Saisonfinale
- 2014 / Runde drei -
Informationen / Vote
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Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist es aufgrund der Berechnung der Gesamtpunkte mit der Formel wichtig, dass ihr alle eure Punkte verteilt. Dazu findet ihr weiter unten eine Schablone, die ihr zum Voten nutzen könnt. Des Weiteren sind Sympathievotes sowie Votes für die eigene Abgabe unerlaubt. Begründungen sind keine Pflicht, aber können geschrieben werden, sofern man möchte (ihr könnt euch als Hilfe unser "How-to-vote-Topic" anschauen). Votes mit Begründungen erhalten Punkte in der Votetabelle. Informiert euch ebenfalls in unserem Informations- und Regeltopic der Saison 2014.
ZitatEure Aufgabe in der dritten Runde besteht darin, eine kurze Geschichte zum Thema "Die aufregende Welt der unbelebten Dinge" zu verfassen. Unter "unbelebte Dinge" fallen zum Beispiel Gegenstände, auf deren Sichtweise ihr eure Geschichte aufbauen könnt. Nun seid ihr gefragt! Was denkt eine Uhr wohl den lieben langen Tag? Wie empfindet ein Bleistift seine Arbeit als Schreibwerkzeug? Gefällt einem Zug die Fahrt durch die Welt? Vielleicht wolltet ihr schon immer einmal die Beziehung zwischen Roboter und Mensch darstellen oder ihr nehmt euch den alltäglichen Problemen eines Spiegels an. Wie ihr seht, könnt ihr eurer Kreativität dabei freien Lauf lassen.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 14.12.2014, um 23:59 Uhr.
Ihr dürft 7 Punkte verteilen. Maximal 4 an eine Abgabe. Bitte achtet darauf, dass ihr alle eure Punkte verteilt. Ihr müsst des Weiteren diese Punkte auf mindestens drei Abgaben verteilen.
Ich wünschte, ich wüßte es nicht.
Tagein, tagaus gehen Menschen an mir vorbei. Ich höre ihre gedämpften Schritte auf dem Teppich, ihr Gelächter, das „schhh“ der anderen Besucher, wenn sie zu laut sind und die Ruhe stören, die in einer Bibliothek herrschen sollte. Ich sehe ihre Blicke, die nie auf mir liegen bleiben, nicht einmal, um zu lachen. Die These, heutzutage herrsche kein Respekt vor dem Alter mehr, kann ich zumindest nicht bestätigen, denn sonst wäre ich schon längst fort oder bloß ein Objekt, über welches man sich lustig macht, anstatt einfach nicht betrachtet zu werden.
Dennoch hätte ich es lieber, sie fänden mich amüsant, sie brächten mir das kleinste bisschen Aufmerksamkeit entgegen, statt mich fortlaufend keines weiteren Blickes zu würdigen. Doch es ist nun schon Jahre her, seit man das letzte Mal durch meine verstaubten Seiten geblättert hat.
„Lass das mal schnell nachschlagen“, klingt eine junge Stimme an meinen braunen ledernen Einband heran. Ich möchte mich freuen, ich möchte hoffen, bei jenen Worten und ihrer Bedeutung, allerdings habe ich schon vor langer Zeit aufgehört, mir falsche Vorstellungen zu machen. Wenn die Menschen heute 'nachschlagen' benennen, meinen sie damit das neuartige Gerät, mit seinen Schaltkreisen und seinem leuchtenden Bildschirm, der Dinge sogar in Farbe zeigt, wie war noch gleich sein Name? Ich kann mich nicht erinnern.
Dabei weiß ich doch so viel. Ich kenne alle Nachkommstellen von π bis zur hundertsten, ich weiß, daß der wissenschaftliche Name der Raße der Löwen panthera leo lautet, ich bin mir im Klaren über die Vorgänge der organischen Chemie, die Funktion der Kortikosteroide, die Lebensweise der Delphine. Man hat es mir erklärt, Wort für Wort, und ich erinnere mich an alles, nur, um dieses Wissen weiterzugeben.
Es ist der Sinn in meinem Leben, Wissen zu haben, Wissen zu schenken, Wissen zu sein. All diese Weisheiten des Planeten, den wir Erde nennen, wurden vor einer scheinbaren Unendlichkeit mit schwarzer Tinte auf Papier gepresst, wurden gebunden, wurden auf den Markt gebracht, um verkauft zu werden und allen jene Weisheiten zu ermöglichen. Ich bin nicht der Einzige, unzählige Brüder und Schwestern, jüngere wie ältere, zähle ich zu meiner Familie, und oft frage ich mich, ob sie ein anderes Leben führen. Ob sie wohl glücklich sind und entstaubt werden, ob Blicke in ihre klugen Seiten geworfen werden, wenn jemand eine Frage hat? Ob sie wie ich irgendwo in einer Bücherei stehen, in einem Regal, in dem sich neben ihnen noch andere betagtere Gesellen finden, wie der Herr Langenscheidt von nebenan? Oder … Nein, ich mag nicht daran denken.
Ach, wie vermisse ich die Zeiten, in der meine Dienste so oft in Anspruch genommen wurden, daß die Leute Schlange standen, während sie darauf warteten, daß mein momentaner Besitzer beendet war. Damals kam ich niemals auf die Idee, man könne mich eines fernen Tages nicht mehr gebrauchen, ich stünde irgendwann verstaubt und eingequetscht zwischen Leidensgenossen auf einem zu engen Holzregal, und niemand bemerke mich mehr.
Ich war einst so beliebt, einst so gefragt, einst so gebraucht. Menschen aus jeder Altersklasse kamen herbei, um Wissen zu erlernen.
Dennoch laufen die Leute heuttzutage an mir vorbei, ohne einen Blick auf mich zu werfen.
Wieso? Ich verstehe es nicht. Meine Worte sind kompliziert, ja, und ich habe bereits einige Jahrzehnte auf dem Buchrücken, doch ist Wissen nicht zeitlos? Was, frage ich, kann die Menschen besser informieren als eine alte Enzyklopädie, die das Leben nun schon länger kennt als die meisten von ihnen?
„Mann, warum richten dir hier einfach kein kostenloses W-Lan ein? So werden wir echt gezwungen, diese ollen alten langsamen PCs hier zu benutzen, die noch gefühlt auf Windows 98 laufen und langsamer sind als der durchschnittliche Teilnehmer bei 'nem Schneckenrennen! Sowas von nicht fair. Die anderen Bibliotheken haben das doch auch schon anders.“
W... Lan?
Windows? Windows ist das englische Wort für Fenster, wie ich weiß, aber auf Fenstern sollte man doch gar nicht laufen, es ist viel zu gefährlich.
Ach, ich habe diese Begriffe jetzt schon so oft gehört, doch kann mir immer noch keinen Reim darauf machen. Niemand macht sich die Mühe, sie mir zu erklären und sie in die wenigen leeren Seiten, die ich noch besitze, zu schreiben; ich frage mich stets das Selbe. Wie kann das nur sein? Wie kann es bloß etwas geben, das ich … Das ich nicht weiß?
Die Welt läuft schneller als ich, doch hält mich schon so lang niemand mehr auf dem neuesten Stand. Und so muß ich ein einsames Dasein fristen, bis ich eines Tages im Müll oder auf einem noch staubigeren Regal im Lager enden werde. Und dies wird so kommen, ich weiß es, so steht es auf meinen Seiten geschrieben.
Ich wünschte, ich wüßte es nicht.
Vergissmeinnicht
Die Sonne ist noch lange nicht aufgegangen, als dein Wecker klingelt und einen neuen Tag einläutet. Schlaftrunken wälzt du dich herum, deine Hand blind auf der Suche nach dem Störenfried; ein Bild für die Götter. Ich genieße es, dich zu beobachten, all jene kleinen und großen Dinge zu sehen, die dich zu dem Menschen machen, der du bist.
Ein leises Scheppern, zustimmendes Grummeln – du hast den Wecker besiegt und dir so fünf weitere kostbare Minuten erkämpft. Zufrieden ziehst du dir die Decke über den Kopf, sperrst die Welt da draußen aus, um noch einen kurzen Moment lang in den friedlichen Erinnerungen des Traumes zu verweilen, den du in der vergangenen Nacht hattest. Vielleicht willst du aber auch nur die Tatsache ignorieren, dass der neue Tag angebrochen ist und du früher oder später aufstehen, dich fertig machen und in die Schule gehen musst. Immerhin schreibst du bald deine Klausuren.
Fünf Minuten vergehen, in denen du dich nicht regst, keinen Laut von dir gibst und fast so scheinst, als wärest du wieder eingeschlafen; als dann allerdings der Wecker von neuem losscheppert, ist deine Rechte in einer einzigen fließenden Bewegung bei ihm, betätigt die paar Knöpfe, die es braucht, um ihn vollends zum Schweigen zu bringen, und stellt ihn schließlich wieder auf den kleinen Nachttisch neben deinem Bett.
Kurz fällt dein Blick auf mich; dein Mund öffnet sich, dein Geist ist bei weitem noch nicht so wach, wie es den Anschein hat; dann blitzt Verwirrung und schließlich Erkenntnis in deinen Augen auf und du wendest dich ab. Schneller als sonst sammelst du deine Kleidung zusammen, schnappst dir die Bürste und verschwindest in den Flur, in das Badezimmer, schließt die Türen. Lässt mich zurück.
Zurück mit den Erinnerungen.
»Tori!« Ich hebe den Kopf, schaue auf und begegne kristallklarem Blau, das mich erwartungsvoll mustert. Ein leichtes, fast unmerkliches Lächeln breitet sich auf meinen Zügen aus und ich bewege mich auf dich zu, mit nahezu nachlässiger Eleganz, die verbergen soll, wie lieb ich die habe. Wie sehr du mir in den Wochen und Monaten ans Herz gewachsen bist.
»Tori!«, rufst du noch einmal; und ich antworte.
Einmal noch kehrst du in dein Zimmer zurück, aber nur, um deine Schlafklamotten auf das Bett zu werfen und die Bürste an ihren Platz zurückzubringen – ein filigranes Eckregal, vollgestellt mit Cremes, Nagellack und weiteren Dingen, die sich wohl nur in dem Zimmer eines Mädchen finden lassen. Einen Augenblick lang erwarte, ja hoffe ich, dass du noch einen letzten Blick riskieren, noch einmal zu mir schauen wirst; aber gerade als du deinen Kopf in Richtung Nachttisch wenden willst, hältst du inne, überlegst.
Eine Wolke Shampoo-, Deo- und Parfumduftes zurücklassend, stürmst du förmlich aus dem Zimmer. Ich höre noch deine Schritte auf der Treppe, die Worte des Abschiedes, die du deiner Mutter zurufst – dann bist du auch schon aus der Tür, hinfort in dein Leben, an dem ich nicht teilhaben kann.
Das einzige, was mir bleibt, sind Erinnerungen.
Erinnerungen an damals.
»Tori?« Ich wage nicht zu atmen, nicht, mich zu bewegen, aus Angst, mich so zu verraten. Natürlich ist es nur ein Spiel, kein Ernst, ganz und gar harmlos; aber das bedeutet ja nicht, dass man nachlässig werden sollte. Ich für meinen Teil nehme das Versteckspielen sehr wohl ernst, weckt es doch in mir verschollene Instinkte, begraben unter dem Mantel der Gewohnheit.
»Tori?«, sagst du noch einmal, mit federleichter Stimme; ich aber schweige und warte.
Einige Zeit lang schwelge ich in Erinnerungen, flüchte mich in die Bilder der Vergangenheit, um so der Realität zu entfliehen. Geschehnis um Geschehnis lasse ich an mir vorüberziehen, mal lustig und schön, mal erfüllt von Wut oder Sorge, während in der Welt dort draußen langsam die Sonne zum Leben erwacht. Rotgolden erleuchtet sie den Himmel, lange bevor sie den Himmel erklimmt, und als ihre warmen Strahlen auch mich erreichen, erliege ich einen Augenblick lang fast der Illusion, dass alles so wie immer ist, sich nichts verändert hat. Etwas in mir will sich regen, alle Sinne nach dem Leben dort draußen ausstrecken – doch als ich, gänzlich unbewusst, den Versuch wage und nach dem Licht greife, schnellt etwas zurück, lässt mich zusammenzucken.
Verletzt blicke ich mich um, erkenne die Wände meines Käfigs und werde übermannt von schwarzer, dunkler Trauer; und hätte ich Tränen, so würde ich in diesem Moment jede einzelne von ihnen weinen und trauern um das, was ich verloren habe und niemals wieder zurückerhalten werde.
Bis zum Abend verharre ich so an Ort und Stelle, nicht nur körperlich, wozu ich ohnehin gezwungen bin, sondern vor allem in Gedanken. Keine Erinnerungen suchen mich heim, keine Fragmente dessen, was geschehen ist, damals, als meine Welt noch komplett, noch heil war. Ich bleibe einfach starr, bleibe still und ignoriere alles, was um mich herum geschieht; erst recht, als du zurückkommst, ein müdes, aber zugleich auch zufriedenes Lächeln auf den Lippen, an dem ich sofort erkenne, dass das Referat, welches du heute halten musstest, gut gelaufen ist.
Ich kenne dich so gut – und doch nicht gut genug, um zu verstehen, weswegen ich noch immer hier bin und dir tagein, tagaus doch nichts als Schmerzen bereite. Wie kannst du es nur zulassen, dass ich stets an deiner Seite bin, dich beim Schlafen beobachte und deine geheimsten Gedanken höre, wenn du sie, leise murmelnd, in dein Tagebuch schreibst. Wie kannst du es zulassen, dass ich die einzige bin, die weiß, wie fürchterlich dein Gesang ist, weil du es schon oft genug beim Lackieren deiner Fingernägel unter Beweis gestellt hast?
Vor allen anderen Dingen aber frage ich mich, wie du mich jeden Tag vor Augen haben kannst, ohne daran zu zerbrechen … Oder bist du vielleicht schon zerbrochen?
Dein Schlaf ist unruhig diese Nacht, voller Alpträume, die dich quälen und dir jegliche Energie rauben, die du doch durch den Schlaf gewinnen solltest. Tatenlos sehe ich dir dabei zu, wie du dich mit schmerzerfülltem Gesicht hin- und herwirfst, dein Kissen mal umklammerst und es dann wieder von dir stößt. Deine Augen unter den Lidern schnellen hin und her, dein Atem geht viel zu schnell – und gerade als ich mir wünsche, so sehr wünsche, dich von deiner Pein erlösen zu können –
… stockt dir der Atem in eiskalter Erkenntnis –
… setzt dein Herz, das Grauen nicht mehr aushaltend, einen winzig kleinen Schlag lang aus –
… richtest du dich auf, plötzlich hellwach, auf deinen Lippen ein angsterfüllter Schrei:
»TORI!«
Ich verbanne die in mir aufsteigenden Erinnerungen, wende den Blick ab von dir, deren Augen sich erst langsam und dann immer schneller mit Tränen füllen, und blende das verzweifelte, hoffnungslose Schluchzen aus, das von den Wänden widerhallt und mir das Herz zerreißen würde, wenn ich denn eines hätte.
Als ich Stunden später aus meiner Lethargie erwache, ist es bereits Mittag und du bist längst fort. Die ganze Nacht über hast du mit deiner Trauer zugebracht, dir schier die Seele ausgeweint, immer und immer wieder geschluchzt und geschnieft. Es war ein wahrlich erbarmungswürdiges Bild, welches du abgegeben hast, so schwer zu ignorieren, und nicht nur einmal stand ich an der Grenze zum Wahnsinn, erfüllt von dem unermesslichen Drang, dich beschützen zu wollen und es doch nicht zu können. Wie gerne wäre ich an deiner Seite gewesen, dich tröstend und all das Dunkle, all das Schlechte von dir nehmend, ganz wie früher.
»Tori«, fingst du irgendwann an flüstern, gerade als du dich ein wenig beruhigt hattest und zu Atem gekommen warst, »Tori.« Eine perfekt geformte, silbern glänzende Träne, die deine Wange hinunter glitt. »Es tut mir so leid.«
Heute kommst du früher aus der Schule zurück, was mich zunächst verwundert; doch als ich dein Gesicht sehe, die dunklen Ringe unter deinen Augen, verstehe ich, dass du es bei all den Menschen nicht länger ausgehalten hast. Du sehntest dich nach der Wärme, der Vertrautheit eines bestimmten Wesens, das dich immer aufgemuntert hat, wenn es dir schlecht ging – einer Wärme, Vertrautheit, die dir kein anderer Mensch geben kann, niemals geben konnte.
Nur dass dieses Wesen nicht mehr hier ist.
Es vergehen Stunden, in denen du nur auf der großen, hölzernen Fensterbank sitzt und in den Garten hinabschaust, versunken in Gedanken. Erst als die Sonne bereits unterzugehen beginnt und das Licht schwächer, unwirklich wird, kommt Regung in deinen erstarrten Körper, wendest du den Blick ab von dem eingeschneiten Grün zu deinen Füßen – und heftest ihn auf mich.
Einen Augenblick lang bin ich wie erstarrt, elektrisiert und wage überhaupt nichts: nicht zu denken, nicht mich zu erinnern, nicht irgendetwas zu tun. Ich erwidere einfach nur deinen klaren, kühlen Blick aus diesen so wahnsinnig blauen Augen, beobachte, wie du dich langsam erhebst, auf mich zutrittst und dich auf die Knie niederlässt, sodass dein Gesicht nun direkt vor mir liegt.
Fast erwarte ich die gleiche Reaktion wie am Morgen des vorigen Tages, als du schmerzerfüllt den Blick abgewandt hast; und umso mehr bin ich erschrocken, als du zu sprechen beginnst, deine Stimme rau vom vielen Weinen und doch von solch einer Frische, dass ich alles tun würde, um ihr nur noch ein wenig länger zuzuhören.
»Es tut mir Leid.« Die Worte sind so leise, wie ein Wispern im Blattwerk der Bäume, dass ich einige Sekunden benötige, um sie zu verstehen – nur um dann von ihrer Bedeutung umso mehr erschlagen zu werden. Ich bin schon versucht, missbilligend den Kopf zu schütteln, ganz leicht nur, damit es wie Zufall aussieht, und mich dann an dich zu kuscheln, doch da stoße ich auch schon an die Grenzen meiner Welt, die Wände des Käfigs, der mich beherbergt und auf ewig gefangen halten wird.
Alles, was ich jetzt tun kann, ist zuzuhören.
»Ich wünschte, ich wäre an dem Tag da gewesen.« Ein kurzes Schweigen, nur unterbrochen von einem leisen Schluchzen, das du jedoch sofort in seine Schranken zurückweist. »Ich wünschte …« – Tränen sammeln sich in deinen Augen, perlen deine Wangen hinab – »ich wünschte, ich wäre an dem Tag bei dir gewesen!« Nun kannst du das Schluchzen mit einem Mal nicht mehr zurückhalten, unkontrolliert bricht es heraus. »Du hättest nicht alleine sein sollen!« Die Tränen tropfen zu Boden, während in deinem Blick reinste Verzweiflung, reinste Trauer steht. »Du hättest … nicht … alleine …« Einen Atemzug lang ist das Schluchzen übermächtig, beraubt dich deiner Sprache, deiner Worte; und als du sie schließlich hinauswürgst, unter Tränen herausschreist und dabei eine Hand zu mir hebst, ganz vorsichtig, als könntest du mich zerbrechen, da liegt in ihnen eine solche Hoffnungslosigkeit und zugleich eine solche Liebe, dass in mir etwas zu zerbrechen scheint.
»Du hättest nicht alleine sterben sollen!«
Und die Erinnerungen übermannen mich.
Es ist unser letzter gemeinsamer Tag, aber das weiß ich in diesem Moment noch nicht. Für mich zählt nur die Tatsache, an deiner Seite zu sein, in diesem warmen, weichen, gemütlichen Bett, und dir dabei zuzuhören, wie du für die Schule lernst. Es ist Anfang Sommer, deine letzten Klausuren stehen vor der Tür, und voller Eifer stürzt du dich auf den Lernstoff, in der Hoffnung, so den Wunsch nach Ferien bekämpfen zu können.
Irgendwann, gerade als du einen schweren Ordner zurück in das Regal stellst, kommt dir schließlich eine verrückte Idee:
»Tori? Lass uns ein Foto machen!«
Schlaftrunken wie ich bin, öffne ich zunächst nur das eine Auge, um dich zugleich ungläubig als auch verachtend anzuschauen; doch als ich deinen Gesichtsausdruck sehe, voller Begeisterung und vor Aufregung leuchtend, halte ich mich zurück, öffne stattdessen auch das andere Auge, gähne einmal herzhaft und füge mich schließlich in mein Schicksal.
Lachend tänzelst du aus dem Zimmer, eilst die Treppe hinab, und suchst, lauthals vor dich hin trällernd, die Kamera. Ich lockere in der Zwischenzeit meine Muskeln, fahre mir mit den Pfoten notdürftig über das Gesicht und mache noch einen kurzen Abstecher in den Flur, um mich im Spiegel zu betrachten; dann postiere ich mich am Treppenabsatz und warte.
Es dauert nur wenige Minuten, da stapfst du bereits wieder die Treppe hoch, in deinen Händen die Kamera deines Vaters. Zufrieden grinst du mich an, stolzierst in dein Zimmer und vollführst eine unvergleichlich lächerliche Verbeugung.
»Das Fotoshooting kann beginnen.«
»Wo auch immer du bist …« Deine Stimme bricht, während immer mehr Tränen gen Boden fallen, deine Finger nur Millimeter von mir entfernt. »… vergiss mich nicht.«
Und der Teil meiner Seele, der in dieses Foto eingewoben ist, verborgen unter dem Antlitz eines lachenden Mädchens mit ihrer Katze, antwortet:
»Das werde ich nicht.«
Tränen für Dich
Ein letzter Schrei, ein letztes Schluchzen, ein letztes Kratzen - dann ist es still. Viel zu still, doch mir bleibt nichts anderes übrig, als zuzusehen. Hinab zu dem armen Wesen, dass zitternd, sich windend auf dem Boden liegt und vor Erschöpfung eingeschlafen ist. Stundenlang warf es seinen kleinen, schwachen Körper gegen die eisernen Wände des Ortes, dass es als sein „Zuhause“ betiteln sollte. Lachhaft, wenn man bedenkt, wie jemals jemand diesen Zustand als Gefühl von Wärme oder Geborgenheit bezeichnen könnte. Eingesperrt, ohne Essen und Trinken, fort von Familie und Freunden, fort von allem, was man kennt. In eine Welt aus Angst, Hass und Feindschaft, die die Menschen auch als Pokémonkämpfe bezeichnen. Wie gerne würde ich sie anschreien, wenn Worte wie „Freundschaft“ oder „Liebe“ ihre Lippen verlassen. Ein wahrer Freund lässt seinen Freund nicht leiden, er quält ihn nicht, zwingt ihm kein Leben in Knechtschaft auf, fort von allem, was er kannte und liebte. Nein, das ist keine Wärme, das ist Kälte! Purer Egoismus, purer Sadismus!
Erneut lasse ich meinen Blick über den schmalen Körper wandern, der sich an mich drückt, als wäre ich sein sehnlichst erwünschtes Bett... und eigentlich war ich das auch. Ich war noch so viel mehr. Ich war sein Heim, seine Stützte, seine neue Familie. Doch diese Tatsache bereitete mir keinesfalls Freude. Nein, im Gegenteil. Lieber zog ich die Einsamkeit vor, als mitansehen zu müssen, wie dieses Wesen gequält wurde – dank mir. Nur durch mich schafften es die Menschen, ihm unsägliches Leid zuzufügen. Ohne mich könnte Pikachu frei sein. Es könnte lächeln und müsste sich nicht quälen, jedem seiner Tage einen Sinn abzuverlangen. Diese Menschen kümmert es nicht, was mit ihren Pokémon passiert, auch, wenn sie es behaupten. Ich weiß es, ich sehe es!
Ja, ich habe Gefühle! Ich habe mehr Gefühle als so mancher Mensch und darauf bin ich stolz. Trotzdem bin ich schwach, zu schwach, etwas zu tun. Zu kraftlos, um diesem Treiben ein Ende zu bereiten, obwohl gerade das mein allersehnlichster Wunsch wäre: Das hier zu beenden. Nein, ich liebe mein Leben, das wollte ich nicht damit ausdrücken. Himmel, nein, ich bin nicht gewillt mir das Leben auszuhauchen – wobei ich mich gelegentlich frage, ob das überhaupt möglich wäre – und doch wünschte ich, das hier wäre vorbei. Ich wünschte, ich wäre mit einer anderen Aufgabe geboren. Einer Aufgabe des Friedens, einer Aufgabe der Einheit, des Zusammenhaltes. Das war mir versprochen worden... eine Lüge. Eine von vielen Lügen in meinem Leben, doch vielleicht stellte meine Geburt die größte von allen dar. Ihr versteht nicht? Dann lasst mich noch einmal genauer erklären.
Einst wurden meine Ahnen geschaffen, um einen Pakt zwischen Pokémon und Menschen zu schließen, ein Pakt der Freundschaft, des Mitgefühls und des Vertrauens. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Pokémon hatten Feinde, die es zu fürchten galt, Ängste, die sie zu erleiden hatten, Schmerzen, die sie zu fühlen begannen. Einige Menschen, denen das Schicksal der Pokémon leidtat, machten sich auf den Weg, ihnen zu helfen, und das, obwohl das zarte Band, das diese beiden Arten miteinander verbinden sollte, noch nicht geknüpft worden war. Und trotzdem schienen die Pokémon zu spüren, dass diese Menschen ihnen kein Leid wünschten. Sie nahmen sie also mit sich nach Hause und pflegten sie. Vielleicht waren die Menschen damals wirklich Freunde der Pokémon. Wenn ja, so frage ich mich, was passiert ist, dass sich das geändert hat... Eines Tages kam es, wie es kommen musste. Die Pokémon wurden von ihren Feinden aufgesucht. Zu schwach, wie sie immer noch waren, versuchten ihre menschlichen Freunde, sie zu beschützen, da sie sie nicht transportieren konnten. Ein erbitterter Kampf begann, bei dem die Menschen unterlagen. Dies hinterließ einen tiefen Riss im Herzen der Pokémon. Einen Riss, den ihre Nachkommen bis heute in sich tragen. Niemand kann sagen, ob es stimmt, doch ich glaube, dieser Schmerz, dieses Vertrauen von damals, steckt immer noch in ihnen. Und genau das führt dazu, dass sie den Menschen hingeben. Immer noch sehen sie ihre Freunde von damals in ihnen. Vielleicht mögen es andere Pokémon, vielleicht andere Menschen sein, doch ihre Ahnen wachen über sie, führen sie.
Nun genug gelangweilt, vielleicht sollten endlich meine Vorfahren erwähnt werden. Um die Pokémon besser transportieren und fliehen zu können, entwickelten die Menschen magische Steine, die die Pokémon in diese zogen. Dort waren sie sicher und konnten in Ruhe heilen. Ein Instinkt, der bis heute in ihren Genen verankert ist. Na, wenn magische Steine zum Transport von Pokémon meine Ahnen sind, wer bin ich dann? Richtig! Mein Name ist Pokéball. Ich bin einer von vielen, die entwickelt wurden, um Pokémon zu retten. Das war einst meine Aufgabe. Nun, die Betonung liegt auf „einst“, denn heute rette ich niemanden mehr. Heute fange ich nur noch. Nehme gefangen. So wie das arme Pikachu, das sich an meine kalte, eiserne Haut schmiegt, in der Hoffnung, beim Erwachen festzustellen, dass alles nur ein Traum war. Doch es war kein Traum, ich habe es wirklich in Fesseln gelegt.
Ein schmerzhafter Schauer überkommt mich, doch ich kann ihm nicht nachgeben, kann nicht weinen. Das ist mir nicht gegönnt. Weinen ist eines der wenigen Dinge, worum ich die Menschen beneide. Weinen, Lachen, Lächeln, Schreien, all diese Dinge sind etwas, das ich nie tun können werde. Ich kann sie nur beobachten. Kann beobachten, wie Pikachu täglich verzweifelt an meiner Haut kratzt, mir aber nie auch nur den Hauch einer Narbe hinterlässt. Dann beginnt es zu weinen, beginnt zu zittern, bevor es erschöpft zusammen bricht. Oder ich beobachte die Menschen, wie sie täglich miteinander reden, scherzen, lächeln, lachen. Ich lausche ihren Geschichten gerne. Lausche ihren wilden Abenteuerberichten, fiebere mit, wie es weiter geht, was sie als nächstes erleben werden, erfreue mich ihrer Liebesgeschichten, bin in Gedanken mit ihnen. Einerseits hasse ich sie so sehr für all die Grausamkeiten ihrer Seele, doch gleichzeitig bewundere ich sie aus tiefster Seele. Wenn ich ihre Fähigkeiten hätte, ihre Möglichkeiten, dann würde ich mein Leben nicht so verschwenden, wie sie es tun. Ich würde aufhören, herumzusitzen und sinnlose Dinge zu tun. Ich würde reisen, ich würde all das fühlen, all das berühren, was mir in den Jahren meines Lebens vergönnt gewesen war. Oh ja, ich hätte eine lange Liste und Pikachu würde ich mit mir nehmen. Es dürfte in meinen Armen schlafen, so wie jetzt, und mir jeden Tag ein Lächeln schenken. Vielleicht war es egoistisch von mir, es mitzunehmen, „Jessy“ – wie die Menschen sie nannten – mitzunehmen. Und doch war sie schon so lange Teil meines Lebens, dass ich aufgehört hatte, die Stunden, nein, die Tage zu zählen. Wir sprachen nie miteinander, wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, was sie mir bedeutete, und doch war sie Teil meiner Familie, so wie ich Teil ihrer war. Niemand war mir so nahe wie sie, gewährte mir solch tiefe Einblicke in seine Seele. Jessy war für mich ein offenes Buch. Ich liebte es, ihr zuzusehen, wenn sie lief, wenn sie lächelte, wenn sie spielte. Das alles zeigte sie mir nie und gerade das machte es zu etwas Besonderem. All die Dinge, die sie tat, wenn sie frei war, wenn man ihr die Ketten von der Seele nahm, ließen sie fliegen. Hoch hinaus flog sie, bevor ihr Trainer sie schmerzhaft an den Ketten wieder zu Boden zog. Von all den Dingen in meinem Leben bereute ich am meisten, dass ich ausgerechnet Jessy solchen Kummer bereiten musste. Wenn es nur ein Wort gegeben hätte, nur eine einzige Sache, die ihr kleines Herz begehrt hätte, einen Wunsch, den ich ihr hätte erfüllen können, ich hätte es getan. Egal, was ihr Herz geplagt hatte, ich hätte es ihr so gerne erfüllt.
Einige Menschen glaubten, mein Inneres biete den Pokémon eine Illusion von Liebe, eine Illusion von Freiheit, und die Pokémon wären zu beneiden, dafür, dass hier die perfekte Welt auf sie wartete. Doch diese Menschen waren nur zu naiv, zu dumm oder zu stur, um zu erkennen, dass Illusionen nicht zu meinen Aufgaben gehörten. Ich schrumpfte die Pokémon nur und hielt sie in einem kleinen Raum gefangen, wo sie nichts außer sitzen und schlafen konnten, während die Welt draußen weiter lief. Doch glaubt ihr auch nur einer dieser Kreaturen hätte je gefragt, was mit den Pokemon im Pokeball passierte? Denkt ihr, es hätte sie je interessiert? Natürlich...nicht! Solange niemand ihrer ach so überlegenen Art durch mich gefangen wurde, was alles in Ordnung. Dabei, war es gerade das genaue Gegenteil. Ich konnte sie weder versorgen, noch ihnen Freude und Liebe schenken, so wie keiner meiner anderen Brüder und Schwestern.
Sacht regte Jessy sich auf meiner Haut, ihr weiches Fell kitzelte mich und ich lächelte, oder besser gesagt, ich hätte es. Ich konnte keine Regungen zeigen, wie gesagt, eine meiner am meisten vermissten Fähigkeiten. Ich fragte mich, wie lange mein Blick wohl schon auf diesem wunderschönen, eleganten Körper haften würde, bevor ich der Vernunft in mir nachgab und weg sah. Doch das war schwerer als gedacht, dann egal wohin ich mich wandte, sie schien mich immer zu begleiten. Vielleicht glaubte sie daran, dass Liebe immer in einer Art von neuer Liebe wiedergeboren wurde. Wäre das Möglich? War ich also ihr verzweifelter Ersatz ihre Lieben seelisch zurück zu gewinnen? Ich wusste nicht genau, ob ich je eine Antwort auf diese Fragen wünschte, ob mir eine Eingefallen wäre, doch das war es nicht. Weder als er hinein kam, noch als die Pistole mir an den Kopf gehalten wurde.
"Jessy Donnerblitz", ertönte eine schrille, weibliche Stimme, bevor Pikachu in einem grellen Licht aus weiß verschwand. Schon wieder, was? Wie oft war es heute schon gewesen? Wie oft hattest du sie gerufen, damit sie gegen eine ihrer Seelenschwestern, einen ihrer Seelenbrüder kämpfen musste? Wie oft musste Jessy heute schon deinen Lust nach Kampf befriedigen, deine Durst nach Sieg? Na, weißt du die Antwort? Natürlich ist auch das hier ein "nein". Es ist dir wohl nicht bewusst, doch glaube ich, dass das noch schlimmer ist, als die Tatsache, dass du es gewusst und dennoch ignoriert haben könntest. Wie können die Menschen nicht bemerken, wie elend es den Pokemon geht? Nur weil jemand lächelt ist er nicht gesund und nur weil er weint, heilt sein Körper sich nicht selbst.
Wütend krächze ich einen stummen Schrei, bevor ein rotes Licht meinen Körper verlässt und eine schwer atmende Jessy den Schutz meiner Arme, den Schutz meines Körpers sucht. "Sieht dein Trainer den nicht deine Kraftlosigkeit?" Keine Antwort. Wie auch, wie könnte sie mir antworten? Verzweifelt versuche ich das Metall meines Körpers gegen ihren Leib zu pressen, versuche ihr zu zeigen, dass sie nicht allein ist, dass alles gut wird, dass ich bei ihr bin. Doch sie spürt es nicht. Erneut hat sie zuflucht im Land der Träume gesucht. Vielleicht ist das der einzige Ort, an dem sie wirklich frei sein kann. Ich wünsche es ihr. Ich will es mir einreden. Doch meine Schuld wird dadurch auch nicht kleiner, dass weiß ich ganz genau. Trotzdem, trotzdem erfüllt es mein Herz - auch wenn es nur für den Hauch eines Moments ist - mit Erleichterung. Darüber, dass es noch eine Sache gibt, die sie ehrlich lächeln lässt. "Ich wünschte du könntest mir eines Tages verzeihen....es tut mir Leid!"
Verdammt zum Warten
Verdammt ist das ein staubiger Boden! Was gäbe ich dafür, dass mein Träger einfach mal ruhig bleiben würde, wenn er einen Kampf gewinnt. Dann würde ich, seine arme Mütze, nicht immer von seinem Kopf rutschen, wenn er in Jubel ausbricht. Aber leider ist er nun mal eine impulsive Persönlichkeit und so spüre ich anstatt seinen herrlich frisch gewaschenen Haaren unter mir nur Staub und Sand. Jetzt muss ich wieder warten, bis er mich endlich aufhebt.So warte ich. Ich warte länger als sonst und plötzlich ist die Sonne schon dabei unterzugehen. Das darf doch nicht wahr sein, dieser Trottel hat mich einfach vergessen. Na, da ist er ja selber schuld. Jetzt bin ich mal gespannt wer ihn in diesen kalten Tagen seinen Kopf wärmt. Mein Träger wird sicher bald zurückkommen und dann überglücklich sein, sobald er mich wieder hat. Aber er kommt nicht. Drei Tage vergehen und die einzige Abwechslung sind die Pokémon, die mich beschnüffeln. Keine Spur von meinem Träger.
Nun macht sich doch etwas Unsicherheit bei mir breit. Hoffentlich hat er mich nicht einfach ersetzt. Dann werde ich ja nie wieder von hier wegkommen. Ich will aber nicht mein restliches Dasein in einer Wüste verbringen!
Am Morgen des fünften Tages nachdem ich von meinem Träger im Stich gelassen wurde, erfolgt dann doch noch meine Rettung. Als ich fast vollkommen mit Sand bedeckt bin und alle Hoffnung aufgegeben habe, werde ich plötzlich hochgezogen. Ein Wunder ist geschehen! Ein Ruinenmaniac hat mich gefunden! Er betrachtet mich überrascht durch seinen Zwicker und ich freue mich schon, dass ich einen neuen Träger gefunden habe. Diese Glatze gehört auch wirklich versteckt und mein rot passt hervorragend zu seinem weißen Anzug. Doch dann breitet sich ein enttäuschter Ausdruck über dem Gesicht meines Finders aus und er sagt: „Und ich dachte schon diese blöde Mütze sei ein seltenes Fossil. Komm Sandamer! Hier hast du was zum spielen.“
Mit diesen Worten werde ich zu Boden geworfen und sehe mich tatsächlich einem Sandamer gegenüber. Seine Krallen glänzen im Sonnenlicht. Mein Ende ist gekommen! Doch ich scheine dem Pokémon besser zu gefallen, als seinem Trainer. Behutsam hebt es mich aus dem Sand und setzt mich tatsächlich auf seinen Kopf!Sobald es das allerdings getan hat, höre ich den Ruinenmaniac auf einmal laut brüllen. Nach dem anfänglichen Schock bemerke ich aber sogleich, dass es kein wütendes Brüllen ist, denn er kommt über beide Backen grinsend zu seinem Sandamer und mir gelaufen und ruft: „Sandamer, du musst schnell herkommen! Ich habe einen verschütteten Höhleneingang gefunden!“
Tatsächlich führt uns der Ruinenmaniac zu einem riesigen Felsen, in den man durch einen recht breiten Spalt hineingehen kann. Immer noch breit grinsend geht der Ruinenmaniac zuerst rein. Mein neuer Träger folgt ihm sofort. Auch ich bin etwas aufgeregt. Sicherlich habe ich mit meinem alten Träger viele Dinge entdeckt und etliche Abenteuer bestanden, aber er war an dem Tag, als er mich zurückließ zum ersten Mal in der Wüste, da sie die einzige in Hoenn ist. Was wird uns wohl in diesem Felsen erwarten?
Nun zunächst einmal erwartet uns dort völlige Schwärze. Und selbst als eine Laterne von dem Ruinenmaniac angezündet wird, offenbart sich uns nichts als braunes Gestein. Trotzdem scheint unser Höhlenforscher hoch erfreut, holt eine Lupe und einen Pinsel aus seiner Tasche und hüpft rum wie mein alter Träger damals, als er sein erstes Pokémon gefangen hatte. Selbst mein neuer Träger scheint nur so vor Elan zu sprühen und setzt unentwegt Schaufler ein um Löcher in den Felsboden zu graben und vielleicht irgendwelche Schätze zu bergen.
Als er endlich aufhört, bin ich schon so dreckig, dass man gar nicht mehr sieht, dass meine ursprüngliche Farbe rot ist. Gut das sein Trainer eine Entdeckung gemacht zu haben scheint und ihn deshalb gerufen hat. Nun sagt er: „Ich habe eine alte Inschrift gefunden!“, weiterhin mit seiner Lupe die Wand untersuchend fährt der Ruinenmaniac fort, „Vorher steht zwar eine Warnung, aber wann hat uns das hat uns doch noch nie interessiert, nicht wahr Sandamer?“ Mein Träger gibt zustimmende Laute von sich. Ich hätte dies nicht getan. Warnungen haben eigentlich immer einen Sinn, wie ich finde. Doch nun hat der Ruinenmaniac auch den letzten Rest der Inschrift freigepinselt und liest laut vor: „Saxa morta! Mutate in animal magum!“
Plötzlich löst sich ein kleiner Stein von der Wand. Er fällt in Richtung Boden und trifft dort mit einem klackenden Geräusch auf. Dann löst sich der nächste Stein und dann wieder der nächste, bis hunderte von Steinen von der Wand bröckeln. Doch die Wand ist gar keine, denn sie beginnt sich zu erheben und schließlich steht eine steinerne Gestalt vor uns. Der Ruinenmaniac schreit entsetzt: „Wir haben Regirock wiederauferstehen lassen! Wir müssen schnell weg hier!“ Und schon ist der Forscher durch den Spalt nach draußen verschwunden. Auch sein Sandamer folgt ihm und ich würde auch als zu gerne mit ihm flüchten, doch durch die plötzliche Kehrwende löse ich mich vom Kopf meines neuen Trägers und mache erneut Bekanntschaft mit dem Boden. Nun bin allein mit dem Monster aus Stein, doch dieses hat mich gar nicht bemerkt. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, wobei das ja sowieso nicht möglich ist, da Regirock aus Steinen besteht, geht es auf den Spalt zu und setzt sich schließlich eiskalt davor, sodass nichts und niemand mehr raus oder rein kann. Nun werde ich nie wieder von jemandem getragen werden und mir bleibt nichts anderes übrig, als auf meine Verrottung zu warten.
Jahreskreis
Frühlingsmorgen.
Feiner Nebel kroch über den Waldboden, der begann, allmählich aus seinem alljährlichen Kälteschlaf zu erwachen. Grüne Lebendigkeit räkelte sich in winterharten Knospen, bereit, ihren Schutzmantel mit den ersten Strahlen der Sonne abzustreifen. Noch hing das feurige Gestirn unter dem Horizont, kündigte sich nur mit einem silbernen Schimmer am Himmel an. Schon bald käme sie hervor, um dem Land ihre wärmenden Gaben zu spenden.
Ein alter, weißbärtiger Mann schritt zwischen den hölzernen Säulen zielstrebig voran. Eine Drossel, damit beschäftigt, die ersten draufgängerischen Insekten für ihren Übermut zu bestrafen, flatterte auf, als er vorbeistapfte, und keckerte ihm gereizt hinterher.
Endlich erreichte er eine Lichtung, die die Bäume in der Nähe einer Felswand freigelassen hatten. Dem Wall zu Füßen ruhte ein einsamer, von der Verwitterung annähernd rund geschliffener Stein. Der im Wald Fremde trat auf ihn zu, zog ein Schwert, das er unter dem Mantel verborgen hatte.Die blanke Klinge der Waffe spiegelte den matten Sonnenschein, als sei es helllichter Tag. Der Mann murmelte einige Worte, doch niemand war in der Nähe, sie zu verstehen. Er erhob das Schwert und trieb es in einem Funkenregen mit der Spitze voran in den Stein.
Nach ein paar weiteren Sätzen wandte er sich ab und kehrte auf demselben Weg, den er gekommen war, zurück.
Das Schwert indes, dessen Klinge zur Hälfte im Gestein stak, weitete seine Sinne, um zu erkennen, wo es sich befand. „Merkwürdig“, sprach es zu sich selbst, „hier wird überhaupt nicht gekämpft.“
Es erschrak, als ein anderer Geist erwachte; nicht wie der Wald, der die Lichtung umgab, aus erneuernder Überwinterung, sondern aus einem einfachen Erholungsschlaf. „Wie bitte?“, nuschelte er, während er mehr und mehr aus der Traumwelt glitt. „Bei der Herrin des Sees!“, rief er mit einem Mal aus. „Hab ich schon wieder wie ein Stein geschlafen!“ Er lachte schallend, dass das Schwert die tiefen Vibrationen im Stahl spürte. „Aber ich bin ja auch einer.“
„Ein Stein?“ Gehörte die Stimme demnach dem Stein, in dem es stak? Das Schwert merkte, wie sich der Geist aus Basalt ihm zuwandte.
„Was soll denn dieser Unfug?“, wollte der Stein, nicht ohne eine gewisse Belustigung, wissen. „Hat da ein Mensch tatsächlich versucht, etwas Totes mit einem Schwert zu töten?“ Wieder lachte er, lauter diesmal.
Als endlich Ruhe eingekehrt war, sprach es: „Da muss ich dir zustimmen; ich bin ein Schwert. Ich bin geschaffen, in der Schlacht geschwungen zu werden, in Fleisch zu schneiden und Blut zu schmecken!“
Der Stein schien vor Widerstreben zu zittern. „Was für fürchterliche Worte du verwendest! Woraus gründet denn diese Gier?“
Es wiederholte schlicht: „Ich bin ein Schwert.“ Unzufrieden sondierte es die Lichtung, den angrenzenden Wald, die Felswand. „Dieser Ort hat den Anschein, dass es hier für mich nicht viel zu töten gibt. Wo sind die Ritter, die Kämpfer? Die anderen Waffen, gegen die ich antreten soll? Ich bin ein Schwert, geschmiedet für einen mächtigen Krieger! Hier ist es mir zu langweilig.“
„Wie furchtbar!“, klagte der Stein leidvoll. „Da kenne ich dich, Schwert, nur wenige Momente, und verurteile dich schon für das, was du sagst. So ein frevelhaftes Geschwätz!“
„Du bist ein Stein“, stellte das Schwert berechtigt fest. „Ein totes Ding, wie ich. Was kümmern dich die Lebenden?“
Der Befragte seufzte tief. „Man merkt, du kannst noch nicht lange aus dem Schoß der Erde geschürft sein.“
„Worauf willst du hinaus?“
„Weshalb das Misstrauen?“, gab das Gestein brummig zurück. „Bin ich nicht ein totes Ding wie du?“ Eine Pause folgte, ehe der Stein fortfuhr: „Du hast nicht die vielen Tage und Jahreszeiten an der Oberfläche verbracht, die ich habe kommen und gehen sehen. Du stammst aus den Tiefen der Erde, wo nichts Lebendes existiert. Das Leben hast du erst gesehen, als ein Minenarbeiter dich aus dem Boden brach. So kann man auch nicht verlangen, dass du es verstehst.“
Das Schwert schnaubte. Was sollte dieses Gerede? „Was muss ich denn verstehen? Ich bin ein Schwert! Ich soll das Leben auslöschen, nicht verstehen, was es sagt!“
„So meinte ich das auch nicht“, stellte der Fels klar. Durch den Nebel brachen die ersten zaghaften Lichtpfeile, die die Sonne von ihrem Horizontbogen abschoss. „Wie gut, dass du im Frühling zu mir gefunden hast“, meinte er, durch den schwachen Schein schon besserer Laune. „So kann ich es dir leichter erklären. Was du bislang gesehen und begriffen hast, ist, dass sich die Welt in tote und in lebende Dinge aufteilt. Aber tatsächlich gliedert sie sich in zwei Kohorten, die ich das Unsterbliche Tote und das Sterbliche Leben nenne.“
Nachdenklich versuchte das Schwert, diese Erläuterung zu durchschauen. „Das ist für mich kein Unterschied. Du benutzt nur zwei zusätzliche Wörter, sonst nichts.“
„Nur Geduld“, mahnte der Stein. „Was ich meine ist, dass wir Unsterblichen Toten und die Sterblichen Lebenden zwar getrennte Gruppen sind, doch verbunden miteinander. Wir enthalten eine unerschöpfliche Kraft, die wir jedoch nicht nutzen können; die Lebenden nehmen sich davon, was sie benötigen, und nutzen es, wo sie es brauchen.“ Der Nebel zog sich langsam vor der Sonne zurück, während an einem nahen Baum ein paar Blütenknospen aufsprangen.
„Sie stehlen es“, behauptete das Schwert, „und verdienen so die Todesstrafe!“
Der Stein ließ Milde walten: „Es ist erst Frühling. Du wirst noch erkennen, was ich meine.“
Sommertag.
Saphirblau spannte sich die Himmelskuppel über die Welt, als habe ein Titan sie aus dem edlen Mineral geschnitten und über die Erde gestülpt. Im Zenit ihres täglichen Laufs hing die Sonne, eine Perle reinen Lichts. Wärme durchspannte die Luft, die erfüllt war von Vogelgesängen und dem Summen zahlreicher Insekten. Eine Drossel hüpfte geschäftig über die Lichtung, hielt plötzlich inne, als ihre runden Augen etwas im Gras entdeckten. Sie sprang zurück, fixierte das Objekt ihrer Begierde und stieß mit dem Schnabel zu. Eine Grille zappelte hilflos mit den sechs Beinen, doch Beute und Jäger wussten, dass ihr Leben verwirkt war. Der kleine schwarze Vogel flatterte auf und verschwand im dichten Laubwerk.
Das Schwert achtete nicht auf das, was um es herum geschah. Konzentriert war es auf die Sonnenstrahlen, die vom Himmel herabschwebten. Sie umfingen es mit ihrer sanften Wärme und ließen seine silberne Klinge glänzen.
Es saß noch immer in diesem Stein fest, was ihm Grund zur Ärgernis war. Seit jenem ersten Morgen im Frühling hatte es stets gehofft, der alte Mann, der es in diese Lage gebracht hatte, käme wieder und befreite es. Doch das war bislang noch nicht eingetreten. Aber zumindest konnte es sich an der Sommersonne erfreuen, die sein kaltes Metall erwärmte.
Unter den Bäumen trat ein Wesen hervor, das das Schwert noch nicht kannte. Es maß die halbe Höhe eines Menschen, besaß struppiges, graues Fell. Über den Augen mit seitlich liegenden Pupillen erhoben sich gedrehte Hörner; es ging auf gespaltenen Hufen. Das Tier hielt die schmale Schnauze prüfend in die Luft, bevor es zu dem Stein herübertrottete.
„Ach, welche Freude“, ließ dieser vernehmen, „mein alter Freund ist auch dieses Jahr wieder da.“
„Was ist das für ein Wesen?“, wollte das Schwert wissen. In den letzten Monaten hatte es diese Frage immer wieder gestellt, wenn in seiner Wahrnehmungsweite etwas Neues aufgetaucht war.
„Ein Ziegenbock.“
Das Tier trat nah heran, schnupperte an dem Stein und begann, mit der Zunge rasch darüberzufahren. Der Stein kicherte vergnügt.
„Was tut es da?“, wollte das Schwert angewidert wissen. Wie konnte der Felsen an dieser abnormalen Tätigkeit auch noch Gefallen finden!
„Er nimmt von meiner Kraft. Erinnerst du dich, was ich dir darüber im Frühling erzählte?“
„Wie könnte ich einen solchen Irrsinn schon vergessen?“, erwiderte das Schwert.
Der Stein ignorierte die Spitze. „Diese Kraft hat vielerlei Formen. In meinem Fall hat sie die Gestalt von Stoffen, die die Ziege in sich aufnimmt und fürs Überleben benötigt.“
„Wie abstoßend! Von mir dürfte dieses Wesen niemals Kraft aufnehmen.“
„Das kann er auch nicht“, meinte der Stein. Der Ziegenbock beendete die Speisung und kehrte um. Seine Schritte klangen dumpf auf dem Gras und dem Waldboden, bis sie von der Entfernung verschluckt wurden. „Wobei er durchaus auch Eisen in sich hat. In seinem Blut.“
Ungläubig höhnte das Schwert: „Natürlich! Und genau deswegen dürste ich ja auch sosehr danach! Weil ich mit Meinesgleichen vereint sein will!“
„Durchaus möglich“, erwiderte der Stein in völligem Ernst, sehr zur Verwunderung des Schwerts. „Wobei ich eher denke, dass es mit der menschlichen Schmiedekunst zusammenhängt. Solche Gelüste kann dir die Erde unmöglich eingegeben haben.“
Herbstabend.
Dichte Wolkenberge hingen tief in der Höhe, schufen eine eigene graufeuchte Landschaft im Himmel, aus der Regenschlieren herabstürzten. Es hätte ein schöner Abend sein können, mit den reichen Farben eines herbstlichen Sonnenuntergangs; doch dafür war es zu dunkel und nass. Eine Drossel hockte unter einem kargen Strauch, schüttelte das Gefieder, um die Feuchtigkeit zu vertreiben.
„Was ist mit den Blättern geschehen?“, fragte das Schwert, betrachtete das Laub, das den Waldboden mit einer bronzefarbenen Schicht überzog. „Als sie noch grün waren, trotzten sie jedem Sturm. Jetzt reicht allein schon ein Regenschauer, sie von den Bäumen zu reißen.“
Der Stein schien nicht beeindruckt von diesem Ereignis. „Die Bäume werfen sie ab, um die Kraft der Erde zurückzugeben, von der sie sie im Frühling geliehen haben. Dafür färben sich die Blätter braun, so wie Schwerter, wenn sie zu rosten beginnen.“
Bei den letzten Worten stutzte das Schwert. „Du vergleichst mich mit diesen schwächlichen Gebilden? Monate stecke ich nun schon hier, ohne die geringste Veränderung an meiner Klinge. Und das Blattwerk vergeht, nachdem es dem Wetter für ein, zwei Jahreszeiten standhielt, in nur wenigen Wochen. Was auch immer zu rosten bedeutet, mich betrifft es nicht!“
„Du weißt nicht, was Rost ist?“, stellte der Stein verwundert fest.
„Sollte ich?“
„Nun, durchaus“, meinte der Stein, als sei es selbstverständlich. „Schwerter werden rostig, wenn kein Mensch sie pflegt, und bislang war keiner hier, dich zu fetten. Stahl wird an der Luft mit der Zeit zu Rost, der wie Eisenerz ist.“
„Du willst mir sagen“, schlussfolgerte das Schwert, „ich müsste wieder zu dem Klumpen Muttergestein werden, aus dem ich geschmiedet wurde? Das ist doch lächerlich!“
„Nicht genau wieder zu dem“, präzisierte der Stein. „Aber ganz ähnlich. Wie die Blätter nunmal, die der Baum aus den Sedimenten erschafft, die seine Wurzeln tief aus dem Boden holen, dann aber im Herbst an der Oberfläche Humus bilden. Wie ich im Sommer sagte: Die Kraft, die zwischen Unsterblichen Toten und Sterblichen Lebenden umherfließt, kann viele Gestalten annehmen. Wenn sie von der einen Form in die nächste wechselt und dann zu ihrem Ursprung zurückkehrt, ist sie nicht immer wieder dasselbe wie zu Anfang.“
Eine Weile dachte das Schwert nach. „Bedeutet das also, dass die Stoffe, die der Ziegenbock von dir nahm, nie zu dir zurückfinden?“
Der Stein lachte bitter. „Nicht in diesem Jahr oder im nächsten. Wahrscheinlich nicht einmal in tausend Jahren. Doch ich bin unsterblich tot,so alt wie die Erde selbst. Wer weiß schon, ob die nächsten Äonen sie nicht doch wieder zu mir zurückbringen?“
„Also hat er sie dir doch gestohlen! Sie sind für dich verloren!“, verkündete das Schwert mit stählerner Bestimmtheit.
„Oh nein“, widersprach der Stein mit derselben Standhaftigkeit. „Eines Tages kehren die Stoffe auf jeden Fall zur Erde zurück; und da ich ein Teil von ebendieser bin, ist für mich nie etwas von ihnen verloren.“ Er lauschte in den Regen hinein. „Auch dir wird es irgendwann so ergehen. Wenn du rostest, bricht die Gestalt, in die dich dein Schmied gezwungen hat. Sowieso ist es verwunderlich, dass dies bei dir noch nicht eingesetzt hat.“
Da das Schwert darüber kein weiteres Wissen besaß, vermutete es nur: „Vielleicht hattedieser Schmied dafür eine besondere Begabung.“
„Ja. Vielleicht.“
Winternacht.
Weißer Schnee lag als undurchdringlicher Decke auf dem Wald. Fast glühte er immildenLicht von Mond und Sternen, die aus einem klaren Firmament herabschienen.Der Winter durchzog den Boden mit seinem eisigen, reinigenden Frost. Eine Drossel döste auf einem kahlen Ast, das aufgeplusterte Gefieder von einer feinen Puderschicht bedeckt.
Auch über das Schwert und den Stein hatten sich die himmlischen Flocken gelegt. Auf ihrer Lichtung war kein Laut zu hören; alle Geräusche wurden vom Schnee in friedlichen Schlummer gewiegt.
In die nächtliche Ruhe flüsterte das Schwert: „Stein? Darf ich dir eine Sache anvertrauen?“
Der Felsen reagierte träge in der Kälte: „Was bewegt deinen Geist?“
„Es geht um das, was ich in den letzten Jahreszeiten gesehen und gelernt habe.“ Langsam, sodass es selbst kaum gespürt hatte, wie ihm geschah, hatten die Tage und Gespräche mit dem Stein es gewandelt. Diese veränderte Mentalität gedachte es nun, seinem Lehrmeister zu offenbaren.
„So sprich“, forderte der Stein auf.
Das Schwert sammelte sich und legte dar: „Die Erde, ja alles, was du Unsterbliches Totes nennst, gibt seine unerschöpfliche Kraft an das Sterbliche Leben weiter. Dieses nutzt sie dann Zeit seiner Lebendigkeit, und wenn es allmählich stirbt und sich zum ewigen Schlaf bettet, gibt es sie an die Erde zurück. Auch untereinander schenken und stehlen die Lebenden diese Kraft, doch am Ende kommt alles zu uns zurück. Die Erde behütet sie durch den Winter, bis der Zyklus von neuem beginnt. Es gibt eine Zeit der Geburt, des Lebens, des Sterbens, des Todes.“ Das Schwert seufzte, Melancholie befiel es. „Doch das Leben vor dieser Zeit des Sterbens zu nehmen, ist ein schweres Verbrechen. Ich wurde für ein Verbrechen geschmiedet; von Menschen, für Menschen, um Menschen zum Tode zu befördern. Du hast mir geholfen, zu erkennen, wie die Welt wirklich aufgebaut ist aus Aspekten, die ich voneinander getrennt erachtet habe. Doch tatsächlich gehen sie ineinander über.
Im Frühling wünschte ich mir, Blut zu schmecken, zu töten. Jetzt will ich nichts anderes, als für immer hierzubleiben. Dass mich der Rost doch noch ereilt und ich so für immer Eins mit dir werden kann. Mit dir und dem Zyklus, aus dem mich der Minenarbeiter, der mich aus dem Erdboden schürfte, der Schmied, der meine Klinge formte,und der alte Mann, dem ich als Einzigen für seine Tat dankbar sein kann, entrissen haben.“
Nachdem er einen Moment gewartet hatte, um sicher zu sein, dass das Schwert alles gesagt hatte, sprach der Stein: „Deine Worte berühren mich sehr und bedeuten mir viel. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal Freund werde mit einem Schwert.“
Überrascht fragte dieses: „Du siehst mich als deinen Freund?“
„Als was denn sonst?“
Es folgte angenehme Stille, in der das Pulsieren zu spüren war, mit dem die Erde die aufgenommene Lebenskraft am Atmen erhielt. Wie jedes Jahr würde ihre ewige Aufgabe ihr auch diesmal gelingen. Daran bestand kein Zweifel.
„Oh, verflucht sei manchmal das träge Denken der Felsen!“, unterbrach der Stein die Ruhe. „Woran wir nicht gewohnt sind, darüber verlieren wir nicht viele Gedanken.“
„Wovon sprichst du?“, wollte das Schwert verwundert wissen.
„Du bist von Menschenhand gestaltet“, wies der Stein auf das Offensichtliche hin: Kein Prozess der Natur vermochte eine solche Waffe hervorzubringen. „Und die Menschen neigen dazu, dem, was sie selbst schaffen oder was ihnen gehört, einen Namen zu geben. Also … wie lautet der deine?“
„Mein Name?“ Das Schwert suchte in seiner Erinnerung nach der Antwort. So lange war der Tag her, an dem es in den Stein gestoßen worden war. Noch länger der Zeitpunkt, als man es aus der Esse gezogen und benannt hatte. Da fiel es ihm nicht leicht, sich zu entsinnen. „Mein Name“, wiederholte es, „ist Excalibur.“
Der König der Rucksäcke
Guten Tag. Darf ich mich vorstellen? Ist das überhaupt nötig? Immerhin siehst du mich so häufig, dass du meinen Namen kennen müsstest. Da mir mein Hersteller aber nur die besten Materialien und Manieren mitgegeben hat, werde ich darauf bestehen, diesen wichtigen Moment nicht durch rüdes Verhalten zu ruinieren.
Ich bin ein Rucksack. Handlich und genügsam. Widerstandsfähig. Reißfest. Stark und zugleich sportlich. All diese Adjektive machen mich aus. Egal, mit was du mich fütterst, ich trage es. Keine Strecke ist mir zu weit, kein Auto zu eng. Und kein Gegenstand ist mir zu schwer. Nun, fast keiner. Solange man also keinen 5-Tonnen-Amboss in mir herumschleppt, geht es mir hervorragend.
Manche würden so weit gehen und behaupten, mein Leben sei das beste von allen. Ohne irgendetwas bezahlen zu müssen, ohne mich zu sorgen oder Stress zu empfinden, reise ich überall hin. Ich bin da, wo auch immer man mich braucht. Ich war schon in Paris, in Brüssel, in Washington, Berlin, München, London, Bern und in Oslo. Wenn meine Besitzerin es will, trage ich ganze Welten in Form von Büchern, Spielkonsolen und Bildern in mir. Ich spreche in diesen Belangen zwar im Namen aller Rucksäcke der Welt, aber bin nicht irgendein Rucksack.
Ich bestehe aus Nylon.
Wo andere aufgeben und reißen, kann ich weitermachen. Wo andere aufgeben, fange ich gerade erst an.
Meine Besitzerin hat sich momentan auf einer Bank aus Metall niedergelassen. Die Wartehalle des Flugplatzes, in der wir uns befinden, ist ziemlich voll. Die Morgensonne scheint durch die großen Fenster der Halle. Überall unterhalten sich Menschen und überall sehe ich meine Brüder und Schwestern herumstehen. Ich rede von den Reisetaschen, Handtaschen, Koffern und anderen Rucksäcken, die jeden hier bei seiner Reise begleiten. An meinem rechten Tragegurt befindet sich ein kleines Schild mit der Aufschrift „Jameson, Lily. 13 Church St. New York“. Lily Jameson ist meine Besitzerin.
Ich sitze zwischen ihren ausgestreckten Beinen und achte darauf, dass niemand mich klaut. Wahrscheinlich befindet Lily sich im Halbschlaf. Um diesen Flug zu kriegen, musste sie schon um 5:30 aufstehen. Viele Menschen sind nicht daran gewöhnt, vor allem nicht, wenn sie normalerweise erst um 8 in der Vorlesung sitzen müssen. Meine Besitzerin ist eine Studentin und fällt damit genau in dieses Schema. Das weiß ich, weil sie mich immer um etwa halb acht auf ihren Rücken setzt und ihre kleine Wohnung verlässt.
Unser Flug wird aufgerufen. Um uns herum stehen mehrere Personen auf, die ebenfalls an die Westküste fliegen wollen. Lily regt sich allerdings nicht. Habe ich mich geirrt? Ist das der falsche Flug?
„Hey! Du da. Du in schwarz!“, ruft jemand. Scheinbar bin ich derjenige, der gemeint ist.
„Entschuldigung?“, erwidere ich, ganz im Sinne meiner wohlerzogenen Herkunft.
„Ich bin hier oben!“ Eine graue Reisetasche, die just in diesem Moment aufgehoben wird, hat mich angesprochen.
„Ah! Jetzt sehe ich Sie. Was kann ich für Sie tun, Gnädigste?“, frage ich interessiert.
„Deine Kleine ist eingepennt!“, ruft die Sporttasche noch, bevor ihr Besitzer, ein breit gebauter Schrank von einem Mann, sich auf den Weg macht und wir getrennt werden. Lily schläft also tatsächlich. Es bleibt nur wenig Zeit zum Handeln. Ich reiße mich vom Anblick ihres ebenmäßigen, von roten Locken umrahmten Gesichts los, und denke scharf nach. Es kostet mich recht wenig Anstrengung, auf der Stelle umzukippen. Dafür muss ich mich später noch bei der Wasserflasche bedanken, die mich die ganze Zeit über schon fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.
Als ich gegen ihren nackten Unterschenkel sinke, zuckt Lily zusammen. Gleichzeitig höre ich die nächste Durchsage, welche durch die Halle schallt.
„Shit!“ Lily fährt hoch, packt einen meiner Gurte und rennt los. Bei jedem Schritt mache ich einen unfreiwilligen kleinen Hüpfer auf ihrem Rücken. Gott sei Dank ist momentan keine von diesen heißen Lederhandtaschen in der Nähe, dann wäre mir das nämlich höchst unangenehm. Ich hoffe nicht, dass mich jemand für eitel hält, aber die Würde eines Rucksacks sollte um jeden Preis gewahrt werden, wenn eine Dame anwesend ist. Nur wenig später erreichen wir unser Terminal. Auch hier beherrscht das Glas die Fassade, sodass ich den einen oder anderen Blick nach draußen erhaschen kann. Ich sehe prachtvolle weiße Flugzeuge, majestätische Zeugnisse menschlicher Schaffenskraft. Ebenso wie bei meiner eigenen Herstellung haben die Menschen sich selbst übertroffen, um diese Kunstwerke der Technik zu fertigen.
Natürlich nimmt mich Lily mit zu ihrem Sitz. Fast alle anderen Koffer und Taschen müssen sich im kalten Frachtraum des Fliegers aneinander kuscheln. Dazu gehört sicher auch die freundliche, dicke Reisetasche von vorhin. Ich jedoch darf den Ehrenplatz auf Lilys Schoß einnehmen, kaum dass sie sich auf einem der Sitze in der Economyclass gesetzt hat.
Lily öffnet mich und sucht nach dem Buch, welches sie eingepackt hat, um sich die Reise zu verkürzen. Wir werden einige Stunden brauchen, bis wir in Los Angeles ankommen. Ich sondiere die Umgebung, so gut ich kann. Es gibt insgesamt sechs Sitzreihen. Jeweils zwei davon bilden ein Paar, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Die Gänge dazwischen sind für die Stewardessen in ihren blauen Uniformen gedacht. Manchmal möchte sich bestimmt jemand etwas zu Trinken bringen lassen, und dann wäre es unpraktisch, wenn das Fräulein nicht an ihn herankommen würde. In der Hinsicht kann man diese Innenraumaufteilung als gelungen betrachten.
„Bitte schnallen Sie sich an und schalten Ihre Telefone sowie sämtliche technischen Geräte aus. Wir heben in wenigen Minuten ab. American Airlines wünscht Ihnen einen angenehmen Flug.“ Die warme Stimme aus dem Lautsprecher gehört zu einer weiteren Stewardess, die uns vom Ende des Ganges aus freundlich zulächelt. Meine Besitzerin leistet dem Gesagten folge, bevor sie sich mit einem entspannten Seufzer zurücklehnt. Ich spüre, wie sich ihre Arme um mich legen. Unsere Beziehung ist mehr als nur die einer Besitzerin zu ihrem Rucksack. In diesem Moment befindet sich auch ihr Tagebuch in meinem Bauch. Wenn das kein Beweis eines absoluten Vertrauens ist, dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Lily und ich sind gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Eine Woge des Stolzes durchflutet mich. Welcher Rucksack kann so etwas schon von sich behaupten? Die meisten kennen ihre Besitzer nur etwa 3-4 Jahre, dann sind sie kaputt und müssten ausgetauscht werden. Ich hingegen bin schon seit der Middleschool Lilys Begleiter. Ich habe erlebt, wie sie groß und erwachsen geworden ist. Ich war der erste, der ihre Brille und ihre Zahnspange gesehen hat, als diese Utensilien nötig wurden, und genauso war ich der erste, der mitbekam, wie sie letztere nach einigen Jahren wieder ablegte. Nur ihre Eltern könnten ähnlich fühlen.
Ein wenig Stolz wird ob meiner edlen Berufung wohl erlaubt sein. Meine Aufgabe ist es, ihr das Leben zu erleichtern, solange ich kann. Niemand außer mir kennt sie so gut und erfüllt diese Aufgabe so problemlos wie ich.
Der Teenager, der rechts neben Lily am Fenster sitzt, wirft ihr immer wieder schmachtende Blicke zu. Scheinbar kommt ihm nicht in den Sinn, dass er mindestens ein halbes Jahrzehnt zu jung für sie ist. Sie ignoriert ihn mit der Anmut einer in der Sonne liegenden Löwin. Genau so kenne ich sie.
Dummerweise hat auch seine kleine, unscheinbare Hüfttasche dieses Problem. Ich kann quasi spüren, wie sie mich taxiert. Ich bewahre – wie immer – meine Haltung, ohne mich irritieren zu lassen. In Momenten wie diesen spüre ich, dass Lily und ich uns wirklich auf einer Wellenlänge befinden. Wir reagieren im Angesicht dieses offensichtlichen Starrens kühl und würdevoll.
Einige Reihen weiter hinten verlangt ein kleines Kind lautstark Aufmerksamkeit. Ansonsten ist es angenehm hier. Die Motoren brummen gleichmäßig und es ist frühlingshaft warm. Die meisten Reisenden sind auf dem Weg in die Ferien, so auch Lily und ich. Eine Woche lang wird sie es sich in Los Angeles gut gehen lassen.
Auf der linken Seite Lilys sehe ich eine auffallend hübsche Handtasche. Der Mittelgang trennt Lily und mich von ihr. Diese Handtasche sitzt nicht nur, sie thront regelrecht auf den Knien ihrer Besitzerin, einer Frau in dunkelblauem Rock und weißer Bluse. Ihre Vollkommenheit kann es beinahe schon mit der Lilys aufnehmen. Ich räuspere mich dezent.
„Guten Tag, meine Dame. Genießen Sie den Flug?“, frage ich dann. Die Handtasche zögert kurz mit ihrer Antwort.
„Klaro, Kumpel. Bei dir auch?“, fragt sie dann in einem ziemlich lässigen Ton. Ich muss gestehen, dass sie mich damit ein wenig überrascht, denn ihr elegantes Aussehen passt nicht zu ihrem Ausdruck. Wie immer habe ich dennoch die passende Antwort parat, ohne überfordert zu wirken.
„Selbstverständlich. Was führt Sie nach Los Angeles?“
„Der Job. Irgendjemand muss die Akten schleppen. Außerdem kannst du gern mit dem „Sie“ aufhören, ich fühl mich sonst so alt.“ Ihre Antwort entlockt mir ein Schmunzeln. Welch erfrischende Gesellschaft. Und eine erste Bestätigung darin, dass doch nicht jeder Urlaub im Westen macht.
„Gern. Woher kommst du?“, frage ich.
Wir plaudern ziemlich lang. Ein Gespräch mit einer faszinierenden Fremden gehört zu den Freuden des Lebens, die man sich nicht verwehren sollte. Außerdem verfliegt die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes wie im Fluge, wenn man sich amüsiert. Zu dem Schluss komme ich, als wir sechs Stunden später die Wolkendecke durchbrechen und zum Landeanflug ansetzen. Im selben Moment, in dem das Fahrwerk unseres Flugzeugs die Landebahn berührt, klappt Lily ihr Buch zu. Es ist beinahe schon schade, dass ich meine neue Bekanntschaft nun schon verlassen muss. Vielleicht sehen wir uns ja sogar irgendwann mal wieder.
„Die Welt ist klein“, sagt sie, als ich meinen Bedenken wörtlich Ausdruck verleihe. Da hat sie allerdings Recht.
„Nun denn, ich hoffe auf ein erneutes Treffen.“ Ich hänge noch ein „Hau rein!“ hinten dran, um lockerer zu wirken. Womöglich hat sie sonst den Eindruck, ich wäre verklemmt. Das will ich vermeiden.
„Danke, du auch“, lacht sie. Was für eine reizende Handtasche.
Lily wirft der Frau im Rock einen kurzen Blick zu, als sie aufsteht.
„Bitte, nach Ihnen“, sagt die Frau. Lily bedankt sich und reiht sich ein. Einer nach dem anderen verlassen die Menschen unser Flugzeug.
Draußen trifft uns die Hitze beinahe wie ein Schlag. Obwohl es in New York noch Frühling war, so scheint Los Angeles schon vom Hochsommer überfallen worden zu sein. Meine Besitzerin setzt sich eine Basecap auf roten Haare.
„Schön hier“, murmelt sie. Ich stimme ihr zu, aber wie immer hört sie mich nicht. Das ist der einzige Makel unserer sonst perfekten Zusammenarbeit. Menschen hören die Sprache nicht, welche von uns Rucksäcken benutzt wird. Wir durchqueren den Los Angeles Airport, der nur ein wenig kleiner, aber nicht weniger eindrucksvoll ist als der in New York. Lange Förderbänder, auf die man sich stellen kann, sorgen dafür, dass die müden Passagiere schneller zum Ausgang gelangen. Ich sehe einige kleine Geschäfte im Inneren der gigantischen Hallen. Erfrischungen und dergleichen können hier akquiriert werden, sollte es jemandem nach dergleichen gelüsten. Lily stellt sich in der nächsten Halle in die Reihe derjenigen, die auf ihr Gepäck warten. Ein weiteres, viel kleineres Förderband läuft durch diese Halle. Taschen und Koffer befinden sich darauf. Wir befinden uns also im Gepäckzentrum.
Ich wappne mich innerlich. Leider bin ich diesmal nicht Lilys einziger Partner. Ihr Koffer ist auch dabei. Er ist zwar nicht besonders groß, die Bezeichnung „Koffer“ mag darum ein wenig hochgestochen sein, aber aufgrund seines wahnsinnig großen Egos besteht er darauf, Koffer genannt zu werden. Bisher konnte ich seine Existenz erfolgreich ausblenden, wann immer wir gemeinsam unterwegs waren. Immerhin bin ich Lilys Partner und er ist nur ein besserer Kleidercontainer. Nur ein paar Minuten später sehe ich seine klobige, rote Gestalt auch schon aus den Tiefen der Gepäckweiterleitung kommen. Lily packt ihn mit sicherem, festem Griff und verlässt das Gebäude.
„Na, altes Haus, noch wach? Was machen die müden Nähte?“, fragt der Koffer. Am unteren Ende besitzt er zwei Rollen, sodass Lily ihn nicht tragen muss. Sie rollt ihn einfach über den Gehweg. Ich sehe, dass sie auf ein gelbes Taxi zuhält.
„Ich bin so wach wie immer. Ich mache nie schlapp, mein Freund. Von müden Nähten kann keine Rede sein. Wie hat Ihnen der Flug im Dunkeln gefallen?“, frage ich mit ausgesuchter Höflichkeit. Wie erwartet trifft die Bemerkung ins Schwarze.
„Bist ein ganz Toller, was? Ich kann aber nicht klagen, irgendeiner von den Jungs da drin hatte eine defekte Discokugel dabei. So dunkel war es also gar nicht.“
„Freut mich zu hören.“
„Guten Morgen, Miss. Wohin soll es denn gehen?“, fragt der Taxifahrer, bevor der Koffer antworten kann. Lily gibt eine Adresse in Hollywood an. Zu meiner Erleichterung wird der rote Plagegeist hinten im Kofferraum verstaut, während ich neben Lily auf der Rückbank des Fahrzeugs sitze. Meine Besitzerin nimmt die Brille ab und schaut sich die vorbeiziehenden Häuser an.
„Hollywood, eh? Ich wünsche Ihnen viel Glück. Da kommen nur die Besten weiter“, sagt der Fahrer nach einer Weile.
„Es ist nicht so, wie Sie denken. Ich besuche nur meinen Vater“, erwidert sie. Ich kenne ihn, denn er hat mich damals gekauft und mich seiner Tochter geschenkt. Lilys Vater ist ein großzügiger und kluger Mann.
„Ach so! Entschuldigung. Ich habe so oft Leute hier im Taxi, die ich später in irgendeinem Film sehe, dass ich nicht mehr weiß, wo die Touristen bleiben.“ Lily lächelt in den Rückspiegel.
„Wer weiß? Vielleicht hat er ja eine Rolle für mich.“ Das ist wahrscheinlich nicht der Fall, denn Lily ist keine von denen, die sich mit purem Vitamin B, wie ihr Menschen so schön sagt, durch ihr Leben schummeln will. Darum studiert sie am anderen Ende Amerikas, während ihre Eltern hier geblieben sind. Genau diese Gesinnung imponiert mir. Sie könnte durchgehend First Class reisen, tut es jedoch nicht. Lily lebt in selbst erwählter Bescheidenheit, um ihren eigenen Weg zu gehen. Und darum verdient sie auch nur den besten Rucksack: Ein Wunderwerk aus Nylon. Den König der Rucksäcke.
Mich.
8 Millimeter
Meine Welt ist nicht grausam, obgleich sie manchmal bebt und mich in Dunkelheit einhüllt.
Ich weiß, dass da noch mehr ist. Früher habe ich an einem anderen Ort gelebt, konnte den Lärm hören und anderes Leben sehen, als die Strahlen der Sonne auf mich fielen. Eine Hand half mir zu reisen, brachte mich in mein neues, besseres Heim. Die Welt dort draußen schweigt selten. In meiner ist es ruhig. Die Ruhe streichelt meine Seele.
Ich mag es zu schlafen und mache mir daher nur selten die Mühe, aufzuwachen. Dann ist es meist, weil meine Welt zu mir spricht, oder einer meiner Brüder sich verabschiedet.
"Ich gehe jetzt", pflegen sie meist zu sagen.
Einfach so. Nicht mehr. Ich weiß, dass keiner von ihnen zurück kommt. Doch es berührt mich kaum, ihr Leben war so lang wie meines und kein Schmerz erwartet sie, wie auch mich keiner erwarten wird, wenn ich meine Welt verlassen muss. Sie selbst scheint den Verlust allerdings zu betrauern und bebt leicht. Ich beachte es nicht. Ich bleibe ruhig, bleibe an meinem Platz, ein paar Brüder über, ein paar unter mir. Wir alle kennen uns seit unserer Geburt und niemand bevorzugt den einen oder den anderen. Wie sollte da Freude oder Trauer aufkommen können? Wir sind ruhig. Wir warten, während unsere Welt uns ab und an nach oben schiebt. Dann muss einer meiner Brüder gehen, um nie wieder zurückzukehren und manchmal spüre ich in solchen Momenten einen Hauch von Nervosität, der über mich hinweg streicht. Vielleicht liegt das nur an der Bewegung, die mich weiter in die Höhe schiebt und bald ist es vergessen, dieses unerwartete Gefühl. Doch es kommt wieder, immer stärker, als wachse es mit der Höhe selbst.
»Was siehst du?«, frage ich meine Welt, ruhelos.
»Viel«, antwortet sie.
»Siehst du meine Brüder?«
»Ich sah sie.«
Ihre Einsilbigkeit macht mich plötzlich wütend. Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben.
»Erzähl mir, was du siehst!«, fordere ich sie auf und füge dann hinzu: »Bitte.«
Sie rührt sich ein wenig und seufzt: »Du würdest nicht viel verstehen von dem, was ich dir zu erzählen hätte. Aber du wirst vieles davon bald selber sehen. Vielleicht nicht alles, was ich sehe, aber dafür deutlicher. Du wirst es spüren können. Sei geduldig.«
Doch ich kann nicht länger geduldig sein. Mein Körper zittert in wachsender Unruhe und plötzlich wird mir klar, dass nur noch einer meiner Brüder über mir liegt. Bald werde ich es sein, der gehen muss.
»Bitte erzähl mir trotzdem ein wenig«, bitte ich und bin mir nicht ganz sicher, ob ich dies aus Neugierde tue oder ob ich mir Ablenkung wünsche. »Wie wird meine Reise sein? Wo muss ich hin?«
Meine Welt seufzt noch einmal und schweigt dann einen Moment lang. Ich fürchte schon, sie würde sich mir verschließen, als sie plötzlich zu sprechen beginnt.
»Deine Reise wird lang sein«, beginnt sie, »und von Vielem wirst du dich trennen müssen. Von deiner Haut, deinen Beinen, deinem Blut und nur dein Kopf ist, was dir bleibt.«
Ich versuche, die alte Ruhe in mir wiederzufinden, doch sie ist fort. Vielleicht musste ich mich von dieser als erstes trennen. Eine Vorbereitung darauf, einen Großteil meines Körpers zurückzulassen? Ich fürchte keinen Schmerz. Solch einer vermochte noch nie, mich zu berühren. Ich befürchte den Verlust meines Selbst.
»Ich gehe jetzt«, ertönt die Stimme meines Bruders über mir und reißt mich aus meinen furchtsamer werdenden Gedanken.
Er klingt nicht so ruhig, wie ich es erwartet habe. Ich möchte ihm etwas zurufen, ihn bitten, auf mich zu warten. Doch er schiebt sich nach vorne und verschwindet aus meinem Gesichtfeld. Über mir bleibt nichts als der ewig schwarze Himmel meiner Welt und plötzlich fühle ich mich allein, obwohl ich die Haut eines anderen meiner Brüder spüre, der unter mir liegt. Auch bin ich mir der Präsenz meiner restlichen Geschwister bewusst. Dennoch scheint es mir so, als sei ich das erste Mal in meinem Leben verlassen und verzweifelt kralle ich mich an das Gespräch, das ich mit meiner Welt führe, als könnte ich so den nahenden Abschied verhindern.
»Warum können wir nie zusammen gehen?«, frage ich sie, meine zuvor gestellten Fragen vergessend. »Gibt es nicht genug Platz dort draußen?«
Sie lacht entzückt wegen meiner Unwissenheit, wie eine gute Mutter, die ihr Kind dennoch ab und an zu belächeln weiß.
»Es ist mehr als genug Platz dort draußen. Hier drin fehlt er allerdings.«
»Können wir denn nicht hier bleiben, an diesem Ort?«
»Das ist nicht eure Aufgabe«, ihre Stimme klingt jetzt tief und streng. »Ihr geht und andere kommen nach. Bis mein Lebenslicht erlischt.«
In diesem Moment wird mir klar, dass auch sie Angst hat. Obwohl sie eine ganze Welt ist. Sie hat ihre Reise wohl schon vor langer Zeit angetreten und weiß, dass sie irgendwann enden wird. Was wird wohl aus mir werden, wenn ich das unbekannte Ziel meiner Reise erreiche? Wie viel Zeit wird bis dahin vergehen?
Ich schweige unsicher, mir durchaus bewusst, dass meine Welt der Unterhaltung müde ist. Sollte ich mich an meinen Bruder unter mir wenden? Ihn fragen, ob er sich Gedanken über den Sinn seines Lebens macht? Doch ich bleibe stumm, da ich seinen Hohn fürchte.
Es ist ruhig. Die Stille macht mich nervös, hindert mich am Schlafen. Es macht mich verrückt, ich bin ruhelos, ich will nicht länger warten, will fort von meinem Platz. Wenn ich meine Welt sowieso früher oder später verlassen muss, so soll dieser Augenblick mich nun erreichen. Bevor ich in meinen schreienden Gedanken ertrinke, von denen mich kein Geräusch erlösen kann, da es kaum eines gibt. Doch es bleibt still und ich bin gezwungen, ruhelos zu warten. Auf irgendetwas.
Ich warte so konzentriert dass ich zunächst gar nicht bemerke, dass mich meine Welt ein weiteres Mal in die Höhe schiebt. Ein letztes Mal. Plötzlich ist vor mir Platz, ein langer, schmaler Gang an dessen Ende ein Lichtpunkt glimmt. Obwohl so weit entfernt, zieht es mich dort hin und ich spüre eine seltsame Erregung in mir, die meine Gedanken zum verstummen bringt.
»Ich gehe jetzt«, rufe ich meinen Brüdern zu und rutsche ein Stück vor, bewege mich vorwärts ohne so recht zu verstehen, wieso ich das überhaupt tue. Aber ich weiß, dass meine Welt mein Vorankommen beobachtet, als warte sie auf einen richtigen Moment und wundere mich über mich selbst, dass ihre Blicke meine Nervosität nicht ein weiteres Mal entfachen. Stattdessen sehne ich mir den Augenblick herbei, in dem sie handeln wird, in welcher Art auch immer.
Sie tut es ganz plötzlich und ohne jedes Wort der Vorwarnung. Etwas schlägt gegen meine Beine mit solcher Kraft, das sie bersten und mein Blut zu brennen beginnt, bis es schier explodiert. Die Wucht des Aufpralls und der Explosion lassen mich nach vorne schießen, weit hinein in die Tiefen des Tunnels. Der zuvor noch kleine Lichtpunkt gewinnt zusehends an Größe und zugleich an Faszination. Beinahe schon habe ich ihn erreicht, da reißt mir meine Welt mit einer einzigen, gekonnten Bewegung die Haut vom Leib und zerrt sie zurück, fort von dem Lichtpunkt. Ihre Worte waren wahr. Nur meinen Kopf hat sie mir gelassen. Dennoch vermisse ich den Rest meines Körpers für keine Sekunde und auch kein Schmerz plagt mich. Der Lichtpunkt wächst auf meine Größe heran.
»Wo schickst du mich hin?«, schaffe ich noch zu fragen und bin mir bewusst dass dies die letzten Worte sind, die ich mit meiner Welt wechseln werde.
»In deine Bestimmung«, sie lacht laut, ein Geräusch fast wie ein Knallen. »Wenn es dir vergönnt ist, diese zu erreichen.«
Das Licht umschließt und blendet mich, als würde ich sterben und zugleich ein weiteres Mal geboren werden. Ich begrüße es erwartungsvoll und es schwemmt jede Spur von Angst und Nervosität von dem, was noch von meinem Körper übrig ist. Es nimmt die Stille mit sich und begleitet mich auf meiner Reise durch diese andere Welt, die sich mir eröffnet.
Eine Wüste. Sand und Steine. Fahrzeuge und organisches Leben, Menschen. Viele Menschen. Sie wirken unruhig, ruhelos und wütend. Ich denke, für sie ist alles schnell. Alles rennt. Ich bin wieder ruhig, obwohl ich in Bewegung bin. Es ist eine andere Form der Ruhe als die, die ich in meiner alten Welt kannte. Sie wird von keiner Gleichgültigkeit begleitet, stattdessen von unbändigem Selbstbewusstsein und Zielstrebigkeit obgleich mir noch immer nicht wirklich klar ist, was genau eigentlich mein Ziel ist.
Aber ich habe eine halbe Ewigkeit, um es herauszufinden. Die Reise dauert Jahre meiner Zeit. Unvorstellbar langsam zieht die Wüste an mir vorüber, bis sie mir so bekannt ist, dass ich jedes einzelne Sandkorn zu kennen scheine. Das Licht bleibt ewig gleich an meiner Seite und keine Wolke kreuzt den Weg der Sonne. Für die Menschen ist all dies wohl nur ein Wimpernschlag. Für mich stehen sie still und ihre Geräusche sind in einer Frequenz gefangen, verändern sich nur langsam. Schreie, Rufe, Weinen, die mich den ganzen Weg lang begleiten, ohne mich zu berühren. Es sind einfache Töne voller Gefühl sodass ich sie hören kann, obwohl ich die Sprache der Menschen nicht verstehe. Aber ihr Sinn und ihre Aussage bleiben mir ein Rätsel. Zu fremdartig erscheinen sie mir. Doch es gibt auch mir vertraute Wesen in dieser Welt. Ab und an treffe ich auf einen meiner Artgenossen, von denen die meisten konzentriert ihrer Reise nachgehen. Ein oder zwei blicken mich an, lächeln unsicher. Manchmal lächle ich zurück. Solche Begegnungen, so kurz und stumm sie auch sein mögen, erfreuen mich, obwohl ich mich sicher auch ohne sie nicht einsam gefühlt hätte. Zu sehr sehne ich mich nach meinem noch immer unbekannten Ziel, zu sehr bin ich darauf konzentriert.
Die ganze Reise über konnte ich es nicht greifen. Doch jetzt, als ich es erblicke, immer größer werdend, ist mir sofort klar was es war, das ich so lange gesucht habe. Als ich es endlich erreiche, erhasche ich einen Blick auf ein paar meiner Brüder, die friedlich auf dem Boden liegen, wo die Ruhe wieder in sie eingekehrt ist und ich weiß dass nicht hier, sondern dort meine Reise enden wird.
Ich stoße gegen mein Ziel und das erste Mal in meinem Leben spüre ich einen Widerstand. Minimal und lächerlich im Angesicht meiner Kraft, doch vorhanden und das bringt mich aus dem Konzept. Ich schwanke ein wenig und einen kurzen Moment lang fürchte ich hier, auf den letzten Metern, zu scheitern. Doch mein Wille trägt mich weiter und lässt mich die Wehrhaftigkeit, die der Körper meines Zieles zeigt und deren Grund ich nicht nachvollziehen kann, vergessen.
Ich kann organisches Leben nicht verstehen. Daher weiß ich nicht, was das Herz mir entgegen brüllt, als ich mir meinen Weg durch Haut und Fleisch und in seine Richtung bahne. Es begrüßt mich nicht, sondern zerrt an seinen Arterien und Venen, unbegreiflich langsam für meine Verhältnisse. Doch ich kann mich nicht zurückhalten und ihm mehr Zeit lassen. Ich will es berühren, es streicheln, es von allen Seiten betrachten, mich in ihm baden. Mit diesem unstillbaren Verlangen überkommt mich die tiefgehende Gewissheit, meine Bestimmung gefunden zu haben. Das Bild, das ich in meinen langen Träumen vor mir sah, strahlend rot und lebendig warm, ein Traum entfacht von den Worten meiner Bestimmung, die man mir und meinen Brüdern während und bei meiner Geburt einpflanzte. Ich strecke mich ungeduldig meinem Ziel entgegen und plötzlich umgibt es mich ganz, lebendiges Rot auf dem, was noch von meinem Körper ist, warm wie eine Decke, beruhigend, einschläfernd. Und doch: Während das Innere des Herzens gegen mich schlägt, erfasst mich ein Gefühl, das mich verwirrt, denn es fühlt sich seltsam falsch und zugleich richtig an und ich sehne mich danach, weinend zu lachen. Ich kann das Innere des Organs sehen, das fließende und sich rührende Leben in ihm betrachten, das ich in einer solchen Form niemals spüren konnte und auch nie fühlen werde. Ob dieses Herz mir etwas sagen würde, wenn wir uns verstehen könnten? Würde es mir erklären, warum ich mich stets nach seiner Umarmung gesehnt habe ohne mir dessen bewusst zu sein? Doch ich werde wohl niemals eine Antwort bekommen und muss mich unweigerlich fragen, ob meine Welt sie mir hätte geben können. Wusste sie je mehr, als ich es nun tue?
Ein Hauch der Unsicherheit, die ich kurz vor Beginn meiner langen Reise spürte, kehrt wieder zurück und mit ihr die Fragen, die zu stellen sich nicht lohnt. Das Herz um mich herum beginnt einzuschlafen. Sein Schlagen ist kaum noch spürbar. Ich denke, ich bin der Grund dafür und - wenngleich ich mir zuvor nicht über die Folgen meines Tuns bewusst war - bin mir nicht sicher ob es dies war, das ich wollte: Dass der Körper, in dem ich mich befinde, um mich herum zusammen zu sacken scheint und das Herz an Kraft verliert, bis es beinahe gänzlich schweigt. Ich fühle, wie ich mit seinem auch mein Leben aushauche. Die Müdigkeit, die mich überkommt, überrascht mich ein wenig doch übernimmt mich zu schnell, als dass ich mich sorgen könnte. Ich weiß, dass meine Reise nun ihr Ende finden wird und spüre keine Angst bei dem Gedanken daran, nur Erleichterung da ich nun, wo ich mein Ziel erreicht habe, keinen Sinn in einem Weiterleben sehen kann. Das übersteigt mein Vorstellungsvermögen.
Ich verlasse das weiche Herz, das mir so schnell wieder gleichgültig geworden ist und das ich nun nur noch hinter mir lassen möchte. Der Gedanke, im Inneren dieses fremden Körpers einzuschlafen liegt mir fern. Erschöpft greife ich nach Fleisch und Haut, die mir den Weg in die Außenwelt versperren und bringe meine letzte Kraft auf, um diese Wand zu durchdringen.
Das Licht umfängt mich, aber es scheint mir weniger hell, als läge ein Schleier über mir. Es erinnert mich an die friedliche Dunkelheit in meiner Welt und einem Moment lang glaube ich, wieder dort zu sein. Es ist nur eine Illusion, die mir meine Müdigkeit vortäuscht. Aber warum sollte ich mich dieser nicht hingeben, wenn sie mir doch so angenehm erscheint? Unter mir liegen die reglosen Körper einiger meiner Brüder, die ihr Ziel wohl knapp verfehlten. Mir war es vergönnt, es zu erreichen.
Ich lasse mich fallen, sinke Richtung Wüstensand und in ein Gefühl, das zu gleichen Teilen aus Stolz und unsicherer Verwirrung besteht. Ich weiß nicht, ob ich in meinem Leben über mehr nachgedacht habe, als meine Brüder oder ob es normal ist dass meine letzte Wahrnehmung dieser Welt, die nicht die meine ist, eine weitere Frage ist, deren Antwort man mir schuldig bleiben wird.
Meine Welt ist nicht grausam. Bin ich es?
Prismen leuchten auch im Schatten
„Und damit, liebe Bürger von Malvenfroh, ist nicht nur mal wieder bewiesen, dass die Elektrizität alles ist, sondern auch unser kleines Städtchen nun die Pracht von Prachtpolis City, nein, sogar jene der Stadt der Lichter übertrifft!“, sprach der üppig gebaute Herr im charmanten Hawaihemd, dessen Blütenmuster von zahlreichen Blitzen durchzogen war. Unweigerlich lachte der Mann über seinen eigenen Wortwitz, die Menge hingegen konnte ihre Blicke nicht von mir abwenden und wartet weiterhin verstummt vor Spannung auf den glorreichen Moment. Nachdem eine Dame ihm nähergekommen war und zugeflüstert hatte, dass er da noch eine Kleinigkeit vergaß, zupfte sich der Herr an seinem gleichfarbigen Bart. Er drehte sich um und schaute auf das rote Band, welches uns beide voneinander trennte. Aus seinem knallgelben Anzug holte der Mann eine Schere hervor; ein Raunen der Zuschauer durchbrach die Stille. Langsam bewegte er sich in seinen Sandalen einen Schritt zur Seite, sodass die Fotografen in der ersten Reihe ihre Schnappschüsse erzielen konnten, ob für die Zeitschrift Dialga Times oder den täglichen Wingull-Kurier.
Ein sanftes Lüftchen wehte in diesem Augenblick über den Platz, obwohl die Neubauten ihn wie eine Armee umzingelten. Durch meine zentrale Position wurde ich zu dieser Panoramasicht verdammt, die mich vor allem am heutigen Tag wieder an meine Geburtsstunde erinnerte, als diese Armee noch nicht aufgerüstet und das Land brachliegend war. Zu dieser Zeit tanzten die Blumen noch im Wind, die Menschen fuhren mit den neusten Fahrrädern über die vereinzelten Wege und die violetten Dächer, welcher meiner Heimat einst ihren Namen gegeben hatten, schimmerten im Mondschein. Doch während ich das Licht der Welt zum ersten Mal erblicken konnte, trugen mächtige Fahrzeuge die Erde ab, auf denen die Pflanzen lebten, und erstellten auf ihr eine vielfältige Ansammlung an Gebäuden. Direkt hinter mir fanden zwei grundlegende Zielorte für Reisende ihren Platz; das eine stach durch ein rotes Dach und einem dazu passenden Pokéball hervor, während das andere im Blau gehalten wurde. Noch vor den Festlichkeiten stürzten sich die Trainer in diese Häuser, um ihre Partner und sich selbst zu versorgen. Stets warfen sie mir dabei staunende Blicke zu, ruhten auf den Bänken, die diesen Platz in dem Häusermeer flankierten oder tollten über die winzigen Grasflächen, von denen es in der obersten Etage dieses Komplexes laut Touristen noch mehr geben sollte.
Heute hingegen wurden alle Pforten geschlossen, sodass von keiner Route durchreisende Trainer - oder Mitglieder dieser lächerlich gekleideten Teams aus Bösewichten – dieses Event stören könnten. Auf dem Dach tummelten sich Polizeieinheiten, die scheinbar von dem schwarzhaarigen Herrn im braunen Mantel zum Schutz der gaffenden Lebewesen organisiert wurden. Ich konnte mir denken, dass er nicht auffallen sollte, doch er rief jedes Mal lauthals in sein Funkgerät, wenn er eine ihm verdächtig vorkommende Person gesichtet hatte. Diese lustigen Wesen, welche von den Menschen allgemein als „Pokémon“ bezeichnet wurden, weil man sie doch so leicht in einem Ball gefangen halten und in einer Tasche unterbringen konnte, blieben hingegen ausnahmsweise still. Die vogelartigen Varianten beobachten das Geschehen von den Balkonen aus, auf denen sonst täglich das Krawumms abging. Während auf dem einen Balkon die Unfreundlichkeit in Person den armen Zimmerjungen verbal zum Viscora machte, spielten die beiden mausähnlichen Taschenmonster des Arenaleiters täglich mit den Nerven der Bewohner, indem sie von Geländer zu Geländer sprangen und deren Appartements verwüsteten. Walter nahm es nur mit Humor, auch wenn seine Rede deutlich zeigte, dass dieser bei den Bürgern nicht angekommen war.
Der Arenaleiter hatte inzwischen die Schere angesetzt und mit seiner Linken nach einem seltsamen Gerät gegriffen, das durch seinen großen, gelben Schalter auffiel. Nochmal setzte er zu einer knappen Rede an: „Ich weihe hiermit dieses Denkmal ein und es soll das neue Wahrzeichen von Malvenfroh City werden, die Stadt beschützen und diesen Ort erstrahlen lassen!“ Mit diesen Worten schnitt er das Band durch, betätigte den Knopf und erfüllte mich auf diese Weise mit einer unglaublichen Menge an Energie. Dies muss die Elektrizität sein, von welcher er gesprochen hatte, dies musste der Augenblick sein - mein Augenblick. Nicht einmal innerhalb von einer Sekunde begann ich zu leuchten, durch alle kleinen Fenster meines Körpers, selbst jene an meinem runden Fuß, auf dem ich in dieser Mitte meiner Heimat erbaut worden war. Kurz freute ich mich, an diesem Punkt stehen zu dürfen, die funkelnden Augen der Kinder beobachten und ihre Mütter hören zu können:
„Wer hätte gedacht, dass hinter dieser Häuserwand so ein Türmchen schlummert?“
Doch es ist diese Frage der Verwunderung gewesen, die mich im nächsten Moment in einer weiteren Erinnerung versinken ließ. Die Erinnerung an den gestrigen Tag vor dieser Festlichkeit, vor meiner vollständigen Geburt, als ein blonder Junge vor mir stand, der laut seinen Aussagen aus einer fernen Region stammte. Dieses Würmchen im hellblauen Anzug reiste angeblich nur an, um mich zu bestaunen, und dies tat es auch durch seine runden Brillengläser. Allerdings entgegnete es Walter daraufhin: „Ich hoffe, die Menschen werden dieses gelungene Duplikat sehen und zu uns nach Kalos kommen, um den wahren Prismaturm betrachten zu können, der die Häuser Illumina Citys in den Schatten stellt und von allen Routen aus betrachtet werden kann.“
Ob dem Jungen bewusst gewesen war, wie mich diese Worte kränkten? Ich bin lediglich ein Duplikat eines prunkvollen Bauwerks und Teil eines Ganzen, das nur versucht, etwas zu sein, das es nicht ist. Malvenfroh City, das kleine Örtchen mit seinem eigenen Charme, hatte sich nun gänzlich in ein schlechtes Nachbild der Stadt der Lichter verwandelt. Und mein Licht konnte nicht die Routen erreichen, den Trainern den Weg hierher weisen. Ich erhob mich nicht über Häuser, sondern wurde von ihnen in den Schatten gestellt, umzingelt wie ein Opfer. Die Menschen schauten auf mich, in Augenhöhe am Platz, herunter von den Balkonen und dem Dach. Ich strahlte hell, denn die Elektrizität hatte mich dazu gezwungen, wie es Walter plante, doch ich fühlte, wie sich in mir die Vergangenheit gegen die Gegenwart aufrichtete. Plötzliche platzierte der alte Teufel seine Hand auf einen meiner winzigen Balken, musterte mich von unten bis oben und warf seinen Blick wieder in die noch klatschende Menge.
„Seht euch dieses Wahrzeichen an, liebe Bürger, und denkt daran, was es beinhalten soll: Die Träume und Wünsche dieser Stadt und aller Trainer, welche sie passieren.“ Seine Sätze blieben für mich kalt und leer, während sie in den Ohren der Menschen wohl gefühlvoll und episch klangen. In mir waren nicht die Träume und Wünsche, sondern die pure Wut enthalten. Wieder zupfte Walter an seinem Bart und streckte dieses Mal seine Arme in die Höhe, während er sprach: „Vom Prismaturm inspiriert ist dieses Denkmal entstanden, ein wesentlich schöneres Exemplar, wie ich finde, denn es gehört zu uns und zu dieser Stadt mit ihrer Geschichte, es gehört ihr so sehr, dass die Trainer Malvenfroh City betreten werden, um das Türmchen zu sehen.“
Diese Worte hatten mir jedoch einige Fragen hinterlassen: War ich etwa mehr als ein Duplikat? Etwas Besonderes? Etwas Größeres als der Turm in Illumina City?
„Die Zukunft wird zeigen, wie diese Stadt gedeiht, und das Wahrzeichen soll uns beim Wachsen zusehen, wie unsere Kinder groß werden, wie die Touristen sich an dem Anblick erfreuen und Bleibe finden, wie sich hier zahlreiche Geschichten von Menschen begegnen und zu der von Malvenfroh City werden“, rief er erneut in die Menge, welche wieder etwas Ruhe gefasst hatte. Diese Ruhe heilte mich und ich begann, Walter und die Bürger der Stadt ein wenig zu verstehen. Vielleicht waren es keine leeren Worte, vielleicht musste ich zunächst nur für ein Duplikat gehalten werden, bevor man mein Licht sehen und mich wirklich beachten würde. Ich sehnte mich zwar nach den violetten Dächern, aber ich liebte diese amüsanten Spiele von Plusle und Minun, dieses unfreundliche Vipitis im östlichen Appartement, die tausenden Trainer, welche schon vor mir pausierten und anderen von ihren Erlebnisse erzählten.
Nachdem die Zuschauer den Platz verlassen hatten, leuchtete ich immer noch heller als die Sterne über meiner Spitze. Ich strahlte für Malvenfroh City und nahm mir für die Zukunft vor, auch für mich selbst zu strahlen, mich selbst so lieben zu lernen, wie ich diese Stadt liebte.
Die Puppenmacherin
Melisande erschrak kurz, als sie die Glöckchen der Ladentür hörte und versenkte so versehentlich die Nadel, mit der gerade die Details einer hübschen Marionette fertignähte, in ihren Finger. Um sie nicht zu verlieren, ließ sie sie gleich stecken, während sie beim Aufstehen den Holzstuhl nach hinten schob und sich aus dem dunklen, unordentlichen Arbeitszimmer, das nur von einer alten, flimmernden Stehlampe beleuchtet wurde, herausbegab, um zu schauen, wer das Geschäft betreten hatte.
Als der stämmige Mensch – der Sohn der Ladenbesitzerin, ein kräftiger Mann mit Frau und Kindern – erkannte, dass ihm jemand Gesellschaft leistete, winkte er und rief: »Oh, hallo Melisande! Du arbeitest noch, um diese Uhrzeit? Ich bin nur hergekommen, weil ich Mutter versprochen habe, den Laden etwas umzuräumen. Morgen ist Montag, da muss es fertig sein. Ein paar Stunden habe ich ja noch! Sag mal, arbeitest du immer so spät hier? Ah, ich hab's, du musst bestimmt auch noch einen Auftrag erledigen! Dann halt dich mal ran. Ich möchte dich gar nicht aufhalten, du schaffst das! Ich glaube an dich!«
»Ich arbeite immer so spät, Viktor«, gab Melisande zurück, als sich die Gelegenheit bot, während sie sich umdrehte und fast lautlos, bis auf das Knirschen ihrer Schuhfüllung, wieder zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte. Er lief ihr mit einem großen, mit Wolle gefüllten Pappkarton hinterher. »Ich schlafe schließlich nicht. Da verbringe ich die Nächte lieber mit Arbeit und habe die Tage für mich. Aber gerade jetzt ist mir nur langweilig, ich habe alles erledigt und mache eine Puppe für mich selbst.«
»Ergibt Sinn«, meinte er und machte sich daran, den Inhalt der Regale umzuschichten, um ein wenig freien Platz zu erwirtschaften. Melisande beobachtete seine breiten, sehnenhaften Muskeln und sah sich dann ihre eigenen Arme an: Dünn, weich, umgeben von einer seidenen Stoffhaut und gefüllt mit groben Teeblättern. Damit sie ihre Form nicht verloren, führte ein fester Draht in ihrem Inneren entlang.
Schließlich setzte sie sich wieder, zog die Nadel aus ihrem Finger und arbeitete weiter an ihrer neuen Marionette. Melisande benutzte als Vorbild für ihre Puppen meistens völlig fremde Menschen, denen sie auf der Straße begegnete und deren Gesicht und Körperform sie sich fest einprägte. Es lag ihr jedoch fern, lebensnahe Abbilder zu erschaffen. Gerade nähte sie ein Mädchen mit übergroßem Kopf, blauem Kleid und Knopfaugen zusammen, genau wie sie die Kinder mochten, deren Eltern im Laden am häufigsten einkauften.
Auch Melisande trug Knopfaugen, auch wenn ihre weit größer anmuteten, da das Mädchen die Größe und Proportionen eines gewöhnlichen Menschen an den Tag legte. Melisande wusste zwar nicht, wer sie genäht hatte, doch sie war ziemlich stolz auf ihr eigenes Aussehen: Sie hatte ein hübsches Gesicht, einen schlanken, blickerhaschenden Körperbau, und wären ihre Glasaugen im Laufe der Zeit nicht kaputt gegangen, hätte man sie auf dem ersten Blick sehr leicht mit einer jungen Frau verwechseln können.
Das brachte sie ins Grübeln, also legte sie ihre Puppe kurz hin, steckte die Nadel zurück in ihren Finger und begann mit ihren lockigen, roten Haaren zu spielen. Währenddessen schuftete Viktor noch immer, bis er ihre seltsame Pose bemerkte und das Wort an seine Mitarbeiterin richtete: »Alles in Ordnung? Brauchst du etwas?«
Melisande schüttelte sachte den Kopf, beäugte den Mann durch ihre hölzernen Knopfaugen jedoch nachdenklich. »Sag mal, was unterscheidet Puppen von Menschen?«
Viktor zeigte einen Gesichtsausdruck, als hätte seine Tochter ihn nach ihrer Periode gefragt und legte die Schublade aus seiner Hand ab. »Alles«, antwortete er schlicht, bis er nach einer kurzen Pause gestikulierend weiterredete: »Es ist alles anders zwischen uns. Schau, meine Hände sind aus Fleisch, deine aus Stoff. Meine Stimme klingt kräftig und durchgehend, deine ist wellenartig und bibbert. Wenn ich mich verletze und man meine Wunden nähen muss, wird der Faden nach ein paar Wochen gezogen, bei dir bliebe der Faden ewig. Es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Puppen. Warum machst du dir überhaupt Gedanken um sowas. Ist es die Uhrzeit?«
Während seiner Erklärung hatte der die Stimme des Mannes deutlich an Volumen zugenommen, sodass Melisande verschreckt auf ihrem Stuhl zurückgerutscht war. Als Viktor bemerkte, dass er es ein wenig übertrieben hatte, trat er auf sie zu und strich durch ihre Haare. »Wir haben dich trotzdem lieb«, sagte er und machte sich zurück an seine Arbeit.
Melisande saß im Gegenzug einfach da und die Gedanken rauschten durch ihren Kopf wie ein Blättersturm. Sie zog die Nadel aus ihrer Hand und steckte sie in die Brust der unfertigen Puppe.
Viktor arbeitete noch einige Stunden weiter, doch ein weiteres Gespräch tat sich zwischen beiden nicht auf, eher entstand der Eindruck, es handele sich bei Melisande um ein einfaches Möbelstück. Auch nachdem er das Geschäft wieder verlassen hatte, fühlte sich die Puppe wenig motiviert, zu arbeiten. Stattdessen starrte sie auf ihr eigenes Machwerk.
»Entschuldige bitte … Mariel?«, flüsterte sie, während sie die Nadel wieder aus ihr herauszog. »Ja, ich denke Mariel ist ein hübscher Name. Möchtest du hübsche Augen haben? Ich mach dir welche!«
Melisande lächelte und suchte in einer Schatulle nach einem hübschen Paar Knöpfe. Sie dachte sogar darüber nach, ob es nicht Zeit wäre, sich selbst neue Augen zu besorgen. Diesen Gedanken verwarf sie jedoch schnell wieder. Es war nicht so, als gäbe es jemanden, der ihre neuen Augen bewundern könnte … schließlich konnte sie selbst ihre eigenen Augen nicht sehen, während sie sie trug.
Irgendwann später hörte sie erneut die Ladenglöckchen klingen. »Hallo!«, hörte sie die alte, furchige Stimme der Ladenbesitzerin durch die Luft schallen, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es schon wieder Morgen war. Das Licht, das mittlerweile durch die Milchglasfenster hinter einem halbzugestellten Regal in den Raum flutete, hatte sie gar nicht bemerkt. »Hallo«, antwortete Melisande mit ihrer kullernden Stimme, während sie hörte, dass die Frau an der Ladentheke im Nebenraum Nadeln umfüllte.
»Oh, du bist ja wirklich noch da!«, rief die Frau. »Hast du alles fertig? Brauchst du neue Arbeit?«
Melisande antwortete nicht sondern flüsterte stattdessen ihrer fast fertigen kleinen Marionette zu. »Meinst du, du kannst auch arbeiten?« Sie zog an den Fäden, die sie an den Gelenken der Puppe befestigt hatte, um sie über den Tisch schreiten zu lassen. »Du könntest bestimmt Klavier spielen! Oder du übst dich erstmal an einer Triangel … sag einfach, was dir am liebsten wäre.«
Melisandes Knopfaugen blickten erwartungsvoll in das Gesicht ihrer kleinen Begleitung. »Nun rede doch mit mir!«, rief sie mit einer Spur Frust in der Stimme.
»Törrichtes Ding!«, rief die Ladenbesitzerin, die sich in den Türrahmen gestellt und Melisande beobachtete hatte und jagte ihr so einen neuen Schreck ein. »Puppen können nicht sprechen!«
Melisande wollte widersprechen und blickte mit einer Spur Verwirrung in die Augen der Frau, doch sie entschied sich schließlich, lieber einfach zu schweigen.
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich gleich wieder zurück sein werde, aber du musst dich ein wenig um den Laden alleine kümmern. Du kannst die den Nachmittag natürlich freinehmen, bis dahin bin ich längst zurück. Es scheint nur eine Lieferung zu wenig angekommen zu sein, das muss ich klären. Bis dahin, liebes Püppchen.«
Melisande nickte und stand auf, während sich die Frau nach draußen begab und die Tür ein weiteres Mal klingeln ließ. Im Verkaufsraum angelangt, blickte sich das Stoffmädchen um. Hinter den Vitrinen stapelten sich eine Vielzahl von Holzmarionetten, Stoffpuppen, Plüschtieren und anderen Dingen, die sie hier herstellten und verkauften. Da die Verkaufszeit begonnen hatte, setzte sie sich hinter die Ladentheke und überprüfte Kasse, Belegaussteller und Terminkalender. Die Arbeit hinter der Theke gefiel Melisande nicht ansatzweise so gut, wie das selbstständige Herstellen von Waren, aber sie nahm die Dinge wie sie kamen. Es dauerte schließlich auch gar nicht so lange, bis ein Schatten hinter dem Schaufenster durchhuschte und sich die Ladentür mit einem Klirren öffnete. Eine Frau im mittleren Alter schob sich durch den Eingang, begleitet von einem Kind, das ihre Hand hielt.
»Schau dich gleich mal um, wenn du etwas findest, das dir gefällt, dann sag bescheid.«
»Ok, Mama«, antwortete der Junge, löste seinen Griff und lief stumm im Laden umher. Indes lief die Mutter auf die Theke zu. Sie wirkte wie eine recht wohlhabende Dame, trug blond gefärbtes Haar und schien mit jeder Faser ihres Auftritts das drohende Alter zurückdrängen zu wollen. Schließlich fiel ihr Blick auf Melisandes Knopfaugen, während das Mädchen sie mit einem »Hallo« begrüßte.
»Hallo. Ah, Sie sind doch diese Puppe, die selber Puppen herstellt, nicht wahr?« Der Ausdruck der Frau zeigte eine Mischung aus Interesse, Skepsis und Amusement. »Fühlen Sie sich dabei nicht … ziemlich seltsam?«
Inzwischen war der Junge mit einem Plüschpfeilschwanzkrebs zurückgekehrt. Melisande richtete ihren Blick auf ihn. »Wie hat sich wohl deine Mutter gefühlt, als sie dich hergestellt hat?«
Der Junge versteckte sich schüchtern hinter den Beinen der Frau und drückte ihr das Plüschtier in die Hand.
»Ich denke nicht, dass sich eine Verkäuferin derart unverfroren äußern sollte … bitte«, ärgerte sie sich, während sie das Geschenk für ihren Sohn auf den Tisch legte. Sie sprach nicht noch einmal, reichte nur das Geld herüber und machte sich mit dem Kind daran, den Laden zu verlassen, wobei sie es sich nicht nehmen ließ, ihm deutlich hörbar mitzuteilen, dass sie dieses Geschäft nicht erneut besuchen würden.
Melisande biss auf ihre Stoffzunge und war kurz froh, dass die Ladenbesitzerin diese Aktion nicht mitbekommen hatte. Entmutigt lehnte sie sich im Stuhl zurück und zupfte an ihrem rot-braunen Kleid herum, als könne es trotz der Vernähung mit ihrer Haut durcheinander geraten.
Es dauerte für ihren Geschmack deutlich zu lange, bis ein neuer Kunde eintraf, also erhob sie sich letztendlich, um ein wenig Nähzeug und die fast fertige Mariel zu holen. Dann ließ sie sich wieder hinter der Theke nieder, konnte aber keine Motivation fassen, die Nadel in die Hand zu nehmen, und so saß das Stoffmädchen eine Weile lang einfach nur da und beäugte ihr Schaffenswerk.
»Warum kannst du nicht sprechen und ich schon?«, fragte sie, halb anklagend, halb flehend. »Das ergibt keinen Sinn. Wir sind beide Puppen. Wir sollten entweder beide sprechen oder beide schweigen. Du schläfst nicht, du blutest nicht, du weinst nicht, du bist wie ich. Nur, dass du nicht redest.« Melisande blickte auf und ließ ihren Blick über die Puppen und Marionetten in den Vitrinen wandern. »Ihr redet alle nicht.«
Nachdem auch dieses Mal keine Antwort folgte, setzte sie sich auf und nähte Mariel endlich fertig. Mit einem Blick auf die Uhr merkte sie schließlich, dass die Mittagspause bereits begonnen hatte, also schritt sie zur Tür und drehte das Eingangsschild so, dass es nach außen hin »Geschlossen« anzeigte, bevor sie sich wieder setzte und die fertige Mariel ein letztes Mal auf Fehler untersuchte. »Vielleicht bin ich es ja auch, die seltsam ist«, seufzte Melisande schließlich, legte die Puppe auf den Tisch und lehnte sich zurück. In Momenten wie diesen wünschte sie sich, sie könnte ihre Augen einfach schließen.
Stattdessen schreckte sie hoch, als wieder einmal die Glöckchen der Eingangstür klingelten und ein kleines Mädchen in den Laden stolzierte, das vielleicht elf Jahre alt war.
»Kannst du nicht lesen?«, fragte Melisande. »Es ist geschlossen. Ich feire Mittagspause.«
»Hallo!«, rief das Mädchen und ließ sich nicht beirren. »Ich bin nicht zum Kaufen hier, nur zum Ansehen! Also ist es egal, ob geschlossen ist!«
»Ich glaube nicht, dass das so funktioniert«, gab Melisande zurück, dachte aber weiter darüber nach, weil die Erklärung doch ziemlich schlüssig klang.
»Ooh!«, sagte das Mädchen schließlich, als sie die Puppenfrau näher in Augenschein nahm. Sie schritt näher an sie heran, bis sie Antlitz an Antlitz vor ihr stand und sie aufmerksam beäugte. »Das gibt es doch nicht! Schau, wir haben dieselbe Haarfarbe!«
Zum Beweis fummelte sie eine Strähne aus beider Haarschöpfe heraus und hielt sie nebeneinander. Melisande fand ganz und gar nicht, dass es wie dieselbe Farbe aussah, doch zumindest waren beides Rottöne.
»Und dein Kleid sieht wunderhübsch aus«, plapperte das Kind weiter. »Sag mal, warum sind deine Augen Knöpfe?«
»Weil ich eine Puppe bin.«
»Alles klar! Seit wann?«
»Ich wurde als Puppe hergestellt, also seit schon immer.«
»Hm …«, antwortete das Mädchen und schien angestrengt darüber nachzudenken, wie viele sprechende Puppen ihr schon begegnet waren. »Fühlst du dich oft alleine?«, fragte sie dann unvermittelt, und Melisande fühle sich durch diese plötzliche Frage sehr irritiert.
»Was soll das überhaupt bedeuten?«, fragte sie schließlich nach einer kurzen Pause. »Entweder man ist alleine oder man ist es nicht. Das ist ein Zustand, kein Gefühl. Und ja, manchmal, wie gerade eben, bin ich alleine. Du warst bestimmt gerade eben auch alleine.«
»Ich meine … kennst du das nicht, wenn du in einem Raum voll mit Menschen bist, und du fühlst dich trotzdem einsam?«
Das Mädchen aus Stoff schaute weg. Natürlich kannte sie das.
»Mir geht es so, wenn mich mein Vater zu seinen Arbeitsmeetings mitnimmt«, erklärte sie dann. »Weil ich nicht alleine zu Hause bleiben darf und er so viel arbeiten muss.«
»Musst du nicht zur Schule?«
»Es gibt so einen alten Mann, der bringt mir alles bei.«
»Verstehe.«
Das Mädchen schloss die Augen und führte ihre Nase in der Luft herum. »Hier riecht es so gut! Bist du das?« Plötzlich vergrub sie ihr Gesicht im Bauch von Melisande und atmete tief ein.
»Das sind nur Blätter.«
»Das muss super praktisch sein!«
»Was?«
»Naja, wir Menschen müssen immer jeden Tag duschen. Du setzt dich einmal im Monat in eine Waschmaschine und fertig!«
»Ja …«, antwortete sie, schaute aber auf den Boden. Sie fühlte sich unwohl dabei, über so etwas Privates zu reden, konnte aber die Einfachheit ihrer Selbstpflege nicht leugnen.
»Sag mal, wenn du kaputt gehst, tut dir das dann weh?«
»Nein, ich habe keine Schmerzen. Wenn etwas kaputt geht, nähe ich es einfach wieder zu. Manchmal brauche ich ein bisschen Tee, um mich wieder aufzufüllen. Schau, so sieht das dann aus.«
Mit ihrem letzten Satz zog Melisande ihr Kleid hoch und entblößte ihre stoffenen Oberschenkel, die jedoch mit vernähten Schnitten und Patches übersät waren.
»Ohje, was ist da passiert?«, fragte das Mädchen schockiert.
»Manchmal, wenn ich nichts zu tun habe, schaue ich nach, woraus ich gemacht bin.«
Ihr Gast schüttelte vehement den Kopf. »Mach sowas nicht! Nicht machen, hörst du?«
»Okay …«
Das Kind lächelte wieder, als hätte sie sich mit der Antwort zufriedengegeben. »Ich wäre auch gerne eine Puppe, das klingt nach einem wunderbaren Leben«, sagte sie schließlich und jagte mit diesen Worten einen angenehmen Schauer über Melisandes Rücken. Sie konnte sich nicht erinnern, je das Ziel von Neid gewesen zu sein, und musste zugeben, dass es ihr irgendwie gefiel. »Ich glaube, gleich muss ich gehen«, fiel ihr plötzlich ein. »Mein Vater weiß nicht, dass ich hier bin.«
»Du Racker. Wie heißt du?«
»Antoinette!«
»Schöner Name! Hör zu, Antoinette, das hier ist Mariel. Ich schenke sie dir, wenn du mir versprichst, gut auf sie aufzupassen.«
Die Augen des kleinen Wesens gingen weit auf. »Ich liebe dich!«, rief sie und drückte die Puppe an sich, die Melisande ihr gereicht hatte. »Darf ich sie wirklich haben?«
»Ja.«
»Danke! Ich glaube aber, ich muss jetzt los. Auf Wiedersehen!«
Kopfschüttelnd und mit einem Grinsen auf den Wangen winkte das Stoffmädchen ihr nach. Dann sah sie auf die Uhr.
»Ich sollte mir vielleicht doch neue Knopfaugen kaufen«, dachte Melisande verlegen.