Make-Up steht dir.“ Sie ist ein Fan von allem, was normale Menschen gruselig finden.
„Danke. Und das Kleid? Nicht zu...verklemmt?“
„Nein.“
„Okay. Du bist dran. Und wehe dir, wenn du wieder dieses schreckliche Nachthemd anziehst.“ Sie streckt mir als Antwort nur die Zunge heraus. Die Tür knallt zu. Ich erzittere kurz. Im letzten Jahr hatte sie sich eine schwarze Langhaarperücke aufgesetzt, dazu ein weißes Nachthemd angezogen und dann im Dunkeln auf mich gewartet. Dieses beinahe schon kindische Verhalten ist typisch für sie. Die Kinder, auf die sie nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin losgelassen wird, tun mir jetzt schon leid.
Schaudernd mache ich mich auf den Weg in die Küche, wo ich die Cupcakes zum Abkühlen hingestellt habe. Das Schwierigste an der Herstellung der kleinen Biester waren die Kürbisgesichter aus Schokoladensoße. Nun, wo ich das Resultat sehe, wird mir warm ums Herz. Mein Aufwand hat sich ausgezahlt.
„Ha. Perfekt“, entfährt es mir. Die Jungs auf der Feier werden sich freuen. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass wir noch anderthalb Stunden Zeit haben. Ob das ausreicht, ist trotzdem unklar. Fen braucht immer sehr lange im Badezimmer.
Nachdem die Cupcakes in einer Plastikbox verstaut sind, greife ich nach dem Handy und stelle mich ans Fenster unserer geräumigen Küche. Draußen ist es stockdunkel. Nebelschwaden wabern über den Gehsteig. Unten auf der Straße sehe ich eine kleine Gruppe Kinder vorbeikommen. Ich muss an meine eigene Kindheit denken. Früher habe ich mich auch gerne auf den Weg gemacht, um Süßigkeiten zu sammeln. Meine beiden Brüder hatten jedes Mal weniger Beute als ich. Mir kommt wieder in den Sinn, wie sehr die zwei das immer aufgeregt hat. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht.
Als die Kinder sich dem Haus nähern, in dem wir unsere Wohnung gemietet haben, trete ich schnell einige Schritte zurück. Hoffentlich haben sie mich noch nicht gesehen. Ich raffe das Kleid ein wenig, um nicht über den Stoff zu stolpern.
„Fen, ich gehe kurz runter, da kommen welche zu uns“, rufe ich durch die Badezimmertür, und laufe das Treppenhaus herunter. Fens Antwort höre ich nicht mehr. Auf der letzten Treppenstufe steht ein kleiner Plastikeimer mit Süßigkeiten. Ich öffne langsam die Tür.
Vier glückliche Kindergesichter machen in wenigen Sekunden mehrere Stadien purer Angst durch und starren mich an, als wäre ich Satan persönlich. Lediglich das fünfte Kind, ein blondes Mädchen mit Engelskostüm, bleibt entspannt. Sie hat mich sofort durchschaut.
„Trick or Tweet!“, ruft sie. Süßes oder Saures. Den englischen Ausruf hat sie wahrscheinlich von ihren Eltern – und sie spricht ihn falsch aus. Ich unterdrücke das Grinsen. Sie kann nicht wissen, dass Halloween nichts mit dem Zwitschern der Vögel zu tun hat. Ihre Freunde erringen nach und nach ihre Fassung wieder.
„Süßes oder Saures!“, schallt es mir vierstimmig entgegen. Ich beuge mich vor und sehe jedem Kind nacheinander ernst in die Augen. Mein Vater hat das früher bei mir genauso gemacht. Er trug allerdings eine Maske und kein Make-Up. Die Prüfung des Totenschädels, so nannte er das. Nur jene, die keine Furcht mehr zeigen, bekommen etwas Süßes.
Zu ihrem Glück bestehen die fünf Kinder meinen kleinen Test. Erstaunlich.
„Ihr zeigt Mut. Das soll belohnt werden“, sage ich mit dunkel klingender Stimme.
„Danke“, freut sich das Mädchen.
„Haben sich deine Freunde heute noch nicht erschrocken? Oder bin ich die erste, die sich verkleidet hat?“
„Nein, das nicht. Aber Ihr Kostüm ist so...“ Die Kleine sucht nach Worten und findet keine. Ich nicke leicht.
„Verstehe. Vielen Dank für das Kompliment. Ich wünsche euch weiterhin viel Spaß.“ Als die Kinder mich verlassen, sind ihre Beutel ein Stück schwerer. Fens Begeisterung für dieses Gruselzeug scheint langsam auf mich abzufärben. Immerhin leben wir schon ein Jahr lang zusammen hier. Ich erschrecke mich zwar selbst ziemlich schnell, aber es macht auch viel Spaß, anderen dabei zuzusehen.
Ich steige die Treppe wieder hinauf. Besonders viel Dekoration haben wir hier nicht, lediglich eine Kürbislaterne, die im Hauseingang baumelt, und einige kleine Geister aus Stoff. Mein Vater ist da ganz anders. An Halloween und an Weihnachten verwandelt er mein Elternhaus immer in ein wahres Schloss aus Licht und Festlaune. An der Türschwelle unserer Wohnung halte ich inne. Etwas stimmt nicht.
„Fen?“ Ich komme am Badezimmer vorbei. Die Tür steht offen. Es ist stockfinster im Inneren. Ich spüre, wie sich die Härchen in meinem Nacken aufrichten. Nur die vier Reiter der Apokalypse würden mich jetzt dazu bringen, da reinzugehen. Ich mache einen kleinen Bogen um die offene Tür.
Doch auch, nachdem ich die Küche und unsere Schafzimmer durchsucht habe, bleibt meine Mitbewohnerin verschwunden. Hat sie sich irgendwo versteckt? Lauert sie mir womöglich auf? So, wie ich sie kenne, ist das sogar sehr wahrscheinlich. Mein schlechtes Gefühl verstärkt sich. Ratlos stelle ich mich wieder ans Fenster. Sie kann die Wohnung nicht verlassen haben, da ich unten an der Haustür stand, als die Kinder eben hier waren.
Mir soll es recht sein. Solange sie früh genug wieder auftaucht, dass wir uns auf den Weg machen können, gönne ich ihr den Spaß. Wir treffen uns später mit einigen Freunden und gehen dann gemeinsam zu einer nahen Kostümparty.
Ich weiß nicht, wie lange ich meinen Gedanken nachhänge, spüre aber irgendwann eine leichte Bewegung hinter mir. Dann streicht irgendwas ganz sanft um meine Beine. Zarte Finger streicheln meinen Nacken. Gleichzeitig ertönt ein schreckliches Gurgeln genau hinter meinem Rücken.
Mit einem Aufschrei fahre ich herum. Der Gedanke, das besser bleiben zu lassen, kommt zu spät. Vor mir steht eine Frau, die so groß und so dünn ist wie ich. Ihr Gesicht ist vollkommen blutleer und ihre Augen starren leblos an mir vorbei. Aus ihrem offen stehenden Mund dringen diese gurgelnden Geräusche, die ich eben gehört habe.
Meine Augen werden von dem, was sie sehen, wie magisch angezogen. Ich kann den Blick nicht abwenden. Wie in Zeitlupe neigt sich der Kopf nach rechts, weiter und weiter, bis er von den Schultern der Frau rollt und einfach zu Boden fällt. Mein Puls schießt so schnell in die Höhe wie der Tacho eines guten Formel-1-Wagens.
Ich höre erst auf zu schreien, als sich der Brustkorb der Frau öffnet und Fens Gesicht darin zum Vorschein kommt.
„Verdammt!“, keuche ich, presse mir eine Hand auf die Brust, und versuche, mich zu beruhigen. Sie lacht mir ins Gesicht.
„Gut, oder? Hat ewig gedauert, den Kopf zu basteln!“ Ich sehe auf den Boden. Mein Atem geht immer noch sehr schnell.
„Du hast dir sogar die Mühe gemacht, die Ränder mit Kunstblut einzuschmieren. Ich fasse es nicht.“ Kopfschüttelnd setze ich die Attrappe wieder an ihren Platz zurück.
„Klar! Und was bist du? Ein Geist?“, fragt Fen.
„Nein. Eine Banshee aus Irland. In den dortigen Sagengeschichten heißt es, dass eine Banshee die Seelen der Sterbenden mit ihrem Weinen begleitet.“ Fen hängt mir förmlich an den Lippen.
„Was du alles weißt! Ich jedenfalls bin eine Kopflose, wie du schon gemerkt hast.“
„Ich glaube, wir sollten dann langsam los“, sage ich. Es ist bereits neun Uhr. Mittlerweile hat auch das Gliederzittern aufgehört.
„Sehr schön. Ich bin fertig!“
„Wie machst du das eigentlich, dass der Kopf auf Befehl abfällt?“, hake ich nach. Meine Freundin aber wedelt nur mit einer Hand vor meiner Nase herum und greift mit der anderen nach dem Haustürschlüssel.
„Berufsgeheimnis. Du findest das schon noch heraus.“ Fen blickt mich schelmisch an. Wir verlassen das Haus und treten hinaus auf die dunkle Straße. Wie Knochenhände ragen die kahlen Bäume vor uns auf. Der Vollmond im Hintergrund macht die Nacht perfekt.
Ein besseres Halloween kann ich mir nicht vorstellen.
Ich ziehe durch die Straßen meiner Stadt. Alte, heruntergekommene Häuser, in denen einst alle Arten von Läden und Geschäften zu finden waren, zieren die Fußgängerzone. Bei einigen sind die Fensterscheiben zugeklebt, bei einigen sind sie verstaubt, viele besitzen keine Fensterscheiben mehr, doch in manchen kann ich mein Spiegelbild beobachten, wie es genau wie ich eine dunkle, von nicht funktionierenden Laternen geschmückte Straße entlang wandert. Vor dem alten Süßwarenladen bleibe ich stehen und schaue durch das Fenster. Hier war ich früher mit meiner Mutter oft gewesen. Aber früher ist schon längst vorbei.
Ich betrachte mein Spiegelbild. Es sieht aus wie immer. Es scheint mir nur etwas deutlicher, als ob die Umrisse schärfer wären als sonst. Und seine Frisur... Sie erscheint mir irgendwie zersaust. Bin ich heute wirklich so unordentlich?
Ich sehe es lange an. Es blickt mir direkt in die Augen. Selbst, als ich wegsehe, starrt mich mein Spiegelbild noch an. Es fängt an, verrückt zu grinsen, bevor es in einen wahnsinnigen Lachkrampf verfällt. Mir wird das zu gruselig. Ich suche einen Stein am Boden, mit dem ich dieses Fensterglas zerstören kann. Ich will dieses Spiegelbild nicht länger ertragen müssen.
Auf einmal wirft mein Spiegelbild von der anderen Seite einen Stein gegen die Fensterscheibe. Ich kann gerade noch ausweichen, fast hätte es mich erwischt. Ich steige über die Glassplitter durch das zerbrochene Fenster und stehe nun meinem Spiegelbild Auge in Auge gegenüber. Es zittert, fast so, als hätte es Angst.
"Wer bist du?", frage ich.
"Die bessere Frage wäre: Wer bist du?", entgegnet mein Spiegelbild grinsend. "Doch ich kann dir die Antwort geben: Du bist ich. Du wurdest aus meinem Blut erschaffen."
"Das ist... unmöglich", hauche ich, "ich bin ich, ich wurde geboren, nicht erschaffen. So wie jeder Mensch."
"Sei dir da mal nicht so sicher", zischt mein Spiegelbild und beginnt, in einem Kreis um mich herum zu laufen und mich eingehendst zu begutachten. "Du bist nur eine Kopie. Ich bin das einzige Original."
"Das ist unmöglich", wiederhole ich. "Wie könnte ich mich sonst an meine Vergangenheit erinnern?"
Mein Spiegelbild bleibt einen kurzen Moment lang stehen, bevor es weiter seine Runden dreht.
"Das alles hast du allein mir zu verdanken. Ich habe dir deine Vergangenheit diktiert. Ich habe dir deine Persönlichkeit diktiert. Du wärst nichts ohne mich. Du würdest noch nicht einmal existieren."
"Das ist unmöglich", sage ich. "Ich bin keine Kopie. Ich bin das Original."
"Bist du dir da wirklich so sicher?", fragt mein Spiegelbild und grinst. "Was, wenn du dir das alles nur einbildest? Wer sagt, dass deine Vergangenheit nicht nur ein Traum ist? Warum könntest du nicht wirklich nur eine Kopie von mir sein?"
"Das ist unmöglich!", schreie ich. "Ich bin das Original! Ich bin das Original! Nur ich!"
Mein Spiegelbild lacht hämisch. "Lächerlich! Du kannst es nicht ändern, und wenn du noch so willst!"
Es blickt mich verächtlich an. Und es ist so überzeugt von dem, was es sagt. Was, wenn... Nein! Nein, das ist unmöglich! Ich kann keine Kopie sein! Dass kann nicht sein! Das darf nicht sein! Dieses... Spiegelbild! Das gibt es nicht!
Ich ziehe ein Messer aus meiner Tasche. Ich muss diesen Alptraum beenden! Ich muss diesen Alptraum beenden! Ich muss das einzige Original werden! So schnell wie möglich! Ich bin keine Kopie! Mich gibt es nicht doppelt!
Mein Spiegelbild grinst. Das wird ihm bald genug vergehen. Merkt es denn nicht, dass dies sein Ende ist?
Eine Messerklinge blitzt in der Hand meines Spiegelbildes. Wahnsinnig funkeln seine Augen. Es zittert, doch es starrt mich wild entschlossen an. Als es mit dem Messer auf mich losgehen will, greife ich mir seinen Arm, nehme es ihm ab, und, ohne einen Moment nachzudenken, stoße ich es ihm in die Brust.
Ein stechender Schmerz durchfährt mich, als ich zu Boden gehe. Ich versuche noch, mich am Hemd meines Spiegelbildes festzuklammern, die Klinge zu entfernen, alles ist rot. Mein Spiegelbild steht triumphierend vor mir und blickt geringschätzig auf mich herab. Warum? Warum musste es so weit kommen? Mein Blut färbt meine Kleidung, die Straße, alles rot. Ich sehe nur noch rot, bevor ich meine Augen schließe.
Ich stehe in einer Lache aus Blut, das Blut meines Spiegelbildes, meiner Kopie, dem Meinen gleich, das auch mich beschmutzt. Ich beuge mich hinunter. Es liegt dort am Boden. Mit letzter Kraft flüstert es: "Ich... bin... das... Original."
"Unmöglich", fauche ich, als ich an mir hinunter sehe. Doch dort, wo mein Bauchnabel sein sollte, ist nur eine kreisförmige Narbe. Fast so, als hätte dort einmal ein Schlauch gesteckt.
Schule.
Einerseits war ich einer der faulen Schüler, denen die guten Noten einfach so hinterherflogen. Andererseits hasste ich die Schule für lange Zeit. Es war eine Pflicht, kein Wunsch, Teil des Schulalltags zu sein.
Doch wann immer ich in der obersten Etage des Schulgebäudes mit den vier Stockwerken unterwegs war und an den Kunsträumen vorbeikam, sah ich die Kunstwerke, die die Schüler verschiedener Kunstkurse angefertigt hatten.
Eines war ganz besonders wichtig.
Es war das bunteste und schönste Bild des gesamten Gebäudes, jedoch auch das nachdenklichste. Es zeigte einen Roboter, der aus einer Blume herauswuchs und Häuser auf seinen Schultern trug. Rohre verbanden den Boden mit den Armen der eigentümlichen Maschine, die kleine Menschen nutzten, um an diesen herunterzurutschen. Eine Träne war auf dem Gesicht des Roboters zu sehen.
Für viele Schüler stellte dieses Bild nur die verrückten Gedanken einer Gruppe mangaliebender Freaks dar. Für mich nicht. Denn es war von Freunden von mir gemalt worden. Während viele das Theaterangebotgewählt hatten, waren sie in den wenig besuchten Kunstkurs gegangen und hatten das Konzept und die Realisierung in einem halben Jahr umgesetzt. Zumindest war das der Plan gewesen.
Denn das Bild ist sogar jetzt, fünf Jahre später, nicht fertig.
Fünf Mädchen malten an diesem Bild. Tina, rostbraune Haare, grüne Augen, sehr sarkastisch und dennoch immer für einen da; die beiden Mädchen namens Ece, von denen eine ein weißes Kopftuch und die andere blaunbrond gefärbte Haare trug; und ein Zwillingspaar, Verena und Elina, beide dunkelblonde Haare, blaugrüne Augen und abgesehen vom Haarschnitt und der Brille ziemlich identisch. Wenn das Bild aus den Gedanken zweier Personen kommen konnte, dann waren es die Gedanken von der Zwillige, die beide nicht nur Fans verschiedenster Mangareihen waren, sondern auch ausgezeichnete Künstlerinnen und Gewinnerinnen vieler Mangawettbewerbe.
Ich war gut mit ihnen befreundet.
In der achten Klasse war Elina in meine Klasse gekommen, nachdem sie und ihre Schwester entschieden hatten, das Jahr zu wiederholen, um alles zu wiederholen. Verena ging in eine der Parallelklassen und fand sich schnell zurecht. Wenn zwar beide Schwestern sehr schüchtern waren, war Verena trotzdem selbstsicherer und traute sich mehr.
Elina jedoch war alleine.
Sie war zwar nicht die einzige Schülerin in der Klasse, die neu zu uns kam, da die Klassen zum neuen Schuljahr in vier Klassen aufgeteilt wurden, doch mit Sicherheit die stillste. Jeder sprach mal mit ihr, aber für fast alle Mitschüler war es das auch und das würde sich niemals ändern. Für die meisten Menschen war sie das stille Mädchen, das gut zeichnen konnte und das jeder darum beneidete; und dazu ein Mangafreak.
Ähnlich war es mir ergangen. Ich war von Mangareihen nicht so begeistert worden wie sie und zeichnen konnte ich auch nicht wirklich. Aber ich war in den ersten Jahren der Schule der kleine aggressive Junge gewesen, der so viel Frust in sich spürte, weil er übergewichtig war und von den nicht mehr so kleinen und absolut oberflächlichen Kindern auch nur als das gesehen wurde. Das hatte sich im Laufe der Zeit geändert und viele der anderen hatten mich als netten und lieben Jungen erkannt, aber die Narben waren noch da und ich kannte das Gefühl, alleine zu sein.
Ich würde an dieser Stelle also gerne sagen, dass ich ein Mensch war, der sich immer viel aus den stillen Einzelgängern gemacht hat, weil er selbst wusste, was in diesen Menschen vorging, wenn man sie nur als Randfigur in einem Gefüge verschiedener Leben sah. Es wäre mir eine Freude zu sagen, dass ich sofort auf sie zuging und sie in den Klassenverband so aufnahm, wie sie es verdient hatte.
Aber das wäre gelogen. Das habe ich nicht getan. Nicht aus Angst, dass ich wieder in die gleichen Situationen kommen würde, wie ich es durchlitten hatte; es war pure Ignoranz. Jemand anderes würde sich schon darum kümmern.
Doch das Leben geht manchmal verrückte Wege.
Es dauerte einige Zeit, bis sie und ich mehr als nur kurze, nichtssagende Gespräche führten. Erst viele Monate nach ihrer Ankunft in unserer Klasse, die sonst eine große Gruppe darstellte, konnte ich wirklich sagen, dass ich mich gut mit ihr verstand und dass wir Freunde sein würden.
Zusammen mit ihr und Bekannten machte ich ein Treffen aus. Ein Nudelsuppenrestaurant hatte aufgemacht und durch Zufall wusste ich, dass sie großer Naruto-Fan war und tatsächlich seit dem ersten Kapitel eine Nudelsuppe essen wollte, aber nie gegessen hatte. Da uns das Interesse an dieser einen Reihe also verband, hatten wir darüber gesprochen und auch die drei anderen Mitschüler dafür begeistern können. Na ja, ich hatte gesprochen und sie stand hinter mir; aber das war für mich ein gutes Zeichen und der Anfang unserer Freundschaft.
Ein paar weitere Treffen folgten und in der neunten Klasse setzten wir uns im Klassenzimmer nebeneinander, spielten in den langweiligen Mathe-Stunden und freundeten uns immer besser an. Bei einem der Treffen war auch ihre Schwester dabei gewesen, die ich schnell ins Herz schloss. Gemeinsam mit ihren Freundinnen bildete sich eine größere Gruppe und der Oberstufe sahen wir alle ziemlich begeistert entgegen.
Tatsächlich kam dann auch die zehnte Klasse mit all den Änderungen und Elina und ich hatten nur noch Deutsch zusammen. Auch dort saßen wir zusammen, kümmerten uns gewissenhaft um die Aufgaben und hielten Vorträge zusammen. Viele glaubten wohl, dass wir ein Paar seien, weil sie sich häufig hinter mir versteckte und ich ihr an kalten Tagen auch meine Jacke gab. Aber tatsächlich war es immer nur Freundschaft.
Elina und ich trafen uns in der zehnten Klasse jedoch gar nicht mehr so häufig, sie unternahm mehr mit den Freundinnen ihrer Schwester, die genauso auch ihre Freundinnen wurden. Das störte mich nicht weiter, denn ich war mir sicher, dass sie viel glücklicher war, so eine große Gruppe an Freunden zu haben und nicht mehr nur mich, nachdem die drei Freunde nacheinander von der Schule gegangen waren und der Kontakt abbrach.
Danach passierte alles gleitend.
In der elften Klasse hatten wir nur noch Philosophie zusammen.
Sie saß an einem Zweiertisch mit ihrer Schwester. Die Gespräche zwischen ihr und mir waren in der ersten Zeit noch genauso lang und inhaltsreich wie früher. Doch auch das schwand immer mehr.
Manchmal trennten sich Wege.
Irgendwie hatte ich es bereits erwartet, denn durch Konflikte innerhalb der großen Gruppe hatten zwei sich mit den anderen zerstritten und Elina und Verena wollten zu allen Kontakt halten. Dass das jedoch gar nicht so leicht ist, mussten auch sie wohl irgendwann eingesehen haben. Man schrieb sich noch ein paar Mal über MSN und sprach nur noch in der Schule. Treffen waren ganz entfallen.
Ein Mittwoch in der elften Klasse sollte es jedoch ändern. Es war dreieinhalb Wochen vor den Sommerferien und an dem Tag fand ein Sportfest statt. Wir saßen zusammen und lachten viel, zweieinhalb Stunden sprachen wir durch und hatten so viel Spaß wie ewig nicht mehr. Man wünschte sich noch einen schönen Tag und verschob weitere Gespräche auf den nächsten Tag.
Elina lächelte nur und sie und ihre Schwester rannten einer Bahn hinterher, die sie gerade noch so erwischten.
Wie jede Geschichte endet, endet auch diese. Zwei Möglichkeiten: ein schönes Ende voller Zufriedenheit und Freundschaft; oder ein trauriges Ende.
Das Leben ist nicht immer fair und Geschichten sind Leben. Ich würde mir wünschen, dass ich von all dem Glück reden könnte, das unsere Freundschaft stärkte.
Die Stühle im Philosophie-Kurs waren den folgenden Tag leer. Beide Schwestern fehlten durchaus häufig, also war ich nicht verwundert.
Tage vergingen, beide waren weiterhin krank. Viele Schüler und Lehrer waren krank.
Am extremsten Tag, der nächste Mittwoch, hatte ich erst um 14:20 Schule. Die Nachholklausuren waren auf den Donnerstag und den Freitag angesetzt und mein Herz raste schon.
Ich kam in die Schule und viele Mitschüler fanden sich in der Eingangshalle. Sie sprachen über Verschiebungen der Klausuren und fragten, ob man mit mir gesprochen habe. Ich wusste nicht, wovon sie sprachen und schob die Verschiebung auf die Unfähigkeit des Stufenkoordinators.
Philosophie begann. Der Lehrer schaute eine Schülerin an, die auch zu meiner wieder entstandenen Gruppe gehörte. Sie nickte.
Er läutete den Unterricht ein mit: “Ich weiß, es ist jetzt schwierig, aber ihr seid hier und wir sollten weitermachen.”
Ich engagierte mich und war erstaunt, dass es so leer war.
Der Unterricht verging schnell, doch der Lehrer bat mich, noch einen Moment zu bleiben.
»Das ist deine erste Stunde heute, oder?«
»Ja, ist es.«
»Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss … dir ist bestimmt aufgefallen, dass Verena und Elina nicht da waren, oder?«
Ich nickte.
»Die Beiden wurden gestern gefunden.«
»Gefunden?«
»Sie haben sich ertränkt. Wahrscheinlich letzten Mittwoch Abend.«
Ich war niemand, der häufig weinte. Immer wieder ging ich in Gedanken die letzten Monate durch. Immer wieder hatte ich den Verlust des Kontakts mit den vielen anderen Freunden entschuldigt und mir keine Sorgen gemacht. Doch auch zu diesen hatten sie kaum mehr Kontakt gehabt. Sie sind zusammen in den Tod gegangen, doch alleine gestorben.
Ich laufe oft an diesem Bild vorbei und sehe die Träne des Roboters.
Ein Roboter, der eine Heimat war.
Eine eigene Welt.
>> „Das tut weh! Bitte hör auf!“
„Ich höre erst auf, wenn du deine Lektion gelernt hast.“
Ein unsagbarer Schmerz flammt auf und lässt den Körper des Jungen erzittern. Der Mann, welcher mit einem wutentbrannten Gesichtsausdruck über ihn gebeugt steht, hebt die Hand, ein mit Nieten besetztes ledernes Band fest umklammert, und schlägt zu.
Arek!
„Bitte! Hör auf! Ich hab' s verstanden.“
„Nichts hast du verstanden. Aber das lernst du noch, versprochen!“
Der Mann lässt nicht nach, hört das erstickte Schluchzen des Kindes und bleibt doch völlig ungerührt.
Arek!
„Wenn ich mit dir fertig bin, erkennst du, wo dein Platz ist!“
„Bitte nicht... Vater!“
Und als der neue Schmerz einsetzt, geht sein Flehen in einem Meer aus Schreien unter. <<
„Arek!“
Mit einem belastenden Gefühl in der Brust und einer schier unerträglich schweren Atmung erwacht Arek völlig orientierungslos aus seinem unruhigen Schlaf und entflieht dem grauenhaften Alptraum, welcher ihn heimsucht.
Sein Blick ist verschwommen, die Augen tränen ihm. Er spürt einen festen Halt an seinen Handgelenken. Sie werden nach unten gedrückt und behindern seine Bewegungsfreiheit. Er schaut auf und erkennt die Umrisse einer Person, die sich über ihn gebeugt hat und ihm sehr nahe ist. Für Arek zu nah. In ihm entflammt das lähmende Gefühl von Angst, welches seinen Körper durchflutet.
„Beruhige dich, Arek. Ganz ruhig.“
Doch Arek kommt nicht zur Ruhe, sondern versucht krampfhaft seine Hände frei zu bekommen. Er sieht alles wie durch einen Nebelschleier und die Tränen in seinen Augen rufen einen nassen Vorhang hervor, welcher die Sicht zusätzlich beeinträchtigt. Er zittert unkontrolliert und ihm ist kalt. Seine durchgeschwitzte Kleidung klebt ihm am Körper.
Plötzlich lässt der Druck an einer Hand nach und noch ehe er reagieren kann, wird er im Bett hochgezogen und findet sich in einer festen, aber sanften Umarmung wieder. Er spannt sich an, wehrt sich dagegen, fühlt sich aber viel zu entkräftet, um sich befreien zu können. Widerwillig stellt er seine Bemühungen ein und gibt auf.
„Beruhige dich.“
Die Stimme ist voller Ruhe und Trost. Mit einer intensiven Sanftheit, die Arek langsam ins Bewusstsein kriecht und ihn von innen heraus übermannt. Er spürt die Wärme desjenigen, der ihn umarmt und entsinnt sich allmählich seiner Identität. Die Tränen rinnen ihm über die Wangen.
„Raik?“ Areks erstickte Stimme geht in einem tiefen Schluchzen unter.
„Ich bin bei dir.“
Raik drückt seinen Freund fester an sich, legt dabei sein Kinn sacht auf dessen Kopf. Arek stützt seine Stirn an Raiks Schulter und verharrt völlig still. Er atmet noch immer sehr schwer, die Schultern beben, doch sein Herzschlag gerät allmählich auf normale Bahnen. Langsam erfüllt ihn innere Ruhe.
„Tut mir leid...“
„Nein, schon okay. Musst dich nicht entschuldigen.“
Raik löst die Umarmung, umfasst vorsichtig mit beiden Händen Areks Schultern, um ihm ins Gesicht zu sehen. Doch Arek lässt den Kopf hängen, selbst nicht fähig seinem Freund in die Augen zu schauen.
Er schämt sich, denkt sich Raik. Dabei hat er schon oft genug vor mir geweint.
„Es tut weh.“
„Ich weiß, Arek. Ich weiß...“
Raik umfasst das rechte Handgelenk seines Freundes und zieht ihn vom Bett. Dieser wehrt sich nicht, trottet hinter ihm her. Vor dem Badezimmer bleiben sie kurz stehen, ehe Raik die Tür aufstemmt. Er schiebt Arek zur Dusche.
„Du kommst ja kurz ohne mich zurecht. Bin gleich wieder da.“
Als sich die Badezimmertür schließt, bleibt Arek noch eine Weile unschlüssig stehen, eher er sich anschickt, seine feuchte Kleidung ausziehen. Dabei geht sein Blick zum Spiegel. Er tritt heran, stützt sich mit den Händen am Waschbecken ab. Nur mit Überwindung dreht er die rechte Schulter leicht nach vorne, sodass er freien Blick auf den dortigen Teil des Rückens erhält.
Warum nur hat er mich so gehasst?
Arek geht unter die Dusche, dreht am Ventil und lauwarmes Wasser strömt aus der Brause. Er hebt den Kopf, lässt das Wasser sein Gesicht benetzen. Es fühlt sich wie ein Schauer mitten im Sommer an.
Warum nur?
Arek lässt sich Zeit und als er aus der Duschkabine steigt, liegen neue Kleidungstücke bereit. Er hat gar nicht mitbekommen, wie Raik sie hier hingelegt hat. Er trocknet sich ab, wobei er seinen Rücken absichtlich auslässt und schlüpft in die Klamotten. Es stört ihn nicht, dass das T-Shirt sich sofort an die feuchte Haut heftet und ein brennendes Gefühl hinterlässt.
Es schmerzt auch so.
Ein Klopfen. Die Tür öffnet sich und Raik tritt ins Bad. Das Gesicht sorgenvoll, aber trotzdem entspannt. In der linken Hand hält er eine weiße Tube. Arek stellt sich vor das Waschbecken und zieht das Shirt wieder hoch, sodass der Rücken frei liegt.
„Wie ich das hasse.“
Raik ignoriert die Worte seines Freundes, greift zu einem Handtuch und tupft die Haut trocken. Er bemerkt, dass sich Arek anspannt, doch darauf kann er keine Rücksicht nehmen. Er dreht den Deckel der Tube ab, nimmt was von der weißen Salbe auf die Hand. Als er die Haut am Rücken berührt, zuckt Arek zusammen. Ganz vorsichtig verteilt er die kühle Masse. Dabei gleitet Raiks Handfläche über eine unebene Oberfläche, ein groteskes Muster aus roten, verdickten Striemen. Verursacht durch Schläge mit einem nietenbesetzten Gürtel. Ein immerwährendes, schmerzhaftes Zeichen der Vergangenheit.
„Mich wundert es, dass du es immer noch mit mir aushältst.“
Raik hält irritiert inne. Arek dreht sich um, zieht dabei das T-Shirt zurecht und blickt seinem Freund zum ersten Mal seit dem Erwachen in die Augen. Forscht in dessen Gesichtszügen nach seinen Gedanken, kann diese aber nicht erschließen. Er selbst fühlt sich innerlich leer. Raik versteht dessen Gemütslage sofort und ohne das Arek es will, findet sich dieser alsbald in einer erneuten Umarmung wieder. Augenblicklich spannt er sich an, doch Raik bleibt beharrlich.
„Warum zuckst du nach all der Zeit noch wegen jeder kleinsten Berührung zusammen?“
„Als ob du das nicht wüsstest.“
„Ich weiß es, aber ich verstehe es nicht.“
„Was gibt es da nicht zu verstehen?“
Raik seufzt.
„Arek, wovor hast du solche Angst? Etwa davor, dass man dich wieder so verletzt, wie du es in deiner Kindheit erleben musstest? Hältst du mich für so skrupellos, dass ich dir auch irgendwann schaden würde? Gerade du solltest doch allmählich begreifen, dass du mir vertrauen kannst, oder nicht?“
Arek beißt die Zähne fest aufeinander.
„Was weißt du schon?!“
„Ich weiß, dass du das Gefühl hast, du hättest es nicht verdient, so etwas wie echte Liebe zu erhalten. Du unterscheidest die Welt um dich herum nur in schwarzen und weißen Farbtönen. Erkennst aber nicht, dass sie in Wirklichkeit auch Graustufen besitzt. Daher flüchtest du dich ständig in eine Abwehrhaltung.“
Raik lässt seine Worte wirken, beobachtet Areks Reaktion.
„Weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben?“
Plötzlich schießt Arek die Röte ins Gesicht.
„Erinnere mich nicht daran!“
„Du saßt in einer kleinen Kneipe und hattest ein Glas nach dem anderen in dich hineingekippt, um deinen Schmerz und Frust im Alkohol zu ertränken. Letztlich warst du so betrunken, dass du keine Kontrolle mehr über deine Handlungen hattest. Ich saß ebenfalls dort, schon vier oder fünf Gläser Bier intus, war aber nicht so angetrunken wie du. Das Ende vom Lied war, dass wir beide am nächsten Morgen bei mir wach geworden sind. Im gleichen Bett.“
„Ich will das nicht hören! Weißt du, wie peinlich das für mich war?!“
„Scheinst es aber nicht bereut zu haben.“
Als Arek sich anschickt, eine Bemerkung hinterher zu schieben, legt Raik seine Lippen auf die Areks und bringt ihn damit zum Schweigen. Völlig überrumpelt fallen Anspannung und Abwehr ab. Und als sich ihre Lippen lösen und Raik Arek in die Augen schaut, sind diese stark gerötet.
„Steh doch einfach zu deinen Gefühlen und tu nicht immer so, als besäßest kein Recht darauf, glücklich zu sein. Man hat dir unnötig Leid zugefügt, dir eingetrichtert, du seist nicht von Wert, aber das stimmt nicht. Und auch wenn es kitschig klingt, für mich bist du der wichtigste Mensch in meinem Leben geworden.“
Arek senkt den Blick, ihm ist die Situation mehr als unangenehm. Raik aber fasst ihm unters Kinn und hebt es an, sodass Arek gezwungen wird, ihn wieder anzuschauen.
„Ich bin ein genügsamer Mensch, Arek. Hatte nie wirkliche Bedürfnisse und kam mit den wenigen Dingen, die ich besaß, im Leben gut zurecht. Ich bereue es nicht, mich auf dich eingelassen zu haben und sehe in deinen seelischen Problemen und den Narben keinen Grund, dich einfach alleine zurückzulassen. Ich habe immer Geduld mit dir gehabt, deine Launen ertragen, dich so angenommen wie du bist. Habe dich einfach lieben gelernt.
Du warst schon immer sehr wortkarg, umso mehr musste ich mich auf deine einzelnen Handlungen und deiner Körpersprache beschränken, um dich zu verstehen. Du gibst dir selbst nie die Blöße, deine Gedanken und Gefühle direkt auszudrücken, sondern machst es eher auf unbewusste Art. Und genau das liebe ich so an dir.“
Langsam strömen Tränen Areks Wangen hinab.
„Du bist so furchtbar peinlich.“
Raik drückt ihn enger an sich, lehnt seine Stirn an die Areks. Ein sanftes Lächeln bildet sich auf seinen Lippen.
„Ist mir egal."
Die Sonne stand hell am Himmel und ihre warmen Sonnenstrahlen kitzelten sie in ihrem Gesicht. Träge und etwas erschöpft öffnete Luna die Augen. Sie war durch den Sturz in die Tiefe noch ein wenig benommen und hatte Schmerzen.Sie fasste sich an den Kopf. „ Autsch.... mein Kopf;“ stöhnte das Mädchen. An ihrer Stirn rang ein wenig Blut herunter. Sie fasste sich an den Kopf und versuchte sich aufzurichten. Sie zuckte ein wenig zusammen. Womöglich hatte sie sich beim Sturz ein paar Prellungen und einige kleine Verletzungen zugezogen. „Verdammt! Was... was ist passiert..und wo bin ich?“ Die Sonne schränkte Luna`s Sicht ein und sie konnte ihre Augen nur halbwegs öffnen. Luna hörte viele Vögel zwitschern und der Boden auf dem sie saß war sehr weich und reich mit Gras bedeckt. Es roch so natürlich hier das kannte sie von zu Hause gar nicht. Im Dorf Allamandra war es nie so hell und sonnig wie hier eher dunkel und umgeben von vielen Bäumen und es roch dort häufig nach Moos. Außer am Wasserfall dort war es fast genauso schön wie hier. In Allamandra nannte man diesen Wasserfall „Quelle des Lebens“ und das war er auch. Dort fand man viele verschiedene Tierarten, sehr schöne Früchte, viele verschiedene Heilkräuter und wunderschöne Blumen. Nur sehr wenige kannten den Weg dorthin. Ein Platz zum verlieben. Aber dieser Ort an dem Luna sich gerade befand war trotzdem anders. Als ein paar Wolken die Sonne für kurze Zeit bedeckten richtete sie sich langsam auf. Sie wischte sich das Blut von der Stirn und schaute sich um. Sie fasste sich an ihren Oberkörper und tastete ihn nach dem Medaillon ab. „Waaas? Oh nein Wo ist es? Wo ist das Medaillon hin?“ Hektisch schaute sie sich um und beugte sich unter Schmerzen zu dem wunderschönen mit Gras bedeckten Boden. „ Das kann doch nicht sein das muss doch hier irgendwo liegen? Und mein Rucksack ist auch nirgends zu finden.. Mist.“ Das Mädchen fluchte und tastete den Boden ab. Doch ihre Bemühungen waren umsonst. Sie hatte weder das seltsame Medaillon gefunden noch ihren alten Rucksack. Erschöpft und immer noch ein wenig mitgenommen setzte sie sich im Schneidesitz nach unten. Sie blickte zur Klippe hinauf wo sie womöglich hinab gestürzt war. Da entdeckte Luna zumindest ihren alten Rucksack der sich an einem Ast hoch oben verfangen hatte doch immer noch keine Spur von ihrem Medaillon. „ Na toll;“ dachte sich das kleine Mädchen und schüttelte ihren Kopf.
„ Wie soll ich denn da wieder rauf kommen in meinem Zustand?“ Das Mädchen seufzte und hielt ihre Hand an ihre rechte Seite des Körpers. Ein leises „Autsch“ kam aus ihrem Mund. Luna blickte noch einmal hinauf zu ihren alten Rucksack.
Sie wusste ganz genau auch wenn sie ihn noch so oft anstarrte würde er nicht von selbst herunter fallen. Luna fluchte erneut und ihr Blick wandte sich von der Klippe ab. Die Strahlen der Sonne kamen langsam wieder durch die schneeweißen Wolken und es wurde heißer und heißer. Die Kleine Luna biss ihre Zähne zusammen und stand auf. Sie musste in den Schatten und begab sich zu einem sehr großen und stämmigen Baum. Sie setzte sich an den Baumstamm und lehnte sich nach hinten. Sie seufzte laut und hoffte das bald jemand vorbei kommen würde der ihr vielleicht bei der Suche nach dem Medaillon half. Sie saß lange Zeit unter diesen Baum und wartete. Luna hörte das rauschen der Blätter die sich im Winde bewegten und schlief erschöpft ein. Nach einer gefühlten Ewigkeit bemerkte Luna wie sie jemand an der Schulter rüttelte. Dann hörte sie im Unterbewusstsein eine Stimme. Sie kannte diese Stimme nicht aber sie klang angenehm. Durch das rütteln des Unbekannten wurde Luna langsam wach.
„ Hey... du … Hallo... alles Okay bei dir?“ Das Mädchen öffnete langsam ihre Augen und sah ein nettes Gesicht, mit lockigen Haaren.
„Gott sei Dank du bist endlich wach hier trink erstmal was.“ Der Unbekannte hielt ihr eine Wasserflasche hin und Luna streckte ihre linke Hand aus und griff nach der Wasserflasche. Sie trank ein paar Schlücke und der Unbekannte setzte sich in der zwischenzeit neben ihr an den riesigen Baumstamm. „ Ich dachte schon du wachst überhaupt nicht mehr auf ;“ meinte er mit besorgter Stimme. Der Lockige drehte sich zur Luna und blickte sie an. „ Geht`s wieder etwas besser? Du hast dich ja verletzt...Warte eine Sekunde.“ Der Junge kramte in seiner Bauchtasche und holte ein weißes Tuch heraus. Er stand auf und band es um Luna`s Wunde auf dem Kopf.
Luna hielt die Wasserflasche immer noch in der Hand und schaute den Jungen an.
„Danke;“ murmelte das Mädchen. Der Junge hatte größere und ein klein wenig längere Ohren als sie, viele Locken auf dem Kopf und grün-braune Augen. Er sah ziemlich jung aus und war ordentlich aber ein wenig altmodisch gekleidet, er hatte große und behaarte Füße und hatte keine Schuhe an. Luna hatte so eine Person noch nie zuvor gesehen und richtete sich auf. Neugierig aber auch ein wenig zurückhaltend musterte sie ihn. „ Wer ..bist du und wieso bist du so klein?“ Der kleinwüchsige Junge lachte und schaute sie erstaunt an. „ Kaum wieder bei Bewusstsein schon bombardierst du mich mit Fragen. Ich bin Torry und ich bin ein Hobbit. Ich kann nichts dafür das ich ein wenig kleiner bin als du das ist meine Natur. Und wer bist du?“
Luna blickte ein wenig verdutzt. Sie fing an zu stottern: „ Ein Hobbit? Hmm sagt mir nichts. Ich bin Luna und ich bin kein Hobbit sondern ein Mensch.“ Torry nickte. Anscheinend wusste er das Luna ein Menschenkind war sie war schließlich nicht die einzige die sich hier in Hobbingsten verirrt hatte und die Torry schon gesehen hatte. Torry fragte Luna ob sie aufstehen könne. Luna nickte und versuchte langsam aufzustehen. Torry half ihr hoch. „ Was treibt dich hier her Luna und wieso bist du verletzt?“ Er schaute das Mädchen fragend an. Luna erzählte ihm das sie von dort oben herab gestürzt war als sie auf der Flucht vor eigenartig hässliche Wesen war. Plötzlich blieb Luna aufgeregt stehen. Sie fasste sich mit der Hand an den Kopf. „ Natüüürlich, diese komischen Wesen jetzt erinnere ich mich wieder die müssen mein Medaillon haben die hatten es mir doch aus der Hand gerissen und dann muss ich gestolpert sein und dort herunter gestürzt sein. Oh man.... so ein Mist.“ Torry wusste nicht wovon sie redete aber zumindest wusste er jetzt, dass sie von irgendwelchen Wesen angegriffen oder gejagt wurde und sie dann dort oben herunter gestürzt war. „ Torry ich muss das Medaillon unbedingt wieder bekommen ich weiß nicht was es für Kräfte hat und wozu man es braucht. Von einem Waisen Mann habe icherfahren das es womöglich den Elben gehören kann und ich wollte mich auf dem Weg dorthin machen auch wenn ich keine Ahnung habe wo ich diese Elben finden kann.“ Ohne Punkt und Komma textete das Mädchen den jungen Hobbit Torry zu. Bis er sie dann mit einem Lauten „ Stoopp“ unterbrach. „ Pass auf Luna das kannst du mir alles nachher in Ruhe erzählen, aber erstmal werde ich dich mit nach Hause nehmen, deine Wunden versorgen und dir etwas zu essen machen.“ Luna nickte und schaute noch einmal zu ihrem Rucksack, der immer noch an einem Ast an der Klippe hing. dann ging sie zusammen mit Hobbit Torry in Richtung Hobbingsten. Luna staunte nicht schlecht als sie bei Torry`s Wohnung ankam. Der Eingang war sehr klein und gleichte einem Wolfsbau oder so etwas in der Art, aber innen war es schön eingerichtet. Torry begleitete Luna ins Wohnzimmer und sagte sie solle es sich gemütlich machen. Dann holte er einen Verbandskasten heraus und verband meine Verletzungen. Er machte ein paar Kerzen an den draußen war es bereits dunkel geworden. Luna richtete sich auf. Torry setzte sich neben ihr. „ Also Luna wovon hast du vorhin geredet von welchem Medaillon war die Rede und welche Kreaturen haben dich angegriffen?“ Das Mädchen runzelte mit der Stirn und erzählte ihm nochmal die ganze Story woran sie sich noch erinnern konnte. Daraufhin holte der junge Hobbit ein Buch aus seinem verstaubten Regal. Er schlug das Buch auf und blätterte zu einer bestimmten Stelle. „ Hier ist das so ein Medaillon?“ Luna schaute ganz genau auf die Abbildung. „ Ja genau das ist das Medaillon, aber der Kristall darin war schillerndes lila kein schillerndes Rubinrot;“ fügte das Mädchen noch hinzu. „ Hmm;“ murmelte Torry in seinen nicht vorhandenen Bart. Er blättert eine Seite weiter und darin waren drei Medaillon zu sehen. Das eine hatte einen Smaragdgrünen Kristall inmitten des Medaillon, er gehörte dem listigen, tückischen, geizigen aber auch schlau und zauberkundigem Zwergenvolke an. Das andere Medaillon mit dem schillerndem und mystischem lila das Luna vorher besaß gehörte dem Elbenvolk an. Und das Rubinrote Medaillon gehörten einst den mächtigem Drachenvolke an. Jedes einzelne Medaillon besaß wohl verschiedene Kräfte. Doch mehr Infos waren auch in Torry`s Buch nicht zu finden.
Tom stand in der Küche. Er knetete gerade Teig, der vom Backen der Weihnachtsplätzchen übrig geblieben war. Dabei formte er zuerst den Körper, dann legte er Zuckerperlen auf den Bauch des Teigmännleins, damit es so aussah, als trüge das Männlein einen Mantel mit Knöpfen. Sie dienten ebenfalls als Augen. Den Mund malte er mit Zuckerguss auf. Am Ende sah das Teigmännlein schon recht appetitanregend aus, obwohl Tom der Zuckerguss-Mund etwas verunglückt war, weil dieser durch seine Schiefe dem Männchen einen etwas ratlosen Gesichtsausdruck verlieh. Das einzige, was fehlte war eine schöne Bräunung. Dementsprechend kam das Teigmännlein auf der Stelle in den Ofen. Die Minuten vergingen und irgendwann war es dann soweit. Die Eieruhr machte „Ping“, das Teigmännlein konnte nun gegessen werden.
Tom öffnete den Ofen und freute sich bereits auf den leckeren Duft, der seine Sinne gleich betören würde, obwohl das das einzige sein sollte, was er von dem Männlein haben konnte. Er ärgerte sich immer noch, dass er diese blöde Wette verloren hatte, sonst hätte man ihm jetzt dieses Teigmännlein backen müssen. Aber dann geschah das Undenkbare. Das Teigmännlein sprang plötzlich auf und dem armen Tom direkt ins Gesicht. Ohnmächtig fiel er rückwärts zu Boden, doch das Teigmännlein konnte weiterhin lebendig wie ein Welpe umherlaufen. Es durchquerte die Küche, was bei seinen kurzen Beinen recht lange dauerte, ihm jedoch kaum auffiel, da es viel zu beschäftigt damit war, die vollkommen neue Umgebung zu entdecken. Schließlich gelangte es dann aber doch an die Tür zum Wohnzimmer, die einen Spalt weit geöffnet war. Aus dem Raum dahinter konnte man komische, schmatzende Geräusche hören, die das Teigmännlein misstrauisch machten. Deshalb stoß es die Tür zwar auf, aber nur so, dass es gerade noch hindurchgehen konnte.
Was es danach mit ansehen musste, war ein grauenhafter Anblick. Ein Typ, der Ähnlichkeit mit Jabber dem Hutten aus Star Wars hatte, lag auf einem roten Sofa und holte gerade aus einer kleinen Dose auf dem schwarzen Marmortisch vor ihm eine kleine Gestalt heraus. Erst auf dem zweiten Blick erkannte das Teigmännlein, dass es sich bei dieser Gestalt um einen seiner Brüder handelte. Hilflos und geschockt musste es mit ansehen, wie der Unbekannte seinen Bruder verschlang. Nach und nach verschwanden der Zuckergussmund, die lila Zuckerperlen und der herrlich braungebrannte Teig. Es hätte das Teigmännlein selbst sein können, was dort eben verspeist worden war und es war froh, dass es bis jetzt nichts gegessen hatte.
Dieses bestialische Treiben konnte das Männlein natürlich nicht weiter zulassen. Deshalb befreite es sich von seiner anfänglichen Schockstarre, schritt in das Wohnzimmer und rief so laut, wie es nur konnte: „Hey, du Dickbauch! Lass das sofort sein!“Der Typ schien ziemlich überrascht. Fragend blickte er um sich, das Teigmännlein bemerkte er aber nicht. Dann polterte er mindestens doppelt so laut, wie er eben noch beschimpft worden war: „Tom, hast du mich etwa gerade Dickbauch genannt? Ich kann zwar verstehen, dass du wegen der Wette sauer bist, aber diesen Ton mit mir kann ich nicht dulden. Komm sofort her!“„Also nicht nur dick, sondern auch doof? Ich rede mit dir, Dickbauch!“, antwortete das Teigmännlein. Es erklomm das Sofa, bis es auf der Armlehne angelangt war und seinem fetten Feind ins Gesicht sehen konnte. Als dieser sah, dass ihm gerade eine Backware gegenüberstand, wurde sein Blick für einen kurzen Moment noch verdutzter als vorher schon. Doch dann lachte er und kleine, von Spucke durchtränkte Krümel seines Bruders flogen dem Teigmännlein ins Gesicht. „Du wagst es, in diesem Ton mit mir zu reden? Hast du nicht gesehen, was ich eben noch mit einem deiner Verwandten gemacht habe?“
„Das habe ich sehr wohl! Und ich will immer noch, dass du damit aufhörst.“
„Ich glaube, dir muss ich Manieren beibringen. Du bist zwar sprechendes Essen, aber doch trotzdem Essen.“
„Willst du mir etwa drohen?“
„Na, was denkst du denn? Wer ist denn hier der Große, und wer der Kleine?
„Iss mich und ich schwöre dir, du wirst mich wieder aushusten. Wenn ich will, kann ich mehr krümeln, als ein Rührkuchen!“
Für einen Moment schien der dicke Mann abzuwägen, doch schließlich öffnete er entgegen aller Vernunft seinen Mund. Trotzdem blieb das Teigmännlein standhaft. Selbst im Angesicht dieser Gefahr stellte es sich diesem Ungeheuer furchtlos gegenüber und brüllte: „Du hast es nicht anders gewollt, aber nun sollst du bekommen, was du verdienst!“
Was dann folgte, war Stille. Tatsächlich hatte der dicke Mann das Teigmännlein verschlugen und es schien unmöglich, dass es jemals wieder aus seinem Rachen herauskommen würde, doch dann bekam er einen unglaublichen Hustanfall und spuckte schließlich das Teigmännlein aus. Nun stand dieses vor ihm, auf seinem Bauch und blickte ihn böse an. Nur langsam ließ der Hustanfall nach. Es dauerte lange, bis der dicke Mann wieder etwas sagen konnte: „Das fühlte sich an, als hätte ich eine Schaufel Sand im Mund gehabt.“ Das Teigmännlein schaute ihm triumphierend in die Augen. „Ich habe dich gewarnt, aber du wollest nicht hören. Wirst du ab jetzt aufhören meine Brüder und Schwestern zu verspeisen?“ Trotz blitzte in den Augen des dicken Mannes auf. „Niemals!“
„Ich bin voll mit deinem Sabber. Soll ich lieber unter dein Hemd klettern, und dich auf ewig mit feuchten Krümeln unter der Kleidung quälen?“Sofort war der Trotz aus den Augen verschwunden und ließ nur blanke Angst zurück. „Oh nein, bitte nicht. Ich werde mich ab sofort in Verzicht üben, versprochen.“
„Du musst es schwören!“
„Jaja, ich schwöre auf alles, nur kriech mir nicht unter mein Lieblingshemd.“ Mittlerweile hatte der Mann Tränen in den Augen. Er war geläutert.
„Solltest du je wieder ein Teigmännlein essen, weder ich wiederkommen und meine Rache wird fürchterlich sein. Das solltest du dir merken.“Dann drehte es sich ohne ein weiteres Wort um und schritt den dicken Bauch des Mannes hinunter, ohne dass dieser Anstalten machte, sich zu bewegen. Still, doch stets Gefahr ausstrahlend, ging das Teigmännlein die ganze Zeit vollkommen ruhig im selben Tempo weiter. Selbst als es schon längst das Haus des dicken Mannes durch die Katzenklappe verlassen hatte, wagte dieser nicht aufzustehen.
Prolog:
Das Leben ist wie ein Buch. Jeden Tag blättert das Schicksal eine Seite um.
Es war schon wieder Montagmorgen. Nach einer unruhigen Nacht schien die Sonne durch mein Zimmerfenster. Die warmen Sonnenstrahlen kitzelten meine Nase. Träge öffnete ich die Augen. Das erste was ich jeden Morgen machte, ist auf die Uhr schauen. Es war genau 6:00 Uhr. Müde hob ich meine Beine aus dem Bett und stand auf. Ich spürte den kalten Holzboden unter meinen Fußsohlen und bei jedem Schritt knarrte er. Ich versuchte zu schleichen um meinen Vater nicht zu wecken. Leider war das knarren trotzdem unüberhörbar. Blieb nur zu hoffen das mein Vater gestern Abend ein bisschen zu viel getrunken hatte und somit in Tiefschlaf verfallen war. Ich schlich weiter in die Küche und wollte mir ein Brot machen. Leider musste ich, nachdem ich den Wandschrank geöffnet hatte, feststellen, dass wir kein Brot im Haus hatten. Typisch. Hoffnungvoll öffnete ich den Kühlschrank doch auch da erwartete mich nur gähnende Leere. „Mist“. Frühstück muss dann heute wohl ausfallen. Also ging ich ins Bad und stieg unter die Dusche. Mich traf fast der Schlag als ich das Wasser andrehte. Das Wasser war eiskalt als es auf mich herab prasselte. Einen kleinen Schrei konnte ich nicht unterdrücken. Hastig stellte ich das Wasser ab um zu hören ob Papa aufgewacht war...
„Puh zum Glück, nichts zu hören,“ dachte ich mir. Also stieg ich wieder in die kalte Dusche. Durch das eiskalte Wasser brauchte ich viel weniger Zeit zum Duschen und verließ somit eine halbe Stunde früher das Haus als gewohnt. Aber warum sollte ich zu Hause noch warten. Da war nichts was mich festhielt. Ich hätte nur in meinem leeren Zimmer rumsitzen können und aus dem Fenster schauen können, also begab ich mich nach draußen. Ich ging den steinigen Weg entlang zur Bushaltestelle. Wie jeden Morgen zuckten ein paar traurige Erinnerungen durch meinen Körper, als ich das alte Baumhaus von uns gegenüber auf der Bauernwiese sah. Ich war früh dran, also erlaubt ich mir kurz die Erinnerung zuzulassen. Da war ein zweites Gesicht, dass mich anstrahlte. Nur ein kleines Muttermahl unterschied das Gesicht von meinem. Es strahlte mich an und streckte mir ein paar Kirschen entgegen. „ Hier schau mal Zoey, die habe ich ganz alleine gepflückt, nach der Schule. Die Stimme klang zufrieden und fröhlich. Wir mussten so um die sieben gewesen sein,als wir das erste Mal im Baumhaus spielen konnten. „Sind sie nicht wunderschön, so viele und sie sehen so rot und saftig aus?“ „Davon können wir alle satt werden auch Mama und Papa, strahlte mich das kleine Gesicht wie zuvor an. Ich bekam etwas feuchte Augen. Wieder zurück in der Realität betrachtete ich das alte Baumhaus. Es war ehrlich gesagt extrem hässlich und besonders stabil sah es auch nicht aus, aber Papa hatte sich damals so viel Mühe gegeben. Das Baumhaus war unser einziger Ort wo wir spielen konnten, wo wir Spaß haben konnten und wo wir einfach Kind sein konnten. Und vor allem war es ein kleiner Zufluchtsort für uns um der harten Realität wenigstens für ein paar Stunden zu entkommen.Traurig seufzte ich und drehte mich um zur Haltestelle. Niemand war bis jetzt zu sehen, also steckte ich mir meine Kopfhörer ins Ohr und tauchte ab in meine Musikwelt. Ich hatte nichts besonderes, nur ein MP3-player, den ich mir damals für 2 € auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Meine Musikrichtung war meist Symphonic Metal, Gothic Musik und ab und an auch normale Musik. Das ist aber auch das einzige was mir aus der Vergangenheit an schöne Erinnerungen geblieben ist. Jetzt war es genau 7:00 Uhr und ein paar Schüler aus meiner Schule näherten sich der Bushaltestelle. Sie unterhielten sich wie jeden Morgen miteinander, grüßten keinen und drehten sich zur Seite. Also drehte ich mich eben in die andere Richtung. Tief versunken in meiner Musik riss mich plötzlich ein leichtes klopfen an der Schulter aus meiner Welt heraus.
Ich drehte mich um und sah ein ausgesprochener hübscher Junge, den ich noch nie zuvor an dieser Haltestelle, geschweige denn an unserer Schule gesehen hatte. Er schaute mich ein bisschen verwirrt, ahnungslos und fragend an. Ich machte meine Musik aus und nahm die Kopfhörer aus den Ohren, dann schaute ich ihn an. Er hatte wunderschöne blaugrüne strahlende Augen, die mich in ein Bann zogen. Ich war für kurze Zeit geblendet und er fragte mich: „ Entschuldigung, ich bin neu hier in der Gegend und heute beginnt mein erster Schultag in einer fremden Schule, kannst du mir vielleicht sagen mit welchem Bus ich fahren muss?“ Ich war immer noch etwas hin und weg von seinen Augen da fragte er mich erneut: „ Hallo.... ist alles in Ordnung mit dir?“
Ich kam langsam wieder zurück und fing an zu stottern: „ j...jjaa.. es... es.... ist alles okay mit mir... Ähm …. Tut mir Leid aber wie war noch mal deine Frage?“Er schaute mich etwas besorgt an und wiederholte seine Frage noch einmal: „ Ich wollte wissen wie ich zum High Voltage College komme, da ich hier in der Gegend neu bin und mich hier nicht auskenne. Also …. kannst du mir vielleicht sagen, mit welchem Bus ich dorthin fahren muss?“ Ich antwortete ihm mit angespannter Stimme: „ Ja natürlich, ich muss auch dorthin wir müssen mit der Linie SB5 fahren, er müsste in 10 Minuten hier sein.“ „ Vielen Dank junge Lady, dann werde ich mich auf die Bank setzten und warten bis der Bus hier ankommt;"antwortete der Junge mit den wunderschönen Augen zufrieden. Mir wurde ziemlich warm ums Herz. Ich blickte zu ihm hinüber und sah ihn mir noch einmal an. Ich dachte mir: „ WOW.... was für wunderschöne Augen und er hatte mit mir geredet, obwohl noch mehrere Leute an der Haltestelle standen, die er fragen konnte.“ Ich war in diesem Augenblick richtig gerührt und glücklich zugleich. Ich fragte mich in welche Klasse er wohl kommen wird, wie er heißt und wie alt er war. Aber etwas seltsam war er schon, ich meine er hatte strahlend leuchtende blaugrüne Augen, er hatte kaum Farbe im Gesicht und hatte ein schönes lächeln. Dieses Lächeln erinnerte mich wieder an früher. Es erinnerte mich an meine kleine Schwester Maja und an meine Mutter. Sie hatten beide ein wunderschönes lächeln und strahlten soviel Lebensfreude aus auch wenn es uns damals nicht wirklich besser ging als jetzt. Das rieb mir wieder Tränen in meine großen braun grünen Augen. Und wieder kamen solche Erinnerungen die mich einerseits glücklich machten anderseits auch traurig und wütend machten. Ein letztes mal, bevor der Schulbus kam, blickte ich zu unserem alten Baumhaus hinüber, schaute in den Himmel und ließ für einen Augenblick diese Gedanken hinter mir. Der Bus kam angefahren, die Bremsen quietschten und der Fahrer öffnete die Türen. Ich stieg wie immer ganz vorne ein. Ich setzte mich ganz links vorne auf einen Einzelplatz und schielte nach hinten. Der Junge von vorhin stieg hinten ein. Er setzte sich nach hinten auf ein zweier Platz neben einem eingebildeten und hochmäßigen Mädchen namens Amalia Tayler. Sie ging in meine Klasse war 16 Jahre alt und dachte immer, nur weil ihre Eltern reich sind und in einer Villa im teuerstem Stadtteil wohnten, wäre sie etwas besonderes und dürfe sich alles erlauben. Naja sie war zwar keine Einser Schülerin aber dennoch ein wenig besser als ich. Jeder in der Klasse mochte sie. Auch die ganzen Jungs in meiner Klasse standen auf Amelia. Doch charaktermäßig war sie meiner Meinung nach eine Null. Wie immer schmiss sie sich gleich an den Neuen ran und fing an mit ihm zu reden und zu flirten. Er fühlte sich offenbar ein bisschen bedrängt gab ihr aber dennoch Antworten. Ich kochte vor Wut und dachte mir: „ Diese dumme eingebildete Ziege... muss die sich immer an andere so ran schmeißen, merkt die denn nicht, dass er sich etwas bedrängt fühlt und von ihrem Gequatsche genervt ist? Und warum redet er immer noch mit ihr obwohl er es gar nicht wirklich will?“ Wütend und etwas genervt steckte ich meine Kopfhörer in die Ohren und stellte die Musik auf ganz laut um mich etwas abzuregen. Jeden Morgen musste ich eine knappe halbe Stunde mit dem Bus zur Schule fahren und wenn ich angekommen bin musste ich mich immer extrem beeilen um nicht zu spät zu kommen. Gerade Montags zur ersten Stunde war es immer besonders schlimm. Da hatten wir nämlich Mathematik bei Professor Dr. Melvin, ein sehr strenger aber korrekter Lehrer bei dem der Unterricht kein Zuckerschlecken war. Ab und an blickte ich wieder nach hinten zu diesem Jungen mit den wunderschönen Augen um zu schauen, ob Amalia ihn immer noch zu textete. Ja das tat sie. Wie immer, aber irgendwie hatte der gutaussehende Junge kein großes Interesse an ihr und schaute lieber aus dem Fenster oder ab und zu mal zu mir nach vorne. Das zauberte mir für einen kurzen Moment ein kleines Lächeln ins Gesicht. Plötzlich gab es einen heftigen Ruck und der Bus legte eine Vollbremsung hin.
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