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Vote
In diesem Thema habt ihr eine bestimmte Anzahl an Punkten zur Verfügung, die ihr den Texten im Tab "Abgaben" geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr nahezu frei wählen könnt, wie ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten.
Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf Medaillen. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zu den Wettbewerben.
Wer neben den Votes noch weitere Kritik für sein Werk erhalten möchte, aber kein eigenes Thema erstellen möchte, der kann dies gerne in unserem Feedback-Thema für fertige Texte tun!
Zitat von AufgabenstellungAbschied nehmen
Jeder hat diesen Moment schon einmal erlebt: Man musste sich, ob gezwungener Maßen oder nicht, von einem Menschen oder einer Sache verabschieden. Sei es nun für immer oder nur für eine bestimmte Zeit - in diesem Wettbewerb ist es eure Aufgabe, eine kurze Erzählung über das Thema „Abschied nehmen“ zu schreiben.
Dabei ist die Art der Verabschiedung euch völlig freigestellt, die ihr in dem Text behandelt, solange ihr den Themenbezug einhaltet. Ein Pokémon-Bezug ist dabei ebenfalls erlaubt, allerdings keine Pflicht.
Ihr könnt 6 Punkte verteilen, maximal 3 an eine Abgabe
ZitatAlles anzeigenID: [DEINE USERID]
AX: X
AX: X
Beispiel:
ID: 27258
A16: 3
A1: 5
A3: 1
A7: 1
A9: 2
Wenn ihr nicht wissen solltet, wie ihr eure ID herausfindet, könnt ihr dies unter anderem hier nachlesen.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 24.05.2015, um 23:59 Uhr.
[tab=Abgaben]
Es gibt sieben bewohnte Ostfriesische Inseln. Sie alle verinnerlichen die natürliche Schönheit einer Düneninsel. Geht man die Inseln durch, so stellt man fest, dass die vierte von links und die vierte von rechts, mit anderen Worten, die, welche genau in der Mitte liegt, die kleinste von ihnen ist. Der Name dieser Insel lautet Baltrum, und es ist diese Insel, die ich seit meiner frühesten Kindheit jedes Jahr stets einmal im Sommer besucht habe. Ich war noch auf keiner der anderen Inseln und weiß daher nicht, wie das Leben auf diesen so spielt, aber auf Baltrum fand ich immer die Ruhe, welche mir das restliche Jahr über in so einer Form niemals zuteil wurde.
Nun stehe ich am Baltrumer Hafen. Das Schiff, welches die Urlauber wieder zurück nach Neßmersiel ans Festland bringt, steht bereit und der endgültige Abschied kurz bevor. Ich gebe mir Mühe, nicht zu weinen, aber es fällt mir nicht leicht. Ich spüre einen größer werdenden Schmerz in der Brust. Ich will nicht, dass es endet. Der Gedanke allein lässt sich kaum ertragen.
Ich lief durch die Straßen der kleinen Inselgemeinde. Tief atmete ich die allgegenwärtige Seeluft ein. Mein Ziel war das westliche Ende der Insel. Es gab sicherlich für die meisten Touristen weitaus Interessanteres, als einen bloßen Spaziergang zu machen. Zum Beispiel ins Kino, Schwimmbad, Meer, Museum oder das Nationalparkhaus zu gehen, um nur wenige Dinge zu nennen. Aber ich hatte es schon immer gemocht, einfach gemächlich vor mich hin zu schlendern, dabei den angenehm kühlen Wind in den Haaren zu spüren und den atemberaubenden Ausblick auf das Meer zu genießen. Ich flanierte also gedankenverloren den Aufgang zur Promenade hinauf und hielt kurz inne. Von hier konnte man Norderney und das Festland sehen. Gerade hatte ich die Idee, mir an dem Abend des heutigen Tages auch den Sonnenuntergang anzusehen, was hier ein wirklich erhebendes Schauspiel ist, als ich plötzlich hinter mir eine helle und klare Stimme hörte.
„Entschuldigung.“
Ich drehte mich um und stand einem Mädchen mit feingeschnittenen, asiatisch anmutenden Gesichtszügen gegenüber. Langes, schwarz glänzendes Haar fiel ihr über die Schultern. Sie lächelte freundlich und enthüllte dabei makellos weiße Zähne.
„Könntest du mir vielleicht sagen, wie ich zum Seehund komme?“
Ich blickte ihr in die Augen. Sie leuchteten in einem strahlenden blau. Mein Magen zog sich unangenehm zusammen.
„Was?“, nuschelte ich nervös und verwirrt.
„Das Restaurant. 'Zum Seehund' soll es heißen. Oder kennst du dich hier auch nicht aus?“, fragte sie.
Ich spürte, wie Hitze in mir aufstieg. Ich musste wohl ziemlich rot geworden sein.
„Doch, doch“, erwiderte ich hastig. „Klar weiß ich, wo das ist. Äh, also du musst einfach hier die Straße geradeaus und dann die erste Straße links rein. Dann siehst du es auf der linken Seite. Da ist auch die alte Inselglocke. Du kannst es gar nicht verfehlen.“
„Danke“, erwiderte sie lächelnd.
„Kreine Ursache“, krächzte ich ein wenig lahm.
Sie schien meinen sprachlichen Ausrutscher nicht zu bemerken und ging stattdessen, nachdem sie mir noch einmal zugelächelt hatte, in die Richtung, welche ich ihr vorhin erklärt hatte.
Ich starrte ihr nach, kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Als sie sich noch einmal umdrehte, tat ich schnell so, als würde ich aufs Meer blicken. Ich wollte nicht, dass sie meinen Blick bemerkte und hoffte, dass sie es auch nicht getan hatte.
Abends wollte ich mir wie geplant den Sonnenuntergang ansehen. Ich setzte mich ein wenig abseits von anderen Zuschauern auf eine Bank, die an der alten Strandmauer stand.
Die Sonne stand noch ein wenig über dem Meer, sodass es noch etwa eine Viertelstunde dauern musste, bis sie begann, ins Meer einzutauchen. Bereits jetzt leuchteten die Wolken aber schon in den verschiedensten Rottönen. Ich atmete tief durch und schloss kurz die Augen. Ich nahm nichts wahr außer dem sanften Meeresrauschen und dem gelegentlichen Schrei einer Lachmöwe.
Und einer vertrauten Stimme.
„Hallo.“
Ich zuckte zusammen, riss die Augen auf und blickte mich erschrocken um. Hinter mir saß auf der Strandmauer das Mädchen von heute Nachmittag. Angesichts meiner heftigen Reaktion musste sie kichern.
„Äh, hallo“, sagte ich zaghaft und kratzte mich dabei nervös am Kopf. Dann wurde mir bewusst, dass ich mich nervös am Kopf kratzte, und ließ es schnell bleiben.
„Ich wollte mich noch einmal für deine Hilfe heute bedanken“, sagte sie, nun wieder freundlich lächelnd.
„Wie gesagt, keine Ursache“, erwiderte ich, darum bemüht, ruhig zu klingen.
„Keine? Ich hätte schwören können, dass du heute Nachmittag noch 'kreine' gesagt hast.“
Sie kicherte erneut. Ich spürte, wie ich wieder rot wurde. Das Mädchen sprang von der Mauer und setzte sich neben mich.
„Was dagegen, wenn ich mir hier mit dir den Sonnenuntergang ansehe?“, fragte sie.
„N-nein, gar nicht“, sagte ich. Was hätte ich auch sonst sagen sollen?
„Niemand sollte sich alleine einen Sonnenuntergang ansehen müssen“, fuhr das Mädchen fort.
Ihre Stimme war ruhig und melodisch, auch wenn sie etwas Merkwürdiges an sich hatte. Sie klang in irgendeiner Art und Weise kindlich, geradezu schelmisch. Nun gut, sie war wohl ungefähr 13 Jahre alt, also in etwa so alt wie ich.
„Meinst du etwa mich damit?“, fragte ich ein bisschen irritiert.
„Eigentlich sprach ich mehr von mir“, sagte sie geistesabwesend.
Als wäre sie aus einer Trance aufgeschreckt, fügte sie auf einmal hinzu: „Ach, ich habe mich dir ja noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Joanna. Und du?“
Mir war das ganze irgendwie unangenehm.
„Philipp“, sagte ich knapp.
„Gesprächig bist du wohl nicht?“, fragte sie lachend.
„Naja...“ Mir fiel nichts ein.
„Du könntest mir ja erzählen, wo du her kommst. Und ich antworte dir im Gleichen.“
Ich merkte, wie mich ihr fröhliches, unbeschwert wirkendes Wesen ansteckte. Tatsächlich konnte ich anfangen, mich zu entspannen.
„Nun, ich komme aus Herdecke. Das ist ein kleines Stätdchen im Ruhrgebiet. Sagt dir wahrscheinlich nichts.“
Sie schüttelte den Kopf. Ihr schwarzes Haar verströmte dabei kurz einen intensiv blumigen Duft.
„Kenne ich tatsächlich nicht. Ich komme jedenfalls aus London.“
Ich starrte sie ungläubig an. Sie fing wieder an zu lachen.
„Du sprichst aber gut Deutsch“, sagte ich nach einiger Zeit.
„Danke“, erwiderte sie stolz lächelnd. „Ich spreche übrigens auch japanisch.“
„Echt?“
Sie erwiderte etwas auf japanisch, etwas, dass ich nicht genau verstand. Es klang wie „aishiteru“ oder „aishiteiru“.
„Was heißt das?“, fragte ich neugierig.
„Oh, das findest du sicher noch raus“, sagte sie und lächelte jetzt auf eine geheimnisvolle Art.
„Du spielst doch Fußball, oder?“, fügte sie unvermittelt hinzu.
„Allerdings“, sagte ich verblüfft. „Woher weißt du das?“
„Blaue Flecken an den Beinen, aber weniger an den Schienbeinen. Leicht durch die Schoner verformt. Allgemein sportlicher Eindruck. Und in deinem Alter spielen doch auch hierzulande sicher die meisten Fußball.“
„Aha“, machte ich.
„Errätst du auch, welche Sportart ich mache?“, fragte sie.
Ich blickte an ihr herunter. Es fiel mir jedoch schwer, meine Gedanken zu sammeln.
„Ich gebe dir einen Tipp“, sagte sie leise und hielt gut sichtbar ihre Hände in die Höhe. Eine Hand war heller als die andere.
„Ach so“, sagte ich. „Golf.“
„Richtig.“ Sie lachte erneut.
Wir hielten einen Moment inne und sahen zu, wie die Sonne allmählich zu versinken anfing. Ich bemerkte, wie meine Hand fast wie von selbst zu Joannas Hand wanderte.
Joannas Schiff steht nun im Hafen bereit. Gleich wird sie abreisen, zurück nach England. Ihr älterer Bruder, mit dem sie diesen Urlaub gemacht hat, ist bereits auf dem Schiff. Die letzten Fahrgäste begeben sich auf das Boot. Ein Junge in T-Shirt und kurzer Hose geht an uns vorbei und betritt die Rampe, die an Bord führt.
„Ich glaube, ich weiß inzwischen auch, was das bedeutet, was du mir an jenem Abend gesagt hast“, flüstere ich.
„Was denn?“, fragt Joanna.
„Ich liebe dich.“
„Nein, ich meine, was es bedeutet.“
Wir lachen beide kurz.
„Hör zu“, sagt Joanna plötzlich ernst, „das muss nicht heißen, dass wir nie mehr...“
„Nein“, sage ich.
„Und selbst wenn, dann bleibt uns immer noch die Erinnerung...“
Zum ersten Mal, seit ich sie kenne, klingt sie nicht mehr fröhlich. Ich sehe in ihre Augen, die durch die glänzenden Tränen nur umso schöner werden.
„Ja“, sage ich. „Die Erinnerung bleibt immer zurück. Aber auch sie verblasst irgendwann. Mir würde sie nicht reichen, denke ich.“
„Mir auch nicht“, gesteht sie.
„Du sagtest, man soll sich keinen Sonnenuntergang alleine ansehen.“
„Ja, das sagte ich.“
„Dann werde ich mir keinen mehr ansehen, bis ich dich wiedersehe.“
„Ich auch nicht“, haucht sie.
Eine laute Stimme ertönt: „Fahrgäste nach Neßmersiel bitte einsteigen.“
„Meine Adresse hast du?“, fragt Joanna.
Ich nicke. „Du meine auch?“
Sie nickt ebenfalls. Der Zeitpunkt des Abschieds ist gekommen. Im einen Moment blicke ich noch in ihre tiefblauen Augen, dann spüre ich in einem leidenschaftlichen Kuss ihre Lippen auf den meinen und sehe im nächsten Augenblick, wie sie die Rampe zum Schiff hinaufgeht.
Sie bleibt an der Reling stehen und winkt mir stumm zu, nachdem die Rampe eingezogen wurde und das Schiff losgefahren ist. Ich laufe mit, bis zum äußersten Ausläufer der Küstenschutzanlagen und bleibe stehen. Lange nachdem das Schiff bereits am Festland angekommen ist, stehe ich immer noch da und blicke ihr nach. Sie ist gegangen, und ich bin zurückgeblieben.
Paralysiert blickte ich zu Boden, den Blick auf den grauen Fliesen ruhend, die Hände in die Oberschenkel gekrallt. So, als glaubte ich auf diese unendlich grauen Fliesen zu fallen, so wenn ich mich von der Verankerung in meinen Oberschenkeln lösen würde, die sicher schon rote Striemen aufwiesen. Irgendein Teil von mir fragte sich, wie spät es wohl schon sein musste, doch dieser Teil meines Selbst wurde von einer anderen Stimme in mir verdrängt, die sich wie ein Parasit in meinem Gehirn wand und Eier legte. Eier, die langsam schlüpften, die Wuchsen und sich tiefer in meine Nervenbahnen drängten, sich dort rekelten, wie glitschiger Wurm im Schlamm des Schicksals. Laut hörte ich die Stimme in meinem Kopf hämmern, immer und immer wieder. Diesen einen Satz, dieses eine Metrum, als gäbe es nichts anderes: „Mörder!“
Tiefer krallte ich mich in meine Oberschenkel, so, als versuchte ich mit dem dadurch verbundenen Schmerz die Stimme in meinem Kopf zu übertönen. Ich scheiterte. „Mörder!“
Plötzlich hörte ich leise Schritte, sich mir nähern, bevor ein Körper auf dem Stuhl neben mir Platz nahm. Das war alles. Keine Regung, keine Kommunikation. Einfach die reine Existenz. Sie sprach es nicht aus, doch ich wusste, dass auch die Stimme in ihrem Kopf mich als Monster beschimpfte. Ich konnte es fühlen, ich verdiente es. „Mörder“
Ich zuckte zusammen, blickte zur Seite und sah auf das Profil der Frau neben mir, deren Blick in die Weite gerichtet war. Auf die Wand uns gegenüber, und doch nicht auf die Wand. So, als wäre sie nicht hier, als wäre sie wo anders. War das ihre Art damit umzugehen? Mit der Angst? Mit dem, was kommen würde? Nein, sie hatte nicht mit mir gesprochen, sicher nicht. Wieso sollte sie auch? Es war wieder diese Stimme...diese Stimme, die ich nicht los wurde, die mich verfolgte. Ich wand mich wieder ab, vertiefte den Blick erneut in die Fliesen unter mir, so als hätten sie sich geändert, als würden sie mich nicht so grau, nicht so trostlos anstarren, wie noch vor wenigen Sekunden. So, als hoffte ich, ein anderes Bild zu sehen bekommen. Wie dumm von mir. „Mörder!“
Und doch, obwohl ich es verdiente, ertrug ich es nicht. Ertrug nicht dieses Wort, ertrug nicht den Schmerz. Konnte das Schicksal mir nicht gnädig sein? Konnte es meine Gebete nicht erhören? Ich würde alles tun, ja alles, wenn man sie verschonte: Aida. Gott, falls du mich hörst, irgendwer, bitte... Buddha, Allah, Ganesha, Odin, FSM, Rangi, Papa, Krishna, Gott, irgendwer, egal wer... ich bitte, nein ich flehe euch an, knie vor euch, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Ich würde alles tun, egal was es war, nur sollte sie leben. Nicht für meinen Fehler bezahlen, für meine Unachtsamkeit. Nicht für meine Schuld....
Leise wie eine Feder, öffnete sich schließlich die Türe, neben uns, bevor eine in weiß gekleidete Frau zum Vorschein kam. Ich wollte sie nicht ansehen, nicht den Ausdruck in ihrem Gesicht sehen, der über Leben und Tod entscheiden würde. „Frau Schwarz...“
Mehr hörte ich nicht, mehr brauchte ich nicht hören, um zu wissen, wie es gelaufen war. Um zu wissen, dass Gott meinen Wunsch nicht erfüllt hatte. „Mörder!“
Schmerzhaft zog es sich in mir zusammen und ich schnappte nach Luft, wie ein Ertrinkender, schnappte nach Leben, wie ein Neugeborener. Verzweifelt schreiend und doch stumm.
Ich wusste nicht, wann ich aufgestanden war, wusste nicht, woher ich die Kraft dazu genommen hatte zu rennen, die Kraft aus dem Wartezimmer der Tierarztklinik zu fliehen. Hinaus in in die Stille der Nacht, die mich zu verschlucken drohte. „Mörder! Mörder! Mörder!“
Meine Mutter lief mir nicht nach, rief mich nicht, ließ mich gehen. Aus Verständnis oder Wut wusste ich nicht zu sagen. Ich wusste nur, dass es aus war, das mich der Schmerz übernahm, als ich mich auf dem Parkplatz wiederfand. Langsam sank ich auf meine Knie, bevor ich anfing zu weinen, dem Schmerz in mir Raum lies. Raum, der nie ausgefüllt werden konnte. Erneut schnappte ich nach Luft, doch meine Lungen schienen sich nicht füllen zu wollen. Zu sehr glaubte ich zu ersticken, zu sehr verschwamm mir die Sicht, während die Stimme in meinem Kopf weiter pochte, weiter schrie, als gehörte sie Luzifer persönlich, der mir bereits süße Versprechungen über mein Zimmer in der Hölle zu hauchte.
Verschwommen nahm ich die Bilder des heutigen Abends war, die sich vor meinem Auge auszubreiten schienen. Mich und Aida, wie wir den Feldweg entlang liefen, wie sie etwas fraß, dass ich nicht identifizieren konnte. Ich hatte es für Gras gehalten, dass tat sie öfter, eine Blume vielleicht. Ich hatte ihm keine Aufmerksamkeit gewidmet. Dumm, so dumm. Wenn ich aufgepasst hätte... wenn ich nur genauer hingesehen hätte.... wenn ich …. wenn ich … nicht gewesen wäre... dann hätte mir auffallen müssen, dass es sich um eine Wurst handelte … Eine, die von jemand dort ausgelegt worden war, um genau das zu erreichen, was sie erreicht hatte. Gefüllt mir Rattengift, hatte sie meinen Hund getötet... nein … ich hatte meinen Hund getötet... es war nur meine Schuld! Nur meine! Und meine Mutter wusste es. Deshalb hatte sie mich angeschrien, als Aida angefangen hatte zu schreien, als sie Schaum vor dem Mund bekommen hatte, als Zuckungen ihren Körper überfluteten und wir uns zur Tierarztklinik aufgemacht hatten.
Das Bild meines Hundes hatte sich für immer in meinen Kopf gefressen, tief, tief in jede Windung, sodass ich diese Erinnerung auch ja nie mehr vergessen würde, damit sie mich verfolgen würde. So wie ich es verdiente.
Ich wünschte ich könnte Vergebung finden, wünschte ich könnte Aida zurück bringen, die Zeit zurück drehen. Doch das würde nicht geschehen. Sie war fort, und es war meine Schuld. Selbst wenn sie mir vergeben hätte, ich tat es nicht. Ich würde es nie!
Ich könnte eine Variation zu Murphys Gesetz schreiben. „Wo Menschen auftauchen können, werden sie auch auftauchen“. So könnte die Variation heißen. Dabei habe ich mir diese einsame Eisenbahnbrücke immerhin nicht umsonst ausgesucht.
Missmutig beobachte ich das Ehepaar und den Hund, der vor den beiden her läuft, und warte, bis sie weg sind. Als das Kläffen verstummt ist, lehne ich mich mit dem Rücken gegen einen der Steinpfeiler, der die Brücke stützt. Gerade in dem Moment, als endlich wieder Ruhe eingekehrt ist, rauscht ein Zug unter mir hindurch und fährt in Richtung Sonnenuntergang.
Es hat seinen Grund, wieso ich allein auf einer Brücke sitze, weitab von der Zivilisation und mitten im Wald, der hinter unserem Dorf liegt. Ich komme gern her, um nachzudenken. Früher, als Kelly noch hier gewohnt hat, waren wir oft zusammen hier. Zwei Kinder gegen den Rest der Welt. Wir konnten uns die Welt neu erträumen, wenn wir wollten. Ohne etwas dagegen tun zu können, versinke ich in alten Erinnerungen.
„Wenn du noch langsamer wärst, würden sogar die Schnecken dich überholen!“, lacht das kleine Mädchen, und winkt mir zu.
„Dann pass mal auf!“, rufe ich zurück, bevor ich einen Vollsprint einlege. Nach einigen Momenten ziehe ich an dem Mädchen vorbei. Sie sieht mich kommen und verdoppelt ihre Anstrengungen. Ihre Schritte werden zuerst schneller, dann aber immer langsamer. Ihre Ausdauer ist verbraucht. Der Zielpunkt war die alte Eisenbahnbrücke im Wald. Ich lache laut auf, als ich meine Hand an das von der Sonne aufgewärmte, steinerne Geländer lege.
„Erster! Du gibst mir ein Eis aus“, jubele ich. Kelly hat aufgehört zu rennen und schleppt sich die letzten Schritte weiter. Sie keucht wie eine von den Dampflokomotiven, die hier öfters durchkommen.
„Das ist unfair, ich war die ganze Zeit über schneller“, beschwert sie sich. Ihre Knie sind wie immer aufgeschürft und ihr neues, gelbes T-Shirt hat einen Riss an der Hüfte. Kelly ist ein wahrer Wildfang.
„Du musst deine Kraft besser einteilen“, sage ich hochnäsig.
„Ach ja?“
„Ja. Außerdem hast du dein T-Shirt kaputt gemacht. Deine Mum wird schimpfen.“
„Scheiße“, flucht sie.
„Du sollst nicht fluchen!“
„Ach ja?!“
„Ja.“
Sie verstummt, blickt mich an, dann grinst sie urplötzlich und zieht sich am Geländer hoch, wo sie dann sitzen bleibt.
„Komm hier rauf, Eric. Die Aussicht ist super.“
„Schon unterwegs.“ Ich stemme die Hände auf das Geländer, so wie sie es eben getan hat, und schwinge mich hinauf. Weit unter uns sehe ich drei Schienenstrecken, die von Nord nach Süd verlaufen. Wir schweigen eine Weile und hören den Vögeln beim Singen zu. Der Wind rauscht in den Bäumen ringsum. Ich werfe einen verstohlenen Seitenblick auf meine beste Freundin. Sie hat sich vorgebeugt und schaut sich die Schienen da unten an. Ihre pechschwarzen Haare fallen ihr bis auf die Schultern. Es gibt kaum jemanden, den ich lieber mag als Kelly. Das sage ich ihr natürlich nicht, sonst macht sie bestimmt wie meine Mutter blöde Scherze über Heirat und ähnlich seltsame Dinge. Ich musste ihr dreimal sagen, dass sie das Kelly bloß nicht weiter sagen soll, bis sie endlich zugestimmt und mir dabei zuzwinkerte.
Erwachsene sind schon komisch.
„Eric?“
„Hm?“ Ich wende hastig den Blick ab und tue so, als würde mich ihr Anblick nicht groß interessieren. Kelly sieht mich an und zögert.
„Dad sagt, dass wir umziehen.“
Mir fällt die Kinnlade herunter. Ich brauche einige Momente, um das zu verdauen.
„Was? Das geht nicht“, sage ich dann und komme mir direkt danach vor wie ein Idiot.
„Doch, leider. Dad muss woanders arbeiten.“ Ihr Dad arbeitet für irgendwelche richtig reichen Typen, und nur wegen dem Job kann sich Kellys Familie das große Haus und die beiden Autos leisten.
„Aber...“ Ich will so viel auf einmal sagen, dass mir nicht einfällt, mit was ich anfangen soll. Wir sind Freunde, solange ich denken kann, und eine Welt ohne Kelly kann ich mir einfach nicht vorstellen. Das ist, als würde man auf einmal den Mond abstellen. Gegen die Natur.
„Die Umzugswagen kommen am Montag“, flüstert Kelly, und in diesem Moment merke ich, wie traurig sie ist. Mir ist ebenfalls zum Heulen zumute, aber Jungs heulen nicht, darum rücke ich nur ein Stück näher an sie ran und lege einen Arm um ihre schmalen Schultern.
„Wir rennen weg“, sage ich dann ernst zu ihr. Kelly schüttelt den Kopf.
„Nein, das geht nicht. Unsere Eltern werden die Polizei rufen, damit die uns suchen.“
„Aber irgendwas müssen wir tun!“, protestiere ich. Ihr trauriges Lächeln, das sie mir dann schenkt, werde ich nie vergessen. Das Pflaster an ihrem Kinn spannt sich.
„Hier.“ Mit einigen hastigen Bewegungen kramt sie in der kleinen Umhängetasche herum, die sie immer bei sich trägt. Eine Barbie-Puppe, deren Kopf sie abgerissen hat, mehrere Schokoriegel, ein Verband, mehrere Schnürsenkel und ein kleines Schwein aus Gummi landen zwischen uns auf dem breiten Geländer. Ich lasse Kelly los und schaue mir das Sammelsurium an, welches sie aus ihrer Tasche gekramt hat.
„Nimm das“, sagt sie dann, und reicht mir das Gummischweinchen. Auf der Flanke ist ein grünes Kleeblatt aufgedruckt.
„Wofür ist das?“, will ich überrascht wissen.
„Das bringt dir Glück.“
„Behalt es. Du brauchst dein Glück da, wo du hinziehst.“
„Bitte, Eric. Damit du mich nicht vergisst“, sagt sie nur. Ich zögere kurz, nicke dann und stecke das Schweinchen ein. Kelly blickt in die Ferne, zum Sonnenuntergang.
„Danke.“ Wir sitzen für eine Weile einfach nebeneinander und lassen die Beine über dem Abgrund baumeln. Irgendwann ergreift Kelly wieder das Wort.
„Kennst du das Schiff 'Schicksal'?“
„Nein.“
„Mein Dad hat mir davon erzählt“, fährt Kelly leise fort.
„Was ist denn das für ein Schiff?“
„Kein Schiff, eine Geschichte. Dad sagte, das Schiff gehörte einem berühmten Kapitän. Immer, wenn es an einem Hafen anlegte, waren die Leute begeistert von seiner Größe und Schönheit. Aber wenn es wegfuhr, waren sie immer traurig...so wie ich.“
„Und ich“, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Sie nickt.
„Aber eines Tages stand ein Mann im Hafen, der sagte: 'Oh weh, sie ist weg!', als 'Schicksal' am Horizont verschwunden war. Ein Fremder sagte ihm nur: 'Nein, sie ist nicht weg. Wir sehen sie nur nicht mehr. An einem anderen Hafen wird sie nun auftauchen, genauso stolz an Mast und Rah, wie wir sie gesehen haben.“
„Was hat das Schiff mit uns zu tun?“ Ich verstehe nicht, wieso sie diese Geschichte erzählt. Schiffe interessieren mich nicht besonders. Kelly sieht mich an und greift nach meiner Hand. Auf einmal kommt sie mir erwachsen vor, so als wäre sie viel älter als sieben.
„Die Geschichte sagt nur eins: Kein Abschied ist für immer.“
Ich weiß noch, wie meine Mum mich festhalten musste, damit ich dem Umzugswagen nicht hinterherrannte. Es tat weh, als Kelly wegfuhr, und ihr tränenüberströmtes Gesicht, das sie an die Scheibe presste, war das Letzte, was ich für viele Jahre von ihr sah. Vor 13 Jahren, beinahe auf den Tag genau, ist sie umgezogen.
Ich öffne die Augen wieder und merke, dass die Sonne schon fast untergegangen ist. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es kurz vor neun Uhr Abend ist. Sie kommt nicht. Unter ausgiebigem Stöhnen stehe ich auf und dehne meine vom langen Sitzen steifen Glieder.
„Du bist alt geworden“, sagt eine mir unbekannte Frauenstimme hinter mir. Sie hat sich angeschlichen. Ich habe nicht einmal gemerkt, wie jemand die Brücke betreten hat. Ich muss bereits lächeln, bevor ich mich überhaupt umgedreht habe.
Als ich dann schließlich tue, sehe ich eine junge Frau vor mir. Sie ist in etwa 20 Jahre alt, genau wie ich, trägt eine Bomberjacke und enge Bluejeans. Ihre Knie sind erstaunlicherweise unversehrt. Schwarzes Haar umwogt ihren Kopf in fließenden Kaskaden.
„Holy Shit. Von der Bohnenstange zur Rockerbraut“, entfährt es mir unwillkürlich. Sie lacht nur, lässt den Blick an mir herab wandern und fällt mir um den Hals.
„Sagte der Skaterboy. Ich wusste immer, dass wir uns wiedersehen würden“, lächelt sie. Ich löse mich von ihr, stecke die Hand in die Hosentasche und ziehe Kellys Glücksschweinchen hervor.
„Kein Abschied ist für immer“, wiederhole ich die Worte, die sie als siebenjähriges Mädchen zu mir gesagt hat.
„Du hast es noch?“, fragt meine alte Freundin ungläubig, aber ich sehe gleichzeitig etwas in ihren Augen aufblitzen.
„Es hat mir wirklich Glück gebracht.“ Nach so vielen Jahren kehrt das Schweinchen zu seiner Besitzerin zurück. Kelly befestigt es an ihrer neuen Umhängetasche und sieht mich dann erwartungsvoll an.
„Hast du Lust auf ein Eis?“, will ich wissen.
„Nur, wenn ich bezahle.“ Kelly greift nach meiner Hand und gemeinsam verlassen wir die alte Brücke.
Dein seidenes Haar schlägt sanfteste Wellen, während du es mit deinen Händen zurückwirfst. Die Bluse ziehst du dir langsam wieder an, ich schaue dir dabei zu. Ich schweige, denn mir fehlen die Worte. So unglaublich schön bist du! Du bist die Erste, die mein Herz im Ozean der Gefühle ertränkt hat. Passioniert, leidenschaftlich lernte ich dich immer mehr zu lieben, mit jeder Minute, die ich mit dir verbrachte, mit jedem Tag, an dem wir uns sahen, mit jedem Monat, wo wir uns kannten. Doch du ziehst dich an, und dass zu so einer späten Stunde. Du willst gehen, das sehe ich dir an. Doch warum siehst du mich nicht an? Was bedrückt dich, dass ich in deinen smaragdgrünen Augen nicht mehr denselben Glanz erblicke, den du mir mit deiner Liebe schenktest? Du bist im Begriff zu gehen, oder? Sogar für immer?
„Bleibe noch bitte“, sage ich leise und halte dich mit sanftem Griff am Arm fest. Wir kennen uns nicht seit Langem, dessen bin ich mir bewusst. Dennoch passen wir zusammen. Du hörst mir zu, so ich dir. Du bist für mich da, so ich für dich. Lass uns verharren so wie es ist. Wie wünschte ich, die Zeit stünde still. Ewiglich von dieser Beziehung mit dir kosten, von dir träumen, von deiner Liebe im Herzen ergriffen zu sein. So bleibe daher, dass wir so verharren können. Es ist dunkel und der Himmel ist klar. Betrachten wir zusammen die Sterne und lass uns in diesen unsere Zukunft lesen. Doch du entwindest dich meinem Griff und stehst auf. Die Schuhe ziehst du dir an und die Jacke. Wieder schaue ich dir wortlos zu. Der Wille zum Sprechen ist nicht da, er ist fort, wie gelähmt. Du bist einfach unglaublich schön, so sehr, dass keine Worte dieser Welt diese Reinheit beschreiben könnten. Doch du gehst zur Tür, jeder Schritt von dir verhallt hundertmal in meinen Ohren.
„Bleibe noch bitte!“, wiederhole ich mit lauterer Stimme, die etwas angeschlagen war. Bleibe doch, sodass wir reden können. Ich lebe in der schönsten Welt mit dir. Und du sprachst, dass du auch in der Weise empfinden würdest. Doch beginnt nun, die graue Wirklichkeit dich einzuholen? Während unserer gemeinsamen Zeit war jede Stunde wie ein Tag, jeder Tag wie ein Jahr. Doch in der Wirklichkeit ist die Sekunde gleich einer Sekunde, ein Tag entspricht einem Tag, ein Jahr einem Jahr. Machst du dir daher Gedanken über die wirkliche Zukunft? Wie es zwischen uns in ein, zwei, vielleicht sogar auch fünf Jahren aussieht? Unterscheiden sich unsere Vorstellungen von der Zukunft so sehr, dass unsere gemeinsame Gegenwart dagegen nur kurz am Glühen ist? Scheinbar denkst du, dass wir letztlich zu verschieden sind. Die Phase, wo du nur das Beste an mir, in das du dich verliebt hast, gesehen hast, ist vorbei und du erkennst die realitätsnäheren Striche und unfein gezeichneten Punkte an mir. Du erkennst wohl, dass wir auf Dauer nicht zusammenpassen. Du bist daher entschlossen, deine Hand an die Türklinke zu legen.
„Bleibe noch bitte…“, erklang aufs Neue meine Stimme. Doch dringt sie überhaupt zu dir? Erstickt sie an der Angst, dass die Tür, wenn du diese hinter dir schließt, für immer zwischen uns geschlossen bleiben wird? Lässt du mich allein zurück im Ozean meiner Gefühle, welcher langsam stürmische Wellen schlägt? Das Herz in mir schlägt und klopft gegen meine Brust, ich will aufstehen, mich auch anziehen und dann dir hinterher. Doch du hörst meine Gedanken, du wendest deinen Blick mir zur. Und obwohl es die Augen sind, die mich mit größter Freude über ihre Existenz erfüllen, so fühlte ich mein Herz im Würgegriff meiner Verzweiflung. Jetzt sagst du: „Bleibe da“, du öffnest die Tür und gehst hinaus, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Still wird es. Und so wird es auch stets bleiben. Ich bin im Ozean ertrunken. Wellen der Trauer, der Verzweiflung, der Verbitterung, der Fraglosigkeit, der Ohnmacht und der Wut – sie alle schlgen über mir ein und begruben mich unter ihrer Masse.
Die Tage sind ins Land gezogen. Ich habe dich vom Fernen gesehen, und immer wieder versetzte dein Anblick meinem Herzen einen qualvollen Stich. Ich habe indes alles versucht. Die versuchte Erlösung im Alkohol, die pausenlose Ablenkung bis zur Erschöpfung von Geist und Körper. Wie ein Schatten aber haftet dein Weggehen an mir und sticht mir in Momenten meiner Unachtsamkeit in den Rücken. Ich bin verzweifelt. Wird das mein lebenslanger Fluch sein?
Doch eines Tages, viele Wochen sind verstrichen, erinnere ich mich an die Weisheit eines Weisen: „Wenn du etwas liebst, lass es frei; kommt es zu dir zurück, gehört es dir, für immer!“ Sie wird aber nicht mehr zurückkommen. Sie hat jemanden kennengelernt, der sie genauso wertzuschätzen heißt wie ich es tat. Und tatsächlich passt er wirklich besser zu ihr als ich. Anfangs wäre ich neidisch, sogar eifersüchtig, doch es erfüllt mein Herz mit Freude, wenn ich sie glücklich sehe. Auch für mich wird es Zeit, endgültig Abschied zu nehmen. Doch eine Sache noch:
„Bleibe noch bitte … in meinen ehrenvollsten Erinnerungen!“
Er sieht sie an mit einer Angst in den Augen, die sie nie zuvor in seinem Gesicht gesehen hat. Und sie kennt ihn schon lange. Sehr lange. „Zu lange“, hat sie manchmal gedacht. Doch jetzt, wo der Abschied so nah ist, fühlt es sich doch seltsam an.
Sie zittert ein wenig im luftleeren Raum. Unsicherheit. Das kennt sie. Wenn ein Leben lang ist lernt man, mit ihr umzugehen. Aber gemocht hatte sie diese Unsicherheit nie. Sie würde gerne zurückgehen. Aber das geht ja nicht.
„Ich wünschte, du müsstest nicht gehen“, sagt er und sie glaubt, dass sein Mund wohl ganz trocken sein muss, dass seine Zunge an seinem Gaumen klebt. Aber das kann sie nicht genau wissen. Er sagt ihr ja nicht mehr alles, was ihn betrifft. Sie wundert sich, dass er sie nicht bittet zu bleiben. Aber sie spricht den Gedanken nicht aus. Sie sagt ihm ja nicht mehr alles, was sie betrifft.
„Ich…“, beginnt sie, aber dann fällt ihr auf, dass sie doch gerne gehen würde, also schweigt sie und erwidert seinen Wunsch nicht.
Er sieht sie noch einen Augenblick lang wartend an bis ihm klar wird, dass sie nicht weitersprechen wird. Dann blickt er an ihr vorbei, starrt hoch in das grelle Neonlicht. Sie sieht, wie er die Augen zukneift. Er krallt sich in das weiße Laken. Sie ist sich nicht sicher, ob aus Wut, Furcht, oder Trauer. Irgendwie hofft sie, dass es wegen Ersterem ist.
Sie fühlt sich plötzlich schuldig und greift nach ihm, streicht über seinen Kopf, durch sein graues Haar. Er zittert und die Kälte, die ihn erfasst hat, bekommt beinahe auch sie zu fassen. Sie weicht zurück. Beherrscht langsam, um ihn nicht zu erschrecken. Doch sie glaubt, dass er ihren Ekel dennoch bemerkt hat. Er tut ihr leid. Ihr Leben mit ihm lief fast immer sehr harmonisch ab. Die meiste Zeit haben sie sich wohl geliebt. Doch jetzt kann sie einfach nicht anders, als ihn schaudernd, fast furchtsam zu betrachten und sich zu wundern, was aus ihm geworden ist. Auch das tut ihr leid. Ein wenig. Doch als sie in seine einst blauen Augen schaut, die nun grau, fast schon weiß sind, fühlt sie sich ein weiteres Mal in ihrem Entschluss bestärkt.
„Ich muss mir etwas anderes suchen“, denkt sie. Oder sagt sie es laut? Sie weiß es nicht.
Er schaut sie jetzt wieder an. Sie ist selber schuld, sie hat ihm in die Augen gesehen, in diese grässlichen Augen. Er lächelt gequält. Doch sie spürt seinen Schmerz nicht mehr. Er den ihren zum Glück auch nicht länger. Sonst würde er merken, dass da gar keiner ist.
„Bist du müde?“, fragt er in einem verzweifelten Versuch, ein Gespräch aufrecht zu erhalten, das schon vor Stunden, vielleicht Tagen, beendet werden sollte. Sie fühlt sich so wach wie seit Jahren nicht mehr. Dennoch nickt sie. Irgendwie glaubt sie, dass er diese Geste verdient hat, aber er durchschaut die Lüge. Natürlich.
Er tut so, als wäre alles in Ordnung und sieht wieder zur Decke. Sie folgt seinem Blick und fragt sich, wie er dieses Neonlicht nur ertragen kann. Sie mag kein helles Licht. Er hingegen scheint sich geradezu danach zu sehnen. Deutlich erkennbar kämpft er gegen seine eigenen Augenlider, die sich immer wieder schließen wollen. Sie schaut zur Seite, schaut zur Tür.
„Wir könnten noch ein wenig länger zusammenbleiben.“
Sie dreht den Kopf ruckartig zurück, in Anbetracht dieser Worte. Er blickt noch immer starr an die weiße, hohe Decke. Seine hochgezogenen Lippen zeichnen eine hoffnungsvolle Grimasse auf sein Gesicht. Sie hatte gehofft, dass er es sich nicht so schwierig machen würde.
Die Unsicherheit in ihr wächst ein wenig. Aber sie weiß, dass es längst kein Zurück mehr gibt. Er weiß es auch. Er träumt nur vor sich hin. Ein Fiebertraum? Vielleicht. Womöglich ist es aber doch sein Verstand, der diese welkende Hoffnung in ihm sät. Der Verstand träumt immer als erstes, wenn er müde wird. Wilde, emotionale Träume, weil er Emotionen im Wachen nicht kennt. Wovon hat sie eigentlich immer geträumt? Sie kann sich nicht mehr erinnern. Schon? Sie erschrickt und blickt auf den Boden, damit er es nicht sieht. Aber er hat es bemerkt. Sie ist sich ganz sicher. Er muss es doch bemerkt haben!
Doch er liegt nur da und atmet schwer. Seine Lippen bewegen sich, aber selbst als sie näher an ihn heran rückt, kann sie keines seiner Worte verstehen.
„Das fühlt sich seltsam an“, sagt sie mit einer leichten Verzweiflung in der Stimme, von der sie gar nicht wusste, dass sie in ihr tobt.
Er wendet den Kopf und lächelt sie an.
„Das wir uns so fern sind?“, fragt er sanft.
Sie nickt, während sie sich auf die Bettkante setzt. Ihr Rücken berührt seine Beine, doch sie kann ihn nicht spüren. Plötzlich empfindet sie eine tiefgehende Angst vor diesem Paradoxon. Und vor der Tür. Und vor seinem schweren Atmen. Und vor dem grellen Licht.
Doch genau diese Angst ist es die ihr aufzeigt, dass der Abschied nahe ist.
„Ich werde dich vermissen“, seufzt er, stockt plötzlich und lacht, bevor er anfügt: „Hoffe ich zumindest.“
Sie schenkt ihm ein ehrlich gemeintes Lächeln und spürt, dass es das schönste ist, das sich je auf ihr Gesicht geschlichen hat.
„Ich werde dich immer vermissen“, flüstert sie. „Ich weiß es.“
Er wirkt beruhigt und schaut wieder an die Decke. Ein lautloses, ehrfürchtiges Staunen stiehlt sich in seine Augen. Es ist das erste und letzte Wunder, das sie nicht mit ihm teilen kann.
Sie sieht ihn vor sich, von strahlendem Licht erhellt, ein lachendes Baby in der Wiege, ein rennender Junge auf dem Asphalt, ein von Hormonen geschüttelter Jungspund, ein gestandener Mann. Davon ist nichts geblieben.
Ein letztes Mal beugt sie sich über ihn. Seine Augen sind jetzt ganz weiß, so weiß wie die Reinheit selbst. Sie lächelt und drückt ihm einen Kuss auf die Stirn. So langsam erhebt sie sich dass man denken könnte, sie wolle den Abschied weiter hinauszögern, als es überhaupt möglich ist. Doch dem ist nicht so. Ihr ist nur klar geworden, wie viel Zeit sie nun hat.
Sie geht nicht durch die Tür hinaus, sondern schiebt sich durch das klare Glas des Fensters. Rosafarbene Blüten des vor Leben strotzenden Kirschbaums, der seine Wurzeln vor dem Haus in den grünen Rasen geschlagen hat, wandeln neben ihr vor dem strahlend blauen Himmelszelt.
Sie vergießt eine Träne und lacht. Es ist Frühling und die Menschen lieben sich. Irgendwo zeugen sie ein neues Leben. Für sie.
Auf Wiedersehen, Welt
Es ist Zeit für mich, zu gehen.
Auf Wiedersehen, Freunde
Ich weiß, ich habe euch nie wirklich etwas bedeutet. Wie lange werdet ihr mich vermissen? Eine Woche? Einen Tag?
Vermutlich vermisst ihr meinen Geldbeutel eher als mich. Wenn ich an all die Tage denke, die ich mit euch verbracht habe, an all die Zeit, die ich an euch verschwendet habe, dann bereue ich es, diese nicht mit den Menschen verbracht zu haben, denen ich etwas bedeutet habe. Doch diese habe ich leider erst viel zu spät erkannt und zu schätzen gelernt. Wie dumm ich doch war. Stattdessen habe ich eure verbalen Schläge ertragen und euch meine Freunde genannt.
Auf Wiedersehen, Vater
Ich weiß, ich war das schwarze Schaf der Familie und du hast nie gezögert, mich das spüren zu lassen. Ich war anders. Ich gehörte nicht dazu. Ich passte nicht in dein kleines konservatives Weltbild.
Deine Schläge und Hiebe habe ich immer geduldig ertragen, nie mit jemandem darüber geredet. Doch wofür eigentlich? Von dir habe ich dafür nichts bekommen außer einem weiteren Tag in der Hölle.
Und doch gab es auch gute Zeiten. Damals, als alles noch in Ordnung schien. Damals warst du für mich ein Vater, so wie man ihn sich wünscht. Wie schade, dass ich es damals nie zu schätzen wusste.
Auf Wiedersehen, Mutter
Du konntest mich nie verstehen. Immer, wenn ich eine Entscheidung getroffen habe, von der ich fest überzeugt war, hast du versucht, mich dazu zu überreden, mich anders zu entscheiden. Und doch warst du für mich da, und doch hast du mich unterstützt, wenn es darauf ankam. Nur, wenn Vater mich schlug, dann sahst du stumm zur Seite.
Auf Wiedersehen, Bruder
Du warst der Einzige in der Familie, der mich verstand. Danke, dass du mich immer in den Arm genommen hast, wenn ich am Boden war. Danke, dass du mir immer zugehört hast, wenn ich die Welt nicht mehr verstand. Danke, dass du immer für mich da warst. Ich werde dich vermissen. Dich, meinen engsten Vertrauten und besten Freund. Du warst der beste Bruder, den ich mir hätte wünschen können.
Auf Wiedersehen, meine Michelle
Du weißt, ich habe dich immer geliebt und ich werde dich immer lieben. Danke für die schöne Zeit, die du mit mir verbracht hast. Danke für jeden einzelnen Moment. Gemeinsam haben wir alle schlechten Zeiten überwunden, gemeinsam haben wir alles überstanden. Wir waren immer füreinander da, egal, was auch passiert ist. Nur mit meiner Liebe kamst du nicht zurecht...
Ich wünsche dir, dass du glücklich wirst mit diesem Mann. Ich gebe dich frei. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, in einer anderen Welt, in einer besseren Welt.
Pass auf dich auf. Ich werde dich vermissen.
Auf Wiedersehen, Welt
Es ist Zeit für mich, zu gehen. Es gibt nichts mehr, was mich hier noch hält. Es gab nie viel, was mich je gehalten hat. So ist es besser.
Bitte weint nicht zu sehr um mich. Das bin ich nicht wert.
Lebt wohl.
Eure Lucy
Noch einmal tief durchatmen. So viel war hier passiert, mein Leben zieht innerlich an mir vorbei; so viele der besonderen Erlebnisse waren hier passiert, so viel Leben, so viele Emotionen, so viel…
Und nun, soll das alles vorbei sein?
Ich weiß, dass vor mir eine Zukunft liegt, aber es ist doch ungewohnt, diese jetzt so klar vor einem zu sehen.
Natürlich wusste ich schon lange davon; eigentlich seit je her. Eines Tages würde dieser Abschnitt meines Lebens zu Ende sein, aber dennoch bin ich, jetzt wo dieses Ende so direkt vor mir steht doch beängstigend und traurig. Habe ich nicht in dem nun endenden Teil meines Lebens, so viel erlebt, nicht so oft gelacht, geweint und trotz jedem Hindernis mein Weg bestreitet, habe ich nicht so viel gelernt und mich zu mur selbst entwickelt?
Ich spüre die Sonne, die auf mich scheint. Ihre warmen Strahlen rufen mir zu, „komm und freue dich, auf diesen Moment freuen sich so viele Menschen und du wirst nun traurig?“ „Ja“, antworte ich in Gedanken, „denn heute bricht eine Welt in sich zusammen.“ Aber wieso denke ich so? Ich sollte mich freuen, und doch, ich kann es nicht, die Vergangenheit bedeutet mir zu viel, und die Zukunft ist ungewiss.
Ich öffne meine Augen. Ich sehe die Straße hinter dem weit geöffneten Tor. Meine Freunde warten schon auf mich. Ich setzte zu meinem letzten Schritt meiner Schulzeit an…
Und stoppe die Bewegung in der Luft. Noch bin ich nicht bereit dazu. Hab ich auch nichts vergessen? „Wo denn“, frage ich mich selbst, „Meinen Spint hab ich vor 4 Wochen ausgeräumt.“ Ich drehe mich noch einmal um. Hinter mir ragt da Hauptgebäude in den Himmel auf, groß und mächtig, wie ein Turm, der kahl und leer wirkt. Werde ich wirklich dieses Leben vermissen? Alles in allem war es zwar schön, aber wenn ich an die Vergangenen 12 Jahre denke, kommen mir auch viele schlecht Erinnerungen in den Kopf. So schön ich gerade an meine Schulzeit zurückdenke, so viele schlechte Momente kommen mir in den Sinn, bin ich nicht mehrmals von verschiedenen Seiten angefeindet worden, wegen nichts, habe ich mich nicht 100te Male im Kopf bis zum Tod duelliert, habe ich nicht eine Zeit lang jeden Tag als noch schlimmer als den vorangegangenen empfunden? Ja, die Zeit die nun vergangen ist war nicht nur schön, doch trotzdem, ich möchte nur wenige Tage für immer vergessen…
Ich schaue wieder zur Straße und gehe wieder 2 Schritte vom Tor zurück. Ich werde diese Zeit mit einem Sprung hinter mir lassen und abschließen, mit allem, mit dem lernen, mit dem Lachen, dem Weinen, dem Trauern, dem Freuen, dem Verwünschen der Welt, dem Arbeiten, dem Faulsein, dem Denken. Ichwerde einfach leben und das Leben, das ich leben werde lieben, ist es doch noch nicht festgelegt, ich kann alles tun, alles lassen oder alles ändern, eine aus zu einem Elefanten machen, oder umgekehrt.
Ich nehme Anlauf und laufe auf das Tor zu. Ich springe durch das Tor. Ich bin FREI.
Es ist nicht immer leicht der Tod zu sein. Tod bedeutet Abschied, Tod bedeutet Aufbruch, doch nicht Jedem fällt das leicht und nicht jeder ist bereit dazu.
Ich habe jeden Menschen gekannt, seit Anbeginn der Zeit. Manche waren Arm, manche reich. Große Kaiser habe ich auf ihrem letzten Weg begleitet, genau wie kleine Bauern, von denen bereits einen Tag nach ihrem Tod keiner mehr den Namen kannte. Manche riefen nach mir, denn sie waren alt und hatten Jeden überdauert, der ihnen etwas bedeutet hatte, andere waren Kinder, dem Schoß ihrer verzweifelten Mutter entrissen noch bevor sie das Licht der Welt erblickt hatten. Ich bin auf den großen Schlachtfeldern der Geschichte gewandert, wo tausende junge Männer ihren Tod fanden, von denen jeder Einzelne verzweifelte Freunde und Familien zurückließ. Ich reichte ihnen allen die Hand und führte sie auf ihren letzten Weg. Wohin sie gingen? Ich weiß es nicht. Doch sie kehren nie zurück.
In den Geschichten der Menschen werde ich oft als böse dargestellt. Ich trete auf in Gestalten wie Thanatos und Ker, entreiße die Menschen grausam ihrem Leben. In Wahrheit, so glaube ich, bin ich weder gut noch böse. Ich bin ein Begleiter. Jeder hat seinen eigenen Tod, doch keiner stirbt alleine. Ich bin immer da. Die Menschen rufen mich, oft unbewusst, wenn es Zeit ist zu sterben, und ich folge jedem Ruf.
Viele haben Angst, wenn sie mir begegnen, manche wenige leisten Gegenwehr oder verfluchen mich sogar. Doch ich möchte dir von einem jungen Mann erzählen, der anders war. Er war so anders, dass ich mich entschied, seine Geschichte aufzuschreiben.
Es war ein Morgen im Herbst, wie es ihn sonst nur in Geschichten gibt. Ein warmer Wind rauschte durch die Blätter und ließ sie in den ersten Sonnenstrahlen glitzern wie buntes Gold, während sie in verschnörkelten Mustern zu Boden fielen. Es war ein solcher Herbstmorgen, als ich auf einmal einen Ruf vernahm. Die meisten Menschen rufen mich irgendwann instinktiv und ich folge ihrem Ruf immer und so tat ich es auch dieses Mal. Ich folgte dem Ruf wie einem Pfad und an seinem Ende fand ich einen jungen Mann. Er schlief, träumte, und doch rief er mich in seinen Traum und ich kam.
Es war Nacht, doch es war nicht dunkel. Ein unendliches Meer aus Sternen und der Mond selbst hüllten Alles in ein silbernes Licht, schöner und heller als die Sonne es vermochte. Ich stand mitten auf einem Weg, der sich hinter mir aus der Unendlichkeit selbst zu weben schien und sich vor mir verschlungen und doch zielstrebig durch die Landschaft schlängelte.
Ich folgte dem Pfad eine ganze Weile, über Berge und Täler, über sanfte Ebenen und Schluchte, die sich von einem Horizont zum anderen erstreckten und die Welt selbst in zwei Teile zu zerbrechen schienen. Schließlich endete der Pfad.
Eine Gestalt stand einsam am Rande einer Klippe, die sich vor ihm in die Tiefe stürzte. Unten brauste das Meer, Wellen krallten zornig ihre Fänge gierig in den kalten Fels, der ihnen trotzig widerstand. Es erstreckte sich am Horizont, so endlos, dass mir allein beim Anblick schwindelig wurde.
Langsam näherte ich mich der Gestalt. Es war der junge Mann, er hatte mich gerufen.
„Bist du der Tod?“, fragte dieser ohne mich umzudrehen.
„So ist es“, antwortete ich „Du hast mich gerufen? Warum?“
„Ich will dich etwas fragen“, erklärte er „Wenn ich hier runterspringe, was wird dann geschehen?“
„Du wirst sterben“, antwortete ich.
„Aber dies ist doch nur ein Traum“, widersprach der junge Mann.
„Dann wirst du eben aufwachen“, sagte ich.
Eine Windböe erfasste ihn, scheuchte seine langen dunklen Haare auf und für einen Moment schien es, als wollte der Wind ihn über den Rand der Klippe treiben, doch dann legte sich der Wind und der Mann stand noch immer dort. Er drehte sich um und seine Augen bohrten sich in meine. Sie waren blau wie das Meer unter uns und in ihnen spiegelte sich der Pfad, den ich gegangen war. Jeder einzelne Stern funkelte aus den Tiefen seiner Augen. „Dieser Traum war wundervoll… Mein Weg war nicht immer gerade und an manchen Stellen war er so steil, dass ich die Sterne vor mir nicht mehr sehen konnte. Doch jeder Berg hatte einen Gipfel und je höher der Berg, desto größer war das Glück, wenn am Ende wieder der unendliche Himmel vor mir ausbreitete“, fuhr der Mann fort „Ich will diesen Weg weitergehen, doch er endet hier. Er führt über diese Klippe. Ich habe versucht umzukehren und nach einem anderen Pfad suchen, doch der Wind ließ es nicht zu. Es gibt nur noch diesen einen Schritt über die Klippe.“
„Dann ist dein Traum hier zu Ende“, stimmte ich zu.
Ohne auf meine Antwort einzugehen fuhr er fort: „Du siehst das Meer dort unten. Wenn ich springe, was wird passieren?“
„Du wirst loslassen müssen. Dein Traum wird enden und du wirst aufwachen.“
Darauf schwieg der Mann und dachte nach. Schließlich sagte er: „Es kommt mir vor, als wäre dieser Traum schon immer mein Leben gewesen, als wäre mein Leben hingegen nichts als ein ferner und ungewisser Traum. Wenn ich loslasse, wohin werde ich dann zurückkehren?“
Ich dachte an den wunderschönen Herbstmorgen, an den neuen Tag, der sich gerade entfaltete und antwortete: „Dieser Traum ist zu Ende, du kannst ihn nicht festhalten. Du wirst zurückkehren und ich glaube das ist gut so. Ein anderer Weg erwartet dich und wer sagt, dass er nicht noch viel schöner wird?“
Ich nickte ihm zu und meinte den Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht erkennen zu können, als er sich wieder dem Meer zuwandte.
„Ich glaube dir. Doch wenn das so ist, was folgt dann auf den Tod?“
Die Frage hallte noch in meinem Kopf, als der Mann vorsichtig und doch entschlossen über den Rand der Klippe trat. Er fiel lautlos und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich selbst hingegen stand noch eine ganze Weile an der Klippe und starrte auf das Meer hinaus.
Hier endet die Geschichte. Es ist nur eine Geschichte von unendlich Vielen und jede einzelne ist einzigartig. Dennoch hat mich diese Geschichte auf eine einzigartige Art und Weise bewegt.
Die Welt ist voller Geheimnisse und Dinge, die wir nicht verstehen. Auch dein Leben wird einmal enden und du wirst mir die Hand reichen. Ich weiß nicht, was dann geschehen wird, doch ist es wirklich so abwegig, dass du aufwachen wirst, wie der junge Mann aus seinem Traum aufwachte? Vielleicht wirst auch du dich an einem wunderschönen Herbstmorgen wiederfinden. An einem Herbstmorgen, wie es ihn nur in Geschichten gibt, wenn ein warmer Wind durch die Blätter rauscht und jedes einzelne von ihnen glitzern lässt wie buntes Gold, während sie in verschnörkelten Mustern zu Boden fallen.
Ich kann dir noch erzählen, was aus dem jungen Mann geworden ist. Er lebte noch viele Jahre und er war dankbar für jedes einzelne von ihnen. Als er schließlich ein alter Mann und seine Zeit gekommen war, da rief er mich wieder und er reichte mir die Hand wie einem alten Freund.
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