Schluss mit Kleinkunst!

„Die eine Ruine ist wie gesagt in der Nähe des Dorfes“, sagte Margaret. „Ich weiß von damals noch, wo sie genau ist. Ich schlage vor, dass wir dort als Erstes nachsehen.“

Laurie nickte. „Ja, sie dürfte auch nahe genug liegen, dass wir kein Nachtlager aufschlagen, sondern wieder hierhin zurückkommen könnten, oder?“

„Das stimmt“, bestätigte Margaret. „Wir könnten dort heute nachsehen und uns dann morgen auf den Weg zu einer der anderen Ruinen machen. Ich würde dann heute kurz meinen Freunden hier im Dorf durchgeben, was wir brauchen, dann sollte alles morgen bereit sein, dass wir früh aufbrechen können.“

„Das ist gut“, sagte Laurie und lächelte dankbar. „Die Kosten dafür kann ich übernehmen.“

„Das hoffe ich doch“, sagte Margaret ernst. „Ich bin ziemlich blank. Es dürfte aber reichen, wenn Sie das vor Ihrer Abreise von erledigen.“

„In Ordnung.“

Margaret verließ die Hütte, um alles für morgen zu organisieren. Laurie durfte so lange in der Hütte bleiben. Es war ihr auch erlaubt worden, Glacey aus ihrem Pokéball zu holen, und so saßen die beiden zusammen auf dem Sofa, während Laurie sanft über Glaceys Fell strich. Das Glaziola döste schließlich ein.

Plötzlich kam Laurie ein Gedanke. Sie setzte sich kerzengerade auf, so ruckartig, dass Glacey aufwachte.

„Was weiß ich eigentlich über diese Margaret?“, sprach Laurie ihren Gedanken laut aus.

Glacey sah sie mit einem Ausdruck schläfriger Überraschung an.

„Überleg mal, Glacey“, fuhr Laurie fort. „Sie erzählt mir das alles, mit Mom und den Leuten von damals – aber wer sagt mir, dass das alles stimmt?“

Laurie wollte sich fast dafür ohrfeigen, dass ihr das nicht früher eingefallen war. Gestern Abend hatte sie noch das Sofa hochkant vor ihre Tür gestellt und Löffelmobiles an den Fenstern aufgehangen und heute? Sie vertraute der erstbesten Person, mit der sie sich länger als zwei Minuten unterhielt.

Mit einem Mal hatte sie Angst. Wenn diese Frau sich hier auskannte, konnte sie Laurie problemlos in einen Schneesturm führen und zurücklassen. Alleine würde Laurie wohl kaum nach Hause finden, auch nicht mit Glaceys Hilfe, die zumindest mit Schneestürmen ganz gut zurecht kam.

Laurie ging in der Hütte umher und sah sich genauer um. Sie schaute hinter das Gemälde mit der bergigen Schneelandschaft an der Wand, hob die Matratze des Bettes an, durchsuchte die kleinen Küchenschränke, sah unter das Sofa und untersuchte die Bücherregale mitsamt der Bücher darin, peinlich darauf bedacht, am Ende alles wieder so herzurichten, wie es vorher war.

Als sie gerade ein Buch durchblätterte, hörte sie die Tür hinter sich und Margaret kam herein. Laurie erstarrte, und das nicht nur von der Kälte, die mit der offenen Tür hereindrang.

„Alles erledigt“, meldete Margaret. „Morgen können wir aufbrechen … Nanu? Was machen Sie da?“

Laurie drehte sich um, das Buch noch in ihren Händen. „Ach“, sagte sie so locker wie möglich, „ich habe nur was zum Lesen gesucht. Mir … mir war ein wenig langweilig.“

„Ah, ja“, machte Margaret. „Verstehe.“

Laurie versuchte, ruhig zu wirken und stellte das Buch wieder weg. Für einen Moment hatte sie geglaubt, Misstrauen in Margarets Mienenspiel zu erkennen, doch nun war davon schon nichts mehr zu sehen.

„Wie gesagt, es ist alles erledigt“, erwiderte Margaret. „Wir könnten dann eigentlich auch gleich zu der Ruine aufbrechen, wenn Sie möchten – oder haben Sie vorher noch etwas zu erledigen?“

„Nein“, antwortete Laurie. „Ich habe auch alles dabei, was ich brauche, und meine Kleidung sollte ja warm genug sein.“

„Ja, sollte sie“, erwiderte Margaret. „Nun, dann wollen wir mal.“

Es dauerte tatsächlich nicht allzu lange, bis sie bei der Ruine waren. Laurie schätzte den Hinweg später insgesamt auf etwa anderthalb Stunden, auch wenn es zurück vielleicht länger dauern würde. Das Bett des Giganten, in dem die Ruine lag, war quasi eine große Senke, sodass es auf dem Hinweg bergab ging. Der Rückweg bergauf würde wohl ein wenig anstrengender werden.

Nachdem sie Freezedale verlassen hatten, ging es zunächst durch ein Schneegebiet, in dem sich offenbar diverse Eis-Pokémon ebenso wohl fühlten wie Glacey, die nebenher lief und sich gelegentlich in einem Schneehaufen wälzte. Laurie sah Shnebedeck und Rexblisar, die zwischen kleinen Baumgruppen kaum auffielen, am Boden entlang kriechende Snomnom und hier und da ein Sniebel, das verschlagen hinter einem zugeschneiten Felsen oder Busch hervorlugte.

Nach einiger Zeit wurde der Schnee am Boden lichter, und der Weg führte nun über eine Grasebene, die stellenweise von Felsen durchsetzt war. Zwar fiel leichter Schnee, doch er blieb nicht liegen.

„Es ist jetzt nicht mehr so weit“, sagte Margaret.

„Gut“, erwiderte Laurie. Sie hatten auf dem bisherigen Weg nicht viel geredet, und allmählich fand Laurie das Schweigen ein wenig drückend. „Sie sagten, Sie sind hier geboren?“, fragte sie.

„Ja“, erwiderte Margaret. „Meine Mutter war eine kleine Handwerkerin, die immer gerufen wurde, wenn irgendwo im Dorf irgendwas kaputt war. Mein Vater wiederum hat Gemüse angebaut, wie so viele andere. Beide sind vor etwa zehn Jahren weggezogen, nach Turffield, weil es dort wärmer und die Luft trotzdem rein ist. Meine Mutter starb dann vor fünf, mein Vater vor drei Jahren.“

„Das tut mir leid“, sagte Laurie.

„Sie waren alt“, erwiderte Margaret. „Ist nun einmal der Lauf der Dinge.“

„Und Sie sind die ganze Zeit hiergeblieben?“

„Nicht die ganze Zeit. Ich bin in meinen Zwanzigern ein bisschen durch die Region gezogen – neue Landschaften erkunden. Aber am Ende bin ich wieder hierhin zurückgekommen. Gefällt mir hier besser, und ich kenne mich hier aus, anders als da draußen. Und hier sind ja auch die meisten meiner Freunde.“

Margaret kickte im Laufen einen kleinen Stein weg. „Was ist mit Ihnen? Was treiben Sie so?“

„Ich studiere“, antwortete Laurie. „Geschichte.“

„Passend.“

„Nun, nicht so alte Geschichte. Eher das letzte Jahrhundert, mit Schwerpunkt Technik- und Umweltgeschichte. Ich war nie wirklich in dieser ganzen Mythen- und Legendenforschung drin.“

„Und doch sind Sie jetzt hier.“

„Schätze schon.“

„Leben Sie alleine oder mit jemandem zusammen?“

„Alleine. Nur Glacey ist bei mir.“

Glacey drehte im Gehen den Kopf zu Laurie, wahrscheinlich weil sie ihren Namen gehört hatte.

„Sie haben also keine weiteren Verwandten? Das hört sich ehrlich gesagt ein wenig einsam an.“

„Nun, ich habe Freunde. Besonders … Also besonders meine beste Freundin. Sie ist immer da, wenn ich sie brauche.“

„Schön“, sagte Margaret. „Wissen Sie, auch wenn das Leben in so einem kleinen Dorf einsam wirken mag, ist es das für mich eigentlich nicht. Und ich habe gemerkt, dass es doch wichtig ist, ein paar gute Freunde zu haben, auf die man sich verlassen kann. Es ist gut zu hören, dass das bei Ihnen auch so ist.“

„Ja, das ist es wohl“, erwiderte Laurie und versuchte, nicht daran zu denken, dass sie Myra schon verdächtigt hatte, etwas mit den Paladinen zu tun zu haben.

Sie redeten nicht mehr, als sich allmählich mehr große Felsen in die Grasebene mischten. Margaret änderte ein wenig die Richtung, sodass es, wenn Laurie sich nicht täuschte, wohl etwas nach Westen ging.

Schließlich bogen sie um einen größeren Felsen und Laurie wusste sofort, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Noch in einiger Entfernung, doch gut erkennbar, war eine Ruine in eine große Felswand eingelassen. Sie war aus gräulichem Stein und stand auf einer Art dreistufigem Sockel, den eine Treppe mit kleineren Stufen hinaufführte. Oberhalb der Treppe war ein Vordach, das von vier Säulen getragen wurde. Auf diesem Vordach war ein Muster aus sieben Punkten zu sehen, mit drei Punkten auf jeder Seite, die insgesamt eine Art Ring bildeten, in dessen Mitte sich der siebte Punkt befand. Über dem Vordach erhob sich die Ruine weiter – es schien, als wären in die Wand des oberen Raumes kleine Scharten eingelassen, damit Licht in den Raum dahinter fallen konnte.

Laurie und Margaret gingen auf die große Ruine zu und erkannten, dass sie offenbar zu spät gekommen waren.

„Die Tür“, sagte Margaret, doch es war eigentlich überflüssig, dass sie etwas sagte. Sie hatte Laurie bereits erzählt, dass die Tür der Ruine eigentlich geschlossen hätte sein sollen. Nun klaffte allerdings dort, wo die Tür hätte sein sollen, ein großes rechteckiges Loch.

„Sie waren vor uns hier“, sagte Laurie grimmig, „und sind auch schon in die Ruine eingedrungen. Sie müssen herausgefunden haben, wie man hineinkommt.“

„Wie ich Ihnen schon erzählt habe“, sagte Margaret, „da waren Symbole auf der Tür, wie sie auch in den Aufzeichnungen ihrer Mutter stehen.“ Laurie sah zu Margaret, die sich die Schläfe rieb. Ihr Blick war finster.

„Sie meinen, wenn diese Leute da hineingekommen sind, haben sie diese Symbole ebenfalls entschlüsselt?“, fragte Laurie.

Margaret nickte.

„Tja, so sieht es aus“, seufzte Laurie und ging die Stufen zur Ruine hoch. Margaret folgte ihr „Ich will aber wenigstens nachsehen, ob irgendetwas oder irgendjemand noch drin ist.“

„Wir sollten vorsichtig sein“, warnte Margaret. „Diese Ruine ist alt – es könnte gefährlich sein.“

„Gut möglich“, sagte Laurie. Sie atmete einmal tief durch und trat dann durch den Ruineneingang. Es war dunkel in der Ruine, und so suchte sie in der Tasche ihres warmen Anoraks nach einer Taschenlampe, die sie wohlweislich eingesteckt hatte. Im überraschend hellen Licht der Lampe erkannte sie, dass vor ihr eine kleine Treppe lag, an die sich offenbar oben ein weiterer Raum anschloss. Laurie stieg vorsichtig mit Margaret hinter ihr die Treppenstufen hinauf, jederzeit mit irgendeiner Art von Falle rechnend, die sie durch einen Tritt auf ein loses Stück im Boden oder etwas in der Art auslösen würde.

Als sie den oberen Raum der Ruine erreicht hatten, konnte Laurie ihre Taschenlampe ausstellen, denn durch die Scharten, die sie von außen gesehen hatten, fiel genug Licht in den Raum.

„So etwas habe ich noch nicht gesehen“, murmelte Margaret.

Der Raum war eigentlich nicht besonders aufregend – das einzig besondere schien eine große Statue zu sein, die gegenüber dem Eingang in einer Nische stand, die in die schräg abgestufte Wand eingelassen war. Die Statue ähnelte ungefähr einem groben humanoiden Oberkörper, mit einem kreisrunden Kopf, der nahtlos in einen ebenfalls runden, bulligen Torso überging. Zwei Arme, bei denen man es sich nicht die Mühe gemacht hatte, Hände und Finger herauszuarbeiten, waren vor dem Oberkörper der Statue gekreuzt. Da, wo bei einem Menschen das Gesicht hätte sein sollen, war nur ein Punktmuster – das gleiche Punktmuster, das Laurie draußen auf dem Vordach der Ruine gesehen hatte. Weitere sechs punktähnliche Vertiefungen fanden sich unterhalb der gekreuzten Arme, teilweise davon verdeckt.

Laurie war so eingenommen von der Statue, dass es eine kurze Zeit brauchte, bis sie Glacey wahrnahm. Das Glaziola kroch an einer Stelle auf dem Boden herum und schnüffelte. Laurie sah nach, was Glacey so beschäftigte und stellte fest, dass sie mit ihrer Pfote an der Oberfläche einer in den Boden eingelassenen kreisförmigen Platte rieb. Laurie sah sich noch einmal genauer im Raum um und stellte fest, dass noch mehr dieser Platten im Raum waren. Schnell wurde Laurie klar, dass auch die Anordnung dieser kreisförmigen Platten dem Muster des Vordachs entsprach.

Margaret war währenddessen an die Statue herangetreten. „Massiver Stein“, sagte sie. Sie steckte probehalber Finger in die punktförmigen Vertiefungen in der Statue, doch nichts geschah.

„Diese Punkte im Gesicht der Statue“, sagte Laurie, als sie an Margaret herantrat, „sehen genau so aus wie das Muster draußen auf der Ruine. Und die Bodenplatten“, sie zeigte im Raum umher, „entsprechen ebenfalls diesem Muster.“

„Dürfte also wichtig sein“, meinte Margaret.

„Ja, allerdings“, erwiderte Laurie. Sie zog ein kleines Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Tasche ihres Anoraks, in der sie auch die Taschenlampe gehabt hatte und machte sich daran, die Statue abzuzeichnen. Sie machte auch ein paar Notizen über die Bodenplatten und das Vordach mit Verweis auf das Muster.

Als sie fertig war, stellte sie fest, dass Margaret sie schmunzelnd ansah.

„Was ist?“, fragte Laurie.

„Nichts Besonderes“, sagte Margaret. „Sie haben mich nur gerade sehr an Ihre Mutter erinnert.“

Laurie wurde ein wenig rot und steckte das Notizbuch weg, um sich weiter die Statue anzusehen. Sie konnte an ihr nichts Besonderes entdecken. Sie klang nicht hohl, wenn man draufklopfte, und nirgendwo war ein versteckter Mechanismus zu finden.

„Ich fürchte wirklich, wir sind zu spät gekommen“, sagte Laurie schließlich resigniert. „Was immer hier drin war, ich glaube, es ist bereits mitgenommen worden.“

„Wenn das so ist“, erwiderte Margaret, „sollten wir uns vielleicht schnell zu der nächsten Ruine aufmachen. Das wird dann aber wohl erst morgen gehen, heute müssten wir noch einmal ins Dorf zurück.“

„Ich weiß“, sagte Laurie und biss sich auf die Lippe. Sie hasste es, dass sie nicht schneller losziehen konnten. Aber alles, was sie für eine vielleicht tagelange Expedition durch die Kronen-Schneeladen brauchten, würden sie wohl erst morgen bekommen.

Laurie schluckte ihren Frust runter und machte sich daran, die Treppe hinunterzusteigen, wozu sie wieder ihre Taschenlampe einschaltete. Glacey sprang neben ihr ein paar Stufen auf einmal hinunter und fiepte dabei glücklich. Plötzlich ertönte ein lautes Scharren. Laurie schaute die Treppe hinunter und sah mit Schrecken, wie das rechteckige Loch vor ihnen, durch das Licht hindurchströmte, immer kleiner wurde. Panisch rannte sie die letzten Stufen, doch es war zu spät. Die Tür hatte sich geschlossen, und sie waren eingesperrt.

„Verdammt!“, schrie Laurie. „Verdammt, verdammt, verdammt!“ Sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe die Tür und die Wände daneben ab, auf der Suche nach einem Schalter oder etwas in der Art, aber sie fand nichts. Alles, was sie sah, waren die seltsamen Symbole auf der Tür und der kleine Spalt, der die beiden Türhälften, die sich zusammengeschoben hatten, trennte. Doch nicht einmal Licht drang durch den Spalt und es wäre unmöglich gewesen, einen Hebel anzusetzen und die Türen aufzuschieben. Nicht zu vergessen, dass sie aus massivem Stein waren und daher wohl kaum mit der Kraft von gerade einmal zwei Menschen bewegt werden konnten.

„Das sieht nicht gut aus“, meinte Margaret.

„Nicht gut?“, fragte Laurie. „Wir sind hier verflucht noch einmal eingesperrt! Wenn wir nicht rauskommen, dann …“

„Werden wir wohl verhungern. Oder verdursten. Je nachdem, was schneller geht.“

Laurie starrte Margaret im Halbdunkel an. „Und dabei bleiben sie so ruhig?“

„Ich habe gelernt, dass Panik in einer Gefahrensituation absolut nichts nützt“, erwiderte Margaret trocken. „Wir sollten uns überlegen, wie wir hier rauskommen, anstatt uns darauf zu konzentrieren, dass wir hier festsitzen.“

„Aber …“ Laurie brach ab. Sie wusste, dass Margarte Recht hatte. „Okay“, sagte sie und atmete ein paar Mal tief durch, „was sollen wir dann tun?“

„Nun, über den oberen Raum kommen wir leider nicht raus, weil die Lichteinlasslöcher dort oben zu klein sind.“

„Aha.“

„Der einzige Weg dürfte diese Tür sein.“

„Ja, das dürfte in der Tat so sein.“

„Aber wir können sie nicht einfach mit Gewalt aufkriegen.“

„Das ist mir auch schon aufgefallen“, sagte Laurie mit zusammengebissenen Zähnen.

„Wir müssten also den Mechanismus finden, der sie öffnet.“

„Aber hier ist nichts!“, rief Laurie wütend.

„Es könnte natürlich sein, dass der Mechanismus zum Schließen und Öffnen der Tür nur außen sitzt“, überlegte Margaret.

Laurie erstarrte. „Das“, sagte sie, „das würde sogar Sinn ergeben, wenn hier drin eigentlich etwas eingesperrt werden sollte. Und es würde heißen … Jemand hat uns hier drin eingesperrt?“

Margaret nickte.

Laurie hämmerte gegen die Steintür. „He!“ rief sie laut. „Lassen Sie uns raus!“

Es gab keine Antwort. Laurie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und sank auf den Boden. Warum war sie überhaupt hierher gefahren? Zum ersten Mal wurde ihr klar, wie dumm es eigentlich war, sich Leuten in den Weg zu stellen, die offenbar selbst ihre Mutter aus dem Weg geräumt hatten und anscheinend besser über alles Bescheid wussten als sie.

Glacey stupste sie aufmunternd an, doch sie fühlte sich nicht besser. Das Glaziola war ganz still geworden, wahrscheinlich weil es überrascht war, Laurie so zu sehen. Normalerweise blieb Laurie immer ruhig und cool, aber das lag vielleicht nur daran, dass sie bisher nie das Gefühl gehabt hatte, in einer wirklich gefährlichen und unkalkulierbaren Situation zu sein. Selbst als der Einbrecher sie in ihrem Haus überrascht hatte, war es zumindest immer noch ihr Haus gewesen, ein Ort, den sie kannte und an dem sie sich stärker fühlen konnte als in einer verlassenen alten Ruine, deren Steintür sich soeben geschlossen hatte.

„Eine andere Möglichkeit wäre“, durchbrach Margaret Lauries düstere Gedankenspirale, „dass wir den Mechanismus aus Versehen betätigt haben, als wir die Treppe hinuntergegangen sind.“

Laurie sah auf. „Ja“, sagte sie dann, „das wäre auch möglich.“ Sie spürte einen kleinen Hoffnungsfunken in sich aufglimmen. Im nächsten Moment fiel ihr etwas ein, das den Funken zu einem Feuer auflodern ließ. Sie sprang auf und leuchtete wieder die Tür an. „Die Symbole!“, rief sie laut. „Vielleicht steht da, wie wir die Tür aufkriegen. Das heißt …“ Sie spürte, wie das Feuer in ihr erlosch. „Ich weiß ja nicht, was die Schrift bedeutet. Mom hat nur so Zahlen dahintergeschrieben und …“

Sie kramte in ihrer Tasche, holte die Kopien der Tagebuchseiten hervor und sah darauf. „Es ist einfach … Ich kann diese Symbole mit der Tabelle nur in Zahlen übersetzen, aber ein Haufen Zahlen bringt uns nicht weiter.“

Sie hatte die ganze Zeit fast mehr mit sich selbst geredet als mit Margaret, deren Anwesenheit ihr jetzt erst wieder einfiel. „Es tut mir leid“, sagte Laurie, „ich weiß nicht …“

Und dann fiel es ihr wieder ein. Sie klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Aber klar doch!“, rief sie. „Die Zahlen, das sind …“ Sie kramte ihren Notizblock und ihren Stift hervor, stellte sich vor die Tür und ordnete den Symbolen nach der Tabelle ihrer Mutter die Zahlen zu. „Das sind nicht einfach nur Zahlen“, murmelte Laurie. „Und wenn mich nicht alles täuscht, dann …“

Sie hatte nun eine ganze Reihe von Zahlen notiert, doch sie konnte sie lesen, als sei es das Alphabet. Ihre Mutter hatte den Symbolen die Zahlen aus der Chiffre zugeordnet, die sie früher mit Laurie entworfen hatte. So hatte sie die Symbole übersetzen können, ohne dass jemand mit der Übersetzung etwas anfangen konnte. Vielleicht waren diese Symbole selbst eine Geheimschrift gewesen, die nur Eingeweihten den Zutritt zu den Ruinen ermöglichen sollte.

„Ähm?“, machte Margaret. „Ich nehme an, Sie hatten eine Erleuchtung?“

„Ja!“, rief Laurie begeistert. „Ich kann die Schrift jetzt lesen, glaube ich …“

Sie las vor, was nach Übersetzung der Zahlen ins Alphabet dort gestanden hätte:

Lass ein helles Geräusch ertönen, das den Stahlgiganten erweckt.

Margaret runzelte die Stirn. „Ein helles Geräusch?“, fragte sie.

„Das steht da jedenfalls“, meinte Laurie. „Und das mit dem Stahlgiganten passt ja auch, oder? Einer der Giganten sollte ein Pokémon vom Typ Stahl sein. Das würde also bedeuten, dass er in dieser Ruine eingesperrt war.“

„Und vermutlich gefangen wurde, da wir ihn nicht gefunden haben“, fügte Margaret hinzu.

Laurie nickte. „Ich weiß nur nicht – ein helles Geräusch? Was genau ist damit gemeint?“

„Nun“, sagte Margaret, „vielleicht einfach …“ Sie steckte sich Daumen und Zeigefinger ihrer linken Hand in den Mund und pfiff einmal so laut und schrill, dass Laurie die Ohren davon klingelten.

Ein Rumpeln ertönte, und die beiden Türhälften fingen an, sich auseinander zu bewegen. Helles Tageslicht strömte herein und blendete Laurie ein wenig. Bald war die Tür wieder ganz offen.

Erleichtert trat Laurie nach draußen. Glacey und Margaret folgten ihr.

„Dass es so einfach war“, sagte Laurie kopfschüttelnd.

„Eins verstehe ich nicht genau“, sagte Margaret. „Wieso hat sich die Tür geschlossen? Niemand von uns hat gepfiffen, oder?“ Sie sah sich plötzlich um. „Am Ende sind diese Leute noch in der Nähe und …“

„Nein“, unterbrach Laurie sie und lächelte. „Aber …“ Sie sah Glacey an. „Du kleines Mistvieh, du.“

Glacey legte den Kopf schief. Offenbar verstand sie nicht. Margaret schien ebenfalls verwirrt.

„Glacey hat gefiept, als wir die Treppe hinuntergegangen sind“, erklärte Laurie. „Das muss den Mechanismus ausgelöst haben.“

„Glacey hat uns also eingesperrt?“, fragte Margaret und lachte.

„Jep“, machte Laurie. „Und wenn sie danach nicht so still gewesen wäre, wären wir vielleicht sogar schneller rausgekommen.“ Sie strich Glacey über den Kopf. „Ich war so panisch, dass ich dich ganz nervös gemacht habe, oder?“

Glacey brummte wie zur Zustimmung.

„Aber wenn du nicht so still gewesen wärst, hätte ich vielleicht nicht entdeckt, was es mit der Schrift auf sich hat. Das heißt …“ Ihre Miene verdüsterte sich, als es ihr wieder einfiel. „Die Leute waren ja offenbar vor uns hier und in der Ruine war kein Stahlgigant. Also haben sie wohl in der Tat auch die Schrift entschlüsselt.“

Margaret nickte.

„Wobei ich nicht verstehe, wie sie das schaffen konnten“, murmelte Laurie. „Wissen Sie, diese Zahlen in der Tabelle stehen wiederum für Buchstaben. Das ist ein Code, den meine Mutter und ich uns ausgedacht haben. Also … sollte eigentlich niemand davon wissen. Oder meine Mutter hat es jemandem verraten. Jemandem, den sie gut kannte und dem sie vertraute.“

Und der sie dann verraten hat, sagte eine Stimme in Lauries Innerem.

Laurie schlief in der nächsten Nacht wieder schlecht. Es beunruhigte sie, wie schnell sie in Panik geraten war, als sich die Tür der Ruine geschlossen hatte. Allmählich zweifelte sie daran, dass sie wirklich der Aufgabe gewachsen war, die sie sich selbst auferlegt hatte. Plötzlich wurde ihr auch wieder bewusst, dass sie nur ein einziges Pokémon hatte, und Glacey war zwar durchaus ein starkes Pokémon, das so einige Tricks auf Lager hatte, aber sie hatten lange nicht mehr trainiert. Mit einem Mal fühlte Laurie sich auch schuldig, weil sie Glacey in der letzten Zeit dahingehend ein wenig vernachlässigt hatte. Die gute Nachricht war natürlich, dass Glacey hier in den Kronen-Schneelanden quasi einen Heimvorteil durch den Schnee hatte.

Lauries Gedanken kreisten außerdem um Margaret. Auf dem Rückweg von der Ruine hatten sie nicht mehr viel miteinander gesprochen. Laurie hatte sich aber die ganze Zeit gefragt, ob Margaret in der Ruine nur deswegen so ruhig geblieben war, weil sie einfach schon in gefährlicheren Situationen gewesen und entsprechend abgebrüht war, oder ob sie vielleicht sogar gewusst hatte, wie man wieder rauskam, und deswegen keine Angst gehabt hatte. Gleichzeitig kam Laurie sich unfair vor, weil Margaret ihr bisher so viel geholfen hatte und auch nicht so wirkte, als sei sie ein schlechter Mensch. Doch Laurie wusste auch, dass sie eigentlich niemandem trauen durfte. Tatsächlich hätte sie Margaret nicht einmal von der Chiffre ihrer Mutter erzählen sollen, wenn sie es recht bedachte.

Und morgen … Morgen würde sie auf eine Expedition in die Tiefen der Schneelande gehen, mit einer Führerin, bei der sie sich nicht sicher war, ob sie ihr vertrauen konnte, und im Wissen, dass sie jederzeit auf die Leute treffen konnte, die ihre Mutter auf dem Gewissen hatten. Laurie gestand es sich nicht gerne ein, aber sie hatte Angst. Und sie fühlte sich seltsam alleine, auch wenn Glacey bei ihr war. Sie hatte hier nicht wirklich Freunde wie Myra.

Myra. Nicht einmal bei ihr konnte Laurie sich mittlerweile sicher sein, dass sie auch wirklich eine Freundin war.

Sie seufzte und legte sich auf die Seite. In der Dunkelheit sah sie Glacey, die auf dem Teppich lag und schlief. Laurie hätte jetzt gerne mit ihr gekuschelt, aber sie wollte sie nicht wecken. Also starrte sie sie nur an, bis sie selbst irgendwann in einen unruhigen Schlaf fiel.

Am nächsten Morgen wurde sie von Margaret geweckt, die laut an die Tür ihrer Hütte klopfte. Weil Laurie so lange wachgelegen hatte, hatte sie die Zeit verschlafen, zu der sie sich treffen wollten. Margaret schien jedoch nicht ungehalten. Wahrscheinlich, dachte Laurie, weil ich bestimmt furchtbar aussehe und sie Mitleid hat.

Sie schlang schnell ein paar hastig geschmierte Brote herunter, zog sich an und trat nach draußen. Margaret gab ihr einen großen schweren Rucksack, in dem anscheinend Proviant, ein Schlafsack und ein Zelt waren. Margaret selbst hatte ebenfalls einen Rucksack mit weiterem Proviant und Ausrüstung.

Der Weg zu dem nächsten Ort, den Lauries Mutter eingekreist hatte, führte an das andere Ende des Betts des Giganten, was bedeutete, dass sie es wohl nicht mit einer Schneelandschaft zu tun bekommen würden. Allerdings würden sie ihr Ziel wohl erst am nächsten Tag erreichen.

Zunächst ging es wieder einen schneebedeckten Pfad von Freezedale aus entlang. Schnell jedoch wurde der Schnee am Boden lichter und wich wieder einer weitläufigen, vom gestrigen Schneefall leicht schlammigen Wiese.

Erneut sprachen Margaret und sie nicht wirklich. Der Weg war lang, und Laurie dachte sich, dass sie besser beide ihren Atem sparen sollten. Sie war dankbar dafür, wenigstens körperlich relativ fit zu sein. Wenn sie nicht so oft joggen würde, wäre der Weg vielleicht zu anstrengend gewesen. Gleichzeitig fragte sie sich, woher Margaret ihre Energie nahm. Laurie hatte nach ein paar Stunden Wanderung das Gefühl, dass sie ein wenig hinter der alten Frau zurückfiel, die unermüdlich voranschritt.

Am frühen Nachmittag legten sie eine Pause ein. Sie waren noch inmitten des Bettes des Giganten, allerdings ging es allmählich bergauf. Momentan waren sie gerade dabei, ein paar alte Ruinen zu durchqueren, die allerdings wohl nichts mit den Giganten zu tun hatten, wie Margaret versicherte, und stattdessen alte Behausungen früherer Bewohner der Kronen-Schneelande waren.

Während sie auf der verfallenen Mauer einer dieser Ruinen saßen, Tee aus einer Thermoskanne tranken und Müsliriegel aßen, sah Laurie sich um, soweit es der lichte Schneefall, der auch heute niederging, zuließ. Es war schön hier, und wenn mal die Sonne schien, würde man bestimmt von einem höheren Punkt aus einen guten Ausblick auf das Tal und seine grünen Wiesen haben. In einiger Entfernung glaubte Laurie einen alten Friedhof erkennen zu können.

„Ich hätte eine Frage“, sagte Margaret unvermittelt. „Was … Was machen wir, wenn wir auf diese Paladine treffen?“

Laurie antwortete nicht direkt. Sie hatte gestern schon daran gedacht, dass Glacey zwar grundsätzlich eine gute Kämpferin, aber in der letzten Zeit nicht oft trainiert worden war. „Die Wahrheit ist“, sagte Laurie schließlich, „ich weiß es nicht. Ich glaube, dann muss uns … muss mir irgendetwas einfallen.“

„Das klingt nicht sehr beruhigend“, sagte Margaret schlicht. „Nicht, dass ich Angst hätte. Ich ziehe es nur vor, nicht verfrüht zu sterben.“

„Was ist mit den Pokémon in der Gegend hier?“, fragte Laurie. „Sie kennen die doch gut, oder? Könnten die uns nicht helfen, wenn es brenzlig wird?“

Margaret schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke nicht“, erwiderte sie. „Es sind wilde Pokémon, und ich weiß zwar ungefähr, wie man mit ihnen in einer Art umgeht, dass sie einem nicht den Kopf abbeißen oder einen zu Eis gefrieren, aber das ist etwas anderes als ihnen Anweisungen zu geben. Wie gesagt, es sind immer noch wilde Pokémon. Die Amarino und das Amagarga, die mich damals vor den Leuten gerettet haben, die ihre Mutter auf dem Gewissen haben, waren einfach klug und haben gemerkt, dass ich nicht die Böse bin. Also haben sie mir geholfen. Aber …“, sie schüttelte noch einmal den Kopf, „Aber ich kann mich wohl kaum darauf verlassen, dass wieder ein paar kluge und hilfsbereite Pokémon in der Nähe sind.“ Sie sah Laurie an. „Was ist mit Ihnen? Was ist mit Glacey?“

Laurie biss sich auf die Lippe und sah zu Glacey, die einige Meter entfernt an einem Stein schnüffelte. „Glacey ist … formidabel, aber nicht in Form, verstehen Sie?“

„Wir sollten also direkte Konfrontationen vermeiden.“

Laurie nickte. „Ich weiß nicht“, sagte sie dann. „Ich dachte, ich könnte diese Leute vielleicht sabotieren oder die Ruine versiegeln oder etwas in der Art, aber … Im Grunde weiß ich nicht, was ich tue. Ich dachte, wenn ich hier bin, würde ich wissen, was ich zu tun habe.“

„Aber so ist es nicht“, sagte Margaret.

Laurie nickte und schaute zu Boden.

„So ist das mit Abenteuern“ sagte Margaret. „Man weiß nie, worauf man sich genau einlässt. Man macht einfach weiter und hofft, dass man heil rauskommt.“

Laurie sah wieder auf und Margaret ins Gesicht. Die alte Frau lächelte aufmunternd, doch dann zuckte sie die Achseln. „Ich möchte nur eins klarstellen“, sagte sie ernst. „Ich führe Sie gerne zu den Tempeln und ich will auch gerne versuchen, diese Leute aufzuhalten. Aber wenn es wirklich gefährlich wird, dann werde ich mich erst einmal um das kümmern, was ich gerade gesagt habe: Ich will heil aus der Sache rauskommen.“

Laurie starrte Margaret an und wollte schon widersprechen, doch dann wurde ihr klar, dass diese Frau im Grunde Recht hatte: Margaret schuldete ihr nichts. Sie war im Grunde eine völlig fremde Person, die ihr einen Gefallen tat. Laurie konnte nicht von ihr verlangen, am Ende ihr Leben zu riskieren. Also nickte sie: „Das verstehe ich.“

Als es zu dunkel wurde, als dass eine weitere Wanderung Sinn gemacht hätte, schlugen Margaret und Laurie ihr Zelt in der Nähe eines Felsens auf, der ihnen hoffentlich zusätzlichen Schutz vor dem Wind bieten würde.

Es war ziemlich kalt in der Nacht, was Laurie natürlich nicht wirklich überraschte – dennoch war es etwas anderes, die Kälte zu erwarten und tatsächlich in ihr übernachten zu müssen. Laurie hüllte sich dicht in ihren Schlafsack und ihre dicken Klamotten, die sie ausgezogen hatte. Irgendwann schlief sie ein.

Es musste noch mitten in der Nacht sein, als Laurie aufwachte. Sie war sich nicht ganz sicher, was es gewesen war, das sie geweckt hatte. Noch im Halbschlaf meinte sie, es sei wie ein Lied gewesen, traurig und langsam.

Laurie setzte sich auf, langsam und vorsichtig, um Margaret nicht zu wecken, und horchte. Nach ein paar Sekunden hörte sie es wieder. Es klang tatsächlich ein bisschen wie ein Lied, doch vielleicht war es auch das Heulen eines Pokémon.

Laurie öffnete den Zelteingang und spähte hinaus. Es war dunkel, und der Schneefall hatte offenbar zugenommen. Doch in einiger Entfernung glaubte Laure, etwas erkennen zu können – ein seltsames Leuchten, schwach und flackernd, sodass es hin und wieder verschwand und neu erschien.

Laurie überlegte, etwas zu rufen, doch sie wollte Margaret nicht aufwecken. Im nächsten Moment jedoch sah sie, dass das Leuchten deutlich heller und größer wurde. Es kam auf sie zu. Laurie blieb gebannt am Zelteingang hocken, trotz der Kälte und den gelegentlichen Schneeflocken, die hineingeweht wurden.

Als das Leuchten wohl nur noch so etwa zwanzig Meter entfernt war, konnte Laurie sehen, dass es offenbar ein Mensch war, doch einer, der bläulich schimmerte, wie ein Gespenst.

Laurie hatte nicht wirklich Angst vor Gespenstern – sie glaubte ja nicht einmal an sie –, aber trotzdem spürte sie eine Kälte in sich aufkommen, die nichts mit der Außentemperatur zu tun hatte.

Die Gestalt bewegte sich weiter auf sie zu und Laurie tastete nach Glaceys Pokéball, doch bevor sie irgendetwas tun konnte, schnellte die Gestalt nach vorne und für einen winzigen Augenblick sah Laurie in ein vertrautes Gesicht, das jedoch verzerrt war zu einer Grimasse des Hasses, wie Laurie sie noch nie gesehen hatte. Laurie schrie auf. Im nächsten Augenblick war die leuchtende Gestalt durch sie hindurchgegangen und verschwunden. Laurie blieb zurück, zitternd vor Kälte und Angst. Sie drehte sich um und vergewisserte sich, dass die Gestalt verschwunden war. Es war, als wäre sie durch die Zeltwand gegangen.

„Was ist los?“, hörte sie Margarets aufgebrachte Stimme, doch Laurie konnte nicht antworten. Was sie gesehen hatte …

Margaret drängte sie ein wenig zur Seite, schloss den Zelteingang und packte Laurie an den Schultern.

„Was. Ist. Los?“, fragte sie langsam und überdeutlich.

„Es war …“, krächzte Laurie heiser. „Ich habe … Meine …“

„Was ist los?“, fragte Margaret noch einmal. „Hast du irgendwas gesehen?“

„Meine Mutter“, sagte Laurie schwach. „Ich habe meine Mutter gesehen.“

Margaret hatte keine Erklärung für das, was Laurie gesehen hatte, außer dass man sich bei Nacht im Schneesturm durchaus auch mal Dinge einbilden konnte. Doch Laurie war sich absolut sicher, sich das gestern Nacht nicht eingebildet zu haben. Sie war ebenso zuversichtlich, dass das Ganze kein Traum gewesen war. Diese leuchtende Gestalt war ihre Mutter gewesen, doch sie hatte wütend ausgesehen, voller Hass. Laurie wusste nicht, wie das möglich war. War ihre Mutter ein Gespenst geworden, das diesen Berg heimsuchte?

Sie fand keine Antwort auf ihre Fragen, aber das Nachdenken lenkte Laurie am nächsten Tag beim Laufen davon ab, dass ihre Beine sich von der gestrigen Wanderung und der ständigen Kälte wie Blei anfühlten. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie Margaret es trotz ihres Alters einfach schaffte, stets so energisch und energiegeladen voranzugehen, als sei sie in ihren Zwanzigern. Insgeheim hoffte Laurie, später in ihrem Leben auch nur halb so ausdauernd zu sein.

Margaret hatte gesagt, dass sie heute die Schneeschlucht erreichen würden und somit den zweiten Ort, den Lauries Mutter auf den Karten markiert hatte. Diesmal freilich war die Situation ein wenig anders: Vorgestern hatten sie die Ruine schnell finden können, weil Margaret schon einmal dagewesen war. Aber was auch immer in der Schneeschlucht war, das mit den Giganten zusammenhing, Margaret hatte es noch nie gesehen, da sie vor all den Jahren mit Lauries Mutter von den Paladinen überrascht worden war, bevor sie den genauen Ort hatten finden können.

An ihrem zweiten Wandertag kamen Margaret und Laurie in ein bergiges Gebiet, das von Schnee bedeckt war. Hier und da waren vereinzelte kahle Bäume zu sehen, an denen Glacey gelegentlich schnüffelte.

„Nun“, sagte Margaret schließlich, als sie bei ein paar weiteren verfallenen Siedlungsgebäuden ankamen, die genauso aussahen wie die, bei denen sie gestern Rast gemacht hatten, „hier sind wir also. Das ist die Schneeschlucht. Jetzt müssen wir nur noch finden, was …“

Laurie ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern packte sie, zerrte sie hinter eine verfallene Mauer und wies Glacey an, sich ebenfalls mit ihnen zu verstecken.

„Was …“, fing Margaret an, doch Laurie hielt ihr den Mund zu.

„Ich habe etwas gehört!“, zischte sie.

Sie warteten. Und dann hörte Laurie es wieder. Stimmen, die sich näherten. Jemand kam!

Laurie entdeckte ein Loch in der Mauer und spähte hindurch. Über einen kleinen Trampelpfad, der offenbar weiter in die Schneeschlucht hinein führte, kamen zwei Gestalten hoch, die beide in so hell weißen Schneeanzügen steckten, dass sie in all dem sie umgebenden Schnee fast unsichtbar wirkten. Ihnen folgten ein Magnayen und …

Laurie unterdrückte einen Schrei, als sie das andere Pokémon sah. Sie hatte wegen der Schneeanzüge die Statur der einen Person nicht erkannt, aber es bestand kein Zweifel, als sie das kleine Clavion erblickte.

„Ich glaube nicht, dass es so einfach wird wie beim letzten Mal“, sagte Myra zu ihrer Begleitperson, und Lauries Herz verkrampfte sich.

Zitat von Rainbow

So, heute ist es an der Zeit, einen Kommi beim Fanfiction-Bossgegner äh, Moderator Thrawn abzuliefern.
Denn keine Pokémon-Fanfiction ist vor mir sicher!

Haha, freut mich, dass du auch bei mir vorbeischaust. Und ich finde es auch ehrlich gesagt wirklich toll, wie du aktiv du im Bereich schon bist und wie vielen Leuten du schon mit Kommentaren eine Freude gemacht hast!

Zitat von Rainbow

Was ich lustig finde, ist, Geschichten von Leuten zu lesen, die wahrscheinlich an der Uni sind oder es waren. Wenn da ein Universitäts-Setting kommt, erinnert mich das immer so hart an mein eigenes Studium. Das bekommt nur jemand hin, der so einen Ort von innen gesehen hat.

Ja, bin tatsächlich an der Uni - wenngleich natürlich seltener in diesen Zeiten. Das ist da sicher irgendwie auch miteingeflossen, wobei ich glaube, dass ich die Universität vielleicht stärker hätte beschreiben müssen/können.

Zitat von Rainbow

Was mir an der Geschichte besonders gut gefällt, ist, dass sie so intelligent mit den Tropen der Genres (also Pokémon und Abenteuer/Schatzsuche) spielt.
Ich bin großer Fan von Pokémon-Fanfiction, die nicht einfach den Weg eines Trainers vom ersten Orden bis zur Pokémon-Liga abspult. Einerseits ziehen sich diese Geschichten oft unendlich lange hin und andererseits ist es schwer, mit so vielen verschiedenen auftretenden Figuren eine kohärente Story zu erzählen, finde ich. Das (und Anime-Shipping-Storys) war zwar der Anfang der Pokémon-Fanfiction, aber wirkt auf mich nicht mehr zeitgemäß. So eine Geschichte wie deine, die in der Pokémon-Welt spielt, aber eine klare Struktur und Spannungskurve hat, zu lesen ist einfach ein echter Genuss! Für solchen Content habe ich mich hier angemeldet.

Das ist eigentlich auch so etwas, was mich beschäftigt. Ich glaube, ich habe selten bis gar nicht etwas in der Richtung der klassischen Pokémonreise geschrieben. Nicht, dass ich solche Geschichten schlecht finden würde, aber irgendwie liegen die mir nicht so ganz. Ich gucke deswegen von Zeit zu Zeit, wie ich bestimmte Genres in der Pokémonwelt umgesetzt kriege, wenn ich mal etwas in dieser Welt schreiben will. Ich hatte auch mal eine Idee für eine Art Revolutions-/Widerstandsgeschichte, aber das ist nicht über die Planung hinausgekommen. Als ich mich hier ja angemeldet hatte, dachte ich daran, einen Krimi zu schreiben, der in der Pokémonwelt spielt, aber ich bin daran dann irgendwie gescheitert, auch weil es so leicht ist, mit Pokémon Verbrechen zu begehen. Ich meine, einen Tresorraum ausräumen? Einfach rein- und wieder rausteleportieren mit einem Abra oder so. Da könnte man natürlich irgendwie versuchen, Beschränkungen für die Attacke zu machen oder aber eine Technologie zu erfinden, die die Teleportation verhindert, aber das sind dann immer so ad-hoc-Manöver an der Welt, die natürlich vereinzelt nicht schlimm sind, aber ich hatte am Ende das Gefühl, zu viele davon zu brauchen. Deswegen habe ich das irgendwann aufgegeben.

Zitat von Rainbow

Und gerade der Schatzsuche-Plot und wie Laurie damit umgeht ist einfach mega-unterhaltsam. Sie verhält sich wie jemand, der sein erstes richtig großes Abenteuer erlebt, aber schlau genug ist, dass sie in keine der typischen Fallen (wer ist ein Verräter und wer nicht?) fallen will. Das ist echt toll und gefällt mir sehr!

Ich hoffe ja, dass sich nicht zu schlau ist - grundsätzlich soll sie natürlich clever, aber auch noch ein bisschen unerfahren sein.

Zitat von Rainbow

Ich warte schon gespannt darauf zu lesen, wie es mit Laurie und Margaret weitergeht. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass sich Laurie als Figur anbietet, über deren Abenteuer zu schreiben es sich immer mal wieder lohnt, wenn du gerade eine gute Idee hast. Ich sehe da sehr viel Potential drin.

Das könnte vielleicht tatsächlich klappen, wenn ich da mal wieder eine Idee habe.

Zitat von Rainbow

Eine kleine Frage habe ich noch, aber die hat jetzt nichts mit der Geschichte an sich, sondern mehr mit diesem Forum zu tun: Warum veröffentlichst du die Legende der Giganten in deinem Sammeltopic und nicht als eigenes Thema? Da ich neu bin, weiß ich nicht, ab wann eine Geschichte lang (oder kurz) genug ist, um ein eigenes Topic zu bekommen, und wann sie besser in einem Sammeltopic aufgehoben ist.

Also, was das betrifft, müsstest du dir eigentlich nicht allzu viele Gedanken machen. Die Sache ist hier: Wahrscheinlich wäre Die Legende der Giganten am Ende lang genug, um auch als Fanfiction gelten zu können, aber ich wusste beim Anfang noch nicht exakt, wie lang sie sein wird und ich glaube, sie wird auch noch kurz genug sein, um in eine Sammlung gepackt werden zu können. Grundsätzlich kann man auch Mehrteiler in eine Sammlung packen, das ist an sich kein Problem und liegt auch ein Stück weit im eigenen Ermessen - hierbei müsste man natürlich als Autor:in bedenken, dass ein Mehrteiler in einer Sammlung leichter untergehen könnte als wenn er ein eigenständiges Topic bekommt.

Abschließend möchte ich mich sehr für deinen Kommentar bedanken - es ist wie gesagt auch generell echt schön, dich hier im Bereich so aktiv zu erleben!

Laurie fühlte sich, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie konnte nichts weiter tun, als Myra und die andere Person anzustarren. Myra. Sie hatte es bis zuletzt geleugnet, hatte sich in Erinnerung gerufen, dass sie seit Jahren mit ihr befreundet war, aber nun stand sie da, in einem jener blendend weißen Schneeanzüge, die auch die Mörder ihrer Mutter getragen hatten. Kleffi, Myras Clavion, schwebte etwas über ihrer linken Schulter.

Laurie schaute kurz zu Glacey und legte einen Finger an die Lippen, die offenbar verstand, denn sie nickte leicht mit dem Kopf.

„Ich meine“, sagte Myra gerade, als Laurie wieder durch das Loch in der Mauer schaute, „Der gute Eddie steht da jetzt schon seit Stunden rum und pfeift sich eins. Und das Ergebnis ist gleich Null. Ich sag’s noch einmal: Diesmal müssen wir irgendetwas anderes machen. Das ist mittlerweile doch wohl ziemlich offensichtlich.“

„Kann sein“, gab die andere Gestalt zurück. Der Stimme nach zu urteilen war es eine weitere Frau, doch die weiße Sturmhaube und die Kapuze darüber machten es unmöglich, zu erkennen, wie sie genau aussah. Sie war allerdings rund einen Kopf kleiner als Myra. „Aber eine bessere Idee haben wir bis jetzt nicht, selbst wenn das mit dem Pfeifen letztes Mal nur Glück war.“

„Nun, die Symbole …“

„… sind völlig nutzlos für uns, solange wir nicht wissen, was diese Zahlen bedeuten.“

„Was das betrifft“, sagte Myra, „ich bin mir ziemlich sicher, dass die Zahlen einfach für andere Buchstaben stehen. Wir müssen nur die Chiffre entschlüsseln.“

„Wenn es so einfach ist“, sagte die andere Frau spöttisch, „warum tust du es dann nicht einfach?“

„Wenn ich eine ausreichend große Probe der Schrift hätte, könnte ich das vielleicht“, erwiderte Myra betont freundlich. „Aber gewisse Personen lassen mich ja nicht an das letzte Tagebuch, das sie damals der lieben Melody abgenommen haben.“

„Und das völlig zurecht“, brummte die Frau.

„Du traust mir wohl immer noch nicht, was, Sarah?“

„Nein“, antwortete die Frau namens Sarah. „Weil ich es schlicht für sehr merkwürdig halte, dass du rein zufällig mit der kleinen Laurie schon befreundet warst, bevor du zu uns kamst.“

Myra zuckte mit den Achseln. „Ich dachte, es sei ein ziemlicher Glücksfall. Und wenn ihr mir einfach Zeit gelassen hättet, hätte ich die anderen Tagebücher auch irgendwann ohne großes Aufheben gefunden. Stattdessen heuert ihr diesen Idioten an, der nichts auf die Reihe kriegt und den sie fertig gemacht hat. Und siehe da, am nächsten Tag fällt mir das sowieso alles in die Hände. Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn ihr einfach mich gleich …“

Sarah packte Myra vorne am Kragen. „Hast du dich eigentlich mal gefragt“, flüsterte sie leise und bedrohlich, „warum der Anführer dich nicht damit beauftragt hast?“

„Ich nehme an, er traut mir auch nicht, genau wie du?“, fragte Myra unbeeindruckt. Laurie konnte nicht umhin, sie für ihre Lässigkeit zu bewundern.

„Allerdings. Und ich warne dich: Solltest du irgendwas versuchen, wird Greyna hier dich in Stücke reißen.“ Das Magnayen, das den beiden folgte, knurrte bedrohlich.

„Nicht doch“, erwiderte Myra gespielt beschwichtigend, „das wäre ziemlich …“

Laurie duckte sich rasch weg, doch sie fürchtete, dass es zu spät war. Myra hatte genau in ihre Richtung gesehen.

„Moment mal“, sagte Myra und Laurie kauerte sich hinter der Mauer zusammen, die Hand auf Glaceys Rücken gelegt. Margaret neben ihr war ruhig geblieben, doch in ihrem Gesicht spiegelte sich ein Anflug von Angst, den Laurie bisher nie bei ihr gesehen hatte. Laurie hörte den Schnee knirschen, als Myra sich ihrem Versteck näherte.

„Ist irgendwas?“, fragte Sarah. „Ich war noch nicht fertig mit dir.“

„Spar dir das auf für jemand anderen“, sagte Myra. „Siehst du die Fußspuren?“

„Ja, und?“, fragte Sarah. „Schließlich sind wir ja auch hier.“

„Es hat die ganze Nacht durchgeschneit“, erwiderte Myra in dem Ton einer Lehrerin, die einem kleinen Kind etwas ganz Simples erklärt. „Und heute war keiner von uns hier oben, wir beide sind die ersten, die heute hier sind. Außerdem führen die Fußspuren von unten nach hier oben, ergo ist jemand hier, der nicht zu uns gehört und der entsprechend nicht hier sein dürfte.“

„Das ist mir auch klar“, sagte Sarah mürrisch.

„Aber was dir offenbar nicht klar ist“, fuhr Myra fort, und Lauries Herz klopfte wild, „ist die Tatsache, dass die Fußspuren genau vor dieser Mauer enden. Woraus folgt, dass wer immer hier oben ist, in exakt diesem Moment hinter der Mauer sitzt und uns belauscht.“

Wenn Laurie sich vorher schon mies gefühlt hatte, dann war das kein Vergleich dazu, wie es ihr jetzt ging. Trotz der Kälte brach ihr der Schweiß aus und sie zitterte.

„So?“, sagte Sarah leise und bedrohlich. Im nächsten Moment ertönte ein leises Fingerschnippen und etwas Großes, Schwarzes und Haariges sprang über die Mauer. Im nächsten Moment sah Laurie in die gefletschten Fänge des Magnayen. Glacey reagierte schneller als sie und schoss einen Eisstrahl auf das Magnayen ab, das davon ein wenig weggeschleudert wurde.

„Laufen Sie!“ schrie Laurie Margaret zu. Sie selbst sprang gefolgt von Glacey über die Mauer, doch bevor sie sich auch nur wirklich einen Überblick über die Situation verschaffen konnte, hatte Myra sie bereits gepackt und ihr seitlich gegens Knie getreten, sodass sie stolperte und auf die Knie fiel. Sie sah, wie Glacey von Kleffis Lichtkanone getroffen wurde und zusammenbrach.

„Laurie“, sagte Myra lächelnd. „Ich habe fast damit gerechnet.“

„Laurie?“, fragte die Frau namens Sarah. „Laurie Belford? Aber unser Mann in Score City sagte doch, sie sei nach Keelton gefahren.“

„Und wie ich bereits gesagt habe, war das offensichtlich ein Trick“, entgegnete Myra.

Laurie ballte die Fäuste. Dass Myra zu den Paladinen gehörte, hatte sie zuerst schockiert, doch nun fühlte sie etwas anderes: Wut. „Du miese Verräterin“, zischte sie.

„Autsch“, sagte Myra. Sie schob ihre Kapuze zurück und nahm die weiße Sturmhaube ab. Myra lächelte freundlich, ganz so, wie sie immer gelächelt hatte, wenn sie mit Laurie in einem Café saß und sie sich unterhielten.

„Wer ist deine Freundin?“, fragte Myra interessiert.

Laurie drehte sich um und sah, wie Margaret von dem Magnayen, das sich wieder aufgerappelt hatte, an der Flucht gehindert wurde.

„Lasst sie gehen“, sagte Laurie, und ließ ihre Stimme dabei so fest wie nur möglich klingen.

„Sorry“, sagte Myra. „Das ist die gleiche Frau, die damals deine Mutter geführt hat, oder?“

Als Laurie nicht antwortete, wandte sich Myra an Sarah: „Du warst damals dabei, oder?“

Sarah zuckte die Achseln. „Kann gut sein“, meinte sie. „Sie ist älter und es war damals dunkel und stürmisch, aber … Ja, doch, ich glaube, das ist sie.“

„Wenn das so ist, haben wir sie schon einmal laufen lassen“, sagte Myra, „und du siehst, wohin uns das geführt hat.“

„Lasst sie gehen“, wiederholte Laurie noch einmal. „Sie hat hiermit nichts zu tun.“

Myra schüttelte den Kopf. „Wie ich schon sagte, wird das wohl nichts.“

Laurie biss sich auf die Lippe. „Was“, sagte sie schließlich, „wenn ich euch helfe?“

Myra zog eine Augenbraue hoch. „Uns helfen?“

„Das letzte Tagebuch meiner Mutter. Die Geheimschrift. Ich kann euch damit helfen.“

„Aha?“, fragte Myra. „Du weißt also, was diese Zahlen bedeuten?“

Laurie biss sich auf die Lippe. „Ja“, sagte sie schließlich. „Das weiß ich. Ich kann die Schrift übersetzen.“

„Und woher soll ich wissen, dass du uns nicht anlügst?“, fragte Myra.

„Ich verspreche dir, dass ich das nicht tue.“

Sarah lachte, doch Myra blieb ernst.

„Du kennst mich, Myra“, sagte Laurie. „Ich breche meine Versprechen nie. Selbst wenn ich sie Personen gebe, die ich hasse.“

„Als ob wir …“, begann Sarah, doch Myra unterbrach sie: „Okay, Laurie. Wir lassen die Alte laufen und du hilfst uns dafür.“

„Bitte was?!“, brauste Sarah auf. „Wir können sie nicht einfach gehen lassen, sie …“

„Sie wird zu Fuß mindestens zwei Tage brauchen, bis sie wieder im Dorf ist“, sagte Myra. „Und selbst dann liegt Freezedale so abgeschieden, dass wir uns wohl kaum Sorgen wegen der Polizei machen müssten. Diese Frau ist nutzlos für uns und wenn Laurie uns dabei hilft, die Geheimschrift zu übersetzen, dürfte es wohl ein kleiner Preis sein, sie laufen zu lassen.“

„Wenn sie uns dabei hilft“, sagte Sarah.

„Das wird sie. Oder, Laurie?“

Laurie nickte.

Sarah zögerte. Für einen Moment dachte Laurie, sie würde ihr Magnayen auf Margaret hetzen. Doch dann schnippte sie mit ihren Fingern und das Magnayen ließ von Margaret ab, bevor es langsam zu seiner Trainerin ging und sich neben sie setzte.

„Danke“, sagte Margaret – nicht zu Myra oder Sarah, sondern zu Laurie.

„Keine Ursache“, sagte Laurie. „Kommen Sie gut nach Hause.“

„Halten Sie durch“, erwiderte Margaret und lief dann schnell den Pfad hinunter. Alle sahen ihr nach, bis sie außer Sichtweite war.

Anschließend kniete Laurie neben Glacey nieder und schaute nach, ob sie von Kleffis Lichtkanone verletzt worden war. Sie schien aber in Ordnung zu sein und war nur kurz K.O. gegangen. Sie öffnete ihre Augen, als Laurie über ihren Kopf strich, und stand langsam auf.

„Alles in Ordnung mit ihr?“, fragte Myra, und als Laurie nickte, fügte sie hinzu: „Nun, dann würde ich dich darum bitten, sie in ihren Pokéball zurückzurufen. Ich möchte auf dem Weg zu unserem Lager keine Überraschungen haben.“

Laurie zog Glaceys Pokéball hervor und rief das geschwächte Glaziola zurück. Wahrscheinlich war es ohnehin besser, wenn Glacey sich erst einmal ausruhen konnte.

„Wie weit ist es bis zu eurem Lager?“, fragte Laurie.

Hi @Rainbow ,

erneut danke für deinen Kommentar!

Zitat von Rainbow

Also, ich finde, du updatest die Geschichte sowieso in einem sehr guten Rhythmus. Falls es eine Woche mehr braucht oder zwei, macht das doch nichts. Aber bitte nimm dir so viele Kapitel wie du brauchst, um vollends zufrieden mit dem Finale zu sein, ja? Und das schreibe ich nicht nur, weil ich gerne mehr von Laurie lesen will.

Ja, vermutlich wird es wie im Einleitungstext gesagt darauf in etwa hinauslaufen. Ich bin nicht ganz sicher, wie viele Kapitel ich noch brauche, um alles zu einem zufriedenstellenden Ende ohne allzu lose Enden zu führen, aber ich glaube, es sollten nicht mehr allzu viele sein. Danke für die Rückmeldung diesbezüglich!

Habe jetzt nur ein bisschen Angst, ob ich das nächste Woche auch schaffe, weil ein paar RL-Sachen anstehen, die Zeit, Motivation und Aufmerksamkeit fressen. Muss gucken, ob ich da gut zum Schreiben komme.

Zitat von Rainbow

Aber du hast mich auch sehr überrascht: Die Erscheinung, die wie Lauries Mutter aussieht, hat bestimmt niemand kommen sehen! Jetzt bin ich wirklich neugierig, wie das wohl erklärt werden wird.

Hihi. Ich glaube, man kann beim gegenwärtigen Zeitpunkt schon vermuten, was es damit auf sich hat, allerdings ist es ein bisschen weiter hergeholt (auch wenn ich glaube bzw. hoffe, dass das nicht vollkommen aus dem Nichts kommen wird).

Zitat von Rainbow

Ich habe dazu einen ganzes Thema aufgemacht, falls wir da über die Implementierung verschiedener Genres in die Pokémon-Welt sprechen wollen.

Bezüglich der Verbrechen mit Pokémon: Ich denke, es kommt darauf an, wie Pokémon-lastig du deine Welt tatsächlich machen möchtest. Man müsste am Anfang entscheiden: Wurden Schusswaffen in der Welt erfunden, weil Pokémon im Gegensatz zu richtigen Waffen erst langwierig dressiert werden müssen, bevor sie machen was du willst? Weil, die sind ja Lebewesen. Und wie schlau ist ein Pokémon? Kannst du ihm einen komplexen Befehl geben, den es vorher noch nie gehört hat?

Es könnte auch sein, dass eigentlich nur Verbrecher, die sehr verzweifelt oder verrückt sind, sich bei ihren Raubzügen auf Pokémon verlassen. So ein Pokémon ist vielleicht auch weniger darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen, als es ein Mensch mit einer Waffe wäre. Boah, da kann man sich echt reindenken, haha.

Ja, das sind so Sachen, die mich dabei immer beschäftigen. Ich wollte eigentlich auch schon auf das von dir eröffnete Thema antworten, aber wie oben gesagt ist gerade ein bisschen RL-Stress. ^^" Aber ich komme da irgendwann schon noch zu, weil ich das Thema auch zum Diskutieren ziemlich interessant finde.

Wie oben schon gesagt: Erneut vielen Dank für deinen Kommentar! Ich hoffe, ich kann mich dafür auch demnächst mal revanchieren, wenn ich etwas mehr Zeit habe.

Der Weg den Pfad hinunter in die Schneeschlucht war seltsam. Laurie lief den beiden anderen voraus, mit Glacey im Pokéball, während sie ständig hinter sich den Atem des Magnayen hörte. Sie zweifelte nicht daran, dass es sie zerfleischen würde, wenn sie einen Fluchtversuch unternehmen sollte. Während des Wegs sprachen sie nicht miteinander und trotz der brenzligen Situation konnte Laurie nicht umhin, die Peinlichkeit der Stille zu bemerken. Aber worüber sollten sie auch reden? Darüber, wie sie Laurie umbringen würden, wenn sie sie nicht mehr brauchten?

Schlussendlich waren sie in die Schlucht hinabgestiegen und die Felswände ragten zu allen Seiten in die Höhe. Der Boden war vollkommen mit Schnee bedeckt.

Sie kamen unter einer Art natürlichem Torbogen aus Fels hindurch und Laurie wusste sofort, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Das erste, worauf Laurie dabei achtete, war der Umstand, dass dieser Teil der Schlucht eine Sackgasse war – der einzige Weg hinaus war der, den sie gekommen waren. An Flucht war also erst einmal nicht zu denken.

Das zweite, was Laurie auffiel, war der Tempel, der aus einer Felswand hinausragte – er war von exakt der gleichen Bauart wie der, den sie bereits kannte, mit dem gleichen dreistufigen Sockelbau und dem von Säulen getragenen Vordach. Er unterschied sich eigentlich nur in zwei Dingen vom Tempel des Stahlgigants: Er war einerseits aus einem anders gefärbten Stein gehauen, der eher grün-bläulich wirkte und andererseits befand sich auf dem Vordach ein anderes Muster: Fünf Punkte bildeten eine gerade waagerechte Linie, wobei genau unter und über dem mittleren Punkt dieser Linie jeweils noch ein weiterer Punkt war. Es war also wieder ein Symbol, das aus sieben Punkten bestand, doch diese waren anders angeordnet.

Vor dem Tempel waren mehrere Zelte aufgeschlagen und Leute in den gleichen weißen Schneeanzügen wie Myra und Sarah sie trugen, standen zwischen ihnen oder liefen umher. Es waren wohl ungefähr sieben weitere Leute. Nicht allzu viele Gegner, aber im Grunde eine Übermacht, wenn Laurie daran dachte, dass sie ganz allein war.

Laurie sah auch ein paar Pokémon – ein Machomei, ein Rexblisar und ein ziemlich großes Krarmor, das in oder vielmehr auf der Krone eine schneebedeckten Bäumchens saß.

Eine der Gestalten in den Schneeanzügen kam auf sie zu, und die anderen Leute folgten ihr, ebenso wie das Machomei und das Rexblisar. Laurie hatte bei dieser Person ein seltsames Gefühl. Es war ein Gefühl von drohender Gefahr. Der Rucksack, den sie immer noch auf dem Rücken trug, schien sich plötzlich schwerer anzufühlen.

„Sarah“, sagte eine vollkommen emotionslose Männerstimme. „Myra.“

„Anführer Fynch“, erwiderte Myra höflich, während Sarah nichts sagte. Laurie fiel auf, dass sich Kleffi ein wenig hinter Myra zu verstecken schien, während Sarahs Magnayen zumindest wie aus Respekt den Kopf gesenkt hielt.

„Das ist Laurie Belford“, stellte der Anführer fest. Laurie war überrascht. Er wusste, wie sie aussah und wer sie war?

„Ja. Wir haben sie weiter oben bei den Siedlungsruinen gefangen genommen.“

„Das sehe ich. Warum ist sie am Leben?“

Laurie schluckte. Die Art, wie dieser Mann das sagte, machte ihr Angst. Es klang, als sei für ihn die Diskussion über ein Menschenleben nicht viel anders als über das Wetter zu sprechen.

„Sie hat versprochen, uns bei der Übersetzung der Symbole zu helfen“, sagte Myra.

„Ihre Mutter war unser Todfeind.“

„Das weiß ich, Anführer, aber …“

„Man kann ihr nicht trauen.“

„Das habe ich auch gesagt, Anführer“, warf Sarah ein.

Laurie gefiel gar nicht, in welche Richtung sich das entwickelte.

„Es wäre besser, sie einfach umzubringen“, entschied der Anführer. „Sarah, wenn du …“

„Einen Moment mal!“, rief Myra, und diesmal klang sie wütend. „Wir sind jetzt seit zwei Tagen hier und haben nicht auch nur den geringsten Fortschritt gemacht. Eddie pfeift hier wie ein Idiot rum, aber es bringt nichts.“

„Pass auf, was du sagst, Mädchen“, rief eine der anderen Gestalten.

„Ach, halt die Klappe, Eddie“, gab Myra zurück, und ein paar Leute lachten. Offenbar war der Mann namens Eddie öfter das Ziel von Spott. Myra fuhr fort: „Der Punkt ist: Sie sagt, sie kann die Symbolschrift lesen und sie sagt, sie hilft uns. Ich weiß, alle hier misstrauen mir, weil ich mit ihr befreundet war, aber ich weiß, dass sie sich an ihr Wort hält.“

„Das tue ich wirklich“, sagte Laurie schnell, und bekam dafür von Sarah einen Schlag auf den Hinterkopf.

„Du redest nur, wenn du gefragt wirst, klar?“, zischte Sarah. Laurie hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen.

„Wir haben bereits den Stahl- und den Steingiganten“, sagte Anführer Fynch. „Und in beiden Fällen haben wir sie bekommen, ohne die Symbole zu kennen.“

Laurie horchte auf. Sie hatten auch den Steingiganten bereits in ihre Finger bekommen?

Offenbar waren Myra und Sarah ebenfalls davon überrascht, denn Sarah fragte: „Anführer, wann …“

„Vor wenigen Minuten“, gab Fynch kalt zurück. „Unsere Leute an der anderen Ruine haben herausgefunden, wie man die Tür öffnet, wenn auch wieder nur durch mehrfaches Versuchen. Da es die Ruine des Steingiganten sein musste, haben unsere Leute mehrere verschiedene Steine mit verschiedenen Kräften in die Nähe der Tür gebracht. Als sie es mit einem Ewigstein probierten, ging die Tür auf.“

„Das sind gute Neuigkeiten“, sagte Myra schnell, „aber dennoch: Das bedeutet, dass wir in beiden Fällen einfach nur Glück hatten. Glück, das wir hier offenbar nicht haben. Deswegen möchte ich trotzdem vorschlagen, dass sie uns bei der Übersetzung der Symbole hilft. Umbringen können wir sie dann immer noch, wenn es nichts wird.“

„Genauso gut könnten wir auch weiter versuchen, die Tür selbst zu öffnen“, meinte Fynch. „Wir haben viele Jahre warten müssen, da spielt es keine Rolle, ein paar Tage länger zu warten, bis wir die Tür entweder erneut durch Glück aufbekommen oder du, Myra, endlich die Geheimschrift entschlüsselst, die du abfotografiert hast.“

Bei diesem letzten Satz fiel Laurie etwas ein. Sie sah sich noch einmal im Lager um. Doch sie sah nirgendwo das, was sie eigentlich zu sehen erwartet hatte – oder vielmehr, wen sie zu sehen erwartet hatte. Das musste nicht unbedingt etwas heißen, weil es ja offenbar noch ein zweites Lager an der anderen Ruine gab. Und doch konnte Myra nicht umhin zu bemerken, dass hier wirklich jeder ganz in Weiß gekleidet war, wie in einer Art Uniform. Aber Margaret hatte bei dieser einen Person von schwarzer Kleidung gesprochen.

„Das könnte aber beides auch durchaus länger als ein paar Tage dauern“, gab Myra zu bedenken.

„Ein geringer Preis, wenn wir uns dafür nicht auf die Tochter unserer Todfeindin verlassen müssen“, erwiderte Fynch ruhig. „Wir haben keinen Zeitdruck.“

„Ich glaube“, sagte Laurie, und wich Sarahs Schlag aus, „den haben Sie doch.“

Der Anführer wandte sich ihr zu, schlug seine Kapuze zurück und nahm seine Sturmhaube ab. Wenn er darauf gesetzt hatte, Laurie zu schocken, so war ihm das gelungen. Er hatte keine Haare und stattdessen überzog ein Geflecht aus Brandnarben den oberen Teil seines Schädels, ganz so, als habe er mal irgendwann eine ziemlich schlimme Feuerattacke abbekommen. Laurie blickte in ein schmales Gesicht mit steinerner Miene und eiskalten grauen Augen, die sie zu durchbohren schienen. Sie fühlte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten.

„Ist das so, Belford?“, fragte der Mann und legte dabei so viel Hass in Lauries Nachnamen, dass sie fast zusammenzuckte. „Und warum sollten wir den haben?“

„Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre“, sagte Laurie, bemüht, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, „aber ich gehe doch recht in der Annahme, dass Ihre Leute alle immer Weiß tragen?“

Fynchs Gesicht verzerrte sich. „Wagst du es, dich über mich lustig zu machen, Mädchen? Was soll diese Frage?“

„Ich werte das als Ja“, sagte Laurie kühl und wandte sich an Myra. „Als ich euch vorhin belauscht habe, sagtest du nur etwas von diesem Idioten, den ihr angeheuert habt. Aber der andere Typ in der Nacht danach, der gehört doch nicht zu euch?“

Myra schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte sie. „Der gehört nicht zu uns. Warum fragst du?“

„Weil er mir das vorletzte Tagebuch meiner Mutter gestohlen hat“, antwortete Laurie. „Ich dacht eigentlich, dass er zu euch gehört und ihr daher die Geheimschrifttabelle und die Orte kennt.“

Erneut schüttelte Myra den Kopf. „Wir sind an die Geheimschrifttabelle und die Orte der Ruinen gekommen, weil ich sie im Café abfotografiert habe, als du auf der Toilette warst. Du hast mir das mit dem Tagebuch ja gar nicht erzählt.“

„Das heißt“, sagte Laurie, „es ist noch jemand hier, der sich für die Giganten interessiert. Meine Führerin hat mir nämlich erzählt, dass er in Freezedale war und von dort aufgebrochen ist, vermutlich ebenfalls zu den Ruinen. Er hat das vorletzte Tagebuch meiner Mutter gestohlen, also kennt er die Orte der Ruinen und hat auch die Tabelle mit der Geheimschrift. Ich weiß nicht, wer diese Perosn ist – nicht einmal das Geschlecht weiß ich – aber die Person ist offenbar sehr groß, immer schwarz gekleidet und hat einen Buckel.“

Ihre Worte hatten eine starke Wirkung: Einige der Paladine wechselten Blicke und bewegten sich unruhig. Eine Person blickte sich in alle Richtungen um und rief dann dem Krarmor, das in der Nähe im Baum saß, etwas zu. Das Pokémon erhob sich sofort in die Lüfte. Bald kreiste es hoch oben – offenbar überblickte es das Gebiet.

Laurie atmete innerlich auf. Die Reaktionen der Leute verrieten ihr, dass sie die richtige Karte ausgespielt hatte. Für eine kurze Zeit sagte niemand etwas. Fynch schien nachzudenken.

„Anführer“, sagte Sarah schließlich, „das könnte doch …“

„Ich weiß!“, fuhr Fynch ihr über den Mund. Sarah verstummte sofort. Fynch wandte sich an Myra: „Du hast uns von dieser Person nicht berichtet.“

„Das tut mir leid, Anführer“, sagte Myra hastig. „Ich wusste nicht, dass es wichtig war. Laurie hat mir nicht gesagt, was die Person gestohlen hat und ich nahm an, es sei einfach ein anderer Einbrecher gewesen.“

„Es ist überaus wichtig“, meinte Fynch. „Bei dieser Person handelt es sich um einen unserer gefährlichsten Gegner.“

„Das war mir nicht bewusst“, erwiderte Myra.

„Es scheint“, meinte Fynch und setzte seine Sturmhaube wieder auf, „wir sollten in der Tat so schnell wie möglich handeln. Der Schatten ist nur ein einzelner Mann, aber er darf nicht unterschätzt werden. Wenn ihn irgendwer sieht, gilt es, ihn zu liquidieren. Keine Gnade, keine Verhandlungen. Wir werden Wachen am Eingang der Schlucht postieren.“ Er sah Laurie an. „Ich traue dir nicht, kleine Belford, aber anscheinend ist es durchaus sinnvoll, zusammenzuarbeiten. Wenn du uns hilfst und alles vorbei ist, darfst du als Gegenleistung für deine Hilfe gehen. Solltest du uns danach aber noch einmal in die Quere kommen, werden wir keine Gnade kennen.“

„Ich habe noch eine Bedingung“, erwiderte Laurie.

„Eine Bedingung?“, fragte Fynch drohend. Laurie war klar, dass sie ihr Blatt hier nicht überreizen durfte, doch diese Bedingung musste sie stellen. „Das letzte Tagebuch meiner Mutter, das ihr ihr damals abgenommen habt. Ich möchte es zurück.“

„Das ist unmöglich“, sagte Fynch. „Darin könnten wertvolle Informationen stehen.“

„Es wird nichts anderes drinstehen als Informationen zu den Giganten“, sagte Laurie. „Wenn das alles hier vorbei ist, werdet ihr es nicht mehr brauchen. Ich weiß außerdem, dass es ebenfalls in Geheimschrift verfasst ist. Ich kann euch das alles ebenfalls übersetzen, ihr könnt die Übersetzung mitnehmen. Ich will nur das Tagebuch selbst zurück. Und sollten wir diesen Kerl mit dem Buckel schnappen, will ich auch am Ende das Tagebuch, das er mir gestohlen hat.“

„Du verlangst viel“, sagte Fynch.

„Ich bitte nur darum, dass ihr mir die Erinnerungen meiner Mutter zurückgebt, wenn ihr sie ohnehin nicht mehr braucht“, erwiderte Laurie. Ihr Herz klopfte wild. Diesem Mann zu widersprechen war aufregend, aber gleichzeitig auch gefährlich. Vielleicht gefiel ihr aber sogar gerade das.

„Du hast wirklich viel von deiner Mutter“, sagte Fynch, „im Guten wie im Schlechten. Nun gut, ich akzeptiere diese Bedingungen.“

„Danke“, sagte Laurie.

„Sarah“, sagte Fynch. „Du passt auf sie auf.“

Sarah trat nahe an Laurie heran. „Verstanden, Anführer.“

„Einen Augenblick“, sagte Myra. „Anführer, ich glaube, es ist besser, wenn ich sie im Auge behalte. Ich kenne sie, ich werde merken, wenn sie irgendetwas versucht.“

„Und dass du sie kennst, spricht genau gegen dich, Myra“, antwortete Fynch gelassen.

„Anführer, ich kann versichern …“

„Sei still!“, rief Fynch mit einem plötzlichen Anflug von Zorn. Myra verstummte, und Kleffi duckte sich hinter ihr weg.

„Ich treffe diese Entscheidung“, fuhr Fynch fort, „und ich sage, dass Sarah sie bewacht. Verstanden?“

„Selbstverständlich, Anführer“, sagte Myra mit kalter Höflichkeit.

Laurie war sich nicht sicher, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht, dass es nicht Myra war, die sie bewachte. Auf der einen Seite spürte sie immer noch die Wut darüber, dass Myra sie so verraten hatte. Andererseits war es schwer, die Jahre ihrer Freundschaft einfach so zu ignorieren. Laurie wünschte sich beinahe, dass sie einfach wieder mit Myra in einem Café in Score City sitzen und Tee trinken könnte, während sie über dies und jenes plauderten.

„Also“, durchbrach die tiefe Stimme von Fynch Myras Gedankengang, „führe sie zur Tür, Sarah.“

Sarah packte Laurie grob und mit bemerkenswerter Stärke am Arm und zerrte sie fort, in Richtung der Ruine. Sarahs Magnayen folgte ihnen mit gefletschten Zähnen. Es schien ständig bereit zu sein, sich auf Laurie zu stürzen.

Laurie warf kurz einen Bick auf Myra zurück und glaubte für einen Moment Besorgnis in ihrem Gesicht zu sehen. Doch im nächsten Augenblick wirkte Myra einfach nur mürrisch, wie ein Kind, dem man am Abend verboten hatte, lange aufzubleiben. Vielleicht hatte Laurie es sich auch nur eingebildet.

Während Laurie von Sarah zur Ruine geführt wurde, wurde ihr schlagartig wieder bewusst, dass sie nun wirklich ganz auf sich allein gestellt war. Und sie war sich sicher, dass Fynch sich nicht an die Abmachung halten würde. Denn eines stand fest: Er hasste sie und ihre Mutter. Also würde er sie garantiert nicht laufen lassen, sondern … Laurie wollte den Gedanken nicht zu Ende führen.

Es sah ganz so aus, dass sie sich nur etwas Zeit erkauft hatte. Aber sobald sich die Gelegenheit ergab, würde sie fliehen müssen. Sie überlegte, ob Margaret vielleicht noch irgendwo in der Nähe war und ihr helfen konnte. Aber sie hat doch gesagt, dass sie erst einmal ihre eigene Haut rettet, flüsterte eine böse Stimme in ihrem Hinterkopf.

Sie erreichten die Ruine, und Sarah schubste Laurie die Stufen hoch. Oben an der Tür angekommen lehnte Sarah sich gegen eine Säule.

„Dann los“, sagte sie kalt.

Laurie sah auf die Tür. Die Symbole waren von der gleichen Art wie bei der anderen Ruine. Sie griff in ihre Jackentasche, holte ihr Notizbuch, einen Stift und die Tabelle mit den Symbolen und Zahlen hervor und machte sich an die Arbeit.

Hi @Rainbow ! Wie immer vielen lieben Dank für deinen Kommentar, es freut mich wirklich, dass die Geschichte dir Spaß macht!

Zitat von Rainbow

Ich fand das Kapitel wieder sehr interessant! Dieses Mal wurden ja einige Charaktere vorgestellt (bzw. in Myras Fall genauer eingeführt) und ich finde, das hast du richig toll hinbekommen! Einerseits ist die Handlung vorangekommen und andererseits habe ich jetzt gerade bei Sarah eine sehr genaue Vorstellung davon, wie sie drauf ist.

Vielen Dank für das Kompliment - Sarah wird auch im nächsten Kapitel und danach vermutlich auch noch eine Rolle spielen, vielleicht aber wird sie dann nicht mehr ganz so häufig vorkommen, mal sehen. Allerdings hat sie ein bisschen mit einem Punkt zu tun, der noch aufgelöst werden muss.

Zitat von Rainbow

Myra finde ich auch sehr spannend! Du hast es geschafft, dass es bei Lauries erstem richtigem Abenteuer gleich ein sehr persönliches Element gibt, nicht nur wegen Lauries Mutter, sondern auch sehr stark wegen Myra. Das ist so spannend! Ich weiß echt noch nicht, ob Myra jetzt rein antagonistisch drauf ist, oder wie viel ihr Laurie bedeutet und das macht deine Geschichte so aufregend!

Hihi, das wird sich noch zeigen. Aber ich habe da schon eine Vorstellung, worauf es am Ende hinausläuft.

Zitat von Rainbow

Ich bin auch gespannt, ob und falls ja, in welcher Form Margaret nochmal vorkommen wird. Für mich erscheint momentan beides gut möglich: Dass sie weggeht, oder, dass sie doch nochmal wiederkommt (obwohl sie jetzt ja schon sehr weit weggerannt ist).

Ich kann mir gut vorstellen, dass wir von ihr noch nicht das Letzte gesehen haben.

Zitat von Rainbow

Nein, Thrawn! Du musst keine Angst haben! RL ist auch wichtig! Erzähl es nicht weiter, ich habe sogar mehrere Menschen außerhalb des BBs in meinem Leben Konzentrier dich erstmal auf die akuten Sachen, dann wirst du bald wieder Zeit zum Schreiben oder posten haben.

Okay, dann bin ich beruhigt. Grundsätzlich sollte ich erst einmal mit Vielem fertig geworden sein, aber es war die letzten Tage ... stressig. Deswegen habe ich das Kapitel tatsächlich auch erst in den letzten Stunden fertigschreiben können.

Zitat von Rainbow

Ich muss gestehen, ich habe noch keine klare Vermutung. Das kann aber daran liegen, dass ich mich mit den Regis nicht so regigigagut auskenne. Ich habe damals in Pokémon Smaragd auch nicht alleine die Braille-Schrift entschlüsselt, sondern im Internet nachgeschaut, wie ich die fangen kann.

Ich bin auf jeden Fall sehr neugierig, wie das gelöst wird am Ende.

"Regigigagut" ist ein schöner Ausdruck. :D Tatsächlich hat dieser Plotpunkt aber sogar gar nichts mit den Regis zu tun, sondern mit etwas bzw. jemand anderem, hihi.

Wobei ich damals auf meiner Rubin, die meine erste eigene Edition war, auch nicht wirklich von selbst auf irgendwas gekommen bin. Die Siegelkammer habe ich zufllig gefunden und dann einen Freund gefragt, was man tun muss, der hatte aber auch nur unvollständige Informationen, aber er hat mich auf die Spielanleitung verwiesen, wo ja die Übersetzungshilfe drin war. Ich fand das damals echt cool, das so zu lösen und deswegen ist das immer noch eins meiner liebsten Elemente aus den Pokémonspielen. Ich vermisse so etwas in den neuesten Editionen ein bisschen (vielleicht auch ein bisschen mehr als ein bisschen) - ich meine, es war natürlich nicht die große Rätselleistung, das zu entschlüsseln (aber die Spiele sind ja auch für Kinder, wie ich damals noch eins war), aber es hat das Fangen noch einmal wirklich zu etwas Besonderem gemacht und man musste zumindest ein wenig selbst die Dinge herausfinden, anstatt dass einem ein NPC genau sagt, was man zu tun hat. Ach ja ... In Schwert und Schild gab es ja auf den Türen zumindest ein paar kleine Rätsel, aber die waren ja recht offensichtlich (wenngleich ich es grundsätzlich mochte, dass man wieder so etwas in der Richtung hat), weswegen ich hier in der Geschichte auch die Geheimschrift hinzugedichtet habe.

Jedenfalls freut es mich wirklich wie gesagt sehr, dass du die Geschichte magst. Ich muss zugeben, ich habe gar nicht mit dieser Resonanz gerechnet. Nächste Woche kann ich dann sicher auch endlich mal selbst kommentieren. Bis dahin!

Laurie hatte nicht die Absicht, wirklich schnell die Übersetzung der Inschrift aufzuschreiben. Sie ahnte, dass sie in dem Moment, wo sie die Inschrift übersetzt hatte, für die Paladine im Allgemeinen und Fynch im Besonderen Einiges an Wort verlieren würde. Also übersetzte sie zunächst alle Symbole mittels der Tabelle in Zahlen. Da sie die weitere Chiffre beherrschte, konnte sie sofort lesen, was dort stand, aber natürlich wäre es dumm gewesen, das diesen Leuten mitzuteilen. Also kritzelte sie zufällig irgendwelche anderen Zahlen darunter, verband sie mit Pfeilen und schrieb hier und da sinnlose Buchstabenfolgen hin, als ob sie einen Versuch gemacht hätte, ein Wort zu entschlüsseln, nur um dann festzustellen, dass es doch falsch gewesen war. Gelegentlich starrte sie bewusst ins Leere und biss sich dabei auf die Lippe, um den Eindruck zu erwecken, sie würde angestrengt nachdenken. Hin und wieder warf sie einen Blick ins Lager und sah dann meistens, dass die Paladine auch immer wieder zu ihr hochsahen. Myra war nirgends zu sehen – sie war offenbar eingeteilt worden, den Weg ins Lager zu bewachen.

Laurie fragte sich, wer dieser „Schatten“ war, von dem Fynch gesprochen hatte. Offenbar war er ein Feind der Paladine, wie auch Lauries Mutter es gewesen war. Doch während Laurie den Eindruck bekommen hatte, dass die Paladine ihre Mutter – und als Folge davon auch Laurie selbst – einfach abgrundtief hassten, so schien es, als hätten die Paladine vor dem Schatten tatsächlich Angst.

Während Laurie eine 83 auf das Papier kritzelte, dachte sie an das alte Sprichwort „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ – sie zweifelte daran, dass es hier zutraf. Wäre der Schatten jemand, der ihr helfen wollte, dann wäre er sicher nicht in ihr Haus eingebrochen und hätte sie betäubt. Noch immer gruselte es Laurie bei dem Gedanken, dass sie so einfach eingeschlafen war. Es musste irgendeine Pokémonattacke gewesen sein, aber sie hatte kein Pokémon gesehen.

„He!“, riss Sarahs Stimme sie aus ihren Gedanken. „Nicht träumen, übersetzen!“

„Ich denke nach“, gab Laurie zurück.

„Du denkst verdammt viel nach“, meinte Sarah. „Ich dachte, das ginge schneller.“ Sie trat unruhig auf der Stelle.

„Die Verschlüsselung meiner Mutter ist komplex“, erwiderte Sarah. „Es geht nicht ganz ohne Rumprobieren.“

„Ein Jammer. Wenn du das nicht schnell genug hinkriegst, dann hast du für uns keinen Nutzen. Es könnte gut sein, dass Anführer Fynch dich dann doch noch umbringen lässt.“

„So wie du meine Mutter umgebracht hast?“, gab Laurie zurück und starrte Sarah böse an.

Sarah schien einen Moment zu verdutzt, um etwas zu sagen. „Wer sagt, dass ich sie umgebracht habe?“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme hatte einen seltsamen Ton.

„Du warst doch damals zumindest dabei, oder?“, fragte Laurie. „Myra hat das erwähnt, oben bei den Siedlungsruinen.“

Sarah schwieg. Laurie fragte sich, warum sie nie ihre Sturmhaube abzog. War das so bei den Paladinen, dass man das nicht durfte? Aber Myra war länger ohne sie herumgelaufen. Vielleicht wurde es zwar geduldet, aber nicht unbedingt gerne gesehen.

„Ich war dabei“, sagte Sarah langsam, „aber ich habe sie nicht umgebracht.“

„Wer dann?“, fragte Laurie.

„Ich glaube, das weißt du ganz gut“, sagte Sarah.

„Fynch“, vermutete Laurie.

Sarah antwortete nichts darauf, aber Laurie nahm ihr Schweigen als Bestätigung.

„Warum hasst er sie so?“, fragte Laurie. „Warum hasst er mich so?“

„Wegen dem, was sie ihm angetan hat.“

„Was sie ihm … Oh.“ Laurie dachte an die Brandnarben. „Seine Verbrennung – das war meine Mutter?“

„Indirekt.“

„Indirekt?“

„Ja.“

„Was soll das …“

„Ich glaube, das waren genug Fragen von dir“, fiel Sarah ihr harsch ins Wort. „Du hast eine Aufgabe. Führ sie aus.“

Laurie wandte sich wieder dem Papier zu. Wenn ihre Situation nicht so bedrohlich gewesen wäre, dann hätte es sie sicher frustriert, dass sie hier vortäuschen musste, dass sie arbeitete, während sie in Wirklichkeit nur Zeit vertrödelte. Sie hatte vor, bis Abend hier zu sitzen. Wenn es Nacht war, würde sich vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht bieten. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob Fynch wirklich bis morgen auf ihre Übersetzung warten wollte. Sie musste es hoffen.

Als es allmählich schon dunkler wurde, hörte Laurie ein Knurren von Sarahs Magnayen und wusste sofort, wer sich ihnen näherte.

„Hey!“, rief Myras gut gelaunte Stimme. „Und, wie läuft es?“

„Ich dachte, Fynch hätte dir verboten, hier zu sein“, erwiderte Sarah kalt.

„Na ja, er hat streng genommen nur gesagt, dass ich nicht allein auf sie aufpassen darf. Aber wenn du hier bist, ist doch alles in Ordnung, oder?“

Sarah brummte zur Antwort etwas Unverständliches.

„Also, geht es voran?“

„Ich habe ein Wort entschlüsselt“, sagte Laurie. Myra schielte auf ihren Notizblock und las über Kopf stehend das Wort „Erscheine“ unter einer Menge von Zahlen und Pfeilen. Laurie dachte nicht daran, ihr den Block so hinzuhalten, dass sie es besser lesen konnte.

„Hm“, macht Myra, „ich schätze, diese Geheimschrift ist zu hoch für mich. Wie man von diesen ganzen Zahlen auf dieses Wort kommt …“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf.

„Es dauert zu lange“, sagte Sarah. „Wenn der Schatten hier auftaucht …“

„Ach, richtig, der Schatten“, sagte Myra locker. „Vor dem wir ja solche Angst haben.“

„Du hast ihn nie gesehen“, meinte Sarah. „Du weißt nicht, wozu er fähig sein kann.“

Myra zuckte die Achseln. „Erleuchte mich“, sagte sie.

„Nicht vor ihr“, sagte Sarah mürrisch und zeigte auf Laurie. „Das geht sie nichts an.“

„Ah, okay, klar“, sagte Myra. „Hätte mich auch gewundert, wenn dir keine Ausrede einfallen würde.“

„Das ist keine Ausrede. Es geht sie nichts an.“

„Wieso? Was auch immer mit dem Schatten passiert ist, es wird ihr wohl kaum nützen, davon zu hören, oder?“

„Vielleicht habe ich auch einfach keine Lust, dir davon zu erzählen, klar?“, zischte Sarah. „Nerv jemand anderen damit. Oder noch besser: Such den Schatten und finde es selbst heraus. Dann bin ich dich wenigstens los.“

Laurie sah, wie sich Myras Gesicht kurz verfinsterte. Dann lächelte sie wieder. „Vielleicht mache ich das ja“, erwiderte sie. „Aber ich frage mich doch, ob du nicht einfach ein ziemlicher Feigling bist. Ich meine“, sie kratzte sich am Kopf, „was Eddie erzählt hat von … Wann war es noch? Vor drei Nächten?“

„Du …“ Sarahs Stimme war sehr leise und ruhig, doch in Lauries Ohren klang sie jetzt beinahe gefährlicher als die von Fynch. „Du solltest sehr gut aufpassen, was du als Nächstes sagst.“

„Ich meine ja nur, klar kann man auch mal durchdrehen, wenn man halt so ängstlich …“

Sarah schnippte mit den Fingern und ihr Magnayen machte einen Satz auf Myra zu, die sich gerade noch rechtzeitig mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit brachte. Die Fänge des Pokémon schnappten ins Leere.

„Verschwinde“, sagte Sarah, nach wie vor mit dieser ruhigen Stimme. „Oder Greyna reißt sich in Stücke.“

Myra schien ein wenig schneller zu atmen, brachte aber wieder ein Grinsen zustande. „Okay“, meinte sie. „Ich lass euch in Ruhe.“ Sie fügte an Laurie gewandt hinzu: „Ich hoffe, du kommst mit deiner Übersetzung weiter. Vielleicht können wir später ja noch reden. Ich vermisse ehrlich gesagt unsere Gespräche beim Tee.“

„Leck mich“, erwiderte Laurie und schenkte Myra den finstersten Blick, zu dem sie imstande war.

Myra seufzte. „Ihr seid beide wohl gerade nicht besonders zugänglich. Na ja. wie dem auch sei. Bis später.“ Sie winkte und verschwand dann zwischen den Zelten.

„Ich hasse sie“, sagte Sarah.

„Willkommen im Club“, erwiderte Laurie.

„Ich dachte, sie sei deine Freundin?“

„Freundinnen verraten einen nicht“, meinte Laurie düster.

„Hm“, machte Sarah. „Weißt du, ich habe die ganze Zeit insgeheim vermutet, dass ihr zwei zusammenarbeitet. Aber es ist wahr, oder? Sie hat dich verraten, einfach so, ohne mit der Wimper zu zucken.“

„Offensichtlich“, antwortete Laurie kalt.

„Interessant“, meinte Sarah. „Weißt du … Bei uns verrät man sich nicht so leicht.“

„Worauf willst du hinaus?“, fragte Laurie.

„Du könntest beitreten“, sagte Sarah. „Dann könnten wir vielleicht Myra stattdessen loswerden.“

Laurie schnaubte. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Fynch mich nicht unbedingt dabeihaben möchte. Außerdem habe ich auch nicht wirklich Lust, mit den Leuten zusammenzuarbeiten, die meine Mutter auf dem Gewissen haben. Verstehst du?“

Sarah seufzte. „Nun, ja, das war wohl zu erwarten.“

Es trat eine kurze Stille ein, in der Laurie weiter auf ihrem Papier herumkritzelte.

„Da fällt mir ein“, sagte Sarah, „was … was war deine Mutter für ein Mensch?“

Laurie sah auf und starrte Sarah an. Dieser Themenwechsel kam vollkommen aus dem Nichts. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, den Ausdruck in Sarahs Gesicht lesen zu können.

„Wie meinst du das?“, fragte Laurie.

„Nun, ich meine … War sie vielleicht besonders … rachsüchtig?“

„Wie bitte?“, fragte Laurie verdutzt.

„Nun, war sie … besonders nachtragend, jähzornig, leicht reizbar oder etwas in der Art?“

„Ähm“, machte Laurie, „nein, nicht dass ich wüsste. Meine Mutter war eher zu nett manchmal, glaube ich.“

„Aber … uns gegenüber? Ich meine nur, wir waren … Na, du weißt schon.“

Laurie schüttelte den Kopf. „Ich habe die Tagebücher meiner Mutter gelesen. Ihr wart ihre Feinde, aber sie hat euch ja nicht wirklich … gehasst oder so. Zumindest hat sie nie irgendwas in der Richtung aufgeschrieben. Sie wusste, dass sie sich vor euch in Acht nehmen und euch zuvorkommen musste, aber das war alles. Warum fragst du das überhaupt?“

Sarah trat ein wenig unruhig auf der Stelle herum. Es machte auf Laurie den Eindruck von Nervosität.

„Ach“, sagte Sarah schließlich, „wegen nichts. Vergiss es einfach.“ Als Laurie sie nur weiter anstarrte, fügte Sarah mit ihrem früheren harten Tonfall hinzu: „Die Übersetzung. Mach weiter jetzt.“

Laurie gehorchte und wandte sich wieder ihrem Papier zu. Doch nun glaubte sie immer, wenn sie einen Blick Richtung Sarah warf, eine gewisse Unruhe bei ihr zu bemerken – ganz so, als würde sie irgendwie mit sich ringen.

Als es dunkel wurde, kam Fynch mit zwei anderen Paladinen und fragte nach Fortschritten. Laurie hatte weiter so getan, als ob die Übersetzung ungeheuer schwierig und zeitaufwändig sei und zeigte den Paladinen daher nur den ersten Teil, um den Schein zu wahren:

Erscheine an der Seite eines

„Ich dachte eigentlich, du könntest alles ganz einfach und zügig übersetzen“, meinte Fynch, als er den Teil der Inschrift las. Er trug wieder seine Sturmhaube, und seine Stimme klang etwas dumpf durch den Stoff.

„Der Code ist komplex“, erwiderte Laurie bestimmt. „Ich muss teilweise rumprobieren. Aber morgen kann ich sicher den Rest übersetzen.“

Fynch sah sie scharf an, und Laurie hielt seinem Blick stand. Schließlich wandte er sich ab. „Bringt sie in ein Zelt, gebt ihr was zu essen und dann fesselt sie die Nacht über“, sagte er zu seinen Begleitern. „Ich will, dass sie die ganze Nacht von jemandem bewacht wird. Sie übersetzt dann bis morgen Mittag den Rest oder stirbt.“

Laurie schluckte. Das sah nicht gut aus.

„Anführer“, sagte Sarah unvermittelt, „ich … habe ein wenig nachgedacht. Ist es wirklich klug, wenn wir sie umbringen, sofern sie morgen Mittag nicht alles übersetzt hat?“

Fynch drehte sich um. Sarah schien sofort zu bereuen, was sie gesagt hatte. Laurie war verwirrt. Sarah setzte sich für sie ein?

„I-ich meine nur“, sagte Sarah mit schwacher Stimme, „diese Übersetzung ist wirklich wichtig und …“ Sie brach ab.

„Sarah“ erwiderte Fynch ruhig. „Nimm deine Maske ab.“

Sarah gehorchte, schlug ihre Kapuze zurück und nahm die Sturmhaube ab. Zum ersten Mal sah Laurie ihr Gesicht. Sarah war vermutlich Mitte Vierzig, doch durch ihr kurzes schwarzes Haar schienen sich schon erste graue Strähnen zu ziehen. Ihr rundes Gesicht hatte vielleicht irgendwann einmal freundlich gewirkt, doch es wirkte abgehärmt und verkniffen. Laurie schauderte ein wenig, als ihr klar wurde, dass es wohl durch all die Grausamkeit, die Sarah über die Jahre anderen hatte zuteilwerden lassen, geformt worden war. Zugleich allerdings glaubte Laurie, dass sich auch Spuren von etwas anderem abzeichneten – eigenes Leid, eigene Schmerzen. Jetzt, wo Sarah nicht mehr maskiert war, schien es, als wäre auch ein Teil der Kälte und Rücksichtslosigkeit, die sie mitunter gezeigt hatte, von ihr abgefallen. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, ganz so, als hätte sie mehrere Tage lang nicht geschlafen.

„Schlaflosigkeit?“, sprach Fynch Lauries eigenen Gedanken aus. „Wie kommt das nur, Sarah? Immer noch durch diese Halluzinationen?“

„Anführer“, sagte Sarah. „Ich versichere, es hat nichts …“

„Schweig!“, fuhr Fynch ihr über den Mund. Er trat auf Sarah zu und packte sie mit einer Hand an der Kehle. Nicht wirklich effizient, um jemanden zu würgen, wie Laurie wusste, aber als Drohgebärde allemal tauglich.

„Sarah“, sagte Fynch leise, „ich frage mich doch langsam, ob du überhaupt noch in unsere Organisation passt.“

„Anführer“, flüsterte Sarah flehend, „ich versichere euch, ich bin absolut bereit, alles zu tun. Alles, was für unseren Erfolg nötig ist.“

„Das ist gut“, erwiderte Fynch. „Du weißt, was wir sonst mit dir machen müssen.“

Sarah nickte hastig.

„Als Beweis dafür“, sagte Fynch, „wirst du die Ehre haben, das Mädchen umzubringen, wenn es morgen nicht rechtzeitig mit seiner Übersetzung fertig wird. Verstanden?“

Sarah schloss kurz die Augen und nickte erneut.

„Sehr gut“, erwiderte Fynch und ließ Sarah los. Diese schien beinahe ohnmächtig zu werden.

Lauries Blick fiel auf Sarahs Magnayen. Es hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, offenbar vor Angst. Wenn Myra Sarah so angegangen wäre, dann hätte das Magnayen sie zweifellos zerfleischt. Aber bei Fynch …

„Kleine Belford“, sagte Fynch und wandte sich dabei wieder zum Gehen, ohne Laurie auch nur noch einmal anzusehen, „du solltest ebenso nicht vergessen, was dich morgen erwarten könnte.“

Hi @Rainbow !

Zitat von Rainbow

Ich freue mich echt immer so über neue Kapitel von Die Legende der Giganten.

Du machst mich ganz verlegen. Aber danke, es freut mich wirklich, dass dir die Geschichte gefällt!

Zitat von Rainbow

Jetzt ist mir aufgefallen, was mich persönlich an deiner Geschichte anspricht! Einerseits hast du zeitgemäße und interessante Charaktere, zu denen ich gerne Geschichten lese, aber andererseits sind bei dir die Tropen aus Mystery-Romanen wie von Dan Brown und Agenten-Geschichten wie James Bond auf eine Art vermischt, die für mich, gerade vor dem Hintergrund einer Pokémon-Geschichte, total unvorhersehbar und aufregend wirkt!

Das ist mir gerade, als du hier Anführer Fynch eingeführt hast, total klar geworden! Der Typ ist ja irre gruselig, und das bereits nach nichtmal einem ganzen Kapitel, in dem er auftaucht.
Du hast das echt drauf, Figuren sehr prägnant zu beschreiben, sodass man schnell ein klares Bild von ihnen vor Augen hat, finde ich.

Ich glaube ja, eine beständige unterbewusste Inspirationsquelle war auch der Tomb-Raider-Film von 2018 - den habe ich kurz vor dem Schreiben des ersten Kapitels gesehen und mir sind mittlerweile so einige Parallelen aufgefallen. Eigentlich ist Lauries Name da ja schon sehr bezeichnend, hust.

Ich finde Fynch auch gruselig. Vielleicht wird er hier im neuen Kapitel sogar noch ein wenig gruseliger. Aber ma schauen, ob er damit davonkommt ...

Zitat von Rainbow

Eddie Spin-Off when?

Solche kleinen Einschübe machen bei dir alles so lebendig. Das sind ja nur zwei kleine Sätze, aber durch sie wirkt die ganze Situation gleich wieder menschlicher und realistischer. Auch in bösen Geheimorganisationen arbeiten relativ normale Menschen mit ihren eigenen Sozialstrukturen.

Hihi. Das war auhc ein bisschen der Versuch, den Humor vom Anfang wieder ein wenig reinzubringen. Vielleicht mache ich wirklich mal ein kleines Spin-Off mit dem lieben Eddie. Ist vielleicht was für den April oder so.

Zitat von Rainbow

Der Schatten! Jetzt hat der auch noch so einen coolen Namen bekommen! Ich frage mich, ob das wirklich ein großer Mensch mit einem Buckel ist, oder ob da noch irgendwie ein Pokémon als Schutz mit dranhängt oder so. Aber da lasse ich mich einfach überraschen.

Ich war mir ja bei seinem Namen total unsicher, ob er nicht zu 0815 ist. Aber irgendwie hat sich dieser Name richtig angefühlt, also habe ich ihn genommen. Umso mehr freut es mich, dass der Name dir gefällt.

Wenn du dich überraschen lassen willst, kann ich auf die Vermutung natürlich nicht antworten.

Zitat von Rainbow

Ah, alles klar! Ich bin echt gespannt, worauf das alles hinausläuft am Ende

Ein kleines Puzzleteil ist da vielleicht im aktuellen Kapitel zu finden - aber es ist nach wie vor noch eher unklar, hihi.

Zitat von Rainbow

Ja, die Rätsel waren schon wirklich interessant. Der schwerste Teil war, dass man die Siegelkammer erstmal zwischen all den Strömungen finden musste, wenn man vorher nicht wusste, dass sie existiert.

Bei mir war es etwas ähnlich, ich habe die ganze Zeit nach Rayquaza gesucht. Ich wusste, dass es existiert von einer Seite namens pokedex.de oder so (die wahrscheinlich gar nicht mehr existiert), aber dort stand nur "Fundort: Himmelsturm". Ich bin in Rubin so lange durch die Region gezogen, bis ich am Ende durch Online-Recherche erfahren hatte, wo genau man dafür entlangsurfen muss.

Die Welt der Pokémon-Spiele wirkt schon immer etwas größer, wenn hier und da ein paar Sachen einfach versteckt sind und nicht so an die große Glocke gehängt werden.

Die Siegelkammer habe ich ja sogar selbst noch gefunden - auch wenn es ewig gedauert hat, bis ich so durch die Strömungen kam, dass ich auch an der richtigen Stelle war, weil ich die Tiefe bis dahin nur im Vorbeisurfen gesehen habe und dann unbedingt wissen wollte, wohin mich ein Tauchgang an der Stelle führt (weil das Tauchen ja auch generell immer so spannend war), aber halt nicht wusste, wie ich durch die Strömungen surfen muss, um da hinzukommen. Dann bin ich sogar noch darauf gekommen, vor der Unterwasserinschrift aufzutauchen und war somit im ersten Raum der Siegelkammer, aber danach wusste ich nicht mehr, was zu tun war. Da musste mir dann ein Freund bzw. die Übersetzung helfen. :D

Ach ja, der Himmelturm ... Da ist mir wenigstens auf dem Schulhof gesagt worden, wo ich in etwa hinmuss, also dass es kurz vor Flossbrunn ist. Aber ich Grobmotoriker habe dann wieder lange gebraucht, bis ich mit dem Eilrad an die Spitze kam. Dieses letzte Stück, wo man auf den mittleren brüchigen Bodenstellen einbrechen muss war damals irgendwie eine Riesenherausforderung für mich, urks.

Aber ja, die Welt wirkt wirklich viel größer, wenn die Sachen so ein bisschen versteckt sind. Dann gibt es immer noch so viel, was man überraschend entdecken kann!

Abschließend natürlich wie immer ein großes Danke für den Kommentar!

Alles in allem war ihre Situation nicht allzu schlecht, dachte Laurie, als sie auf dem Boden des Zeltes lag und darauf wartete, dass ihre Wache einschlief. Sie selbst hatte schon lange die Augen geschlossen und atmete tief, als würde sie schlafen.

Man hatte ihr erst die Füße gefesselt, ihr dann die Hände vor dem Körper verbunden und sie anschließend aufgefordert, in einen Schlafsack zu kriechen, dessen Reißverschluss dann zugemacht worden war, um ein weiteres Seil um ihn herum zu binden. Laurie war aber relativ zuversichtlich, dass sie sich daraus würde befreien können, auch wenn sie sich im Moment wie eine Roulade fühlte. Sie hatte beim Fesseln die Muskeln angespannt und sich so breit gemacht wie möglich gemacht, und das Seil um ihren Schlafsack sollte daher locker genug sitzen, dass sie sich mit ein wenig Mühe herauswinden könnte. Der Rest danach sollte einfach sein – wenn denn ihre Wache keine Probleme bereitete.

Laurie öffnete ihre Augenlider einen winzigen Spalt und spähte zu dem Paladin herüber, der neben ihr im Schneidersitz auf dem Zeltboden saß. Manchmal glaubte sie, dass die Augen, die sie in der weißen Sturmhaube ausmachen konnte, für mehrere Sekunden zufielen. Nach allem, was Laurie wusste, waren die Paladine schon seit Tagen hier und hatten zweifellos auch abwechselnd Nachtwache halten müssen. Es wäre keineswegs verwunderlich, wenn das bei mehreren von ihnen zu Übermüdung geführt hatte. Wahrscheinlich hatten sie auch keine Pokémon dabei, die über eine Fähigkeit wie Insomnia oder Munterkeit verfügten – zumindest hatte sie tagsüber keine gesehen.

Schließlich sackte der Kopf des Paladins ein Stück zur Seite, und er fing an, tief zu atmen und schließlich zu schnarchen. Laurie wartete noch ein paar Minuten, dann fing sie langsam an, sich in ihrem Schlafsack hin und her zu bewegen. Es war mühsam und sie musste leise sein, damit der Paladin nicht doch noch aufwachte, doch es gelang ihr mit der Zeit, sich aus dem Schlafsack herauszubewegen. Sobald sie weit genug raus war, dass das Seil nicht mehr um ihren Oberkörper gewickelt war, ging es leichter. Nach ein paar Minuten war sie frei – zumindest musste sie jetzt nur noch die Fesseln an Händen und Füßen loswerden.

Laurie rutschte vorsichtig zur Ecke des Zelts, in der ihr Rucksack und ihre Schneejacke lagen, und kramte in der Tasche ihrer Jacke herum, bis sie Glaceys Pokéball fand. Sie öffnete ihn so leise, wie es möglich war und legte direkt einen Finger an die Lippen, als Glacey erschien. Glacey verstand, auch wenn sie einigermaßen verwirrt aussah und natürlich nicht wusste, was in der Zwischenzeit alles passiert war.

Laurie hielt Glacey ihre gefesselten Hände hin. „Durchbeißen“, flüsterte sie und Glacey fing an, an dem Seil herumzunagen. Nach kurzer Zeit war Laurie frei.

Sie wollte gerade das Seil um ihre Füße lockern, als ihr Blick auf den Paladin fiel. Er hatte die Augen geöffnet und starrte sie an.

„Ähm“, sagte Laurie und lächelte schwach, „das ist nur ein Traum …“

Der Paladin griff sofort zu seiner Hüfte, wo zwei Pokébälle an seiner Jacke hingen. Laurie sprang und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht auf den Paladin. Sie fielen beide zu Boden und Laurie presste ihm die Hand auf den Mund, sodass er nicht schreien konnte. Als Antwort traf sie ein Ellenbogen in die Magengegend und sie schnappte nach Luft. Es gelang ihr aber, sich ein wenig hinter den Paladin zu schieben und dabei ihren freien Arm um seinen Hals zu schlingen, auch wenn ihr Gegner versuchte, ihn mit beiden Händen wegzuziehen. Laurie nahm ihre Hand von seinem Mund und verstärkte ihren Würgegriff damit – nun bekam er ohnehin nicht mehr genug Luft, um zu schreien, sondern zappelte nur noch und versuchte, sich zu befreien, doch offenbar war er nicht wirklich geschult darin, wie man sich am besten aus einem Würger befreite. Schließlich wurden seine Bewegungen langsamer und hörten ganz auf.

Laurie ließ den Paladin los. Sie keuchte vor Anstrengung. Hoffentlich hatte sie ihn nicht umgebracht und er war nur ohnmächtig geworden. Aber sie hatte keine Zeit, sich lange darum zu kümmern, sondern knotete hastig das Seil um ihre Füße auf, schlüpfte in ihre Jacke und griff nach ihrem Rucksack.

Sie spähte aus dem Zelteingang heraus. Es war niemand zu sehen.

„Komm!“, flüsterte sie Glacey zu und zusammen verließen sie das Zelt.

Es war bewölkt in dieser Nacht, und vereinzelter Schnee ging über dem Lager nieder. Zugleich schien aber auch der Mond durch ein Loch in den Wolken und spendete ein wenig Licht.

Als Laurie zwischen den Zelten herschlich, knirschte Schnee zwischen ihren Füßen, und die kalte Nachtluft brannte auf ihren Wangen. Laurie hoffte inständig, dass sie die Wachen, die den Eingang zum Lager bewachten, würde ausschalten können. Danach müsste sie natürlich noch nach Freezedale zurück, was sie mindestens zwei Tage kosten würde – und selbst dann würde sie nicht wirklich in Sicherheit sein. Wahrscheinlich würde sie das nie mehr sein, jetzt, wo sie den Paladinen Ärger gemacht hatte. Wussten sie, wo sie wohnte? Vermutlich – wenn sie es nicht ohnehin schon lange wussten, hatte Myra ihnen sicher alles über Laurie erzählt. Sie konnte nicht mehr nach Hause zurück. Außerdem hatte sie es nicht geschafft, die Paladine aufzuhalten. Aber zumindest war sie am Leben.

Als Laurie sich dem Ende des Zeltlagers näherte, sah sie vor sich zwei Gestalten. Sie versteckte sich schnell hinter einem Zelt und spähte um dessen Seite herum. Sie erkannte die kleinere, schwarze Gestalt vor sich: Es war Greyna. Also war die andere Person sicher Sarah.

Laurie erinnerte sich daran, dass Fynch gemeint hatte, Sarah leide unter Schlaflosigkeit. Konnte sie diese Nacht also wieder nicht schlafen? Oder war sie für die Wache eingeteilt?

Im nächsten Moment sah Laurie noch etwas anderes, weiter vorne: Ein Leuchten. Ein Leuchten, wie Laurie es selbst in jener Nacht gesehen hatte, als sie mit Margaret im Schneesturm campiert hatte. Das Leuchten kam näher.

Sarah fiel auf die Knie. „Es ist wieder da, Greyna“, hörte Laurie Sarah sagen. „Sie ist wieder da.“ Das Magnayen ging zu ihr und schmiegte sich an sie, wie zum Trost.

„Ich war es nicht“, sagte Sarah. Sie klang verzweifelt, und sie hielt sich den Kopf, während sie leicht vor und zurück wippte. „Ich war es nicht. Ich war es nicht.“ Sie hörte sich an, als würde sie weinen.

Noch während Laurie die seltsame Szenerie beobachtete, erstarb das seltsame Leuchten. Sarah hörte auf zu schluchzen. Für einen Moment kniete sie im Schnee, dann stand sie ruckartig auf.

„Nein!“, rief sie so laut, dass Laurie zusammenzuckte. „Du! Du steckst dahinter!“

Laurie wusste zuerst nicht, was Sarah meinte. Dann sah sie es jedoch: Aus der Dunkelheit schälte sich langsam eine weitere Gestalt heraus. Sie war groß, ganz in Schwarz gekleidet, und hatte offenbar einen Buckel. Laurie unterdrückte ein Keuchen.

Es war der Schatten.

Sofort änderte sich das Verhalten von Sarahs Magnayen. Es stellte sich schützend vor seine Trainerin und knurrte wütend.

„Greyna“, sagte Sarah mit kalter Stimme. „Brüller.“

Laurie musste sich die Ohren zuhalten, denn das Brüllen, das das Magnayen losließ, war ohrenbetäubend. Im Nächsten Moment gingen in einigen der Zelte um Laurie herum offenbar Taschenlampen an. Leute riefen durcheinander. Sie würden sie entdecken!

Laurie rannte weg von den Zelten und suchte nach einem Versteck. Sie entdeckte einen etwa hüfthohen schneebedeckten Felsen und kauerte sich hinter ihm zusammen. Sie rief Glacey in ihren Pokéball zurück – der Felsen war nicht besonders breit und reichte daher nicht wirklich aus, um sie beide zu verdecken.

Von hier aus sah Laurie, wie die Paladine aus ihren Zelten stürmten, während Greyna und Sarah sich bereits im Kampf mit dem Schatten befanden: Das Magnayen sprang auf den Schatten zu und schnappte nach ihm, doch der Schatten wich aus und trat Greyna in die Seite. Das Magnayen flog ein paar Meter weit und blieb liegen. Laurie erinnerte sich schmerzhaft daran, wie der Schatten Glacey getreten hatte. Sarah schrie wütend auf und stürmte auf den Schatten los, der jedoch mit geradezu spielerischer Leichtigkeit ihren Schlägen und Tritten auswich. Offenbar konnte Sarah durchaus kämpfen, doch der Schatten schien ihr über zu sein. Er packte einen ihrer Arme, zog ihre Deckung auf und schlug ihr blitzschnell mehrmals mit der flachen Hand ins Gesicht. Sarah taumelte und ging schließlich zu Boden. Sie versuchte sich aufzurappeln und stützte sich auf ein Knie, doch im nächsten Moment kippte sie zur Seite weg und blieb diesmal liegen.

Laurie runzelte die Stirn. Die Schläge waren heftig gewesen, hätten Sarah aber eigentlich nicht ausknocken dürfen. Dann dachte sie daran, dass sie selbst einfach so das Bewusstsein verloren hatte, als der Schatten bei ihr eingebrochen war. Was machte er, dass die Leute in seiner Nähe einfach einschliefen?

Die Paladine hatten sich mittlerweile vor dem Zeltlager versammelt. Diverse Pokémon waren hervorgerufen worden. Der Schatten hatte nicht weniger als eine kleine Armee gegen sich.

Einer der Paladine trat vor. Es war Fynch. „Es war ein Fehler, hierherzukommen“, sagte er ruhig. „Wir regeln das jetzt, ein für alle Mal.“

Der Schatten sagte nichts. Er stand einfach nur da, während Fynch einen Pokéball zog und durch die Luft warf. Ein großes, dreiköpfiges Pokémon brach daraus hervor – ein Trikephalo, wie Laurie erkannte. Diese Pokémonart war nicht nur stark, sondern auch grausam und äußerst brutal.

Fynch schien nicht einmal etwas sagen zu müssen. Das Trikephalo brüllte laut und spie im nächsten Moment aus allen seinen Mäulern Flammen, die in geraden Stößen auf den Schatten niedergingen. Dieser sprang zur Seite, rollte sich ab, kam wieder hoch und wich erneut einem Feuerstoß aus, so schnell, dass Laurie es kaum glauben konnte. Obwohl drei verschiedene Köpfe Feuer nach ihm spuckten, wurde er nicht getroffen. Allerdings konnte er auch keinen Gegenangriff starten – es war eine Sache, einem Magnayen in die Seite zu treten, aber ein Mensch konnte unmöglich gegen ein großes Trikephalo bestehen, egal wie schnell oder stark er war.

Doch der Schatten schien auch gar nicht daran zu denken, sich dem Pokémon zu nähern. Stattdessen bewegte er sich in die Nähe der Zelte und Laurie wurde klar, was er vorhatte. Wieder wurde er von einem Flammenwurf verfehlt, der allerdings ein Zelt traf und es in Brand setzte. Die Flammen schlugen schnell auf die nebenstehenden Zelte über.

„Aufhören!“, schrie Fynch seinem Pokémon zu und es gehorchte. Der Schatten stand nun inmitten der brennenden Zelte, eine schwarze Gestalt in einem flammenden Inferno.

„Löschen!“, bellte Fynch. Die Paladine stürmten vor und schippten gemeinsam mit ihren Pokémon Schnee in die Flammen. Ein Quappo schoss Wasserstrahlen auf die Zelte. Wahrscheinlich würden sie das Feuer löschen können, bevor es alle Zelte verschlang, aber die Hälfte war bereits in Flammen aufgegangen.

Laurie starrte gebannt auf das Geschehen und sah, wie Fynch durch das Feuer auf den Schatten zuschritt, dicht gefolgt von seinem Pokémon. Der Schatten wich zurück.

„Du kannst nicht gewinnen“, hörte Laurie Fynchs Stimme über das Rauschen der Flammen und die Bemühungen der anderen Paladine, das Feuer zu löschen. „Die Giganten gehören uns und du wirst für all die Schwierigkeiten bezahlen, die du uns gemacht hast.“

Der Schatten drehte sich um und rannte davon, zwischen die Zelte und weg von Fynch. Fynch lachte auf eine Art, die Laurie das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es klang seltsam freudlos, grausam und geradezu wahnsinnig. „Lauf nur!“, rief Fynch dem Schatten hinterher. „Irgendwann kriege ich dich!“

Fynch machte sich nicht die Mühe, den Schatten zu verfolgen, der wahrscheinlich in all dem Chaos entkommen würde. Stattdessen ging Fynch zu seinen Leuten, die weiter das Feuer bekämpften.

Während Laurie noch das Geschehen beobachtete, legte sich plötzlich von hinten eine Hand auf ihren Mund. Sie stieß einen Schrei aus, der von der Hand erstickt wurde und versuchte sofort, sich freizukämpfen.

„Scht!“, zischte eine vertraute Stimme in ihrem Ohr. „Bitte, Laurie, sei still! Ich lass dich jetzt los, okay?“

Die Person nahm die Hand von ihrem Gesicht und Laurie drehte sich sofort um. Sie starrte in das Gesicht von Myra.

„Was …“, fing Laurie an, doch bevor sie wirklich etwas sagen konnte, zog Myra sie in eine feste Umarmung. „Laurie“, flüsterte Myra, und es klang, als sei sie den Tränen nahe, „es tut mir so leid!“

Laurie verstand die Welt nicht mehr.

„Myra“, murmelte sie, „was ist los, ich …“

„Sie hätten dich umgebracht, Laurie!“, sagte Myra, ohne auf sie einzugehen. „Ich wollte nicht, dass du … Aber es war die einzige Möglichkeit. Oben bei den Ruinen hat Greyna euch schon gewittert, ich habe gesehen, wie es in der Luft rumgeschnüffelt hat. Und ich habe die Fußspuren und dich durch das Loch in der Mauer gesehen … Ich wusste, wenn ich nicht … Ich musste es irgendwie so drehen, dass sie keinen Verdacht schöpfen und ich dich trotzdem schützen kann, aber …“

Sie löste sich von Laurie und sah sie hilflos an. Die spöttische Kälte, die sie gestern den ganzen Tag gezeigt hatte, war von ihr abgefallen. „Es tut mir wirklich so unfassbar leid“, sagte Myra noch einmal.

„Es … Es ist alles okay“, sagte Laurie langsam, während sie das verarbeitete, was Myra gerade gesagt hatte. „Ich verstehe nur nicht … Was … Warum bist du hier? Was machst …“

Myra unterbrach sie: „Ich werde dir alles erklären, Laurie“, sagte sie und sah sich um. „Aber wir müssen erst einmal hier weg. Alle sind gerade abgelenkt, eine bessere Möglichkeit gibt es nicht. Die Sache ist zu gefährlich geworden. Ich weiß, das ist nach gestern wirklich zu viel verlangt, aber kannst du mir vertrauen?“

Laurie zögerte für einen Moment. „Ja“, sagte sie dann, „das kann ich.“

„Gut“, sagte Myra und lächelte schwach, „dann lass uns verschwinden.“ Sie nahm Lauries Hand und wollte sie mit sich ziehen, doch Laurie rührte sich nicht. Ihr war etwas eingefallen.

„Laurie, wir müssen wirklich hier weg“, sagte Myra eindringlich.

Laurie schüttelte den Kopf. „Der Eisgigant“, sagte sie. „Wir müssen verhindern, dass sie ihn in die Finger bekommen.“

„Sie wissen doch nicht, wie sie die Tür aufbekommen können“, sagte Myra. „Sie werden ihn nicht fangen können.“

„Sie werden es herausfinden“, erwiderte Laurie. „Irgendwann. Es ist nicht so schwierig.“

Myra sah sie für einen Moment an. „Du weißt, wie man die Tür aufbekommt?“, fragte sie. „Du hast die Zeichen übersetzen können?“

Laurie nickte. „Die Botschaft auf der Tür lautet: ‚Erscheine an der Seite eines lebendigen Schneekristalls.‘ Und das kann nur eins bedeuten …“

„Ein Frigometri“, hauchte Myra. „Wir brauchen nur ein Frigometri, und die Tür geht auf.“

Laurie nickte. „Wenn sie irgendwann einfach Dinge ausprobieren, die mit dem Eistyp zusammenhängen, werden sie früher oder später die Tür aufbekommen. Wie du sagst, gerade sind alle abgelenkt. Wenn wir vorher zu dem Eisgiganten kommen, können wir vielleicht verhindern, dass er ihnen in die Finger fällt.“

„Aber wir haben kein Frigometri“, sagte Myra. „Das heißt …“ Sie biss sich auf die Lippe. „Ich kann eins über das Pokémon-Lagerungssystem bekommen.“ Sie schien noch eine Sekunde mit sich zu ringen, dann seufzte sie. „Okay“, sagte sie. „Ziehen wir es durch. Aber wir müssen uns beeilen.“

Hallo @Rainbow ! Wie immer habe ich mich natürlich sehr über deinen Kommentar gefreut - es ist immer wieder ein Highlight in der Woche, einen Kommentar von dir zu sehen.

Zitat von Rainbow

Du hast es geschafft, dass Sarah innerhalb eines Kapitels von der typischen Handlangerin zu einer der interessantesten Figuren geworden ist! Reife Leistung!

Jetzt hast du noch eine Sache eingeführt, die in der Geschichte wohl richtig geklärt werden wird, nämlich was genau zwischen Lauries Mutter und den Paladinen vorgefallen ist. Das war ja scheinbar wesentlich komplexer, als nur, dass sie gegeneinander gekämpft haben und ihre Mutter getötet wurde

Hihi. Sarah wird auch noch ein wenig was zu tun haben. Aber mal schauen.

Ein bisschen komplexer vielleicht - das heißt, eigentlich geht es nur um ein paar Details, wie eine bestimmte Auseinandersetzung genau abgelaufen ist. Ich muss da aber noch schauen, wo und wie genau ich das einbaue - habe da einen groben Plan, aber mal gucken. Letzten Endes ist die Geschichte ja nur so halb geplottet und vieles ist spontan.

Zitat von Rainbow

Arme Sarah! Schlaflosigkeit sollte niemand haben müssen! Das wird jede Person bestätigen, die mal nicht einschlafen konnte. Ich will auf jeden Fall wissen, wie es mit Laurie, Sarah und Myra weitergehen wird. Das kann sich in der momentanen Situation bis zum Ende der Geschichte noch in alle möglichen Richtungen entwickeln.

Ich habe ungefähr eine Idee, wo es hingehen soll - aber ja, noch ist da Vieles offen. Aber das neue Kapitel impliziert ja auch, dass Sarah nicht ganz so kalt ist, wie sich zunächst gegeben hat.

Zitat von Rainbow

Wieso fällt mir das mit Lauries Namen eigentlich jetzt erst auf... Stimmt, das habe ich total übersehen! Aber der Film ist ja auch cool, und du hast da echt was eigenes draus gemacht.

Hihi. Ja, ich brauchte einen Namen und habe dann einfach so eine Variante genommen. Bzw. ist ihr eigentlicher Name ja Laurinda, aber Laurie ist kürzer.

Zitat von Rainbow

Der ist schon echt gruselig (und sorgt für ein schlechtes Betriebsklima bei den Paladinen!)

Ich bin mal sehr gespannt, worauf es bei ihm hinauslaufen wird. Wenn er sich weiter so aufführt, weiß ich nicht, ob er davon kommt, von Laurie bestraft wird, vom Schatten oder von Sarah/anderen Paladinen. Der sollte mal ein Seminar für Führungskräfte besuchen, bevor es zu spät ist!

Tja, er ist kein Thrawn, soviel steht fest. Tatsächlich weiß ich aber immer noch nicht ganz, wer sich am Ende um ihn kümmern soll (also, wenn es darauf hinausläuft) - wobei eine bestimmte Person da vielleicht am ehesten die "Ehre" haben sollte.

Zitat von Rainbow

Ich arbeite tatsächlich auch gerade an einer verrückteren und comedy-hafteren Story für den ersten April. Also, was auch immer ich da posten werde, du weißt, dass es kein Trollversuch ist.

Oha, dann habe ich ja schon mal etwas, auf das ich mich am ersten April freuen kann, haha.

Zitat von Rainbow

Nein, natürlich erwarte ich keine Antwort und will mich ja auch überraschen lassen. Ich schreibe meine Vermutungen aber immer auf, damit du weißt, was deiner Leserschaft beim Rezipieren deines Texts so durch den Kopf geht.

Es freut mich ja auch immer, solche Vermutungen zu lesen - und ich schreibe sie auch gerne bei Geschichten von anderen auf, gerade wenn da noch Dinge angedeutet werden, die erst später aufgelöst werden. Manchmal trifft man mit so was ja auch ins Schwarze, haha.

Zitat von Rainbow

Ich war damals den ganzen Tag nur auf dem Fahrrad in diesem Turm unterwegs. Und dann habe ich noch einen ganzen Tag voller Versuche gebraucht, um Rayquaza endlich zu fangen #PokemonMaster

Haha, das ging mir ganz ähnlich. Aber durch so was mussten wir wohl alle irgendwann mal durch. Und dadurch, nie so genau zu wissen, wie "Rayquaza" ausgesprochen wird, zumindest ging das mir so, hust.

Auch heute natürlich wieder abschließend ein großes Danke für deinen Kommentar - wie gesagt freut es mich immer total, eine Antwort von dir zu sehen!

Noch immer riefen die Paladine durcheinander und bemühten sich, die letzten Flammen des Feuers zu löschen. Wenn sie damit fertig waren, würden sie bestimmt erst einmal prüfen, welcher Schaden insgesamt entstanden war. Danach würde es aber sicher nicht lange dauern, bis jemand an Laurie dachte oder bemerkte, dass Myra nicht da war.

Während Laurie und Myra sich zum Tempel schlichen, tippte Myra in ihr Smart-Rotom.

„Ich schreibe meinem Kontakt, dass er mir ein Frigometri in meine Box schicken soll“, erklärte sie leise.

„Ist der denn um die Zeit wach?“, fragte Laurie.

„Er wird wach werden“, antwortete Myra.

Am Tempel angekommen zog Myra eine Pokémon-Box aus der Tasche ihres Schneeanzugs – eines dieser praktischen kleinen mobilen Geräte, das den Zugriff auf alle gefangenen Pokémon gewährte. Laurie hatte aber keins, weil sie außer Glacey ohnehin keine Pokémon trainierte.

Ein Superball materialisierte sich in der Box. Myra zog ihn heraus und befreite das Pokémon. Es war tatsächlich ein Frigometri – ein Pokémon, das wie eine sehr große Schneeflocke mit einem finster dreinblickenden Gesicht aussah.

Kaum, dass Myra das Pokémon befreit hatte, ertönte ein lautes Knirschen. Die Tür des Tempels öffnete sich, indem ihre beiden steinernen Hälften sich auseinanderschoben.

„Es hat funktioniert“, hauchte Laurie, als die Tür offen war.

Myra rief das Frigometri zurück und steckte den Ball wieder in die kleine Box, die sie anschließend in ihrer Jackentasche verstaute.

„Wir haben nicht viel Zeit“, sagte Myra und zog eine Taschenlampe hervor. „Los!“

Sie liefen schnell die Stufen im Inneren des Tempels hinauf und gelangten in einen Raum, der genauso aussah wie der im Tempel des Stahlgiganten – mit dem Unterschied, dass die kreisförmigen Platten auf dem Boden, die es auch hier gab, in einem anderen Muster angeordnet waren. Wie beim Tempel des Stahlgiganten entsprach dieses auch hier dem Muster auf dem Vordach des Tempels – diesmal war es eben eine lange horizontale Linie von fünf Punkten, bei der über und unter dem mittleren Punkt jeweils noch ein weiterer war. Davon ab sah der Raum gleich aus – auch hier gab es gegenüber dem Eingang eine ungefähr humanoide Statue.

„Okay“, sagte Laurie, „wir müssen irgendwie verhindern, dass der Eisgigant erweckt werden kann. Ich dachte, die Statue hätte etwas mit ihm zu tun. Wenn wir sie zerstören …“

Sie sah, dass Myra den Kopf schüttelte, und brach ab.

„Die Statue ist massiv“, erwiderte Myra. „Aber …“ Sie zeigte auf eine der Bodenplatten. „Es ist so: Wenn du auf eine dieser Platten trittst, fängt sie an zu leuchten. Das war beim Stahlgiganten so und als wir alle Platten auf die Art aktiviert hatten, ist er erschienen. Nachdem wir ihn gefangen haben, leuchteten die Platten nicht mehr. Ich nehme an, dass dahinter irgendein Mechanismus steckt, der die Giganten aufweckt. Wenn wir also mindestens eine dieser Platten so beschädigen, dass dieser Mechanismus nicht mehr funktioniert, dann sollten wir eigentlich schon dafür gesorgt haben, dass der Eisgigant den Paladinen nicht mehr in die Hände fällt.“ Sie sah Laurie an. „Natürlich bedeutet das auch, dass wohl niemand mehr den Eisgiganten erwecken kann und er für immer hier weggesperrt ist. Aber wenn es um das Schicksal der Welt geht …“ Sie seufzte. „Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich vielleicht versuchen, den Eisgiganten zu fangen und ihn an einen sichereren Ort zu bringen, aber so …“

Laurie nickte. „Es gibt keinen anderen Weg, um sie aufzuhalten.“

„Gut, dann los“, sagte Myra und rief Kleffi aus seinem Pokéball hervor. „Versuchen wir es. Kleffi, Licht…“

Sie kam nicht dazu, den Befehl voll auszusprechen. Laurie sah nur, wie ein dunkelvioletter Strahl Myra traf und sie von den Füßen riss. Sie wurde durch die Luft geschleudert und landete einige Meter weiter auf dem Boden, wo sie sich beide Hände auf den Kopf drückte und wie wild zu schreien begann, als hätte sie unvorstellbare Schmerzen.

Laurie rannte schnell zu ihr und kniete neben ihr nieder.

„Myra!“, rief sie und versuchte ihre Freundin ruhig zu halten. Sie zappelte unkontrolliert auf dem Boden herum, und ihre Augen huschten wild umher, ohne wirklich etwas zu sehen. Kleffi schwebte unruhig über Myras Kopf und klirrte besorgt mit seinen Schlüsseln.

„Kein Grund zur Beunruhigung“, sagte eine kalte Stimme hinter Laurie.

Sie drehte sich zum Eingang um und sah Fynch dort stehen. Neben ihm schwebte sein Trikephalo.

Blitzschnell befreite Laurie Glacey aus ihrem Pokéball. Im Vergleich zu dem großen Trikephalo wirkte das Glaziola geradezu winzig, doch es stellte sich direkt tapfer zwischen Laurie und Fynch.

Lauries Herz klopfte wild. „Was haben Sie getan?“, fragte sie Fynch. Ihre Stimme zitterte. Was war das für eine Attacke gewesen? Was hatte sie mit Myra gemacht?

Fynchs Mund kräuselte sich zu einem grausamen Lächeln. „Wie ich schon sagte, gibt es keinen Grund zur Beunruhigung“, meinte er gelassen. „Die Auswirkungen einer Finsteraura meines Trikephalo auf den menschlichen Verstand sind … unangenehm, aber das geht vorbei. Zumindest bei erstmaligem Einsatz. Nach drei oder vier Malen freilich werden die meisten verrückt.“

Laurie ballte die Fäuste und warf einen Blick auf Myra. Sie hatte aufgehört zu schreien, doch es schien, als sei sie nicht ganz bei sich. Sie lag auf dem Boden und keuchte. Kleffi schwebte immer noch über ihr und fiepte traurig.

Laurie wandte sich wieder Fynch zu. Sie war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Angreifen? Auch wenn Glacey als Eis-Pokémon einen Typ-Vorteil hatte, so wusste Laurie trotzdem nicht, ob das gegen ein mächtiges Trikephalo ausreichen würde. Andererseits hatte Laurie keine wirkliche Option – Fynch würde sie und Myra sicher so oder so umbringen.

„Anführer …“, erklang plötzlich Myras Stimme hinter Laurie, wenn auch leise und zittrig. Laurie drehte sich wieder zu ihr. Myras Gesicht war bleich, doch zugleich lag darauf ein Anflug des spöttischen Lächelns, das sie gestern so oft gezeigt hatte. Lauries Herz verkrampfte sich.

„Ich dachte mir“, sagte Myra, nun mit festerer Stimme, „dass Laurie uns wegen der Übersetzung etwas vormacht. Also habe ich so getan, als sei ich auf ihrer Seite, und habe sie dazu gebracht, den Tempel zu öffnen.“ Sie grinste breit, packte dann grob Lauries Arm, verdrehte ihn ihr schmerzhaft auf dem Rücken und drückte sie zu Boden. Laurie schrie vor Wut und Schmerz auf.

Für einen Moment starrte Fynch sie beide an. Dann fing er an zu lachen. Es war das Lachen, dass Laurie heute schon gehört hatte, als der Schatten vor Fynch weggelaufen war. Grausam und ohne jede wirkliche Freude.

„Myra“, sagte Fynch schließlich, „für wie dumm hältst du mich?“

„Anführer“, sagte Myra, und Laurie hörte einen Anflug von Unsicherheit heraus, „Sie müssen mir glauben, ich …“

„Ruhe!“, schrie Fynch. „Wag es nicht, mich durch deine Lügen zu beleidigen! Ich weiß genau, dass du nie wirklich eine von uns warst. Ich weiß, wer dein Onkel ist, wenn du auch nicht seinen Namen trägst. Hast du wirklich geglaubt, wir würden nicht alle unsere neuen Mitglieder genau durchleuchten?“

Laurie spürte, wie Myra erst ihren Griff um ihren Arm lockerte. Anschließend half sie ihr hoch. Laurie sah Myras Gesichtsausdruck – er war ohne jede Hoffnung.

„Es tut mir leid, Laurie“, flüsterte Myra. Es klang resigniert.

„Was?“, fragte Laurie. Sie verstand nicht, was hier vor sich ging. „Wer ist dein Onkel?“

„Silverstone“, sagte Myra. „Der Professor, der deiner Mutter geholfen hat.“ Sie lächelte schwach. „Ich wollte fortsetzen, was sie und er angefangen hatten.“

Hinter Fynch traten nun weitere Paladine in den Innenraum des Tempels, alle in Begleitung von Pokémon. Laurie sank der Mut – sie saßen hier drin in der Falle, und der einzige Ausweg war von einer Übermacht versperrt.

„Bericht“, sagte Fynch.

Einer der Paladine – Laurie glaubte, dass es der Mann namens Eddie war – meldete sich: „Anführer, beinahe die Hälfte der Zelte ist verbrannt, der Rest konnte gerettet werden. Es gibt keine Spur vom Schatten, aber es sind Wachen postiert. Wenn er sich noch hier rumtreibt, werden wir ihn finden.“ Er klang gerade beim letzten Teil nicht wirklich, als sei er sich dessen sicher, doch Fynch schien es zu genügen, denn er nickte, bevor er sich wieder Myra und Laurie zuwandte: „Ruft eure Pokémon zurück. Es ist sinnlos, zu kämpfen.“

Laurie wusste, dass es wirklich keinen Sinn hatte. Sie rief Glacey zurück, und Myra tat das Gleiche mit Kleffi. Zwei der Paladine fesselten ihnen jeweils mit einem Seil die Hände auf dem Rücken. Laurie sah, dass die Maske von einem der beiden Leute mit getrocknetem Blut befleckt war. Das musste Sarah sein. Der Schatten hatte ihr vermutlich die Nase blutig geschlagen. Doch Sarah sagte nichts, sondern führte nur stumm den Befehl aus.

„Nun denn“, sagte Fynch und machte ein paar Schritte vor. „Erwecken wir den Eisgiganten.“ Er ging der Reihe nach über die kreisförmigen Platten, die im Boden eingelassen waren. Jedes Mal, wenn er auf eine von ihnen trat, leuchtete sie auf. Als er einmal auf alle getreten war, ertönte ein lautes Rumpeln. Laurie spürte eine plötzliche Kälte, als ob sich die ohnehin schon sehr niedrige Temperatur im Raum noch einmal um einige Grad abgekühlt hätte. Die Statue am Ende des Raumes fing an zu leuchten, erst schwach, dann immer heller, bis Laurie nicht mehr hinsehen konnte, ohne geblendet zu werden.

Als das helle Licht wieder abklang, erkannte Laurie, dass nun eine neue große Gestalt im Raum selbst stand. Eine Gestalt, dessen Körper offenbar komplett aus Eis bestand.

„Das ist Regice“, sagte Fynch, und der Triumph in seiner Stimme war unüberhörbar. „Der Eisgigant.“

Das Pokémon war in etwa so groß wie ein durchschnittlicher Mensch, und es sah auch entfernt humanoid aus – es stand auf zwei spitz zulaufenden kurzen Beinen, die einen massigen Oberkörper trugen. Dort, wo bei einem Menschen das Gesicht gewesen wäre, saßen sieben gelbe Punkte, die das gleiche Muster bildeten wie die Platten im Boden des Raumes. Der Eisgigant verfügte auch über zwei kurze Arme, an denen sich jeweils drei fingerartige Fortsätze befanden, auch wenn sich Laurie ziemlich sicher war, dass sie zum Greifen viel zu grob waren.

Der Eisgigant wandte sich den Menschen zu, erzitterte kurz und stieß dann einen hohen Schrei aus, der Lauries Ohren klingeln ließ. Womit das Pokémon schrie, wusste sie nicht – es schien keinen Mund zu besitzen.

Als Laurie das Pokémon so sah, keimte in ihr ein schwacher Hoffnungsfunke auf: Vielleicht war es zu stark, als dass Fynch es einfach so würde fangen können. Sein Trikephalo war schließlich im Nachteil, was den Typ anging, und gewiss war dieses legendäre Pokémon stärker als die meisten „normalen“ Pokémon. Vielleicht, dachte Laurie, würden sie und Myra zumindest im Chaos eines heftigen Kampfes fliehen können.

Doch Fynch holte etwas aus der Tasche seines Schneeanzugs hervor, und Lauries kleiner Hoffnungsfunke erlosch sofort, als sie sah, worum es sich dabei handelte: Es war ein Pokéball, doch kein gewöhnlicher: Seine untere Hälfte war weiß wie bei den meisten Pokébällen, doch die obere Hälfte war dunkellila mit zwei helllilanen Ausbuchtungen. In der Mitte des Balls prangte ein weißes „M“. Es war ein Meisterball, ein Ball, der alle Pokémon direkt beim ersten Versuch fangen konnte. Viele Trainer bekamen so einen Ball nicht einmal in Echt zu sehen, geschweige denn, dass sie ihn in den Händen halten durften.

„Er hat auch den Stahlgiganten mit einem Meisterball gefangen“, hörte Laurie Myra neben sich flüstern. „Die Paladine bekommen sie von irgendwoher.“

Fynch warf den Meisterball und der Eisgigant wurde eingesaugt. Der Ball wackelte ein paar Mal, doch dann blieb er liegen. Fynch hob ihn auf und drehte sich zu Myra und Laurie um.

„Nun“, sagte er und lächelte böse. „Auch der Eisgigant gehört jetzt zu uns. Myra, du warst uns wirklich eine sehr große Hilfe. Und auch dir, kleine Belford, gebührt mein aufrichtiger Dank. Insofern schmerzt es mich aufrichtig, dass ich euch nicht mehr länger leben lassen kann. Sarah!“

Der Paladin mit der blutbefleckten Mütze trat vor, doch nicht ohne ein merkliches Zögern.

„Ich glaube“, sagte Fynch, „es wäre sehr passend, wenn du die kleine Belford umbringen würdest. Immerhin hast du auch ihre Mutter damals die Klippe runtergestoßen.“

Laurie starrte Sarah an. Hatte sie nicht gesagt, Fynch hätte Lauries Mutter umgebracht?

„Ich …“, sagte Sarah. „Anführer, ich glaube nicht, dass ich das tun sollte.“

Fynch drehte ihr ruckartig seinen Kopf zu. „Du widersetzt dich meinen Befehlen?“

„Nein, Anführer“, erwiderte Sarah hastig, „natürlich nicht. Ich …“

„Diese Halluzinationen“ sagte Fynch leise, „Sie haben ganz offensichtlich deinen Verstand verwirrt. Vielleicht sollte ich dich …“

„Wir brauchen sie!“, rief Sarah dazwischen.

Fynch zog eine Augenbraue hoch. „Erkläre dich.“

„Wir haben immer noch einen Ort vor uns“, sagte Sarah. „Die Zwiespaltruinen. Ich kenne die Berichte unseres Teams dort. Es gibt auch dort eine Inschrift auf der Tür, und weder konnten unsere Leute sie entziffern, noch konnten sie die Tür öffnen. Wenn wir die kleine Belford umbringen, dann verlieren wir unseren größten Vorteil gegenüber dem Schatten. So sehr ich es selbst hasse, das sagen zu müssen, aber die Situation hat sich nicht geändert: Wir brauchen die kleine Belford. Auch wenn wir ihr nicht trauen können.“

Fynch dachte nach. „In der Tat, Sarah“, sagte er schließlich. „Eine gute Beobachtung.“

Sarah schien aufzuatmen. „Ich will nur, dass unser Vorhaben Erfolg hat, Anführer.“

„Gleichwohl … Ich kann es nicht tolerieren, in welchem Tonfall du mit mir redest.“

„Anführer, ich …“

Fynch schnippte mit den Fingern, und sein Trikephalo schoss eine Finsteraura auf Sarah ab. Wie Myra vorher riss es auch Sarah von den Füßen, und noch bevor sie auf dem Boden aufschlug, fing sie an zu schreien.

Laurie sah von ihr zu Fynch. Der Anführer schien es zu genießen, wie Sarah sich auf dem Boden wand und schrie, als ob sie unendliche Qualen leiden würde. Ihr Magnayen kam zu ihr gerannt und stützte hilflos seine Pfoten auf ihren Körper, wie um sie aus einem bösen Traum wachzurütteln.

„Es ist furchtbar“, sagte Myra leise neben Laurie. „Diese Attacke … Du denkst Gedanken, die du nicht denken willst, du siehst Bilder, die furchterregender sind als alles, was du dir vorstellen kannst und du fühlst Dinge, die du niemals fühlen möchtest. Niemals wieder jedenfalls. Es ist Folter.“

Schließlich beruhigte Sarah sich ein wenig. Ihr Magnayen leckte ihr aufmunternd das Gesicht ab. Laurie überraschte es, wie ein normalerweise eher finsteres und bösartiges Pokémon gegenüber seiner Trainerin eine solche Zuneigung zeigen konnte.

„Deine Ratschläge sind willkommen, Sarah“, sagte Fynch gelassen. „Deine Art, sie zu äußern, allerdings nicht.“

„Es … Es tut mir leid, Anführer“, erwiderte Sarah schwach.

„Steh auf“, sagte Fynch, und Sarah gehorchte. Anschließend wandte sich Fynch an Laurie. „Es sieht so aus, kleine Belford“, sagte er, „als ob unsere Vereinbarung erneut gelten würde. Hilf uns, und du und deine Freundin dürfen gehen. Aber wenn ich auch nur das kleinste Anzeichen dafür sehe, dass du mich noch einmal hintergehen möchtest, dann wird keine von euch beiden überleben. Verstanden?“

Laurie wusste, dass Fynch log. Egal, wie sehr sie ihm helfen würde, er würde sie und Myra ohnehin umbringen. Aber ihr blieb nichts anderes übrig, als stumm zu nicken.

Hallo @Rainbow ! Wie jedes Mal hat es mich sehr gefreut, deinen Kommentar zu lesen und insbesondere finde ich es natürlich auch sehr aufmunternd, dass das Kapitel wohl nicht so komisch angekommen ist, wie es mir vorkam. Das beruhigt sehr.

Zitat von Rainbow

Es geht aufs Finale zu!

So langsam, ja. Ich war zunächst am Überlegen, wo ich den Finalkampf ansetze bzw. wo und wann er stattfindet. Ich hatte dahingehend überlegt, den eben an der Stelle jetzt zu haben, aber wie zu erkennen ist, geht es da noch zu einer nächsten Station - momentan sind wir also wohl am "lowest point".

Zitat von Rainbow

Ich fand das Kapitel sehr spannend und die Action kam für mich persönlich gar nicht wie zu viel rüber. Es ist eine Geschichte im hohem Einsatz und ziemlich gefährlichen Antagonisten. Dass es hier etwas mehr Kämpfe gab, passt für mich also durchaus dazu. Vor allem, weil es ja stark in Richtung Finale geht. Da muss alles ja fast noch ein wenig krasser werden.

Davon abgsehen wirken weder der Schatten noch Fynch wie Leute, die Probleme ohne Gewalt lösen können.

Okay, das beruhigt wie gesagt. Ich muss sagen, ich bin bei den Kämpfen relativ unsicher. Es wird so viel ohne Pokémon gelöst und das ist für mich immer ein bisschen ein Dorn im Auge, weil eigentlich ja Pokémon eine größere Rolle bei den Kämpfen einnehmen sollten. Wobei ich hoffe, dass das im Finale noch einmal anders wird.

Zitat von Rainbow

Das war auf jeden Fall die lustigste Text-Passage, die ich heute gelesen habe! Danke dafür!

Hihi, das freut mich!

Zitat von Rainbow

Aaaw, Sarah! Jetzt habe ich sie richtig ins Herz geschlossen, obwohl sie zu den Antagonist*innen gehört! Ich glaube, für mich persönlich ist sie mittlerweile mein Lieblingscharakter. Aber schauen wir mal, was noch aus ihr wird! Denn die Geschichte führt dorthin, wohin sie führen muss.

Mittlerweile bin ich mir bei ihr ein wenig sicherer, wo ich mit ihr hinmöchte - das wollte ich im neuen Kapitel dann auch quasi ein wenig vorbereiten. Vielleicht kommt da schon ein bisschen rüber, welche Rolle sie am Ende einnimmt, aber mal schauen.

Zitat von Rainbow

Ich habe mittlerweile eine Theorie zum Schatten entwickelt. Also, hör zu: Ich schreibe in meinen Pokémon-Geschichten gerne über meine Lieblings-Pokémon, z.B. Pandagro. Wenn du das auch machst, und dein Lieblings-Pokémon Mewtu ist, ... Dann muss der Schatten zwangsläufig ein Mewtu sein, das sich verkleidet!

Ich weiß, es ist unwahrscheinlich, aber es ist nicht unmöglich. Und falls sich der Schatten am Ende wirklich als Mewtu entpuppt, werde ich Bragging Rights für ungefähr immer haben.

Also, ja, mal sehen, ob am Ende überhaupt die Identität des Schattens geklärt wird.

Hihi, das ist eine interessante Theorie. Ansonsten: Die Identität des Schattens wird auf jeden Fall noch geklärt werden, keine Sorge also diesbezüglich!

Zitat von Rainbow

Myra, verdammt! Ich weiß nie, was ich von Myra halten soll. Bei ihr bin ich mir erst sicher, dass sie nicht doch eine Dreifachagentin (oder vierfach) ist, wenn die Geschichte vorbei ist. Bis dahin, oder bis wir erfahren haben, warum sie bei den Paladinen ist, werde ich ein Auge auf sie haben. Da werde ich wirklich bis zum Schluss gespannt sein, auf welcher Seite sie letztendlich steht.

Es ist sicher gut, Myra im Auge zu behalten - wobei mir Laurie da immer noch ein wenig leid tut. Einer Person lange zu vertrauen und dann (zum Schein?) von ihr verraten zu werden, das tut ziemlich weh. :(

Zitat von Rainbow

Das finde ich mal sehr interessant! Ich plotte meine Geschichten meistens relativ genau durch, weil ich mich immer etwas verloren fühle beim Schreiben, wenn ich beim Schreiben eines Kapitels nicht weiß, wo die Figuren am Ende des Kapitels sein sollen. Das muss ich mir vorher überlegen, auch wenn der genaue Weg dahin nicht total konkret sein muss.

Ich glaube, ich bin insgesamt eher jemand, der nur grob plant. Ich weiß, worauf ich mit der Geschichte und den Charakteren im Wesentlichen hinauswill bzw. wo ich mit ihnen am Ende sein will (und natürlich, wo sie am Anfang sind) und welche ungefähren Elemente in der Handlung passieren sollen. Aber ich bin mir oft nicht ganz sicher, wie genau sich die einzelnen Kapitel entwickeln werden, auch wenn ich da meistens zumindest einen zentralen Punkt habe, der eben passieren soll. Oft ändert sich da dann aber auch immer noch etwas und manchmal kommen mir beim Schreiben einfach noch neue Ideen oder ich merke, wie ich vielleicht noch ein paar Dinge besser verknüpfen kann. Gleichzeitig merke ich aber auch, dass es manchmal ein Hemmnis ist, dass ich über die Dinge im Vorfeld noch nicht so gut Bescheid weiß. Für diese FF hat es bis jetzt aber ganz gut so funktioniert - bei meinen anderen Projekten aber tut es das vielleicht gerade nicht, sonst wären die wohl schon längst fertig, uff.

Zitat von Rainbow

Ich bin auf jeden Fall neugierig zu sehen, ob und falls ja wer sich am Ende Fynch vornehmen wird.

Mittlerweile bin ich mir da relativ sicher, was mit ihm passieren wird.

Zitat von Rainbow

Ja! Ich habe das als Kind einmal falsch gelesen und dachte jahrelang, dass das grüne Biest "Rakwiaza" ausgesprochen wird.

Haha, ich wusste nie, ob das q jetzt wie ein q in Quatsch oder wie ein k ausgesprochen wird. Und ob das z dem Laut nach wirklich ein z oder ein s ist. Irgendwie hatte Gen3 da aber bei den Legendären mehrere solche Kandidaten - ich meine, Groudon und Kyogre waren da auch so Streitfälle.

Zitat von Rainbow

Ich freue mich schon total auf das nächste Kapitel, wenn wir vielleicht ein wenig coole Regice-Action abbekommen!

"Coole Action" - I see what you did there, haha. Leider ist es nicht so wirklich viel Action in der Hinsicht - ich hatte überlegt, das einen längeren Kampf werden zu lassen, aber so, wie es jetzt ist, dachte ich, dass es mehr rüberbringt, wie hoffnungslos die Situation da ist, weil Regice so leicht eingefangen wird. Aber ka, ob das funktioniert, ähem. ^^"

Wie dem aber auch sei - danke wie gesagt wieder für deinen Kommentar!

Laurie wusste, dass es vorbei war. Man hatte ihr und Myra in der letzten Nacht noch erlaubt, ein wenig zu schlafen, um dann am nächsten Tag aufzubrechen. Während der Wanderung blieben ihre Hände jeweils vor ihrem Körper gefesselt, während sowohl Kleffi als auch Glacey dauerhaft in ihren Pokébällen verbleiben mussten. Außerdem entging Laurie nicht, dass sie und Myra permanent getrennt waren – innerhalb ihrer kleinen Prozession, die durch die Schneeschlucht zog, musste Myra weiter vorne gehen und Laurie fast am Ende. Laurie fiel außerdem auf, dass Sarah und ihr Magnayen permanent neben ihr gingen. Vielleicht waren sie von Fynch angewiesen worden, Laurie ständig im Auge zu behalten.

Nachdem sie die Schneeschlucht gegen Mittag durchquert hatten, führte ihr Weg sie ein Stück durch das Bett des Giganten, das Laurie noch von ihrer Wanderung mit Margaret kannte – sie gingen hinunter in das Tal und dann durch einen schluchtartigen Weg, bis sie zu einem Fluss kamen, der in einen Höhleneingang verlief. Hier waren wieder Ruinen einer Siedlung zu sehen, wie Laurie sie in der Schneeschlucht und im Bett des Giganten gesehen hatte. Fynch entschied, dass sie vor dem Eintritt in die Höhle hier Rast machen würden.

Laurie dachte, dass sie vielleicht jetzt mit Myra reden könnte, doch als sie einen Schritt in ihre Richtung machte, hielt Sarah sie am Arm zurück.

„Du bleibst hier“, sagte sie tonlos durch ihre Maske. Sie hatte ihre Sturmhaube nicht ausgetauscht. Das Blut war mittlerweile eingetrocknet. Es sah ein bisschen aus wie ein Rorschach-Test.

Laurie setzte sich auf einen kleinen Felsen und starrte zu Sarah hoch. „Warum hängst du eigentlich die ganze Zeit an mir wie eine Klette?“, fragte sie.

„Befehl von Fynch“, entgegnete Sarah. Ihr Magnayen setzte sich neben ihr hin und sah Laurie aufmerksam an.

„Und warum will er, dass du permanent bei mir bist?“, hakte Laurie nach. „Weil er meint, dass es mich besonders fertigmacht, wenn die Mörderin meiner Mutter in meiner Nähe ist?“

Sarah erwiderte nichts.

„Du hast mir gesagt, du hättest sie nicht umgebracht, sondern dass Fynch es war. Gestern hat er aber gesagt, dass du es gewesen bist. Ich glaube nicht, dass er gestern einen Grund zum Lügen hatte. Also?“

Erneut sagte Sarah nichts, zumindest für eine kurze Zeit. Schließlich fragte sie: „Hast du schon einmal jemanden getötet, Laurie?“

„Nein“, antwortete Laurie kühl. „Habe ich nicht. Das heißt – gestern musste ich meine Wache ausschalten. Aber wenn ich ihn dabei umgebracht hätte, würdest du mich das jetzt wohl kaum fragen.“

„Nein, er lebt“, bestätigte Sarah. „Jedenfalls … Jemanden umzubringen ist nicht … leicht. Weder während man es tut, noch danach.“ Sie seufzte. „Fynch hat mir damals befohlen, es zu tun. Ich habe es getan. Er erwartet von uns allen bedingungslosen Gehorsam, und er wollte damals testen, wie weit ich gehen würde. Aber er hat gemerkt, dass ich damit nicht wirklich klarkam, auch wenn ich all die Jahre versucht habe, es zu verbergen. Deswegen muss ich jetzt ständig in deiner Nähe sein – nicht nur bist du deiner Mutter sehr ähnlich, du bist auch die Person, die ich durch ihren Tod am meisten verletzt habe. Er will, dass ich deutlich sehe, was ich getan habe und dass ich mir nichts dabei denke. Dass ich keine Reue zeige.“

Laurie klappte die Kinnlade runter. „Das ist krank“, hauchte sie. „Das ist einfach nur krank.“

„Ich habe mir all die Jahre erzählt“, fuhr Sarah fort, „dass ich es nicht wirklich war, sondern dass er letztlich die Schuld daran trägt. Aber als wir hier waren …“ Sie brach ab.

„Die Halluzinationen?“, fragte Laurie.

Sarah nickte. „Ich habe angefangen, deine Mutter zu sehen. Sie war wütend auf mich. Sie war aber nicht wirklich da, sie war wie ein Geist. Aber jetzt, wo ich weiß, dass der Schatten dahintersteckt …“

„Tut er nicht“, sagte Laurie.

„Was?“, fragte Sarah scharf.

„Ich habe mittlerweile darüber nachgedacht“, sagte Laurie. „Zunächst einmal habe ich meine Mutter auch gesehen, in einer Nacht, in der ein Schneesturm herrschte. Wenn der Schatten dahintergesteckt hätte, dann hätte er mich wahrscheinlich an Ort und Stelle umgebracht. Es hätte keinen wirklichen Grund gegeben, zu warten.“

„Vielleicht wusste er, dass du noch etwas wusstest, was ihm nützlich sein könnte“, meinte Sarah.

„Und warum hat er mich dann nicht einfach entführt?“, konterte Laurie.

Darauf wusste Sarah keine Antwort.

„Außerdem“, fuhr Laurie fort, „wenn du diese Halluzinationen schon seit Tagen gesehen hast, kann er es nicht gewesen sein. Er ist nämlich nur kurz vor mir in Freezedale angekommen, das weiß ich genau. Und ihr wart doch viel länger hier.“

Diese Worte hatten eine eindeutige Wirkung auf Sarah. Sie trat unruhig auf der Stelle und fuhr sich unruhig mit der Hand über ihre Kapuze. „Nun …“, sagte sie schließlich, „dann ist es wohl doch deine Mutter.“ Sie kicherte, doch es klang nicht, als fände sie die Situation zum Lachen. Vielmehr klang es, als würde sie allmählich verrückt werden. Laurie fühlte sich seltsam, als sie dieses Lachen hörte – eigentlich hätte sie sauer auf Sarah sein müssen. Mehr noch, sie müsste sie eigentlich hassen. Das war die Frau, die ihre Mutter umgebracht hatte. Zugleich dachte Laurie aber auch an Fynch und an die Finsterauraattacke seines Trikephalo. Und sie dachte daran, wie lange Sarah schon bei den Paladinen gewesen sein musste – wie schwer war es wohl, aus dieser Organisation auszusteigen? Bestimmt ließen sie einen nicht einfach gehen. War Sarah einfach eine dieser Personen, die in eine Art Kult hineinstolperten und dann einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen wurden, sodass sie nicht mehr da rauskamen?

„Sarah, ich weiß nicht, was diese Erscheinung genau ist und warum nur wir beide sie gesehen haben“, sagte Laurie. „Aber was es auch ist, vielleicht hört es auf, wenn du mir hilfst. Außerdem …“ Sie sah sich um und senkte die Stimme. „Du willst doch eigentlich nicht hier sein, oder? Ich habe gesehen, wie Fynch dich behandelt. Er schert sich nicht um dich. Also … Lass uns abhauen.“

„Ich weiß, dass ich Fynch egal bin“, sagte Sarah, „aber darum geht es nicht. Ich gehöre zu den Paladinen, und daran wird sich auch nichts ändern.“

„Dann hilf mir einfach nur hier weg.“

Sarah schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe bereits verhindert, dass er euch beide umbringt. Du hast gesehen, wie das für mich ausgegangen ist. Und überhaupt: Was ist mit Myra? Wenn ich dich jetzt laufen lassen sollte, was glaubst du, was aus ihr wird?“

Laurie schwieg. Sarah brauchte es nicht zu sagen – Fynch würde Myra einfach umbringen. Oder umbringen lassen, vielleicht sogar von Sarah.

„Es ist aus, Laurie“, sagte Sarah schlicht. „Wenn du für uns übersetzt, bleibt ihr bis zum Ende der Übersetzung am Leben. Vielleicht auch danach.“

„Als ob“, sagte Laurie. Sie kämpfte dagegen an, in Tränen auszubrechen. Sie hatte es nicht wirklich realisiert, aber Sarah war in gewisser Weise ein letzter Hoffnungsschimmer gewesen. Ihn ebenfalls einfach so erlöschen zu sehen, war schmerzhaft. „Fynch hasst mich“, sagte sie. „Weil er meine Mutter hasst. Er wird mich umbringen.“ Sie ließ den Kopf hängen.

Es trat eine kurze Stille ein. Schließlich brach Sarah das Schweigen. „Möchtest du vielleicht wissen, warum Fynch deine Mutter so hasst?“, fragte sie unvermittelt.

Laurie sah auf und nickte. Sie wusste nicht wirklich, was es ihr noch bringen sollte, wenn Sarah ihr das erzählte, aber grundsätzlich war es wohl besser, so viele Informationen wie möglich zu sammeln.

„Es war in der Johto-Region“, begann Sarah. „Wir hatten das Ziel, ein legendäres Pokémon zu fangen, das erstaunliche Kräfte haben sollte. Es sollte nicht nur ganze Städte verbrennen, sondern sogar Tote wieder zum Leben erwecken können.“

„Und an so etwas glaubt ihr?“, fragte Laurie.

„Jede Legende enthält ein Stück Wahrheit. Selbst wenn das mit der Wiederbelebung Unsinn gewesen wäre, wäre es wohl immer noch ein ungeheuer mächtiges Pokémon gewesen.“

„Stimmt wohl.“

„Jedenfalls war ein besonderes Ritual nötig, um dieses Pokémon anzulocken, und es musste an der Spitze eines besonderen Turms erfolgen. Wir haben das Ritual korrekt ausgeführt und tatsächlich kam das Pokémon zu uns geflogen. Es war groß und majestätisch, seine Federn leuchteten in allen Regenbogenfarben, als es zu uns hinabstieg. Wir alle waren wie gebannt von dieser Schönheit.“

Etwas regte sich in Lauries Gedächtnis. „Ich glaube, ich habe davon gelesen. In den Tagebüchern meiner Mutter. Aber sie hat nicht beschrieben, was genau passiert ist.“

„Sie hat es vermutlich auch nicht richtig gesehen. Während wir nur auf das Pokémon achteten, tauchte deine Mutter plötzlich auf. Ihr Vulnona setzte einen Konfusstrahl auf das legendäre Pokémon ein, und es geriet außer Kontrolle. Es setzte den Turm mit seinem alles verschlingenden Feuer in Brand. Wir konnten es nicht mehr fangen, wir konnten nur noch versuchen, uns in Sicherheit zu bringen, runter von diesem Turm. Deine Mutter war zu diesem Zeitpunkt auch schon längst wieder verschwunden. Aber Fynch … hatte nicht so viel Glück. Als wir schon im Erdgeschoss waren, stürzten die oberen Stockwerke ein. Ein brennender Balken begrub Fynch unter sich. Seine Haare fingen Feuer. Er konnte zwar gerettet werden, bevor mehr verbrannte, aber natürlich war er seitdem voller Hass auf deine Mutter. Nicht nur, dass sie letztlich Schuld an seiner Verbrennung war, sie hatte auch eine wichtige Mission unter seiner Leitung gestört. Die anderen Anführer …“

„Moment“, fiel Laurie dazwischen, „die anderen Anführer? Es gibt noch mehr von euch?“

Sarah nickte. „Hunderte von uns, in verschiedenen Regionen. Manche in hohen Positionen in der Gesellschaft.“

Laurie fühlte sich plötzlich schwindelig. Selbst wenn sie den Paladinen hier entkommen würde, sie würde nirgendswo sicher sein.

„Die anderen Anführer waren nicht glücklich über Fynchs Niederlage“, fuhr Sarah fort. „Er durfte seinen Posten behalten, aber er wurde bestraft. Er kämpfte damals nicht mit einem Trikephalo, sondern mit einem Altaria. Die anderen Anführer haben es … Nun, sie haben es getötet. Auch das hat er natürlich deiner Mutter zugeschrieben. In dieser Nacht hat sie sein Leben ruiniert.“

„War er davor noch nicht so grausam, wie er heute ist?“, fragte Laurie.

Erneut schüttelte Sarah den Kopf. „Nein, er war damals auch schon so. Vielleicht nicht ganz so rücksichtlos, insbesondere uns anderen Paladinen gegenüber. Aber im Grunde hat all das damals nur verstärkt, was schon da war. Er ist früh so erzogen worden.“

Laurie sah sich um und versuchte unter den anderen Paladinen, die etwas entfernt von ihnen Rast machten, Fynch auszumachen. Sie waren alle maskiert, aber sie glaubte, dass sie wusste, wer von den Leuten mit den weißen Sturmhauben er war. Es war das seltsame Kribbeln im Nacken, wenn man ihn ansah. Das Gefühl von Gefahr.

Sie sah Myra in einiger Entfernung ebenfalls auf einem Stein sitzen. Ihre Blicke trafen sich und Laurie spürte ein Kribbeln an einer anderen Stelle ihres Körpers. Sie versuchte zu lächeln, und Myra erwiderte es genauso kläglich, wie Lauries Versuch sich für sie selbst anfühlte.

„Das war übrigens auch das erste Mal, dass der Schatten aufgetaucht ist“, unterbrach Sarah Lauries Gedanken.

„Der Schatten?“, fragte Laurie. „Meine Mutter hat ihn nie in ihren Tagebüchern erwähnt.“

„Sie hat ihn vermutlich wie auch Fynchs Verletzung nicht gesehen. Sie hat sich wie gesagt schnell in Sicherheit gebracht. Wir waren aus dem Turm entkommen, versorgten unsere Verbrennungen – insbesondere die von Fynch –, als er plötzlich auftauchte. Er stand mit dem Rücken zum brennenden Turm, eine schwarze Gestalt vor dem leuchtenden Feuer. Wir dachten erst, deine Mutter sei zurückgekommen, aber er war natürlich viel größer und dieser Buckel … Aber bevor wir uns überhaupt wirklich im Klaren darüber waren, was los war, griff er schon an, mit bloßen Händen. Innerhalb von ein paar Sekunden hatte er drei von uns getötet. Ich … verlor das Bewusstsein. Als ich aufwachte, sagte man mir, dass die anderen ihn mit ihren Pokémon in die Flucht hatten schlagen können. Oder vielmehr hatten zwingen können, einen taktischen Rückzug anzutreten.“

Laurie schauderte ein wenig. Der Schatten tötete offenbar, ohne zu zögern. „Wird er uns wieder angreifen?“, fragte sie.

„Sehr wahrscheinlich“, erwiderte Sarah. „Aber wenn wir mit unseren Leuten an der Zwiespaltruine zusammentreffen, sind wir zahlenmäßig so überlegen, dass er keine Chance haben wird. Er wird unseren Plan mit den Giganten nicht stören.“

Laurie fiel etwas ein. „Was für ein Plan ist das überhaupt?“, fragte sie. „Ich meine, ja, diese Pokémon sind sicher mächtig, aber ist das alles, was euch an ihnen interessiert?“

„Nein, tatsächlich interessiert uns ihre Stärke fast gar nicht“, erwiderte Sarah. „Die ersten fünf Giganten sind eigentlich unbedeutend für uns. Sie dienen nur einem Zweck: Den sechsten Giganten zu erwecken. Denn so viel wissen wir: Wenn wir alle fünf Giganten haben, wird der sechste im Bett des Giganten – das vermutlich deswegen so heißt – erscheinen. Bei ihm soll es sich um ein Pokémon von weitaus größerer Macht handeln. Er soll zum Beispiel die Kontinente mit einem Seil gezogen haben. Aber was uns an ihm besonders interessiert, ist, dass er die anderen Giganten erschaffen hat. Wenn wir ihn dazu benutzen könnten, um noch mehr von denen zu kreieren …“

Sie sprach den Gedanken nicht aus, doch Laurie ahnte, worauf sie hinauswollte. Die Paladine würden möglicherweise eine ganze Armee dieser Giganten schaffen können. Eine Armee, mit der sie ganze Regionen überrollen und auslöschen könnten.

Sarah sah Laurie offenbar an, dass sie verstand. „Natürlich“, sagte Sarah, „setzt das voraus, dass wir auch die letzten beiden Giganten in unsere Finger bekommen.“

Sie sah Laurie an, und Laurie verstand. „Ich kann mich auch dazu entscheiden, Myra und mich zu opfern“, sagte sie. „Dann könnt ihr zumindest nicht in diese Ruinen hineinkommen.“

„Vorerst nicht, nein“, erwiderte Sarah. „Aber irgendwann würden wir es so oder so schaffen. Ist es das für dich wert?“

„Der Schatten würde euch dann vielleicht aufhalten. Ich würde ihm Zeit dazu verschaffen.“

„Möglich. Aber er würde danach nur das tun, was wir auch tun würden, da bin ich mir sicher. Ist das besser?“

Laurie warf wieder einen Blick zurück auf Myra. Wenn es nur um sie selbst gegangen wäre, dann hätte sie sich wohl lieber umbringen lassen, als den Paladinen zu ihrem Ziel zu verhelfen. Aber Myra …

Als Myra ebenfalls wieder zu Laurie hinsah, wandte sie rasch den Blick ab. Sie wusste, dass sie Myra nicht sterben lassen konnte. Und sie wusste, noch mehr als vorhin schon, dass es wirklich vorbei war und sie verloren hatten.

Hi @Rainbow und wie immer vielen Dank für deinen Kommentar!

Zitat von Rainbow

Heute war ein crazy Tag!

Da hilft mir nichts besser als ein neues Kapitel von Die Legende der Giganten!

Oha, ich hoffe, es folgten darauf bessere Tage. Wobei ich sagen muss, dass es mich wirklich sehr freut, wenn das Kapitel da ein bisschen Aufmunterung verschaffen konnte - das ist ja auch irgendwie für mich beim Schreiben immer ein im Hintergrund stehendes Ziel, dass es den Leuten ein bisschen Freude bereitet.

Zitat von Rainbow

Ich fand das Kapitel sehr toll gemacht! Es stimmt, dass weniger Action drin ist als anfangs erwartet, aber Autor*innen müssen nicht alle Erwartungen vorhersehen und zu 100% erfüllen. Schließlich sind deine Ideen cooler als das, was die Leserschaft erwartet.

Ich fand das mit dem Meisterball sogar ziemlich gut - wie du selbst schreibst (und ich habe es mir beim Lesen dieses Kapitels auch gedacht), ist dieses Kapitel so ungefähr der Tiefpunkt vor dem Finale. Dass Fynch Zugriff auf Meisterbälle hat und nichtmal kämpfen muss, wenn er nicht will, unterstreicht nur seine momentane Übermacht.

Ich war davon überrascht, aber sehr positiv.

Okay, dann bin ich in diesem Punkt schon einmal sehr beruhigt. Der Tiefpunkt wird hier noch ein wenig ausgebaut, aber ich glaube, mit dem nächsten Kapitel geht es dann wirklich ins Finale.

Zitat von Rainbow

Okay, jetzt glaube ich doch langsam, gaaanz langsam, dass Myra zu den Guten gehört. Vorerst

Mit starker Betonung auf "vorerst"! Aber im Grunde sollte ja auch allen misstraut werden.

Zitat von Rainbow

Eddie ist zurück! Das freut mich mehr als es sollte oder für diese Geschichte nötig wäre

Ja, der gute Eddie hat so seine Momente. Mir ist btw ein Titel eingefallen für sein eventuelles Spin-off, hihi. Aber wer weiß, vielleicht steckt ja auch Eddie am Ende hinter ALLEM??!

Zitat von Rainbow

Whoa, das wird langsam echt spannend. Fynch ist so bedrohlich, dass ich langsam nicht mehr abschätzen kann, wer alles die Geschichte überleben wird.

Tja, das ist eine gute Frage. Der Bodycount wird insgesamt definitiv noch steigen, aber wen es am Ende insgesamt trifft, ist natürlich abzuwarten. Aber es soll zumindest nicht zu düster werden, also ist für manche Personen das Risiko vielleicht geringer als für andere.

Zitat von Rainbow

Wenn du Ende März fertig bist, kannst du für den ersten April auch eine lustige Geschichte schreiben zur Erholung von der Thriller-Spannung

Ja, das käme dann wohl gerade recht. Ich muss irgendwann auch mal wieder einfach nur Quatsch schreiben.

Zitat von Rainbow

Ich finde, es hat funktioniert.

Das beruhigt wie gesagt. In der nächsten Woche kriegen wir dann aber hoffentlich ein wenig mehr Action!

Abschließend wieder ein großes Danke an deinen Kommentar - deine Kommentare retten mir nämlich tatsächlich auch durchaus mal den Tag, wenn es gerade mal wieder etwas drunter und drüber bei mir geht.

Laurie hatte noch die kleine Hoffnung, dass sich vielleicht irgendwo auf dem Weg zu ihrem Ziel eine Fluchtmöglichkeit finden würde. Doch es wäre einerseits Wahnsinn gewesen, in dem Höhlenlabyrinth, durch das sie gingen, einen Fluchtversuch zu unternehmen – sie hätte sich zweifellos verlaufen – und andererseits musste Laurie an das denken, was Sarah gesagt hatte: Wenn Laurie verschwinden würde, wäre Myra so gut wie tot.

Also folgte sie den Paladinen durch die Höhlen, ohne Widerstand zu leisten. Sie gingen stundenlang umher, einer Karte folgend, die Fynch regelmäßig zu Rate zog. Einmal stürzte sich ein Schwarm Zubat auf ihre Gruppe, doch das Trikephalo von Fynch verjagte sie ohne große Mühe.

Schließlich traten sie hinaus in das allmählich schwindende Tageslicht – mittlerweile war bereits die Dämmerung hereingebrochen.

Um sie herum ragten wieder Berge in die Höhe. Sie rahmten eine Art Platz ein, auf dem drei zueinander hingebogene spitze Felsen in Dreiecksanordnung hoch aufragten – vielleicht eine Art Monument der gleichen Zivilisation, die auch die Ruinen der Giganten errichtet hatte. Um diese Felsen herum standen mehrere Zelte, wie Laurie sie auch schon im anderen Lager gesehen hatte. Zwischen ihnen stieg ein dünner Rauchfaden in die Luft, der offenbar von einem kleinen Lagerfeuer herrührte. Ein leichter Schneefall ging auf das Lager nieder.

Aus der Mitte der Zelte kamen mehrere weißgekleidete Gestalten hervor und auf sie zu. „Anführer Fynch“, sagte eine von ihnen, und trat vor. Der Stimme nach zu urteilen war es eine Frau.

Fynch trug seine Sturmhaube nicht, und Laurie sah, dass er abschätzig seinen Blick über die Menge an Paladinen schweifen ließ, die hervorgekommen waren. „Es sollten mehr Leute hier sein“, sagte er nach einiger Zeit.

Die Frau nickte. „Unsere Leute, die den Steingiganten gefangen haben, sind nicht eingetroffen.“

„Hast du versucht, sie zu erreichen?“

Wieder nickte die Frau. „Wir empfangen keine Nachrichten von ihnen. Sie sind hierhin unterwegs gewesen, aber der Kontakt ist abgerissen.“

„Ein Jammer“, erwiderte Fynch, doch es war kein wirkliches Bedauern in seiner Stimme. „Ich vermute, der Schatten hat wieder zugeschlagen. Er weiß, dass er uns nicht schlagen kann, wenn wir alle zusammen sind. Also nimmt er sich unsere Gruppen nacheinander vor. Teile und herrsche.“

Er drehte sich um und ging auf Laurie zu. Sie bemühte sich, nicht zurückzuschrecken.

„Das ist Laurie Belford“, sagte Fynch zu der Frau. „Ihre Mutter hat uns ja öfter Probleme bereitet, aber nun wird sie uns helfen. Sie weiß, wie man die Symbole an den Türen der Ruinen übersetzt. Der Schatten wird uns also nicht aufhalten können, wenn wir schnell sind.“ Fynch packte Laurie grob am Arm und schubste sie nach vorne. „Bring uns zu den Ruinen“, sagte er an die Frau gewandt.

Laurie folgte Fynch und der Frau durch das Lager, gefolgt von den meisten der anderen Paladine – nur wenige waren von Fynch abkommandiert worden, das Lager zu bewachen.

Laurie fühlte die vielen Blicke auf sich ruhen. Ihr Herz klopfte wild. Das war es jetzt wohl – das Ende.

Die Ruinen lagen nicht weit vom Lager am Ende eines kleinen und breiten Pfades, der in eine von den umliegenden Bergen eingerahmte Nische führte. Während sie den Pfad entlanggingen, fing es an, deutlich stärker als zuvor zu schneien, und so war es erst möglich, die Ruine zu erkennen, als sie alle schon fast unmittelbar davorstanden.

Was ihre grobe Architektur betraf, so sah die Ruine wieder exakt so aus wie die, die Laurie bereits kannte: Ein dreistufiger Sockel, auf dem das eigentliche Tempelgebäude und die Säulen standen, die das dreieckige Vordach trugen. Doch farblich war diese Ruine besonders auffällig: Die Steine in ihrer linken Hälfte hatten ein strahlendes Gelb, während die der rechten Hälfte tiefrot waren. Insgesamt sah es so aus, als wäre die Ruine in der Mitte geteilt worden. Vermutlich nannte man sie deswegen „Zwiespaltruine“.

Als Laurie sich das Vordach des Tempels genauer ansah, sah sie auch, dass jede der beiden Hälften des Daches von einem eigenen aus sieben Punkten bestehenden Muster geziert wurde: Das Muster im roten Teil ähnelte von der Form her einem Y, zwischen dessen beiden Armen noch ein Punkt gesetzt worden war; das andere Muster hingegen war ein aus drei Punkten bestehender Querstrich, an dessen Enden jeweils noch zwei Punkte wie zu einer kleineren senkrechten Linie dazu gesetzt worden waren – es sah ein bisschen so aus wie ein Hantel.

Laurie folgte Fynch die Stufen zur Tür hoch. Wie erwartet war auf der steinernen Tür eine Ansammlung merkwürdiger Symbole zu sehen.

„Ich muss meine Hände frei haben“, sagte Laurie.

Fynch musterte sie mit seinen kalten grauen Augen, doch Laurie hielt seinem Blick stand. Schließlich nickte er der Frau zu, die sie zu den Ruinen geführt hatte. Sie zog ein Messer aus der Tasche und schnitt Lauries Fesseln durch.

Laurie rieb sich kurz die Handgelenke, dann zog sie aus ihrer Tasche wieder Notizblock, Stift und die Symboltabelle hervor.

„Zehn Minuten“, sagte Fynch. „Nicht länger.“

Laurie schluckte und machte sich daran, die Symbole an der Tür in Zahlen umzuwandeln. Nach wenigen Minuten hatte sie alle Zahlen beisammen und las laut die Botschaft vor:

„Der Steingigant. Der Eisgigant. Der Stahlgigant. Versammelt man die drei Giganten, wird sich die Tür des Schicksals öffnen.“

Als Fynch diese Worte hörte, lächelte er und griff in die Tasche seines weißen Schneeanzugs. Er zog eine mobile Pokémon-Box hervor, wie auch Myra eine verwendet hatte, um das Frigometri herbeizurufen. Fynch drückte ein paar Knöpfe an der Box, doch es geschah nichts. Mit einem Mal verzerrte sich sein Gesicht und Wut, gepaart mit einem Anflug von Angst, spiegelten sich darin. Laurie ahnte, was das Problem war.

„Er ist nicht in der Box“, murmelte Fynch, und seine Stimme klang so bedrohlich wie noch nie. „Diese Trottel!“ Er schrie es so laut, dass alle zusammenzuckten.

„Anführer“, hörte Laurie Sarahs vorsichtige Stimme von unten am Fuße des Ruinensockels, „was …“

„Der Schatten hat unsere Leute von den Steingipfelruinen auf dem Weg hierher überfallen!“, schrie Fynch. Seine Augen rollten geradezu in ihren Höhlen. „Und diese Idioten haben den Giganten nicht sicher in der Box gelagert! Er hat ihn jetzt!“ Fynch lief unruhig umher. „An den Eisbergruinen wollte er vermutlich versuchen, die anderen beiden Giganten zu stehlen. Aber wir haben ihn verjagt. Doch danach … Oh, diese dummen … Wenn sie nicht vermutlich schon vom ihm getötet worden wären, würde ich sie eigenhändig umbringen!“

Laurie bewegte sich vorsichtig von Fynch weg und sah zu den anderen Paladinen, die vor der Ruine versammelt standen. Sie suchte Myras Blick und sah, dass Myra ebenfalls langsam versuchte, sich aus der Gruppe der Paladine etwas herauszulösen. Vielleicht war das jetzt ihre einzige Gelegenheit zur Flucht.

Doch es kam nicht so weit. Ein lautes Rumpeln ertönte, gefolgt von vereinzelten Schreien. Die Geräusche schienen vom Lager her zu kommen.

„Er ist hier!“, schrie Fynch. „Bereit machen! Wir müssen den Steingiganten zurückbekommen!“

Überall wurden Pokébälle hervorgeholt und durch die Luft geworfen. Verschiedenste Pokémon wurden befreit. Laurie sah wieder ein Rexblisar und ein Machomei, sowie das Krarmor. Es flog zunächst in die Luft, kam aber schnell wieder herunter – offenbar war es zur Aufklärung bei dem starken Schneefall eher ungeeignet und würde am Boden nützlicher sein. Sarah postierte sich an vorderster Front und ließ ihr Magnayen hervorkommen. Fynch selbst rief sein Trikephalo herbei und wies es an, über der Menge zu schweben. Laurie fragte sich, warum er die anderen beiden Giganten nicht hervorrief, die sich in seinem Besitz befinden mussten. Vielleicht, weil er Angst hatte, sie zu verlieren?

Laurie wurde außerdem klar, dass nun wirklich niemand mehr auf sie achtete. Sie entfernte sich von der Tür und sprang die Stufen des Tempelsockels hinunter, bis sie auf dem Boden angekommen war. Sie sah Myra aus der Masse der Paladine auftauchen und zu ihr hinrennen. Myra zeigte mit ihren gefesselten Händen auf etwas hinter Laurie. Laurie drehte sich um und sah, dass links neben dem Tempel eine kleine Nische in der Felswand war, in der sie sich verstecken konnten.

Sie rannten dorthin und kauerten sich hinter das gelbe Gestein des Tempelsockels. Laurie löste Myras Fesseln.

„Gleich bricht hier vermutlich das Chaos aus“, sagte Myra. „Wir sollten die erste Gelegenheit nutzen, um abzuhauen.“

„Und die Giganten?“, fragte Laurie.

Myra schüttelte den Kopf. „Wir haben bereits einmal versucht, sie aufzuhalten und schau dir an, was uns das gebracht hat. Laurie, wenn wir hierbleiben, sind wir so gut wie tot.“

„Aber …“

„Bitte, Laurie“, sagte Myra flehend. „Ich will nicht, dass dir noch etwas passiert.“

Laurie sah die Verzweiflung auf Myras Gesicht. Schließlich nickte sie. „Okay. Lass uns versuchen, hier rauszukommen.“

„Gut“, sagte Myra erleichtert, „dann …“

Sie unterbrach sich, als ein regelmäßiges lautes Stampfen ertönte. Sie spähten beide aus ihrem Versteck heraus und sahen, wie sich aus dem dichten Schneefall allmählich eine große und bullige Gestalt herausschälte.

„Das muss der Steingigant sein“, flüsterte Myra ehrfürchtig.

Der Steingigant war ungefähr so groß wie ein Mensch, doch unter dem Gewicht seiner Schritte schien der Boden zu beben. Ähnlich wie der Eisgigant hatte er eine ungefähr humanoide Gestalt, aber diese war aus verschiedenfarbigen Felsbrocken gefertigt. Zu den beiden Seiten des Giganten hingen zwei lange Arme herab, an deren Enden sich keine Hände oder etwas in der Art befanden – sie endeten einfach jeweils in einem besonders großen Felsbrocken. Laurie konnte sich gut vorstellen, dass dieses Pokémon genug Kraft hatte, um einen Menschen einfach zu zertrümmern.

Der Steingigant blieb einfach vor der Gruppe der Paladine stehen. Für einen Moment geschah nichts, dann materialisierten sich um ihn herum sehr viele spitze und kleine Steine, die sogleich auf die Gruppe der Paladine abgefeuert wurden. Schnee wurde aufgewirbelt, Schreie und Befehle ertönten. Der Steingigant wurde von mehreren Attacken getroffen und Laurie glaubte sogar zu sehen, wie Sarahs Magnayen es ansprang. Aber der Gigant hielt den Angriffen stand, und bald war inmitten all des aufgewirbelten Schnees und des dichten Schneefalls kaum noch etwas zu erkennen.

Fynch kam die Treppen des Tempels herunter und rief: „Halt! Ihr greift euch in dem Chaos noch selbst an!“

Die Paladine wichen ein wenig in Richtung Fynch zurück und gruppierten sich neu. Der Steingigant stand immer noch in einer Entfernung, als hätten ihm die Angriffe kaum etwas ausgemacht.

„Wir sollten …“, sagte Fynch, doch ehe er zu Ende sprechen konnte, packte ihn einer der anderen Paladine, schlug ihm ins Gesicht und warf ihn zu Boden.

Fynch schrie auf: „Er ist es! Er hat sich verkleidet! Tötet ihn!“

Unter den Paladinen brach erneut ein Tumult aus. Der Paladin, der Fynch zu Boden geworfen hatte, schlug zwei andere Paladine nieder, bevor sie etwas tun konnten, während der Steingigant erneut zum Angriff überging und eine Menge spitze Steine in die Reihen seiner Gegner schleuderte. Ein Rexblisar brach unter der Wucht der Attacke zusammen und Laurie sah, wie Sarah am Kopf getroffen wurde und zusammenbrach. Gleichzeitig fiel Laurie etwas auf: Wenn der Angreifer wirklich der Schatten war, dann hatte er keinen Buckel mehr.

„L-laurie …“, hörte Laurie plötzlich Myras schwache Stimme hinter sich. Sie drehte sich um und sah Myra in sich zusammengesunken. „Lauf …“, murmelte Myra und verstummte dann mit geschlossenen Augen.

„Myra!“, rief Laurie und schüttelte ihre Freundin. „Was ist los, was …“

Etwas strich über Lauries Gesicht, wie ein Windhauch. Es war ein Gefühl, wie sie es vor ein paar Tagen schon einmal gespürt hatte, nämlich kurz bevor sie eingeschlafen war, als sie den Schatten in ihrem Haus verfolgt hatte.

Im nächsten Augenblick huschte etwas Kleines an Laurie vorbei. Es war ein winziges, beigefarbenes Pokémon, mit fast ovalem Körperbau und ohne Arme. Irgendwo im bereits schläfriger werdenden Teil von Lauries Gehirn hallte der Name „Knilz“ nach – ein kleines Pflanzenpokémon, das Sporen mit einer einschläfernden Wirkung zu seiner Verteidigung einsetzen konnte. Während Laurie fühlte, wie ihre Knie nachgaben, wurde ihr bewusst, dass der Buckel des Schattens in Wirklichkeit dieses Pokémon gewesen sein musste, und dass es genau dieses Pokémon war, was die Leute in der Umgebung des Schattens mit seinen Sporen einschläferte. Vielleicht hatte der Schatten ihm befohlen, sich hier zu verstecken, um die Paladine dann verkleidet überraschen zu können. Das kleine Pokémon lief auf die kämpfende Menge zu, vermutlich, um seinem Trainer nun zur Hilfe zu eilen.

Laurie sank auf die Knie, griff mit der Hand in den Schnee am Boden und schaufelte ihn sich ins Gesicht. Die eisige Kälte schnitt schmerzhaft in ihre Wangen, aber sie durfte jetzt nicht einschlafen!

Doch es half nicht wirklich etwas. Das Kampfgetümmel um sie herum schien leiser zu werden, und ihr Körper fühlte sich mit einem Mal so schwer an. Laurie fiel vornüber in den Schnee, darum kämpfend, wenigstens ihre Augenlider offen zu halten.

„Hilfe …“, flüsterte sie, auch wenn sie wusste, dass niemand sie hören konnte, „irgendjemand … Hilfe …“

Da sah Laurie plötzlich das Leuchten. Es bewegte sich abseits des Kampfes zwischen dem Schatten und den Paladinen auf sie zu.

„Mom …“, murmelte Laurie. Sie streckte die Hand aus. Die leuchtende Gestalt, die zu ihr kam und sich vor ihr in den Schnee kniete, war unverkennbar ihre Mutter. Laurie sah ihr freundliches Gesicht, das ihrem eigenen so ähnlich war. Sie sah nicht mehr hasserfüllt aus wie in der Nacht, in der Laurie mit Margaret im Schneesturm campiert hatte.

Als Laurie die Gestalt berühren wollte, griff sie jedoch ins Leere. Da war niemand, jedenfalls nicht wirklich. Lauries Herz wurde schwer. Das war vielleicht nur eine Halluzination oder vielleicht schlief sie schon längst und träumte das alles nur. Doch im nächsten Moment fassten ihre Finger etwas. Es fühlte sich an wie Fell, weich, aber irgendwie auch kühl. Das Gefühl dieses Fells kam Laurie irgendwie vertraut vor.

Etwas fiel vor Laurie in den Schnee. Unmittelbar danach erstarb das Leuchten und das weiche Fell entglitt Lauries Fingern. Zurück blieb nur das, was unmittelbar vor Laurie lag. Es war eine große, hellblaue Frucht. Eine Maronbeere. Laurie griff mit letzter Kraft danach und biss mit unfassbar großer Anstrengung etwas davon ab, zerkaute das überraschend trockene, harte Fruchtfleisch und schluckte es runter. Es dauerte ein paar Momente, doch allmählich klärte sich Lauries Verstand wieder. Das Gefühl von Erschöpfung verschwand, und sie bekam wieder Kraft in ihren Gliedern.

Sie stand auf und ging zu Myra, die selbst noch am Boden lag. Vorsichtig öffnete Laurie Myras Mund und träufelte so viel Saft hinein, wie der angebissene Rest der Beere hergab.

„Komm schon, Myra“, flüsterte Laurie.

Myra schluckte reflexartig den Saft und Laurie atmete auf, als Myras Augen sich kurz danach öffneten.

„Was …“, flüsterte Myra. „Was ist passiert? Da war dieses … Pokémon …“

„Es ist ein Knilz“, antwortete Laurie. „Es gehört zum Schatten. Damit schläfert er die Leute ein.“

„Gruselig“, murmelte Myra und richtete sich auf. „Warum schläfst du dann nicht? Und wie hast du mich so schnell wieder wachbekommen?“

„Später“, sagte Laurie. „Wir müssen jetzt los.“

Myra nickte. „Wir müssen dringend hier weg.“

Sie kamen aus ihrem Versteck hervor und sahen, dass die Paladine den Kampf in der Zwischenzeit offenbar fast verloren hatten. Fast alle von ihnen lagen am Boden, ebenso wie ihre Pokémon. Ob sie tot waren oder nur schliefen, ließ sich nicht eindeutig sagen.

Lediglich Fynch stand noch, und sein Trikephalo schoss aus seinen drei Mäulern Attacken auf den Schatten und den Steingiganten ab, während letzterer sich mit Steinkante-Attacken zur Wehr setzte. Langsam wurde Fynch gegen die Felswand hinter sich gedrängt, und die spitzen Steine des Steingiganten verfehlten ihn oft nur knapp. Der Schatten hatte sich mit seinem Giganten nun so postiert, dass er zwischen Fynch und dem Tempel stand.

Fynchs Gesicht war hasserfüllt. Er griff in seine Jackentasche und holte zwei Meisterbälle hervor, die er sogleich auch warf.

Zwei große Gestalten erschienen – eine von ihnen war der Eisgigant, den Laurie bereits kannte. Die andere musste also der Stahlgigant sein, was auch nicht schwer zu erkennen war: Er verfügte über einen metallisch glänzenden Körper, der glatt und kugelrund war, mit Armen an jeder Seite, die in drei ebenfalls metallischen Fingern endeten.

Etwas sprang auf den Arm des Schattens – es war offenbar sein Knilz. Der Schatten nahm dem Pokémon etwas ab, das es offenbar um seinen Körper trug. Laurie kniff die Augen zusammen und glaubte, einen kleinen grauen Stein erkennen zu können, den das Pokémon an einer Kette getragen hatte. Sogleich sprang das Knilz vom Arm des Schattens herunter und fing an zu leuchten. Es fing an, seine Körperform zu ändern und gewann deutlich an Größe.

„Er hat die Entwicklung seines Pokémon die ganze Zeit mit einem Ewigstein gestoppt“, flüsterte Myra. „Jetzt lässt er zu, dass es sich entwickelt.“

Das Leuchten verschwand und wo das Knilz gestanden hatte, stand nun seine nächste Entwicklungsstufe, ein Kapilz – ein grün-beiges Pokémon mit agiler Struktur, kräftigen Beinen und einem Schwanz, der mit vier Samenkugeln ausgestattet war. Seine Kopfform erinnerte an die eines Pilzes. Laurie wusste, dass Kapilz vielleicht nicht als übermäßig starke Pokémon galten, aber dennoch gute und schnelle Kämpfer waren. Sie wusste auch, dass es dank seines Kampftypen einige Vorteile gegenüber den Pokémon von Fynch hatte.

Doch bevor einer der Kämpfenden auch nur einen Befehl geben konnte, ertönte ein scharrendes Geräusch, wie von Stein, der auf Stein schabte.

Alle sahen auf den Eingang des Tempels, der sich langsam öffnete.

Hallo @Rainbow - diesmal hat mich dein Kommentar noch einmal sehr viel mehr gefreut, weil ... Well, der Tag, an dem du ihn geschrieben hast, war ansonsten so unfassbar doof, dass ich einfach eine Aufmunterung nötig hatte. Insofern wirklich vielen Dank dafür!

Zitat von Rainbow

Das war ein sehr spannendes und informatives Kapitel! Jetzt wissen wir über alle Figuren genug, dass ihre potentiellen Tode eine Bedeutung haben werden.

Just kidding, aber ich bin echt gespannt, wie es mit den Figuren allen ausgehen wird. Bei manchen mache ich mir mehr, bei anderen weniger Sorgen, ob und falls ja, in welcher Form sie die Geschichte beenden.

Das interessiert mich: Bei welchen sind denn die Sorgen am größten?

Zitat von Rainbow

Nein, ernsthaft, es ging tatsächlich noch ein wenig tiefpunktiger nach dem letzten Kapitel, das habe ich jetzt gelernt.

Jo, das ist ein Tiefpunkt gewesen - aber nun geht es ja ins Finale!

Zitat von Rainbow

Das habe ich nicht kommen sehen! Die Paladine haben echt so illuminatimäßig die ganze Pokémon-Welt unterwandert! Was natürlich gutes Potential für eine Fortsetzung mit sich bringt, ohne aufgezwungen zu wirken. Finde ich toll

Nun, vielleicht nicht die ganze Welt. Ich stelle mir aber vor, dass sie zumindest einen gewissen Einfluss und Reichtum an einigen Orten brauchen, um ihre Operationen durchführen zu können und alles. Aber ja, das wird in einer eventuellen Fortsetzung vielleicht behandelt werden.

Zitat von Rainbow

Der Schatten ist echt krass. Das Bild hat mir sehr gut gefallen. Jetzt frage ich mich natürlich, ob er irgendwas mit Ho-Oh zu tun haben könnte.

Interessanter Gedanke. Aber wir werden sehen, hihi.

Zitat von Rainbow

Ich glaube zwar nicht, dass sie wirklich schon verloren haben, aber ich bin echt so dermaßen gespannt, wie zur Hölle sie sich da wieder rauswinden wollen! Das wird kein leichtes Finale, für niemanden.

Vorerst hatten sie Glück - und offenbar eine Art Schutzengel, was Laurie betrifft, hihi. Aber natürlich steht noch der absolute Endkampf bevor.

Zitat von Rainbow

Stimmt gar nicht!

Ich habe mir nach diesem Satz tatsächlich überlegt, wo sich die Exposition besser gemacht hätte. Gerade im Fall von Sarah finde ich aber, dass sie, weil bisher nur Andeutungen zu ihrer Vorgeschichte da waren, zu so einem interessanten und spannenden Charakter geworden ist. In ihrem Fall wäre mit einer früheren Exposition etwas von ihrem Reiz verloren gegangen. Davon abgesehen, hast du es ja geschafft, die Exposition mit einer weiteren Absenkung des Tiefpunkts der Geschichte zu kombinieren, was ich tatsächlich nicht so habe kommen sehen.

Stimmt ja wohl!

Ja, ich bin da halt unsicher, urks. Ich habe das Gefühl, es hätte da Vieles früher kommen müssen. Vielleicht ist das ein bisschen der Nachteil, dass ich die Geschichte nciht durchgeplant habe - dann wäre es vielleicht leichter gewesen, das rüberzubringen, ohne so viel in das Kapitel zu quetschen. Insbeosndere unzufrieden bin ich eigentlich damit, dass der eigentliche Plan hinter dem Fangen der Giganten etwas spät kommt - das bedeutet ja eigentlich, dass die Stakes vorher nicht völlig klar waren, wenn vielleicht auch ausreichend, weil man sich ja zumindest denken kann, dass ein Haufen Legendärer in den Händen der Bösen nicht gut sein kann. Aber ja, wenn es zumindest das Lesevergnügen nicht zu sehr geschmälert hat, bin ich für die FF zumindest schon zufrieden, auch wenn ich daraus vielleicht ein bisschen eine Lehre für meine anderen Geschichten ziehen sollte.

Zitat von Rainbow

Total! Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber mir helfen Geschichten immer am allerbesten, um abzuschalten. Also, mehr noch als Videospiele oder Filme.

Ich finde, das ist ein richtig tolles Ziel!

Mir geht es beim Schreiben ähnlich - ich bin irl schon der totale Clown, und mit meinen Geschichten will ich die Leute auch unterhalten und irgendwo fröhlich machen. In meinem Fall muss ich dann immer aufpassen, dass die Geschichten nicht zu klamaukig werden.

Ja, mir helfen Geschichten auch dabei - wobei ich in der letzten zeit so wenig zum Lesen von geschichten komme, d.h. auch wirklich dazu, in sie einzutauchen. Es war vieles stressig und da kann ich mich irgendwie nicht mehr ruhig mit einem Buch hinsetzen.

Zitat von Rainbow

Das ist eine sehr gute Lebenseinstellung, an die ich mich versuchen werde zu halten!

Jep, sehr gesund! Ich traue nicht einmal mir selbst über den Weg, auch wenn das alles unheimlich kompliziert macht.

Zitat von Rainbow

Eddie ist der Schatten?! ******* Eddie! Warum?!

OMG, auf diesen Spin-off-Titel bin ich echt gespannt! Kannst du ihn in der Öffentlichkeit verraten, oder nicht in diesem frühen Stadium? Das Spin-off heißt bestimmt... The Eddie-ventures! Eddie and the Paladins! All-american Eddie! Die Passion Eddies! (mit letzterem Titel könntest du dir auch eine konservativere Zielgruppe erschließen btw)

Bei den Titeln kommt mir mein eigener jetzt irgendwie schlechter vor ... Ich würde ihn aber erst verraten, wenn die Geschichte raus ist. Am Ende fällt mir etwas Besseres ein und dann kann ich so tun, als hätte ich den schon von Anfang an so gewollt.

Zitat von Rainbow

Ja, es müssen nicht Game-of-Thrones-mäßig alle sterben, das sehe ich auch so. Aber solange die realistische Gefahr da ist, dass jemand sterben könnte, ist ja die gleiche Spannung da, was auch toll ist.

Wow, Spoileralarm! Tbh habe ich GoT nicht gesehen, weil mich der Hype dadrum wohl auf dem falschen Fuß erwischt hat, ähem. Wobei ich mit eventuellen Spoilern grundsätzlich nicht so ein Problem habe. Aber ja, sterben werden vermutlich nicht alle.

Zitat von Rainbow

Rückkehr der Kangama-Chroniken confirmed? Ich habe diese Werke damals so gefeiert!

Da sind mir ein wenig die Idee ausgegangen, das heißt - ich glaube, eine unveröffentlichte Geschichte davon liegt noch irgendwo in meinem Ordner rum, aber die war nicht so ganz das das Wahre irgendwie. Vielleicht lässt sich da aber mal irgendwann was überarbeiten und dann kann ich da noch einmal gucken, ob da vielleicht doch noch was kommt - oder mir fällt doch noch was dazu ein.

Ist dieses Kapitel aber vielleicht die erste Instanz der Kapilz-Chroniken?

Wie gesagt, ich habe mich diesmal ganz besonders über deinen Kommentar gefreut! Ich glaube btw, dass es wohl wirklich noch höchstens zwei Kapitel werden, wovon das nächste eigentlich schon der Abschluss ist und das danach vielleicht "nur" ein Epilog sein wird. Und dann ... mal schauen, was ich zeitlich hinbekomme.

Aber wie gesagt: Wirklich vielen lieben Dank für deinen Kommentar!

Laurie begriff sogleich, was los war: Jetzt, wo Fynch die anderen beiden Giganten hier hervorgerufen hatte, reagierten die Mechanismen in der Tür auf ihre Anwesenheit. Vielleicht hatte er sie deswegen erst als letzten Ausweg aus ihren Meisterbällen gelassen.

Laurie dachte nicht mehr daran zu fliehen, sondern rannte zur Tempeltreppe und sprintete sie hoch.

„Nein!“, schrie Fynch und Laurie sah, als sie einen Blick zurückwarf, wie er ihr folgen wollte, doch das Regirock des Schattens stand immer noch in seinem Weg. Für den Schatten selbst hingegen war der Weg frei. Er kümmerte sich nicht um den Steingiganten, sondern rannte selbst zum Tempel. Doch am Fuß der Treppe trat Myra ihm entgegen. Kleffi schwebte über ihrer Schulter und feuerte eine Lichtkanone ab, der der Schatten auswich. Das Kapilz des Schattens sprang ihm zur Seite und versuchte, Kleffi mit einer Reihe von Schlägen, bei denen sich seine kurzen Arme ausdehnten, zu erwischen. Das Clavion war nicht schnell genug, um auszuweichen und wurde getroffen.

Myra knurrte und warf einen Blick zu Laurie hoch. „Los!“, rief sie. „Ich halte ihn auf!“ Sie hob ihre Arme zur Deckung, als der Schatten angriff. Myra duckte sich unter einem Schlag von ihm weg und traf ihn ihrerseits unter den Rippen mit einem Hieb.

Laurie zögerte einen Moment. Sie wusste, dass Myra im unbewaffneten Nahkampf sehr viel besser war als sie selbst – und sie hielt sich immerhin für ganz passabel –, aber das war schließlich die Person, die mit Leichtigkeit eine kleine Armee an Paladinen besiegt hatte. Myra warf den Schatten mit einem Pushkick zurück und sah noch einmal zu Laurie. „Worauf wartest du?“, fragte sie. „Mach schon!“

Hinter Myra und dem Schatten sah Laurie, wie sich Fynchs Giganten auf den Steingiganten warfen und ihn zu Fall brachten. Fynch wartete nicht, bis sie ihn wirklich besiegt hatten, sondern rief sein angeschlagenes Trikephalo zurück und hechtete an ihnen vorbei.

Laurie drehte sich um und rannte in den Tempel hinein, durch die Dunkelheit in den oberen Raum, in den von außen noch fahles Licht fiel. Vereinzelt wehte Schnee durch die schartenartigen Fenster.

Der Raum sah erneut so aus wie die, die Laurie bereits kannte – er hatte die gleiche Statue wie die anderen und auch die kreisförmigen Platten im Boden, die leuchteten, wenn man auf sie trat. Die stufenförmig zu den Seiten hochführenden Wände waren jedoch ebenso verschieden eingefärbt wie das Äußere des Tempels; die linke Seite war gelb, die rechte tiefrot. Hinter der Statue trafen die beiden Farben aufeinander.

Laurie rannte zu einer der Platten und stampfte mehrmals mit ihrem Fuß so heftig auf sie, wie sie konnte. Die Platte leuchtete auf und erlosch dann wieder, zeigte jedoch nicht den geringsten Kratzer. Laurie griff in ihre Jackentasche und zog Glacey Pokéball hervor.

Sobald Glacey da war, überlegte Laurie fieberhaft, was zu tun war. Glaceys Attacken waren nicht wirklich zerstörerisch. Ein Eisstrahl fror das Ziel ein, hatte aber nicht wirklich viel Wucht.

„Glacey“, sagte Laurie schließlich unsicher, „Eissplitter auf die Platte, los!“

Die scharfen Eiskristalle trafen die Platte, beschädigten sie aber nicht.

„Eisspeer!“, rief Laurie.

Glacey schoss aus ihrem Mund große Eiszapfen auf die Platte, doch erneut gab es keine Beschädigung.

„Verdammt!“, fluchte Laurie. „Sternschauer!“

Doch auch die sternförmigen Strahlen, die Glacey heraufbeschwor, zeigten keine Wirkung.

„Verdammt!“, schrie Laurie noch einmal und hämmerte mit der Faust auf die Platte ein. „Verdammt, verdammt, verdammt!“

Sie sah gerade noch rechtzeitig etwas aus den Augenwinkeln und sprang zur Seite. Die Finsteraura-Attacke verfehlte sie nur knapp. Sie rollte sich auf dem Boden ab und kam wieder auf die Füße.

Fynch stand im Tempelinnenraum, sein Trikephalo über ihm. Es war sichtlich vom Kampf mitgenommen worden, doch noch immer wirkte es furchteinflößend und gefährlich.

„Es ist vorbei, kleine Belford“, keuchte Fynch, „Du wirst mich nicht aufhalten, genauso wenig wie der Schatten.“

Laurie ballte die Hände zu Fäusten.

„Glacey“, sagte sie ruhig, „Eisstrahl.“

Glacey griff sofort an, doch das Trikephalo setzte einen Schutzschild ein, der die Attacke wirkungslos machte, und antwortete mit einem Flammenwurf, dem Glacey kaum ausweichen konnte. Bevor Glacey wieder zum Angriff übergehen konnte, schossen sämtliche Mäuler des Trikephalo Flammenstöße auf sie ab, und sie konnte nur zur Seite springen und zurückweichen, genau wie Laurie. Schließlich waren sie in eine Ecke des Raumes gedrängt, und es gab kein Entkommen mehr.

„Ich werde es genießen, euch verbrennen zu sehen“, knurrte Fynch. „Das wird die Rache für das sein, was deine Mutter mir angetan hat.“

Laurie starrte ihn an. Sie hatte den ganzen letzten Tag gedacht, dass es endgültig vorbei gewesen war. Nun jedoch war ihr klar, dass sie nicht so einfach aufgeben durfte. Sie war weiter gekommen, als sie überhaupt am Anfang ihrer Reise gedacht hatte. Sie sah sich um, verzweifelt auf der Suche nach irgendetwas, das ihr helfen könnte …

Eine Idee durchfuhr sie wie ein Blitzschlag. Sie sah den durch die Fenster hereinfallenden Schnee. Und sie sah die Platten – einige von ihnen leuchteten, vermutlich weil sie während des Kampfes da draufgetreten war. Wenn sie eine Chance bekam, dann …

„Glacey“, flüsterte Laurie leise, „Auroraschleier.“

Sofort wurde der ganze Raum in verschwommenes regenbogenfarbenes Licht getaucht, ganz so, als hätte sich in ihm ein schillernder Nebel ausgebreitet.

„Komm!“, rief Laurie und rannte gefolgt von Glacey zur Seite. Fynch und sein Trikephalo konnten sie nicht mehr gut hinter dem Auroraschleier sehen. Ein Flammenwurf verfehlte sie.

„Lass diese Spielchen“, hörte Laurie Fynch knurren.

„Glacey“, rief Laurie, „jetzt Blizzard!“

Ein gewaltiger Schneesturm brach mitten im Raum los, und zusammen mit dem Auroraschleier war es fast unmöglich, noch etwas zu erkennen.

„Das kannst du nicht ewig so weitertreiben“, rief Fynch zornig durch den Schneesturm. „Irgendwann hört es auf.“

„Mach weiter, Glacey!“, rief Laurie, ohne auf ihn einzugehen.

Laurie wusste, dass sie das nicht ewig weitertreiben konnte, aber die Zeit und die Deckung, die sie bekam, waren alles, was sie brauchte. Sie hatte realisiert, dass sie Fynchs Trikephalo nicht besiegen konnte. Aber jemand anderes konntes es.

Sie kroch auf allen Vieren auf dem Boden herum und folgte den Platten, die sie in etwa sehen konnte. Sie berührte die Platten im Vorbeikrabbeln so, dass eines der Muster eingestellt wurde, das draußen auf dem Tempel zu sehen war.

Als sie die letzte Platte berührt hatte, ertönte ein lautes Rumpeln und dann ein Brüllen. In der Mitte des Raumes war eine große Gestalt aufgetaucht.

„Was zum …?!“, hörte Lauries Fynchs Stimme. Glaceys Blizzardattacke erstarb und Laurie konnte Fynch wieder besser sehen, eine weiße Gestalt inmitten des bunten Nebels. Und vor ihm, nur weniger Meter entfernt, eine große kugelförmige Gestalt mit zwei mächtigen Armen, die, wie Laurie bemerkte, aussahen wie der Ober- und der Unterkiefer eines Drachen. Vermutlich war es also der Gigant vom Typ Drache, den Lauries Mutter kurz in ihren Aufzeichnungen erwähnt hatte.

Fynch schien einen Moment erstarrt, dann griff er hastig in seine Tasche. Laurie wusste, was er vorhatte und rannte auf ihn zu. Gerade als er den Meisterball werfen wollte, rammte Laurie ihn mit ihrer Schulter. Der Ball flog ihm aus der Hand, doch verfehlte sein Ziel um mehrere Meter.

Fynch fing sich wieder und stürzte auf Laurie los, die beiden Hände nach ihr ausgestreckt, als wollte er sie erdrosseln. Sie trat einen Schritt zur Seite, packte seine Arme, nutzte den Schwung seines Angriffs und ließ ihn ins Leere laufen – zumindest hatte sie das gedacht. In Wirklichkeit stolperte Fynch genau auf den Giganten zu. Laurie keuchte auf, als der Gigant den größeren seiner beiden Kiefer hob und damit zuschlug. Fynch wurde durch die Luft geworfen, und Laurie glaubte, Blutflecken auf seiner Kleidung dort zu sehen, wo die Zähne des Kiefers in ihn eingedrungen waren. Als er auf dem Boden auftraf, stand er nicht mehr auf.

Fynchs Trikephalo brüllte und schoss eine Attacke auf den Giganten ab, der davon vollkommen unberührt schien, abgesehen davon, dass er sich in die Richtung drehte, aus der die Attacke gekommen war. Die beiden Kiefer an seinen Seiten verschoben sich um seinen kugelförmigen Körper, bis sie ein gigantisches Maul bildeten, das geradewegs auf das Trikephalo zeigte. Ein gewaltiger Strahl aus Energie schoss aus dem Maul hervor und traf das Trikephalo in der Luft, welches laut aufbrüllte und dann mit einem Krachen zu Boden stürzte. Es war besiegt.

Im nächsten Moment wandte der Gigant sich Laurie zu. Sie hechtete zu einer der leuchtenden Platten im Boden und trat drauf. Das Leuchten erstarb und erneut ertönte ein lautes Rumpeln. Im nächsten Moment sah es so aus, als würde der Drachengigant in die Statue gezogen werden, die an dem einen Ende des Raumes stand. Kurz darauf war er verschwunden.

Für einen Moment stand Laurie nur da und keuchte. Sie fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Glacey schien ebenfalls erschöpft zu sein.

„Nun“, sagte Laurie zu Glacey, „das war’s. Jetzt fehlt nur noch …“

Myra! Es durchfuhr sie eiskalt. Sie rannte zur Tür, die aus dem Raum hinausführte, doch lange bevor sie da war, schälte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit des Ganges heraus. Es war der Schatten. Er trug noch immer die Paladinuniform, die er gestohlen hatte. Neben ihm stand sein Kapilz.

Laurie schluckte und wich wieder einige Schritte zurück. Glacey drückte sich an ihre Beine. „Wer sind Sie?“, fragte Laurie. „Was ist mit Myra?“

„Sie schläft“, ertönte eine dumpfe Männerstimme. Laurie stutzte einen Moment. Sie war sich sicher, diese Stimme schon einmal gehört zu haben, aber sie konnte sie nicht wirklich zuordnen.

„Wer sind sie?“, fragte Laurie noch einmal.

„Ach, kleine Laurie“, sagte der Schatten. „Weißt du, was ich am bemerkenswertesten finde? Du bist wirklich wie deine Mutter – alleine bekommt ihr nichts auf die Reihe. Wenn ich heute nicht gewesen wäre, hättest du vermutlich nie eine Gelegenheit zur Flucht bekommen und wärst von den Paladinen umgebracht worden. Vielleicht hätten du und deine kampflustige Freundin die Chance aber auch nutzen sollen.“

„Meine Mutter?“, fragte Laurie. „Sie kennen sie also?“

„Natürlich“, sagte der Schatten und lachte. „Davon hast du dich doch schon selbst überzeugt.“

„Ich habe … Moment. Sie sind das! Sie sind …“

Sie brauchte nicht zu Ende zu sprechen. Der Mann warf die Kapuze zurück und zog seine Sturmhaube ab. Zum Vorschein kamen fast militärisch anmutendes kurzes schwarzes Haar und ein kantiges Gesicht mit kräftiger Farbe. Es war Stanley Drayden, der Besitzer des kleinen Ladens für Outdoorkleidung in Score City.

„Ich dachte, ich hatte sie gebeten, mit mir zu sprechen, wenn sie irgendetwas brauchen“, sagte Drayden gedehnt. „Nun ja, aber ich war ja auch schon in die Schneelande aufgebrochen, also kann ich sie ja wohl kaum dafür verantwortlich machen, nicht?“

„Ich verstehe nicht“, sagte Laurie, „Sie … Sie haben doch meine Mutter ausgerüstet, wieso …“

„Ausgerüstet?“, fragte Drayden und verzog das Gesicht. „Ich habe sie zu dem gemacht, was sie war. Überleben in der Wildnis, Klettern, Nahkampf – ich habe ihr das alles beigebracht. Sie verdankt das alles mir, so wie du mir heute dein Leben verdankst.“

„Aber …“

„Aber was soll ich schon von euch Belfords erwarten? Erst deine Mutter, die mir nicht vertraut, und jetzt …“ Er schüttelte den Kopf. „Jedenfalls, es ist ganz einfach. Du gehst raus, weckst deine Freundin und ihr haut ab. Die Giganten kämpfen zwar noch, aber das sollte euch nicht kümmern, ihr kommt schon an denen vorbei. Und währenddessen hole ich mir den Rest der Giganten.“

Laurie schüttelte den Kopf. „Nein“, flüsterte sie.

„Wie bitte?“, fragte Drayden. Seine Stimme bekam etwas Bedrohliches, das Laurie fast noch mehr Angst einjagte als Fynch.

„Nein“, sagte Laurie etwas fester. „Ich lasse nicht zu, dass sie die Giganten bekommen.“

Drayden seufzte. „Nun gut“, sagte er. „Dann also auf die harte Tour.“

„Offensichtlich“, erwiderte Laurie.

Sie starrten sich einen Moment an, dann stürmte Drayden auf sie zu, neben ihm sein Kapilz.

„Eisstrahl!“, rief Laurie und der eiskalte Strahl schoss zwischen Drayden und seinem Pokémon hindurch, ohne etwas zu treffen. Das Kapilz holte zu einem Himmelhieb aus und Glacey sprang zur Seite.

„Schnapp es dir!“, rief Laurie, bevor sie einem Schlag von Drayden auswich und mit einem Schnapptritt kontern wollte. Drayden blockte den Tritt, indem er rasch eins seiner Beine so hob, dass Lauries Schienbein schmerzhaft auf sein Knie traf.

„Deine Freundin war besser“, kommentierte Drayden.

Laurie biss die Zähne zusammen und schloss ihre Deckung, als Drayden auf sie einschlug. Sie versuchte, aus der Deckung heraus einen Schlag mit der Handfläche in sein Gesicht zu setzen, doch er wich aus und zog ihre Deckung weiter auf, bevor er nun ihr selbst ins Gesicht schlug. Er traf Lauries Nase, und Tränen schossen ihr in die Augen, wodurch ihre Sicht etwas verschwamm. Ein Tritt von Drayden traf sie seitlich am linken Oberschenkel, und Laurie knickte ein. Sie hielt ihre Hände vor ihrem Kopf, um sich weiter zu schützen, aber Drayden schlug mit einer Hammerfaust von solcher Wucht zu, dass Laurie das Gleichgewicht verlor. Sie versuchte, wieder vom Boden hochzukommen, doch Drayden warf sich auf sie und drückte sie mit seinem Gewicht nach unten. Bald saß er auf Lauries Bauch, die nicht viel mehr tun konnte, als zu versuchen, sich irgendwie herauszuwinden. Sie hakte einen ihrer Füße um ein Bein von Drayden und versuchte, ihn mit einer ruckartigen Bewegung abzuwerfen, doch er blieb relativ stabil auf ihr sitzen.

Drayden lachte. „Das ist das Dumme an diesen Selbstverteidigungstricks – im echten Leben funktionieren sie nie so wie im Training.“

Laurie spürte, wie ihr allmählich die Kraft ausging. Egal, was sie versuchte, es funktionierte nicht. Sie konnte sich nicht rauswinden. Drayden war schneller, stärker und erfahrener als sie. Sie versuchte ihren Kopf und ihre Deckung oben zu halten, während er auf sie einschlug. Irgendwann würden ihre Arme vor Erschöpfung nachgeben und dann wäre sie schutzlos.

Sie sah sich nach Glacey um, aber diese steckte gerade einen brutalen Hieb von Draydens Kapilz ein und taumelte, bevor sie einen Eisstrahl abfeuerte, der das gegnerische Pokémon wieder verfehlte. Sie konnte Laurie nicht helfen.

Ein Ellenbogen traf Laurie schmerzhaft an der Schläfe. Im nächsten Moment packte Drayden einfach ihre Handgelenke und zog ihre Deckung auf. Laurie hatte nicht mehr genug Kraft, um Widerstand zu leisten.

„Genug gespielt“, sagte Drayden mit einem arroganten Grinsen.

„Glaube ich auch“, sagte eine vertraute Frauenstimme hinter ihm, und als Drayden sich umdrehte, traf ihn eine Hammerfaust am Kinn. Laurie nutzte die Chance und warf ihn von sich runter. Sofort kam Drayden wieder auf die Beine und wollte auf seine neue Angreiferin losstürmen, doch Laurie hakte einen Fuß um seinen linken Knöchel und trat mit dem anderen gegen sein Knie, sodass er schmerzerfüllt aufschrie und wieder auf sein Knie fiel. Anschließend traf ihn von irgendwoher ein Fuß im Gesicht. Die Wucht des Tritts warf ihn zu Boden.

Laurie rappelte sich auf und sah zwei in weiß gekleidete Personen vor sich stehen. Es waren Myra und Sarah. Sarah blutete am Kopf, schien aber nicht schlimm verletzt zu sein.

Schnell sah Laurie sich nach Glacey um, die aber zu ihrer Erleichterung gerade gemeinsam mit Kleffi und Sarahs Magnayen das Kapilz einkreiste.

Drayden hingegen knurrte und rappelte sich auf. „Das“, sagte er, „werdet ihr nicht überleben.“

Laurie erkannte mit Genugtuung, dass er ein wenig humpelte.

Sarah trat vor. „Wir haben noch eine Rechnung offen“, sagte sie. „Eigentlich sogar zwei.“ Sie rieb sich die Stelle, wo sie am Kopf blutete.

„Sie“, sagte Drayden und zeigte auf Laurie, „hat Fynch umgebracht.“ Er zeigte auf den leblosen Körper des Paladin-Anführers, der in einige Entfernung auf dem Boden lag.

Für einen Moment hielt Sarah inne und Laurie schluckte, als ihr wieder einfiel, dass sie und Sarah im Grunde genommen Feinde waren.

„Tja“, sagte Sarah schließlich und zuckte die Achseln. „Was für ein Pech.“

Sie stürmte auf Drayden los, die Arme zur Deckung erhoben. Laurie und Myra zögerten nicht, sondern folgten ihr.

Drayden wehrte sich gegen ihren Ansturm nach Kräften, doch das Bein, das Laurie attackiert hatte, schien ihn nicht mehr tragen zu wollen und selbst er konnte sich nicht gegen drei Personen gleichzeitig wehren. Laurie zog seine Deckung auf und Sarah schlug zu, während Myra einen Tritt gegen Draydens Oberschenkel setzte. Drayden blockte einen weiteren Tritt von Laurie, wurde jedoch von Sarahs Hammerfaust am Kopf getroffen und taumelte. Myra packte einen seiner Arme, zog ihn rasch in einen Hebel und zwang Drayden zu Boden. Er versuchte sich zu befreien, doch Sarah sprang von hinten auf ihn, umklammerte seinen Oberkörper mit ihren Beinen und setzte zusätzlich einen Kreuzwürger an, während Laurie Draydens anderen Arm packte und festhielt. Drayden würgte und röchelte, doch seine Bewegungen wurden langsamer, und schließlich erschlaffte er. Sie ließen ihn los und er fiel zu Boden.

Myra taste nach seinem Puls. „Er lebt“, stellte sie kurz fest.

Laurie sah schnell zu den kämpfenden Pokémon und sah auch Draydens Kapilz kampfunfähig am Boden liegen. Der Schatten hatte verloren.

Sarah holte ein dünnes Seil aus der Tasche ihres Anoraks und fesselte Drayden Arme und Beine auf eine Art, die fast schon kunstvoll aussah. Anschließend durchwühlte sie seine Taschen und holte einen Pokéball und einen Meisterball hervor. Sie rief das Kapilz mit dem Pokéball zurück und warf dann Laurie den Meisterball zu.

„Bitte“, sagte sie. „Dürfte zum Steingiganten gehören.“

Laurie war überrascht. „Warum …“, begann sie, doch Sarah unterbrach sie: „Ich bezahle nur eine alte Schuld. Ruft den Steingiganten zurück in seinen Ball und schickt ihn dann irgendwohin. Weit weg von hier. Ich werde zwar dafür sorgen, dass die Paladine das Giganten-Projekt aufgeben, aber für alle Fälle ist es wohl besser, wenn einer von ihnen komplett aus der Gleichung genommen wird.“

Sarah zog aus einer anderen Tasche von Drayden ein Notizbuch hervor und Laurie sog scharf die Luft ein. „Das ist das Tagebuch meiner Mutter, das er mir gestohlen hat!“

Sarah warf ihr auch das Tagebuch zu und Laurie blätterte eilig durch die Seiten, um festzustellen, ob auch alles mit den Aufzeichnungen in Ordnung war.

Sarah ging indes zu Fynchs leblosem Körper und nahm auch ihm zwei Meisterbälle ab, die sie in ihre Tasche steckte. „Ich behalte die anderen“, sagte sie ruhig. „Wenn ihr mir jetzt helfen würdet, den Schatten rauszutragen. Für … Für Fynch erübrigt sich das.“

Myra und Laurie halfen ihr dabei, den bewusstlosen Drayden herauszutragen. Draußen befanden sich noch die Giganten, doch sie schienen allesamt erschöpft zu sein. Sie kämpften nicht mehr miteinander, und es wirkte, als seien sie alle in sich zusammengesackt, auch wenn das aufgrund ihrer eher steifen Staturen schwer zu beurteilen war. Vielleicht waren sie auch einfach ratlos, was sie tun sollten, weil ihre eigentlichen Besitzer nicht mehr anwesend und außer Gefecht waren.

„Wir sollten sie zurückrufen“, sagte Sarah. „Das heißt … Wartet kurz.“ Sie sah zum Tempel. „Ich habe Fynchs Trikephalo vergessen. Ich gehe es eben holen.“

„Moment mal“, sagte Myra. „Woher sollen wir wissen, dass du uns nicht …“

„Myra“, ging Laurie dazwischen, „es ist gut. Wir können ihr trauen – zumindest im Moment.“

Myra starrte sie an. „Was meinst du damit?“, fragte sie. „Wie …“

„Später“, erwiderte Laurie und nickte Sarah zu.

Sarah neigte zur Antwort einmal kurz dankbar den Kopf und ging zurück in den Tempel.

Im Tempel stand Sarah eine kurze Zeit nur da und sah auf Fynchs Körper. Sie atmete tief durch, ging zu ihm und kniete neben ihm nieder. Sie fühlte seinen Puls. Er war schwach, aber noch da. Seine weiße Kleidung hatte sich rot gefärbt, wo er verletzt worden war. Sarah wusste nicht, was Laurie mit ihm angestellt hatte, aber es musste brutal gewesen sein.

Sie durchsuchte Fynchs Taschen noch einmal und fand einen Pokéball, mit dem sie das Trikephalo zurückrufen konnte. Einer plötzlichen Eingebung folgend öffnete sie seine Jacke und fand in einer Innentasche noch ein kleines, schwarzes Notizbuch. Nachdem sie es eingesteckt hatte, sah sie Fynch an und schüttelte den Kopf.

„Hey“, sagte sie und schüttelte ihn ein wenig. „Wach auf.“

Fynchs Augenlider flatterten und öffneten sich dann.

„Sarah“, murmelte er schwach. „Was …“

„Du hast verloren“, sagte Sarah. „Was abzusehen war. Seit Jahren.“

„Ich … Ich lebe noch …“

„Nicht mehr lange“, erwiderte Sarah. „Also, wie willst du deine letzten Momente nutzen?“

Fynch röchelte und versuchte, sich aufzurichten, doch er hatte offenbar keine wirkliche Kraft dafür. „Du … Du musst mir helfen … Ich … Ich muss verarztet werden …“

Sarah schüttelte den Kopf. „Das rettet dich nicht mehr. Davon ab: Glaubst du wirklich, ich würde dich retten? Noch einmal?“ Sie seufzte. „Ich hätte dich verbrennen lassen sollen, vor all den Jahren.“

Fynch hustete. „Du …“, zischte er mit ersterbender Stimme. „Du warst immer zu schwach, um zu tun, was …“

„Ich war nicht schwach“, widersprach Sarah. „Ich war einfach ein menschliches Wesen. Ich glaube an die Ziele der Paladine. Aber ich werde nicht einfach Menschen umbringen. Nicht … Nicht noch einmal.“ Sie erhob sich. „Aber ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Ich hatte gedacht, du würdest vielleicht auf dem Sterbebett noch eine Entschuldigung hinbekommen, aber ich habe mich offensichtlich geirrt. Aber weißt du was: Es kümmert mich auch nicht mehr wirklich.“

Sie drehte sich um und ging davon.

„Sarah!“, rief Fynch. „Du … Du kannst nicht …“

„Doch“, sagte Sarah, ohne sich noch einmal umzudrehen. „Ich kann.“

Hi @Emerald,

wirklich vielen lieben Dank für deinen Kommentar zu der Geschichte und das viele Lob! Es freut mich sehr, dass das Kapitel gut ankam und hoffe, das kann ich für die letzten zwei Kapitel halten (auch wenn ich wie gesagt mit dem Ende ein wenig struggle, uff).

Zitat von Emerald

Die Idee mit der Maronbeere und die Beschreibung dieser hat mir auch sehr gut gefallen. Darauf bin ich zunächst gar nicht als potentielle Lösung gekommen, aber es macht so viele Sinn!

Ich musste da ja erst suchen, ob die auch bei Menschen wirken sollen und bin dann darauf gestoßen, dass wohl Heureka im Anime mal so kuriert worden ist - und dann war ich erleichtert, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätten tun sollen, pfeif.

Zitat von Emerald

Wir haben den exakt gleichen Plan, um unsere Renten zu finanzieren?

Dann muss das auf jeden Fall eine valide Strategie sein

Wann endlich Riesterförderung für Fanfictions?

Zitat von Emerald

Also, Sorge ist bei Fynch vielleicht übertrieben, aber bei ihm halte ich die Sterbewahrscheinlichkeit für am höchsten.

Dann, bei Sarah mache ich mir Sorgen, weil ihr Tod sehr tragisch wäre aber auch nicht unrealistisch erscheint.

Myra halte ich auch für potentiell lebensgefährdet, aber sie hat in meinen Augen eine höhere Überlebenschance.

Bei Laurie gehe ich nicht davon aus, dass sie selbst sterben wird und hoffe, dass ihrem Pokémon auch nichts tödliches widerfährt.

Dann dürfte sich das Kapitel ja ganz gut mit den Erwartungen/Hoffnungen decken, hihi. Wobei Sarah während eines früheren Stadiums der Geschichte da in der Schwebe hing, aber so wie jetzt war es mir dann doch lieber.

Zitat von Emerald

Es wird noch heftiger?! Yes! YES! YEEES!

Sehr viel heftiger!

Zitat von Emerald

Wie gesagt, ich sehe es auch so: Dass bei Leuten wie Fynch der Plan für die Giganten nichts Gutes sein kann, wird ja schon sehr früh deutlich. Was genau dann der exakte Plan ist, hätte natürlich früher kommen können, aber für die Stakes fand ich das Verhalten der Paladine schon deutlich genug.

Ich überlege da ja mittlerweile, ob ich nicht doch irgendwie einen Kampf mit Regice hätte schildern sollen. Das hätte da vielleicht zeigen können, was so ein einzelner Gigant anrichten kann und dann - bam! - wird enthüllt, dass es eine ganze Armee davon geben könnte. Dann hätte das vielleicht noch mehr Impact. Aber na ja, das hat sich jetzt so entwickelt. Aber schön zu hören, dass es wohl jetzt für die Geschichte nicht alles kaputt gemacht hat!

Zitat von Emerald

Nein! Bei uns haben die Bibliotheken wieder für kurze Zeit offen, Thrawn! Nutz die Chance, deck dich ein! Ich habe mir Freitag 12 Bücher ausgeliehen.

Ich habe ja ein paar Bücher, die ich noch lesen muss, ich muss mich nur gerade durch diverses Zeug wegen Arbeit und Studium wühlen, urks. Und die letzten Wochen waren generell stressig und ich hatte so oft nicht die Energie zu irgendwas. Ich hab deswegen auch wieder Augenlidzucken, das nervt.

Zitat von Emerald

Bei mir war das Problem: Als ich angefangen habe, allen zu misstrauen, ist mir aufgefallen, dass ich eigentlich auch nicht deinem Rat, allen zu misstrauen, trauen konnte. Dann habe ich als Konsequenz versucht, manchen zu trauen um damit niemandem zu trauen und bin in eine Logik-Singularität gefallen. Ich schreibe diesen Post aus der fünften Dimension btw...

Ah ja, das klassische Lügnerparadox quasi. Aber das lässt sich durch Tarskis Wahrheitsdefinition und die Einführung einer Metasprache ganz leicht auflösen!

Zitat von Emerald

Ich habe GoT auch weder gesehen noch gelesen. Ich habe nur peripher mitbekommen, dass so ziemlich alle dort sterben können. Also keine Sorge, von mir wirst du da nicht gespoilert.

Ja, das habe ich auch schon gehört - war auch einer der Gründe, warum ich da irgendwie nie reingeguckt habe, glaube ich. Ich meine, klar müssen auch Charaktere sterben, aber da wurde es ja schon zu einem Meme, das beliebte Charaktere für Shock Value umgebracht werden (wobei die absoluten Publikumslieblinge glaube ich sogar am Leben bleiben, weil's bei denen dann wieder zu viel wäre?).

Zitat von Emerald

Die Kapilz-Chroniken wären auch echt geil! Stell dir das mal vor, eine Situations-Komödie über das, was dem Schatten zwischen seinen Auftritten die ganze Zeit passiert! Oder der Schatten wird mit seinem Kapilz Influencer auf Social Media! Ich würde ihm followen (wenn er gut genug aussieht)!

Ich glaube, er wäre leider einer dieser ... problematischen Influencer. Charakterlich ist er jedenfalls nicht so wirklich ein Held. Wobei man das auch parodistisch verarbeiten könnte, hm.

Zitat von Emerald

Ich freue mich schon extrem (extrem, sage ich!) auf das nächste Kapitel! Es ist lustig, dass unsere beiden Geschichten ungefähr zeitgleich enden werden. Da sind auch viele Abschiedsgefühle für die Charaktere drin zu Zeit.

Danke, ich freue mich auch darauf, das nächste Kapitel deiner Geschichte zu lesen (ich schreibe dazu dann auch noch einmal etwas, bin mit meiner FF ja fast fertig und kann dann die Schreibzeit auch mal wieder anders nutzen).

Apropos freuen: Dein Kommentar hat mich natürlich auch wieder sehr gefreut - ich weiß leider nie, wie ich meine Dankbarkeit dafür gut in Worte fassen kann, aber, nun, ich bin wirklich dankbar dafür!