Blue Horizon

Wir sammeln alle Infos der Bonusepisode von Pokémon Karmesin und Purpur für euch!

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  • „Bringe ein Herz zum Leuchten, und ich erfülle dir einen Wunsch.“


    Es hörte sich so einfach an. Doch ich hätte ahnen sollen, dass diese Wette zu schön klang, um einfach zu sein.



    Vorwort & Idee


    Hallo und herzlich willkommen zu einer etwas… anderen Story. Inwiefern anders? Tjaha! Dafür müsst ihr wohl meine Inspiration kennen. Fangen wir also damit an.


    Vor einiger Zeit hatte klein Caithy eine Phase, in der sie unheimlich gerne Dating-Sims geschaut und gespielt hat. Und weil ich gerne tagträume, fing ich an, einige Charaktere zu erstellen für- You guessed it- eine eigene Dating Sim. Dummerweise verstehe ich nichts vom Programmieren, dementsprechend verstaubten die Skizze zu den Charakteren in einem kleinen Ordner und die Story zu ihnen in meinem Kopf. Kürzlich fand ich diesen Ordner wieder und dachte mir:
    „Eigentlich ist es ja eine Schande…“
    Nun kann ich immer noch nicht programmieren. Aber ich kann schreiben. Und deswegen… Tada! Eine Story zur Dating Sim in meinem Kopf.


    Nun ist es so, dass diese Story wohl einige Schwierigkeiten mit sich bringt. Wir haben in Dating Sims immer verschiedene Love Interests. Wie also alle unterbringen? Die Leser entscheiden lassen, welchen wir verfolgen? Aber was ist dann mit den anderen?
    Klein Caithy dachte und dachte... Und ihr kam die zündende Idee. Verfolgen wir sie eben alle!
    Da Bigamie aber blöd ist und sieben Liebhaber zur gleichen Zeit doch ein wenig anstrengend werden können, musste das etwas anders gelöst werden. Und die Lösung:


    Wir verfolgen sie nacheinander. Einen Love Interest nach dem anderen, und nach jedem Ende wird die Story quasi resettet und wir verfolgen den nächsten. Insgesamt gibt es sieben Routen, also sieben Charaktere. Eine achte, die fix erst ganz am Ende kommen wird, ist ebenso geplant, eine neunte eventuell, je nachdem, wie gut diese Story ankommt.


    Ihr verfallt dabei ein wenig in die Rolle des Spielers. Natürlich kann ich nicht jede Aktion mit euch absprechen, die generelle Story wird also von mir bestimmt. Aber welchen Charakter wir als nächstes verfolgen ist euch überlassen. Weiter unten findet ihr eine Kurzbeschreibung der sieben Charaktere. Wenn ihr jemanden habt, den ihr gerne als nächstes sehen wollt, dann lasst es mich kurz wissen. Natürlich werden wir eine Route komplett gehen, bevor der nächste Charakter dran kommt.



    Ich hoffe, diese Art von Interaktion in der Geschichte kommt an. Wenn nicht, dann gehe ich nach meinen eigenen Vorlieben, haha.

    Genres


    Romance I Fantasy I Reallife


    Charaktere


    Hier findet ihr alle für die Story wichtigen Charaktere, darunter der Hauptcharakter, die Love Interests und wichtige Nebencharaktere. Wenn ihr euch nicht spoilern lassen wollt, rate ich euch, erst den Prolog zu lesen, bevor ihr die Charaktere durchseht.
    Die Love Interests sind in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt- Ihre Ordnung hat nichts mit Präferenzen oder ähnlichem zu tun.
    Der Hauptcharakter, Ava Hale, wird im Übrigen nicht charakterisiert. Sie dürft ihr während der Story noch näher kennen lernen.
    Alle Artworks und sonstige Bilder gehören mir und dürfen ohne mein Einverständnis nicht verwendet werden. Ebenso ist auch die Story mein Eigentum und darf nicht weiterverbreitet werden.





    Kapitel


    Prologue: A new Horizon (10. August 2015)


    Tyler-Route


    Chapter 1: Raindrops (15. August 2015)
    Chapter 2: Two Sides Of A Coin (10. Oktober 2015)
    Chapter 3: Astray In The Tempest (21. Januar 2016)
    Chapter 4: Torn Apart (05. Juni 2016)
    Chapter 5: Into Your Quicksand (08. August 2016)
    Chapter 6: Closer Still (18. August 2016)
    Chapter 7: Patching Up (23. September 2016)
    Chapter 8: How To Tame A Bloodhound (21. Januar 2017)
    Chapter 9: The Cat In The Bag (21. Februar 2017)
    Chapter 10: Between Sunshine And Downpour (27. März 2017)
    Chapter 11: Peter Pan's Shadow (1. Juli 2017)
    Chapter 12: Open Sore (28. September 2017)
    Chapter 13: Collateral Damages (19. November 2017)
    Chapter 14: Open Heart, Missing Mind (19. November 2017)




    Benachrichtigungen


    Nivis
    Jiang
    Anneliese
    Luxuria

  • Prolog: A new Horizon



    „ICH. HASSE. MEIN. LEBEN.“


    Vier einfache Worte, grob und unschön in mein Tagebuch gekritzelt, mit schwarzer Kugelschreibertinte, die schon halb verwischt ist. Es liegt vor mir auf der winzigen Plastikablage meines Sitzes und die vier Wörter brennen sich hämisch in meine Augen ein.
    Der Typ neben mir lässt einen ohrenbetäubenden Schnarcher raus, der mich kurz zusammenzucken lässt. Ich starre ihn feindselig an. Zu blöd, dass er schläft und nicht mitbekommt, wie tödlich mein Blick gerade ist. Ich wette, ich sehe furchterregend aus. Mit leicht grünlicher Gesichtsfarbe, tiefen, schwarzen Schatten unter den Augen und Haare, die aussehen, als hätte ich in eine Steckdose gepackt. Ich bin der Stoff, aus dem Horrorfilme entstehen, da bin ich mir ziemlich sicher.
    Ein Rattern geht durch die Maschine. Der Kerl neben mir kippt zur Seite und sein Kopf auf meine Schulter, mein Tagebuch fällt fast von der Ablage. Und mein Magen? Der macht einen wilden Salto. Oh, halt, es sind zwei.
    Mit dreifacher Schraube.
    Gargh. Ich hasse Flugzeuge!


    Die eine Hand presse ich mir auf den Mund, mit der anderen fische ich mein Tagebuch vom provisorischen Tischchen vor mir. Ich brenne mit meinen Augen noch einige Sekunden Löcher puren Hasses ins Papier, dann klappe ich es zu und versenke es in meinen Rucksack. So eine dumme Idee. Führ ein Tagebuch, sagte sie. Das wird dich ablenken, sagte sie.
    Bullshit, sage ich! Nichts und niemand lenkt mich von der Übelkeit ab, die jetzt schon seit zweieinhalb Stunden den Inhalt meines Magens in Richtung Freiheit pumpt.


    „Fräulein?“
    Ich wende mich noch immer mit der Hand auf meinem Mund dem Gang zu. Eine Stewardess mit Betonfrisur schaut mich mit halber Sorge, halber Belustigung im Gesicht an. „Ist alles in Ordnung?“
    In Ordnung? Hat die einen Sehfehler? In welcher gottverdammten Dimension sehe ich bitte in Ordnung aus?!
    „Mhh“, murmele ich durch meine Hand und nicke leicht. Zu mehr bin ich gerade nicht fähig. Und reden will ich schon gar nicht. Dann würde etwas ganz anderes zwischen meinen Lippen hervorkommen als Wörter… Urgh.
    Die Stewardess betrachtet mich noch für ein paar Sekunden, dann beugt sie sich zu ihrem Wagen herunter und fischt etwas aus ihm hervor. Rechteckig und bräunlich.
    „Falls es wirklich nicht mehr geht…“, raunt sie mir mit einem mitleidigen Blick zu. Ich spüre, wie meine Augenbraue zuckt. Gott, bin ich angepisst.
    „Danke“, stoße ich gepresst heraus und nehme die Kotztüte an mich. Ich werde sie nicht brauchen. Ganz bestimmt nicht. Niemals.
    Hoffe ich.


    Ich schließe die Augen. Wie bin ich eigentlich in diese beschissene Situation gekommen? Ach ja. Richtig.
    Mum.
    Das werde ich ihr niemals vergessen. Wie sie mir ganz nebenbei sagte, dass ich ab sofort bei meinem Vater leben werde. Quasi zwischen Tür und Angel. Sie hatte mir gerade einen schönen Samstagmorgen gewünscht, ihren Trenchcoat angezogen, die Tasche auf der Schulter, den Autoschlüssel in der Hand. Die Tür war schon offen, da drehte sie sich um zu mir und sagte:
    „Ava, ich weiß, es kommt plötzlich, aber nach den Ferien wirst du bei deinem Vater wohnen.“ Und noch bevor mein Hirn das verarbeitet hatte, drückte sie mir einen Kuss auf die Stirn, wank mir noch einmal und war dann auch schon verschwunden. Arbeiten.
    Ich verbrachte den Samstag mit stummen vor mich hinstarren. Aber innerlich lief ich Amok. Ich hatte das bestimmt nur falsch verstanden. Ganz bestimmt. Sie meinte sicherlich, dass ich in den Ferien einen auf heile Familie machen sollte.
    Aber ich wusste schon, dass das nicht der Fall war.


    Ihr müsst wissen, meine Familiensituation ist etwas seltsam. Naja, nicht wirklich. Trennungen sind heutzutage ja was vollkommen Normales. Patchworkfamilien auch. Aber man sollte meinen, dass man sich irgendwann an die simple Tatsache gewöhnt, dass die Mutter leidenschaftlicher Single und der Vater nun Oberhaupt einer „Meine, deine, vielleicht auch mal unsere“-Familie ist. Nur mir kommt das alles immer noch seltsam vor.
    Meine Eltern trennten sich schon, als ich sieben war. Meine Schwester Hannah und ich wuchsen bei meiner Mutter auf, die sich einige Jahre wirklich rührend um uns kümmerte. Aber dann wurde ihr Karrierehunger doch zu groß, und als wir uns einigermaßen selbst versorgen konnten und sowieso den halben Tag in der Schule hockten, beschloss sie, wieder zu arbeiten. Und meine Mum war gut. So gut, dass sie die Karriereleiter schneller erklomm als ein Frosch aus heißem Wasser springt. Damit gingen für uns natürlich auch einige Vorteile einher. Mehr Klamotten, eine schöne Wohnung, Spielsachen und jeglichen Elektronikkram, eine nette Haushälterin, massig Taschengeld…
    Das bedeutet nicht, dass ich das Klischee der verzogenen Tochter bediene, die komplett durchdreht, weil sie nicht genug Liebe von Mommy und Daddy bekommen hat. Tue ich nicht, wirklich. Ich gönne es Mum, dass sie sich ihren Wunsch von der spannenden Karriere erfüllt. Ihr Leben war wirklich nicht optimal verlaufen. Sie war früh schwanger geworden und durch den Druck meiner Großeltern haben meine Mum und mein Dad dann schnell geheiratet, eben weil es sich nicht anders gehörte. Sie zogen diese ganze Familiensache auch für eine Weile ganz gut durch. Aber es machte sie kaputt. Sie stritten nicht, aber ich merkte auch schon als kleines Kind, dass sie einfach nichts wirklich verband. Aber geliebt haben sie uns. Hannah und ich sind keine tragischen Fallbeispiele von gescheiterten Ehen. Wir sind recht zufrieden mit unserem Leben. Meist jedenfalls. Denn wie ich weiter oben erwähnte…


    ICH. HASSE. MEIN. LEBEN.


    Zumindest temporär.


    Die Sache, die mich aktuell so anpisst, ist ganz simpel. Man hat mich nicht einmal gefragt. Mum und Dad hatten alles ohne mich abgesprochen, ohne mir auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen. Und weil ich erst siebzehn bin, und die beiden sich über meinen Aufenthalt einig sind kann ich rein gar nichts dagegen tun. Und während meine Mum ihre Sache packte, um in Amerika einen Sitz ihrer Firma als CEO zu unterstützen, packte ich meine und flog zu meinem Vater. Und das, obwohl ich fliegen hasse.
    Das einzig positiver an dieser Sache ist, dass ich Hannah wiedersehen werde. Sie lebt jetzt schon seit eineinhalb Jahren bei meinem Vater. Die Probleme an ihrer alten Schule waren irgendwann einfach zu groß geworden und man einigte sich darauf, dass ein Neuanfang das Beste sein würde. Und das war es tatsächlich. Ich telefoniere oft mit ihr oder wir chatten, und ich habe schnell gemerkt, dass es ihr dort besser geht. Sie hat neue Freunde gefunden und wurde regelrecht lebhaft. Und auch, wenn ich sie vermisst habe, habe ich ihr das von Herzen gegönnt. Da war es mir egal, dass es in der großen Wohnung auf Dauer doch recht einsam wurde.


    Ich kann mir vorstellen, dass meine Eltern denken, dass es das Beste für mich ist. Ich stehe immerhin kurz vor meinem Abschluss. Dann noch in ein neues Land zu ziehen, dessen Sprache ich nicht fließend spreche… Eh, unschön. Aber mich einfach vor vollendete Tatsachen zu setzen?
    Ich weiß, ich benehme mich wie ein bockiges Kind. Aber ich kann es einfach nicht leiden, wenn man über meinen Kopf hinweg entscheidet. Und dass meine Laune im Keller ist, liegt nicht zuletzt auch daran, dass ich einfach einen beschissenen Tag hatte. Oder eher eine beschissene Woche. Denn auch, wenn ich jetzt im gleichen Land wohnen bleiben werde… Dads Wohnort liegt am anderen Ende besagten Herrschaftsgebietes. Ich ziehe von einer großen Stadt in ein regelrechtes Kuhkaff an der Küste. Und für die letzten zwei Jahre meiner Schulzeit muss ich mich in einer neuen Schule zurechtfinden. Mit Schülern, die sich schon seit dem Kindergarten kennen. Die längst schon festgefahrene Cliquen gebildet haben.
    Wie soll ich da noch hineinpassen?


    Ja, ich gebe es zu. Ich habe etwas Angst. Weil ich auch nicht weiß, was ich tun soll, wie ich mich zu verhalten habe. Auch meinem Dad gegenüber. Und seiner neuen Freundin und deren Sohn. Ich hatte nie einen Bruder! Und wenn man Hannah Glauben schenkt, ist Gideon ein absolutes Arsch, was bei meiner großen Klappe bedeutet, dass Ärger vorprogrammiert ist. Meine Zukunft sieht in meinen Vorstellungen im Moment einfach wenig rosig aus. Mehr so pechschwarz.


    Der massige Kopf auf meiner Schulter wird langsam schwer. Ich starre ihm Löcher in die Stirn, aber meine Hoffnung, dass ich ganz Superman-like plötzlich Laseraugen entwickele vergeht recht schnell. Stattdessen drücke ich den Kerl mit größter Mühe auf die andere Seite des Sitzes. Als sein Kopf gegen die Fensterscheibe klatscht muss ich etwas grinsen.
    Der Bildschirm zwei Reihen vor mir zeigt die restliche Distanz an. Noch etwa zwanzig Minuten, dann sind wir da. Noch etwa eine Stunde, dann säße ich mit meinem Vater, seiner Freundin Ariana, Hannah und Gideon in einem Auto auf dem Weg zu meinem neuen Zuhause.
    Juche.



    Glücklicherweise war meine Mum so freundlich, mein halbes Zimmer im Vorhinein schon auf anderem Wege zu meinem Vater zu schicken. So habe ich nur einen Rucksack mit den Tickets, meine Portemonnaie, Handy und sonstigem Kram und einen Koffer mit einigen restlichen Kleidungsstücken zu schleppen. Was nicht heißt, dass das eine einfache Aufgabe ist.
    Den Rucksack habe ich auf den Rücken geschnallt, den Koffer ziehe ich hinter mir her. Leute laufen um mich herum während ich angestrengt versuche herauszufinden, wo zur Hölle ich jetzt hinmuss. Das richtige Gepäckband zu finden war schon eine Kunst für sich…
    Ich stolpere durch einige automatische Schiebetüren raus in eine größere Halle. Na also, da sieht schon besser aus. Mittlerweile hat auch mein Magen sich etwas mehr beruhigt, aber zur Sicherheit mache ich keine allzu hektischen Bewegungen.
    Eigentlich sollen sie hier irgendwo warten. Ich schaue mich um und vereinzelt sehe ich ein paar Schilder. „Uni-Klinik“ steht auf einem. „Herzlich Willkommen zurück, Ines!“ auf einem anderen. Offenbar ist die Frau neben mir, die gerade theatralisch in einen Heulkrampf ausbricht und eilig in die Arme ihres Empfangskomitees stürzt Ines. Sie muss Schauspielerin sein. Oder Fußballerin.
    Nun, schön für Ines, dass sie ihre Truppe gefunden hat. Meine lässt wohl auf sich warten.
    Es vergehen fünf Minuten, dann zehn. Kein Zeichen von meinem Dad oder Hannah. Entnervt lasse ich mich auf eine der Bänke fallen, die in der Halle herumstehen, den Koffer zwischen meinen Beinen eingeklemmt. In meinem Rucksack grabe ich nach meinem Handy und als ich es endlich finde, schockiert mich mein Spiegelbild ganz schön. Ich sehe schlimmer aus, als das Mädel aus The Ring. Eilig fahre ich mir mit den Fingern durch die braunen Haare, damit sie zumindest ein bisschen weniger Ähnlichkeit mit einem Löwen mit Haarausfall haben… Es gelingt mir nur mäßig.
    Egal. Ich will sowieso so schnell wie möglich unter die Dusche. Mein Sitznachbar hat mir auf den letzten Kilometern noch voll auf die Schulter gesabbert…


    Ich schalte also mein Handy an, wackele dabei ungeduldig mit den Füßen, und starre auf das Display, bis es endlich den Homescreen anzeigt. Jetzt nur noch Hannah anrufen.
    „Na komm schon“, grummele ich ins Handy, während das ätzende TUUUT TUUUT in meinen Ohren dröhnt. Geh schon ran. Ich will… Nach Hause. Wenn ich es denn so nennen kann.
    Ein Klicken. Ich höre Rascheln im Hintergrund, eine weit entfernte Stimme.
    „Hallo, Ava?“ Sie schreit förmlich ins Telefon.
    „Hannah, wo seid ihr?“
    Mir ist nicht danach, großartig Smalltalk zu betreiben.
    „Ja, wir… Moment.“
    Ich höre weiteres Rascheln. Eine männliche Stimme, dann eine weibliche, dann spricht Hannah. Was genau sie sagen, kann ich nicht verstehen.
    „Okay, ja. Ava? Wir sind in zwanzig Minuten da. Auf der Strecke gabs einen Unfall, deswegen staut sich hier alles.“
    Mit entkommt ein Stöhnen. Dein verdammter Ernst?
    „Ist gut“, grummele ich ins Telefon. „Ich warte. Bleibt mir ja sowieso nichts anderes übrig.“
    „Bis gleich, Ava! Ich freue mich!“ Und an Hannahs Tonfall höre ich, dass sie es ernst meint.
    „Ich mich auch“, antworte ich. Und das ist auch nur ein wenig gelogen.


    Mir blieb also nicht anderes als warten. Denn genau wie ich es mir gedacht habe, waren sie auch noch zwanzig Minuten noch nicht da. Also stöpselte ich meine Kopfhörer ins Handy, legte mich quer auf die Bank und schloss die Augen. Musik macht alles besser. Meistens zumindest.
    Und ja, ich gebe es zu. Ich bin eingeschlafen. Und erst aufgewacht, als mich jemand an der Schulter berührt hat.
    Okay, okay. Ich bin auch nicht aufgewacht, ich bin mehr hochgeschreckt. Mit einem kleinen Schrei. Peinlicher geht’s nicht. Was auch Grund ist, warum Hannah von mir zurückweicht und mich erschrocken anschaut.
    „Oh“, stoße ich aus, weil mir nichts Besseres einfällt. Für einen Moment herrscht Stille. Hannah starrt mich an, mein Vater auch. Und Ariana und Gideon ebenso. Ach, halt. Letzterer grinst dazu noch schäbig.
    Ich fahre mir schnell durch das Gesicht. Hoffentlich habe ich nicht gesabbert…
    Hannahs Gesicht ändert sich von erschrocken zu freudig. Und bevor ich einen Muskel bewegen kann fällt sie mir um den Hals.
    „Hallo Ava!“, raunt sie mir in Ohr. Ich zögere für einen Moment, dann drücke ich sie an mich. Videochats sind ja gut und schön, aber ich habe sie jetzt schon so lange nicht mehr umarmt. Natürlich weiß ich, wie sie aussieht, hab sie immerhin oft genug gesehen. Aber so groß ist sie mir bisher nie vorgekommen… Langes, dünnes hellbraunes Haar, strahlend blaue Augen… Aber genauso blass wie ihre Schwester. Wie man es auch dreht und wendet, wir sehen uns ähnlich. Klar, meine Haare sind dunkler und genauso dick wie die meines Vaters, und meine Augen haben auch mehr die Farbe von Wasser mit einem ernsthaften Algenproblem.. Aber wir teilen uns die ovale Gesichtsform, die leichten Apfelbäckchen und die blassen Lippen.
    Mein Vater erscheint in meinem Sichtfeld. Ariana nähert sich langsam, etwas unsicher lächelnd.
    „Ava“, stößt mein Vater aus und legt mir die Hand auf die Schulter. Hannah weicht zur Seite und wir tauschen eine kurze Umarmung. Die Beziehung zu meinem Vater ist mehr die zu einem coolen Onkel als zu einem Vater. Er war immer derjenige, mit dem man alberne Witze machen konnte, aber mit ihm über Herzensangelegenheiten sprechen? Regeln von ihm auferlegt bekommen oder gar bestraft werden? Nein, eher weniger. Dafür ist er nicht streng genug.
    „Wie geht es meiner Großen?“ Die Lachfalten auf seinem Gesicht sind schon fast darin eingemeißelt. Seine grünen Augen wirken ein wenig wässrig, was aber auch daran liegen kann, dass er selbst ziemlich müde ist. Als Grafiker kann er sich seine Zeit zwar überwiegend selbst einteilen, aber er ist ein Nachtarbeiter. Tagsüber kann er sich einfach nicht konzentrieren, sagt er immer.
    „Ganz ehrlich?“ Ich deute auf die tiefen Schatten unter meinen Augen. „Ziemlich beschissen.“
    Dad verzieht das Gesicht, grinst dann aber resignierend. Er ist kein Fan davon, dass ich solche Wörter in den Mund nehme. Aber wie gesagt, Erziehung war mehr Mums Fall. Und die sagt immer, dass es wichtig ist, sich auszudrücken. Was ich gerne gegen sie verwende, Schimpfwörter mag sie nämlich auch nicht.
    „Du bist sicher müde“, stellt Dad fest.
    Ach ne. No shit, Sherlock.
    Ich weiß, ich bin unfair. Dad weiß ja auch nicht so recht, wie er mich behandeln soll. Wir haben seit zehn Jahren nicht mehr zusammen gelebt. Und in der Zwischenzeit bin ich langsam erwachsen geworden. Ich bin nicht mehr die süße, kleine Ava. Die paar Kurzurlaube, die ich bei ihm gemacht habe, waren keine ausreichende Vorbereitung auf ernsthaftes Zusammenleben.
    Aber für meine schlechte Laune ist er auch zum Teil verantwortlich. Und als ich mich daran erinnere, fühle ich mich etwas weniger schuldig.
    Ariana hat sich mittlerweile auf leisen Sohlen bis zu mir vorgearbeitet. Sie ist eine hübsche Frau, wenn auch etwas unscheinbar. Blondes, leicht welliges Haar und braune Augen, beides hat Gideon von ihr geerbt. Der hält immer noch Abstand, beäugt mich aber kritisch. Ich hab ihn schon mal auf Fotos gesehen, aber Live und in Farbe bestätigt er mein Urteil erschreckend genau.
    Marke „eingebildeter Schönling extravaganza“. Das kann was werden…
    „Hallo Ava.“ Ariana lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Dads neue Freundin lächelt mich leicht an und streckt mir ihre Hand entgegen. „Schön, dich wiederzusehen.“
    „Gleichfalls“, entgegne ich mühevoll freundlich.
    Versteht mich nicht falsch. Ich hasse Ariana nicht. Tue ich wirklich nicht. Aber.. Ich komme mit ihr einfach nicht klar. Die letzten drei Urlaube, die ich bei meinem Dad verbracht habe (bei denen Gideon übrigens mit seinen Feriengruppen unterwegs war), hat sie jedes Mal versucht zwanghafte Gespräche mit mir zu führen. Sie gibt sich größte Mühe, ein gutes Verhältnis mit mir aufzubauen. Und genau das ist das Problem. Sie zwingt es mir auf. Ariana hat nie verstanden, dass ich ab und an meine Ruhe brauche, so bin ich einfach. Sie hat es immer als Angriff auf sich gesehen, wenn ich mal keine Lust hatte, einen auf glückliche Familie zu machen. Deswegen ist sie mir gegenüber wohl auch so vorsichtig. Irgendwann werde ich ihr wohl erklären, dass meine Lust auf Gespräche und gemeinsame Frauenzeit nicht 24/7 anhält. Gerade jetzt will ich aber einfach nur schlafen, also wird die tränenreiche Aussprache etwas warten müssen.



    Meine Erinnerungen an den restlichen Tag sind etwas verschwommen. Ich bin im Auto schon wieder eingeschlafen, dann im halben Koma durch das Haus geführt worden, ohne wirklich etwas zu begreifen, habe mich für gefühlte Stunden unter die Dusche gestellt und bin dann quasi tot ins Bett in meinem karg eingerichteten, neuen Zimmer gefallen.


    Und jetzt bin ich wach. Und sollte vielleicht erwähnen, dass meine Laune noch schlechter ist als gestern. Warum?
    Weil meine Mum vergessen hat, mir ein wichtiges, kleines Detail zu nennen.
    Es ist Montag.
    Der erste Montag nach den Sommerferien.
    Und ich muss zur Schule.


    Ariana weckt mich also um sechs Uhr morgens, nach gefühlten zwei Minuten Schlaf. Und während sie versucht, mich zum Aufstehen zu motivieren, beschränkt sich mein Wortschatz auf diverse Grummellaute und gemurmelte Flüche. Wie zur Hölle konnte Mum das vergessen? Warum hat sie meinen Flug nicht früher angesetzt? Ist ja nicht so, als hätten wir die letzten zwei Wochen großartig Qualitytime miteinander verbracht! Ich möchte kotzen, und dieses mal ganz freiwillig!
    „Ava, komm, es wird schon spät.“
    „Ist ja gut“, maule ich und werfe die Decke von meinem Bett. Ariana scheint etwas sagen zu wollen, besinnt sich dann aber und verlässt mein Zimmer. Nur um noch einmal den Kopf durch die Tür zu stecken und zu fragen: „Was möchtest du denn frühstücken? Brot, Toast, Müsli, Cornflakes? Wir haben alles da.“
    „Entscheide ich später“, antworte ich kurz und knapp, ohne sie weiter zu beachten.
    Meine Laune war auf dem Tiefpunkt. Nein, eigentlich noch darunter, Tiefpunkt war gestern. Und warum? Weil mein Leben mir ins Gesicht lachte. „Du denkst, es geht nicht schlimmer? Haha. THINK AGAIN!“


    Ich zog das erstbeste an, was ich in meinem Koffer finden konnte, denn wie sich gestern Abend herausstellte, verzögerte sich die Lieferung meiner restlichen Klamotten um einige Tage. Die Wahl des Zufallsgenerators fiel auf eine dreiviertel Jeans, ein schlichtes, weißes Tanktop und meine liebste, leicht ausgewaschene Sweatjacke, die ich mir erst einmal um die Hüften band. Es war gerade mal sechs Uhr und trotzdem war mir schon heiß. Ein schneller Blick auf meine Wetterapp verriet mir, dass heute Temperaturen um die 36 Grad angesagt waren. Und Gewitter.
    Leben, du enttäuschst meine Erwartungen wirklich nicht.


    Ich erspare euch den Kampf um das Badezimmer mit Gideon, die Schimpfwörter, die wir uns an den Kopf warfen, die Diskussion mit Ariana, dass ich unbedingt etwas essen müsse, obwohl mir der Appetit deutlich vergangen war, das hektische Zusammensuchen von Heften, Stiften und einer brauchbaren Tasche für die Schule (sie hat ein verdammtes Schmetterlingsmuster!) und der halbe Nervenzusammenbruch, als ich feststellte, dass wir den gesamten Weg zur Schule laufen mussten. Gideon, der Sack, hatte nach seinem Abschluss noch ein, zwei Monate Zeit, bis er sein freiwilliges soziales Jahr irgendwo in der nächsten Stadt anfangen muss. Warum er trotzdem so früh aufsteht? Weil- haltet euch fest- er sich mit einigen seiner Freunde verabredet hat, um sich am Strand zu treffen. Und einer von denen hat ein verdammtes Segelboot. Blöder Mistkerl. Für so etwas muss er sich eine halbe Stunde stylen? Das war pure Absicht! Pure, gemeine Absicht!


    Hannah zog mich aus dem Haus, bevor ich noch vollkommen explodierte. Dad schlief noch, deswegen konnte er mich nicht mit blöden Witzen ablenken. Und dementsprechend mies bin ich drauf.
    „So weit ist es gar nicht“, versuchte Hannah mich zu beruhigen. „Nur etwa zwanzig Minuten.“
    Was meiner Meinung nach zwanzig Minuten zu viel war. Die Schule liegt nämlich ziemlich hoch, während das Haus, in dem ich jetzt wohne, das nicht tut. Berge hochlaufen liegt auf meiner Fun-Skala etwa auf derselben Ebene wie ein Zahnarztbesuch mit dieser ekligen, brennenden Paste, die sie einem immer auf die Beißerchen schmieren.
    In meinem alten Zuhause gibt es Straßenbahnen. Fußwege beschränken sich da auf fünf Minuten, und das meist ebenerdig. Hier dagegen befinden wir uns an der Küste. Eine Küste, die zu allem Überfluss auch noch ziemlich hügelig ist. Ich meine, klar, Geographie. Erdplatten, die sich verschieben, Bildung von Bergen durch Kollision und so. Aber musste das ausgerechnet hier sein?
    Ich grummele etwas Unverständliches und Hannah gibt auf, mir Mut zu machen. Sie trottet schweigend neben mir her, und auch wenn sie heute Morgen ebenfalls nicht die beste Laune hatte, lächelt sie jetzt.
    „Gefällt dir das Leben hier?“
    Sie scheint etwas überrascht zu sein. Ich habe sie das nie wirklich gefragt. Unsere Gespräche beschränkten sich meist darauf, was wir die letzten Tage so getan hatten und wer wieder Mist gebaut hatte. Aber komischerweise hatte Hannah sie wirklich über Dad, Ariana und Gideon geredet. Vielleicht dachte sie, dass es mir unangenehm sein würde. Oder, dass es mich einfach nicht interessiert.
    „Es ist anders“, gab meine kleine Schwester zurück. „Aber nicht schlechter.“
    „Das habe ich nicht gefragt.“
    „Aber darauf wolltest du doch hinaus.“
    Ertappt. Sie hat ja recht.
    „Bisher war es immer etwas komisch… Du warst ja nicht bei mir“, spricht sie weiter. „Ich hab dich ganz schön vermisst.“
    Ich muss etwas grinsen. Als ich meinen Arm um ihren Hals schlinge und ihre Haare zerzause, protestiert sie halbherzig.
    „Ich hab dich auch vermisst. Filme schauen ohne dich war einfach nicht dasselbe“, seufze ich gekünstelt dramatisch.
    „Stimmt ja, du ärmste hattest niemanden, mit dem du über die Filme lästern konntest!“, stößt Hannah gespielt schockiert aus.
    „Ja, genau! Ich Ärmste!“ Ich greife mir Hannahs Hand und lächele sie an. „Aber das ist ja jetzt vorbei.“
    Die gute Laune vergeht mir aber nur zu schnell.
    Als ich hügelig sagte, war mir nicht ganz bewusst, dass das hier tatsächlich mehr ein Gebirge als eine Stadt ist. Mit der schweren Tasche, auf der mich die Schmetterlinge hämisch angrinsen, läuft sich der Weg hoch zur Schule wirklich alles andere als gut. Schlimmer ist aber, dass immer mehr Autos an uns armen Schweinen vorbei und die Straße hoch fahren. Zumindest sind wir nicht die einzigen, die laufen müssen. Was mich aber auch nur so lange beruhigt, bis eine Klassenkameradin von Hannah sich zu uns gesellt und ich das dritte Rad am Wagen bin. Als wir den Pfad der Hölle endlich hinter uns haben keuche ich schon. Ich bin wirklich fürchterlich untrainiert…
    Hannah erklärt mir noch schnell den Weg zum Sekretariat, dann ist sie verschwunden. Und ich bleibe alleine zurück. Wundervoll, ganz wundervoll. Grummelnd folge ich den Anweisungen. Draußen herumzustehen und einen auf bockig zu machen bringt wohl nicht viel.


    Was hat sie nochmal gesagt? Zwei rechts, dann die Treppe hoch?
    Ich bin noch keine zwei Minuten unterwegs, da habe ich mich schon verlaufen. Überall sind andere Schüler unterwegs, aber die sind alle so tief in ihre Gespräche vertieft, dass ich gar nicht wage, sie anzusprechen. Bleibt mir also nichts anderes übrig, als weiterzusuchen.
    Ich biege um die Ecke, und was passiert?
    Ich pralle mit jemandem zusammen. Renne direkt in ihn hinein. Wir schlagen uns gegenseitig die Köpfe ein und stolpern zurück. Gottverdammt, au, das tut weh!
    „Pass doch auf, wo du hingehst!“, murre ich, ohne wirklich darüber nachzudenken.
    „Pf, sagt die Richtige.“
    Ich schaue auf. Und blinzle erst einmal wild. Wow, dieser Kopfstoß muss echt heftig gewesen sein. Ich sehe gerade nämlich doppelt.
    „Pass du besser auf, was du sagst“, meint die rechte Variante des Typs. Halt, nein. Ich sehe doch nicht doppelt. Jetzt, wo ich genauer hinsehe… Sie sehen sich zwar verdammt ähnlich, aber ihre Frisur sitzt genau spiegelverkehrt. Etwas längere, blonde Haare, die auf der Seite liegen, ein wenig im Gesicht, die andere Seite des Scheitels jeweils dunkler gefärbt. Und Gott, diese Augen. Stechend rot. Und zumindest die vom rechten Jungen starren mich in Grund und Boden. Der linke packt seinen Doppelgänger am Arm und schüttelt den Kopf. „Das ist sie nicht wert, Seth.“ Sie tauschen für einen Moment Blicke, dann gehen sie ohne ein weiteres Wort vorbei.
    Bitte. Was?
    Ich blinzele wild. Ich bin es also nicht wert, ja? Na warte, wenn ich euch das nächste Mal sehe, dann…
    „Alles okay bei dir?“
    Ich drehe mich um und an der Reaktion des anderen merke ich, dass mein Blick wohl verdammt giftig sein muss. Er weicht etwas zurück.
    „Was?“, fauche ich. Wenn mir jetzt noch jemand auf die Nerven fällt, dann schwöre ich-
    „Ich wollte nur fragen, ob…“, beginnt der Junge erneut, bricht dann aber ab. Er kann mir nicht in die Augen sehen und spielt die ganze Zeit mit seinem Schal herum.
    „Ja, mir geht es gut“, antworte ich, schaffe es aber nicht, die Schärfe aus meiner Stimme herauszubekommen. Der Grünhaarige zuckt ein wenig zusammen. Er murmelt ein leises „Okay“, steht dann für einige Sekunden unschlüssig in der Gegend herum und verschwindet dann. Alle Schüler um mich herum starren mich an, als wäre ich ein Alien. Oder ein gefährliches Monster.


    Ich denke nicht weiter darüber nach. Mein Kopf tut weh und ich muss in dieses verdammte Sekretariat.


    Ich finde meinen Weg tatsächlich irgendwann. Am Ende eines langen Ganges sehe ich eine offene Türe und dahinter einen langen Tresen, hinter dem eine Frau geschäftig durch die Gegend läuft. Na endlich. Hannah wird sich später ganz schon etwas anhören müssen.
    Ich betrete den Raum und will gerade den Mund aufmachen, da rennt schon wieder fast jemand in mich hinein. Schnell springe ich zur Seite, um dem blonden Mädchen, das gerade noch „Bis heute Nachmittag dann!“, ausspricht, aus dem Weg zu gehen. Sie bemerkt es erst im letzten Augenblick, entschuldigt mehrmals sich hastig und verlässt dann eilig den Raum. Ich schaue ihr noch nach, da spricht man mich schon wieder von der Seite an.
    „Bist du Ava Hale?“
    Ich drehe mich um und sehe einen Jungen mit kurzem, weißblondem Haar. Seine eisblauen Augen sehen mich etwas zusammengekniffen hinter seiner Brille an. Und er trägt einen Blazer und eine verdammte Krawatte. Gott, wo sind wir denn hier? Eine Privatschule ist das sicher nicht. Und wie er mich anschaut. Als wäre ich eine Ratte oder so.
    „Wer will das wissen?“, knurre ich. Er lässt sich davon aber gar nicht beeindrucken.
    „Arthur Dale. Ich bin der Schulsprecher und soll dich begrüßen und herumführen.“ Er rückt seine Brille zurecht. Urrrgh. „Aber da du so spät bist, schaffen wir das vor dem Unterricht nicht mehr.“
    „Oh, entschuldige bitte“, beginne ich und meine Stimme trieft vor Sarkasmus. „Ich habe heute Morgen leider die Übersichtskarte für diese Schule vergessen.“
    Er runzelt die Stirn. „Wir verteilen keine Übersichtskarten.“
    … Ich atmen langsam aus und ein. Nein. Nicht aufregen. Nicht die Augen verdrehen. NICHT. DIE. AUGEN. VERDREHEN.


    Ich verdrehe die Augen. Aber zumindest schließe ich sie vorher.
    Arthur scheint meinen steigenden Wutpegel gar nicht zu bemerken. Er dreht sich um und geht voraus. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu folgen.


    Er lädt mich vor meiner Klasse ab und verschwindet kurz im Inneren. Nach zwei Minuten taucht er wieder auf, im Schlepptau eine Lehrerin, die sich kurz als Miss Gray, die Englischlehrerin, vorstellt. Und während er verschwindet, führt sie mich in die Klasse und stellt mich direkt vor die Tafel, wo ich mich vorstellen soll.
    Oh wow, das fehlt mir gerade noch.
    „Ich heiße Ava Hale, bin siebzehn…“, murmele ich halbherzig. Ich weiß bei solchen Sachen nie, was ich sagen soll. Wen gehen meine Hobbies denn etwas an? Ist es so wichtig, welche meine Lieblingsfächer sind? Meine alte Heimat ist wirklich nicht interessant genug, um erwähnt zu werden.
    „Ich bin gestern erst hier angekommen und hatte keine Ahnung, dass ich heute schon hier zur Schule gehen soll. Deswegen bin ich etwas unvorbereitet.“ Ich zucke mit den Schultern und hole mir mit einem Blick die Erlaubnis meiner Lehrerin ein, mich setzen zu dürfen. Miss Gray nickt etwas unbeholfen und sagt mir, dass in der letzten Reihe neben Emile noch ein Platz frei ist. Glücklicherweise ist tatsächlich nur ein Platz frei, deswegen finde ich recht schnell heraus, dass mein neuer Sitznachbar ein Junge mit dunkelblonden Haaren ist, der die ganze Zeit nur aus dem Fenster starrt. Das ändert sich auch nicht, als ich mich neben ihn setze und ihm ein leises „Hallo“ zu raune. Und auch nicht, als der Unterricht beginnt. Er starrt die ganze Zeit nur aus dem Fenster.
    Fein. Soll mir recht sein.


    Ich will ehrlich sein. Der Unterricht war fürchterlich langweilig. All den Kram, den sie mit uns durchnimmt, haben wir in meiner alten Schule schon im letzten Jahr besprochen. Deswegen passe ich auch nicht wirklich auf. Mein Heft liegt zwar offen auf dem Tisch, ich kritzele aber nur ein wenig darin herum. Kästchen, Kringel, kleine Kreuzchen… Alles, nur nicht das, was ich soll… Was auch der Grund ist, warum ich Miss Gray nicht höre, die mich aufruft. Erst als mich das Mädchen am Tisch neben meinem anstubbst schrecke ich auf.
    „Äh, bitte was?“
    Die anderen fangen an zu Kichern. Und Wutpegel steigt höher. Idioten.
    „Miss Hale, I understand that you need some time to get accustomed to this school, but please try to pay attention, or else you won’t be able to follow my lessons.“ Miss Gray scheint halbwegs verständnisvoll, was aber nichts daran ändert, dass ich eine Aufgabe machen muss. Und dann auch noch ausgerechnet eine, in der ich frei sprechen soll.
    Über meine Hobbies. Nargh. Und stehen soll ich auch noch, damit man mich besser hören kann. Doppel Nargh.
    „So, please tell us about your hobbies, Ava.“
    Ich schweige für einen Moment und höre schon wieder leichtes Gekichere. Weil er mir direkt ins Auge fällt starre ich einen Jungen mit fliederfarbenem Haar mit dem Blick des absoluten Todes an. Als er ihn bemerkt, hört er sofort auf zu lachen und schaut geradezu erschrocken.
    Na warte. Euch zeig ichs.
    „Well, you see Miss Gray, I don’t think that my hobbies are that interesting. In fact, due to my former school’s schedule, I did not have much free time for activities. I was unable to perform any sport regularly. While I have interest in a broad field of topics, none of them caught my attention for a long amount of time. Instead, I tend to earn knowledge about whatever currently seems interesting and then move on to the next topic once the last one starts to bore me. So in regard to hobbies, I would have to say that I don’t have one.“
    Es ist ein herrliches Gefühl, Miss Grays verdattertes Gesicht zu sehen. Die anderen Schüler starren mich teilweise verblüfft, teilweise entsetzt an. Vermutlich haben sie nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was ich gesagt habe. Es ist nicht einmal komplett gelogen. Es gibt zwar auch Dinge, die mich über längere Zeit interessieren, aber das geht hier keinen etwas an.
    „W-Well“, stottert Miss Gray. „Your English is really… advanced!“
    Dass das meiste auf dem Internet stammt, werde ich ihr aber sicherlich nicht unter die Nase reiben.


    Die anderen Lehrer lassen mich bis zur Pause Gottseidank in Ruhe. Als die Schulglocke läutet, schlüpfe ich eilig aus dem Raum und laufe einfach die Flure entlang. Wenn mich jetzt noch einer blöd von der Seite anmacht, dann explodiere ich. Und ich will es mir nicht sofort mit meinen neuen Mitschülern verscherzen.
    Irgendwie finde ich den Weg zum Schulhof. Zumindest der ist ganz schön. Die Schule hat fast einen kompletten Park hinter dem Gebäude, komplett mit Spielzeug für die jüngeren, Bänken und Tischen und diverse Sportplätze. Fußball, Badminton… Gerade laufe ich am Basketballkorb vorbei, wo eine Reihe von Jungen spielt. Einer sticht mir sofort ins Auge. Feuerrotes Haar, groß und athletisch gebaut und giftgrüne Augen. Er grinst sich einen ab, während er mit dem Ball in der Hand an seinen Gegenspielern vorbei dribbeld. Nennt man das so? Ich habe keine Ahnung von Basketball.
    Er springt am Korb hoch und will den Ball gerade versenken, da zieht jemand ihm an der Jacke. Der Ball prallt am Brett ab und wie soll es auch anders sein…


    Er kommt direkt auf mich zu. Ich bin nicht mal zu einer richtigen Reaktion fähig, also schaue ich einfach zu, wie der Ball direkt in meinem Magen landet.
    Urgh, scheiße tut das weh. Wer hätte gedacht, dass diese Dinger so hart sind?
    „Hey, alles klar?“, ruft einer der Spieler.
    „Wirf mal den Ball her!“, verlangt die Grinsebacke. Den Ball will er haben? Den Ball soll er bekommen!
    Ich hebe das runde Ding auf, hole aus und schleudere es direkt auf ihn zu. Grinsebacke vergeht sein Grinsen schnell, als er merkt, dass ich auch recht hart werfen kann. Im letzten Moment weicht er mit einem erschrockenen Ruf aus. Der Ball landet in den Büschen etwas weiter entfernt. Auf nimmerwiedersehen, du Mordwaffe. Die Spieler stöhnen und maulen mich an, aber mir ist das egal. Ich gehe einfach weiter, die Faust in den Magen gerammt, um die Schmerzen etwas zu unterdrücken. Mittlerweile ist meine Wut eher einem Gefühl von Resignation gewichen. Heute haben es einfach alle auf mich abgesehen. Ich weiß nicht, was ich getan habe. Aber offenbar habe ich dem Schicksal etwas Unverzeihliches angetan, wenn es mich so bestrafen will.


    Und tatsächlich. Es will mich wohl wirklich leiden sehen. Zwei weitere Schulstunden verlaufen ohne weitere Zwischenfälle. Die Lehrer lassen mich auch hier in Ruhe, während ich mit meinem Schicksal hadere. Ich will heulen. Mir geht’s wirklich einfach nur ätzend. Die Müdigkeit macht sich bemerkbar, der leere Magen und der Zuckermangel. Ich spüre, wie mein Kreislauf langsam aber sicher auf Wiedersehen sagt.
    Ein wundervoller Tag. So wundervoll. Mit gefühlt der Hälfte der Leute habe ich es mir hier schon verscherzt, und die anderen werden von denen wohl bald erfahren, was für eine Vollidiotin ich bin. Und dann bin ich ganz unten durch. Zwei Jahre halte ich so nicht durch.
    Ich schaue aus dem Fenster, genauso wie Emile neben mir, mit dem ich noch immer kein einziges Wort gewechselt habe.
    Die Wetter-App hat nicht gelogen. Dichte, dunkle Wolken ziehen am Himmel auf. Und passend zum Ende der letzten Stunde gießt es in Strömen. Die anderen stöhnen und ziehen ihre Regenschirme hervor. Das würde ich auch gerne tun.
    Aber ich hab keinen Regenschirm bei. Also bleibe ich einfach sitzen, sehe zu wie die anderen sich verabschieden und weggehen. Niemand spricht mich an, niemand würdigt mich auch nur eines Blickes. Verübeln kann ich es ihnen nicht.
    Frustriert lege ich meinen Kopf auf den Tisch. Wenn es in zehn Minuten nicht aufgehört hat zu regnen… Dann werde ich wohl trotzdem gehen müssen. Das Mittagessen wartete schließlich. Zehn Minuten starre ich also aus dem Fenster und hoffe darauf, dass die dunklen Wolken sich verziehen. Aber das tun sie nicht.
    Als die Uhr im Klassenraum zwölf nach eins zeigt, stehe ich auf, ziehe meine Sweatjacke und meinen Rucksack an und gehe.


    Unter dem Dach vom Eingang der Schule bleibe ich stehen und halte meine Hand vor. Die Schule ist wie leergefegt, am ersten Tag hatten alle um eins Schluss. Auf vor der Schule ist niemand mehr da. Regentropfen prasseln auf meine Haut. Sie sind nicht direkt kalt, aber unangenehm, jetzt, wo der Wind stärker wird. Das richtige Gewitter kommt erst noch.
    Ich muss mich beeilen.
    In zügigen Schritten gehe ich den Berg von der Schule herunter. Als ich am Fuß ankomme, setzt mit einem Male heftiger Platzregen an. Ich schreie erschrocken auf, aber unter dem lauten Prasseln hört man davor nichts mehr. Innerhalb von Sekunden bin ich klatschnass.
    Ich fühle mich elend. Tränen steigen in meine Augen.
    Ich renne los.


    Fast blind folge ich der Straße, die Hannah und ich heute morgen gegangen sind. Hier geradeaus, hier abbiegen. Der Regen wird immer heftiger, der Wind fährt mir kalt durch die nasse Kleidung. Ich will einfach nur noch nach Hause!
    Da vorne muss ich über die Straße. Nicht mehr weit.


    Ich laufe einfach über die Straße. Als ich nach links schaue, da ist es schon zu spät. Helle Lichter tauchen im Regen auf, groß und ganz nah. Dass sie zu einem LKW gehören, bemerke ich erst später.
    Wie seltsam. Die Zeit vergeht ganz langsam. Ich sehe, wie der LKW immer näher kommt. Das Prasseln vom Regen ist verstummt, die Kälte verschwunden.
    Ich kann nur starren. Und starren. In die hellen Lichter schauen, die immer größer werden.
    Was passiert hier?


    Der Fahrer hat nicht mal mehr die Zeit zu hupen. Ich spüre nicht, wie der Wagen mich erfasst.
    Alles wird weiß. Ich höre eine weit entfernte Stimme. Schwarze Schemen, die immer heller werden. Was ist passiert?
    Ich will nach Hause.
    Ich sehe nichts mehr.
    Ich will schlafen.
    Geräusche verstummen.
    Alles verstummt. Selbst meine Gedanken.


    Das erste, was ich wieder sehe, ist der Himmel. Strahlend blau, als hätte jemand die Sättigung zu hoch gedreht. Große, flauschige Wolken treiben darauf herum. Ich starre einfach nur hinauf.
    Der blaue Himmel.
    Blauer Himmel.
    Meine Gedanken driften einfach davon. Wie Wolken im Himmel.
    Meine Augen fallen zu.
    So müde.



    Ich schrecke hoch.
    Ich weiß nicht, warum. Es fühlt sich an, als wäre ich gerade aus einem Albtraum erwacht.
    Was ist passiert?
    Wo bin ich?


    Als ich mich umschaue, sehe ich Mamorplatten auf dem Boden, groß und glänzend. Hier und da entdecke ich Säulen, die einfach mitten auf den Platten stehen. Um sie herum ranken sich dunkle Blätter. Und… sind das kleine Rosen?
    Ich schaue weiter in die Ferne. Aber da ist nichts. Der Mamorboden erstreckt sich in alle Richtungen, Büsche und Blumen quellen aus den Schlitzen hervor, überall stehen Säulen.
    Und über mir… Über mir strahlt der Azurhimmel mit seinen Wattewolken. Aber dieses Mal steht er still.
    Wo bin ich?
    „Du bist wach!“
    Die Stimme erschreckt mich. Sie hallt durch meinen gesamten Körper. Hastig drehe ich mich um, aber ich kann nicht erkennen, von wo sie kommt. Wer-
    „BUH!“
    Ich springe halb auf, als ich eine Berührung auf meiner Schulter spüre. Mein Herz rast und-
    Moment.
    Mein Herz rast nicht. Warum-
    „Hallo-ho? Olymp an Ava, hörst du mich?“ Ich zucke vor der Hand zurück, die keine fünf Zentimeter vor meinem Gesicht wild herumwedelt. Bevor ich mich zum dazugehörigen Körper umdrehen kann, verschwindet sie. Und nach einem Blinzeln taucht direkt vor meiner Nase das Gesicht einer Frau auf. Was zum Teufel, wie hat sie-
    „Mädel, entweder du antwortest mir jetzt oder ich schicke dich zurück in die Unterwelt!“
    „Bitte was?“, stoße ich mehr aus Instinkt aus als alles andere.
    „Ah, na also.“ Sie beugt sich ein Stück zurück. Erst jetzt kann ich sie richtig erkennen.
    Und halleluja. Ich muss zugeben, dass diese Frau wohl die schönste ist, die ich in meinem Leben je gesehen habe. Hüftlanges, goldenes Haar, das auch ohne die vielen kleinen Diamanten darin schimmert und leuchtet, roséfarbene Augen mit Wimpern so lange, dass jeder Make-Up-Artist einen Herzinfarkt bekommen würde, Lippen in der Farbe der Rosen, ein Hautton, der selbst Porzelanpuppen neidisch macht… Und wie sie riecht! Wie… Wie in einem Blumengarten. Süßlich, aber leicht.
    Sie ist… Perfekt. Anders kann ich es nicht sagen.
    „Ich dachte schon, es wäre schon wieder was schief gelaufen und ich müsste dich entsorgen wie die letzte beiden.“
    Okay. Den letzten Teil ziehe ich zurück.
    „Du bist wahrscheinlich ziemlich verwirrt und hast keine Ahnung, was hier gerade vor sich geht.
    Ich nicke unbeholfen. Zu mehr bin ich gerade wirklich nicht fähig. Ich muss meine Gedanken sortieren. Okay, los geht’s.
    Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Ich bin einfach nur hier aufgewacht, und urplötzlich war da diese Frau. Soweit so gut. Was hat sie gesagt? Olymp? Unterwelt? Das macht keinen Sinn…
    „Oh Mann, du bist wirklich verwirrt.“
    Ich schrecke hoch und schaue in das amüsierte Gesicht der Schönheit vor mir.
    „Ja, ich habe Olymp und Unterwelt gesagt. Mal sehen, ob sie dir in der Schule auch die wirklich wichtigen Dinge beigebracht haben!“ Die Frau erhebt sich und das weiße Seidengewandt fällt in Wellen an ihrem Körper herunter. Viel bedeckt es nicht, gerade so die Stellen, die für eine FSK 12 Einstufung notwendig sind. „Woran erinnern dich diese Worte?“
    Griechische Mythologie. Der Olymp ist wie der Himmel, nur eben für die griechischen Götter. Aber was-
    „Sehr gut!“ Die Frau klatschte einmal in die Hände. Moment mal, hat sie eben- „Du bist doch nicht so dumm, wie du aussiehst!“
    Meine Augenbraue zuckt. Was zum-
    „Nana, nicht aufregen. Ich stell dir noch eine Frage!“ Ihre Augen glühen, als sie sich vorbeugt und eine Hand an mein Kinn legt. Sie hebt mein Gesicht zu ihr hoch und kommt mir gefährlich nah. Drei, vielleicht vier Zentimeter trennen unsere Lippen voneinander. Der süße Duft macht mich schwindelig. Wie sich diese Lippen wohl-
    „Wer ist die schönste Göttin, die diese Welt je gesehen hat?“
    „Aphrodite“, höre ich mich selbst sagen. Ich habe nicht mal wirklich darüber nachgedacht. Das dort vor mir… Ist das Aphrodite? Kann das wirklich eine Göttin sein? Aber… Es gibt keine Götter. Zumindest dachte ich das bisher, aber…
    Wenn ich diese Frau so sehe, so vollkommen, so wunderschön… Kann es dann wirklich wahr sein? Ist es denn so wichtig? Wenn ich sie sehe, dann will ich sie berühren. Ich will sie küssen. Wenn ich diese drei Zentimeter überbrücke, dann-


    Aphrodite lässt mein Kinn los. Ich sacke in mir zusammen. Seit wann habe ich aufgehört zu atmen? Wann habe ich meinen Körper so sehr angespannt? Ich fühle mich kraftlos. Es sollte weh tun, aber ich fühle mich wie in Trance.
    „Dann bist du ja jetzt im Bilde!“
    Ihre glockenklare Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schüttele wild den Kopf. Was… Was geht hier vor sich? Wie zum Teufel komme ich bitte auf die Idee, sie küssen zu wollen? Oh Gott. Oh Gott, was geht hier ab?!
    „Keine Sorge, Ava-Schätzchen, ich verzaubere selbst den größten Frauenhasser in weniger als zwei Sekunden! Ich habe die Zeit gemessen.“ Sie zwinkert mir zu und ich merke, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Sie kann also wirklich meine Gedanken lesen? Das glaube ich nicht.
    „Kannst du aber ruhig.“
    Nein, das tue ich aber nicht, Menschen können nicht-
    Gottverdammt.
    „Hat man dir nicht beigebracht, dass man in der Gegenwart einer Dame nicht flucht?“
    Ich starre sie fassungslos an. Ich muss träumen. Ja, das ist es wohl. Ich träume einen meiner absurden Träume. Wie damals, als ich in einem alten Schaukelstuhl saß und massive Stahlketten gestrickt habe, während Elefanten sich zu meiner Unterhaltung einen Kampf auf Leben und Tod geleistet haben!
    „Elefanten? Da hat Morpheus wohl ein wenig schlechte Laune gehabt. Er hasst Elefanten, musst du wissen.“
    RAUS. AUS. MEINEM. KOPF!
    Aphrodite verzieht das Gesicht. Gut so!
    „Du brauchst ja nicht gleich so zu schreien!“
    Wir starren uns für eine Weile an. Ich weiß immer noch nicht, was hier vor sich geht. Warum unterhalte ich mich mit der Göttin der Schönheit? Was mache ich hier überhaupt? Ich weiß, dass du meine Gedanken liest, also fang schon an zu erklären!
    Aphrodite grinst ein wenig. Und das lässt mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen.
    „Die Wahrheit ist… ein wenig hart. Um es kurz zu machen: Du bist tot.“

    Bitte was?
    BITTE WAS?
    Tot? Aber das geht nicht! Wie kann ich denn tot sein? Ich bin doch gerade eben erst nach Hause gelaufen und-


    Nein.
    Nein, nein, nein, NEIN. Das ist nicht möglich. Das kann nicht möglich sein!
    Die Lichter. Der LKW. Der Aufprall. Das unendliche weiß.
    Ich wimmere. Tot? Gestorben? Aber was mache ich dann hier? Das erklärt immer noch nicht, warum ich hier bin!
    Ich schaue Aphrodite in die Augen. Antworten. Ich will Antworten! Aber die zuckt nur mit den Achseln.
    „Die meisten brauchen länger, um darüber hinwegzukommen.“
    „Ich bin nicht darüber hinweg!“, stoße ich keuchend aus.
    „Dann hilft wohl nur Schocktherapie!“ Wie aus dem nichts taucht ein goldener, stark verzierter Spiegel in ihrer Hand aus. Sie zögert keine Millisekunde, ihn mir vor das Gesicht zu halten.


    Ich schreie. Ich schreie so laut, wie ich nur kann, bis ich keine Luft mehr habe. Das da im Spiegel ist mein Gesicht. Aber es ist kaum mehr zu erkennen, so rot und entstellt es ist.
    Eine riesige Platzwunde lässt Blut über mein rechtes Auge laufen, ein riesiger Schnitt zieht sich quer über meine Wange. Einige meiner Zähne fehlen, dickes, schwarzes Blut läuft aus meinem Mund. In meinem Hals steckt eine dicke Scherbe. Doch es wird nur schlimmer, je mehr von meinem Körper sie mir mit diesem Spiegel zeigt. Es ist so surreal. Ich sehe meinen Körper, der vollkommen unbeschadet ist, und in der Reflektion sind die Knochen gebrochen und ragen aus der Haut heraus, Blut fließt aus den Wunden. Ich will es nicht glauben. Ich kann es nicht glauben. So sehe ich aus?
    Meine Hände betasten mein Gesicht. Ich spüre nichts.
    Weil ich tot bin?
    „Ja, weil du tot bist.“ Sie sagt es mir, als würden wir uns über das Wetter unterhalten. „Mittlerweile siehst du aber schon wieder sehr viel besser aus. Die haben dich da unten für die Beerdigung ziemlich gut zusammengeflickt.“
    „Beerdigung?“ Ich hauche das Wort nur. Für mehr bleibt mir keine Kraft.
    „Musst du immer alles hinterfragen, was ich sage?“ Aphrodite stöhnt entnervt. „So oder so, du weiß ja jetzt, wie es ist. Aber keine Sorge, das Beste hast du noch gar nicht gehört!“
    Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich dieses „Beste“ überhaupt hören will. So, wie sie von meinem Tod spricht…
    „Nicht so schwarz sehen, Schätzchen! Ich möchte dir nämlich ein Angebot machen.“
    Ich beachte sie gar nicht. Tot. Bei einem Autounfall gestorben. Weil ich einfach auf die Straße gelaufen bin, ohne zu schauen. Wie dumm. Wie dumm!
    „Ja, das war wirklich ziemlich dumm. Aber hey, sieh es positiv!“ Aphrodite strahlt mich an. Aber dieses Mal wirkt ihr Charme auf mich nicht. Ich bin zu durcheinander. Zu kraftlos, um irgendetwas zu fühlen.
    „Du hast ja noch eine Chance!“
    Eine Chance…
    Eine Chance?
    Ich schrecke auf.
    „Was meinst du damit?“, stoße ich aus.
    „Wenn du mir zuhören würdest, könnte ich es dir erklären“, säuselt sie vor sich hin. Ich höre doch zu, was willst du noch von mir? Soll ich dir die Füße küssen? Oh, sie grinst. Vergiss das. Vergiss es. Ich höre zu!
    „Na also“, murmelt sie zufrieden. Aphrodite kniet sich neben mich. Vermutlich dauert das etwas länger.
    „Ich möchte eine kleine Wette mit dir machen. Wenn du sie gewinnst, erfülle ich dir jeden Wunsch. Egal welchen. Keine Einschränkungen.“
    Ich könnte wieder lebendig werden?
    „Worum geht es in der Wette?“
    Griechische Götter sind nicht gerade dafür bekannt, faire Spieler zu sein. Für eine Weile hatte ich mal einen Faible für Mythologie, und das ich das lesen durfte… Urgh. Ich will wirklich nicht als Spinne enden. Oder als Baum. Oder mit ewigen Höllenqualen ausgestattet.
    „Das man uns das immer noch nachhält“, Aphrodite schnaubt beleidigt. „Das war damals! Heute ist heute! Und wenn ich dir sage, dass ich dir jeden Wunsch erfülle, dann tue ich das auch!“
    „Das beantwortet aber meine Frage nicht.“
    Sie stockt für einen Moment. Dann wird ihr Lächeln breiter. Der Ausdruck in ihren Augen lässt mich schon wieder schaudern.
    „Du bist wirklich intelligenter, als du aussiehst. Viele sind auf den Deal eingegangen, ohne überhaupt zu fragen.“
    Dann sind diese Leute ziemlich dumm.
    „Worum wetten wir?“ Ich will harte, kalte Fakten.


    „Für dich habe ich mir etwas ganz besonderes ausgedacht, meine liebe Ava.“ Oh, ich mag gar nicht, wie das klingt. Besonders ist bestimmt nicht gut. „Bringe das Herz eines Menschen zum Strahlen. Du hast zwei Monate Zeit. Schaffst du es, erfülle ich dir deinen Wunsch. Schaffst du es nicht, wandert deine Seele zurück in die Unterwelt. Aber das tut sie auch, wenn du auf die Wette nicht eingehst, also…“
    Bringe das Herz eines Menschen zum Strahlen? Bitte was? Soll ich jemanden dazu zwingen, eine Glühbirne zu verschlucken oder was? Aber wie regel ich das mit der Stromversorgung? Vielleicht mit einem Verlängerungskabel oder-
    „Amüsante Vorstellung“, unterbricht Aphrodite meinen Gedankengang mit einem unterdrückten Lachen, der mit den dazugehörigen Bildern langsam wirklich leicht eklig wurde. „Aber nein. Das meine ich natürlich nicht.“
    Okay. Danke. Das wäre wirklich ätzend gewesen.
    „Es gibt viele Menschen wie dich, Ava. Viele, die mit ihrem Leben unzufrieden sind. Das kann ganz verschiedene Gründe haben, und manchmal fällt ihnen das auch gar nicht selbst auf. Oder sie wissen nicht, warum sie unzufrieden sind. Und in manchen Fällen kann auch nur jemand anderes dafür sorgen, dass es dieser Person wieder besser geht. Und da kommst du ins Spiel. Ich möchte, dass du einen dieser Menschen glücklich machst. Wenn Menschen glücklich sind, dann leuchten ihre Herzen in einem weißen Licht. Sind sie es nicht, dann bleiben sie dunkel und verkümmern mit der Zeit.“
    „Heißt das, ich soll dafür sorgen, dass sie gut gelaunt sind und dann gewinne ich?“ Klingt einfach.
    „Nein, das ist nur temporäres Glück. Ich habe einige Kandidaten ausgesucht, die ein tiefergreifendes Problem haben als nur einen schlechten Tag. Du sollst dieses Problem lösen. Aber keine Sorge, ich stehe dir dabei zur Seite.“
    „Und wie erkenne ich das Problem?“
    „Das ist die Sache. Du musst es selbst herausfinden und auch selbst lösen. Ich sage dir nur, wessen Herz erleuchtet werden soll. Der Rest liegt an dir.“
    War ja klar, dass es niemals so einfach sein könnte. Aber trotzdem… Es muss doch einen Haken geben. Aphrodite lächelt.
    „Nun, auf der Erde bist du tot. Seit genau fünf Wochen um konkret zu sein. Ist also klar, dass ich dich nicht in deinem Körper herumlaufen lassen kann. Zumindest nicht so, wie du im Moment aussiehst. Die Narben sind doch recht auffällig.“
    Mal davon abgesehen, dass ich TOT sein sollte. Aber ja, die Narben sind natürlich das größte Problem.
    „Wie machen wir es dann?“
    „Mit etwas Magie.“
    „Spezifischer geht es nicht?“
    Aphrodite schüttelt den Kopf. „Wo wäre denn dann der Spaß?“
    Ich knirsche mit den Zähnen. War doch klar, dass sie das hier nicht tut, um Menschen zu helfen. So sind diese Götter einfach nicht gestrickt. Sie tun die Dinge nur aus eigenem Interesse. Und wenn es bloß… Spaß ist.
    „Du hältst wirklich nicht viel von mir, oder?“ Sie zieht eine bekümmerte Schnute.
    „Sollte ich das denn?“
    „Na hör mal, ich bin immerhin eine Göttin.“
    Es gibt einen Haken. Da bin ich mir einfach sicher. Aber was habe ich groß zu verlieren. Wenn ich es nicht schaffe, dann lande ich in der Unterwelt. Wenn ich ablehne, lande ich in der Unterwelt. Wenn ich Aphrodite schlage, um meinen Frust loszuwerden, lande ich auch in der Unterwelt. Oder schlimmeres.


    Aber wenn ich gewinnen sollte, dann…
    „Dann hast du deine zweite Chance“, säuselt sie mir ins Ohr.
    Ich hole tief Luft. Tot bin ich sowieso schon. Was kann ich da noch groß verlieren?
    Ich schaue Aphrodite tief in die roséfarbenen Augen. Ihre Lippen zeigen ein kleines Lächeln. Täusche ich mich, oder liegt ein Schatten über ihrem Elfengesicht?
    „Ich mache es.“



    Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, wird wieder alles weiß. Der Marmor unter meinen Füßen verschwindet, die Säulen und die Rosen, selbst der Himmel. Ich muss die Augen schließen, denn die Helligkeit brennt in ihnen.


    „Willkommen in deinem neuen Zuhause!“
    Ich höre Aphrodites Stimme. Erst zögere ich etwas, aber es scheint okay zu sein, jetzt wieder die Augen zu öffnen. Das Weiß hat sich verzogen.
    Meine Augen müssen sich erst noch an die Dunkelheit gewöhnen. Ich höre das Rauschen der Wellen, das leise Zwitschern der Vögel. Über meinem Kopf brennt eine altmodische Laterne. Sie hängt direkt neben einer großen Eingangstür.
    Ich schaue mich um. Neben mir steht eine große Frau mit langem, dunkelbraunem Haar, einem schmalen Gesicht und einem leichten Sommerkleid. Ich erkenne Aphrodite nur an ihren roséfarbenen Augen. Die sind das einzige, was noch gleich ist.
    „Überrascht?“, fragt sie mich mit einem breiten Grinsen.
    „Nicht wirklich“, gebe ich zurück.
    Wir stehen vor einem Haus. Im Licht der Laterne sehe ich, das es hellblau angestrichen ist. Die Holzverkleidung sieht alt aus, aber gut erhalten. Weiße Holzstützen tragen ein Dach mit schwarzen Ziegeln. Ich sehe einen Schornstein und einen Erker, der aus dem Dach herausragt.
    „Gefällt es dir?“
    Ich nicke wortlos. Ich liebe es. Dieses Haus erinnert mich an das, in dem wir Urlaub an der Küste gemacht haben, damals als ich noch klein war. Klein, aber adrett und gemütlich. Und hier werde ich ab sofort leben?
    „Nur für die nächsten zwei Monate, Schätzchen.“
    Natürlich.
    Ich drehe mich um, aber was ich sehe, kann ich nicht recht fassen. Zwanzig, dreißig Meter Garten mit Bäumen und Büschen. Aber was viel wichtiger ist…
    Der Ozean. Weit und blau und ruhig, dass die Sterne sich darin spiegeln. Und am Ende des Meeres ein heller, blauer Streifen. Der Horizont. Wo die Sonne bald aufgehen wird.


    Aphrodite schob mich irgendwann einfach ins Haus und ich sah mich ein wenig um. Es ist so gemütlich, wie es von außen aussieht. Ich entdeckte ein großes Schlafzimmer direkt unter dem Dach mit einem riesigen Bett darin, eine Küche in Holzoptik und mit einem wundervollen, alten Esstisch, eine gemütliche Sitzecke im Wohnzimmer, ein kleines, aber feines Bad mit Badewanne und überall Pflanzen und kleine Dekorationen. Es wirkte so liebevoll eingerichtet.
    Ich wollte gerade fragen, ob sie dieses Haus gebaut hatte, da schüttelte Aphrodite den Kopf. Sie hätte es sich nur für eine Weile ausgeliehen, meinte sie dann mit einem Augenzwinkern. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die genauen Umstände wirklich wissen will.
    Ich traute mich aber nicht, in einen Spiegel zu sehen. Sie hatte mich vorgewarnt, dass ich im Moment noch so aussehen würde, wie mein Körper auf dieser Welt eben aussah. Im Olymp hatte sie mit ein wenig Magie getrickst, um mein entstelltes Ich nicht die ganze Zeit vor Augen zu haben. Hier auf der Erde ginge das aber nicht.
    „Aber mach dir keine Gedanken. Dafür haben wir etwas.“
    Sie führt mich ins Badezimmer, wo der große Standspiegel noch abgedeckt ist. Ich starre das Tuch an. Schlimmer als direkt nach dem Unfall kann ich nicht aussehen. Oder? Ich spiele mit dem Gedanken, das Tuch einfach abzuziehen, aber Aphrodite nimmt mir die Entscheidung ab.
    Sie greift meine Hand und stülpt etwas darüber. Noch bevor ich etwas sagen kann, spüre ich eine Hitze in meinem Körper. Erst nur an meinem Ringfinger, dann in meiner Hand. Sie breitet sich schnell, immer schneller aus. Ich weiß nicht, was passiert. Es tut nicht weh… Aber ich fühle mich anders. Inwiefern? Das kann ich nicht genau sagen.


    Irgendwann lässt die Hitze nach. Aphrodite nickt zum Spiegel. Ich hole einmal tief Luft und ziehe.

    „Du musst die Augen schon öffnen, Ava.“
    Was? Wann habe ich sie geschlossen? Habe ich… solche Angst? Ich spüre, wie mein Herz pocht. Endlich spüre ich es wieder. Es war so merkwürdig, nichts zu spüren. Keine Kälte, keine Hitze, nicht einmal den eigenen Herzschlag. Aphrodite hatte mir zusätzliche Lebenskraft eingehaucht, damit ich für die nächsten zwei Monate zumindest ein halbwegs normales Leben führen konnte. Jetzt blieb nur noch das Aussehen.
    Okay Ava. Ruhig bleiben.
    Du kannst das.
    Ich atme ein. Ich atme aus. Und dann öffne ich die Augen.


    Und wieder entkommt mir ein kleiner Schrei. Diesmal nicht, weil das, was ich sehe so abartig ist. Nein, dieses Mal, weil mein Gehirn das Gesehene nicht wirklich verarbeiten kann.
    Ich bin nicht ich. Also doch, ja, schon. Als ich den Arm hebe, um mein Gesicht zu berühren, tut mein Spiegelbild das gleiche. Aber ich sehe nicht mehr aus wie ich.
    Meine Apfelwangen sind hohen Wangenknochen gewichen. Meine Algenauge haben jetzt die Farbe vom Azurhimmel aus dem Olymp, sind runder und größer. Meine Nase ist plötzlich schmal und gerade, und meine Lippen… Gott, meine Lippen. Voll und zartrosa. Ich sehe vollkommen anders aus! Von den dunkelbraunen Haaren ist nichts mehr übrig. Sie sind lang und blond und… flauschig. Und mein Körper? Größer, und etwas dünner, aber kurvig an der Brust und den Hüften. Ein leicht gebräunter Hautton, gesunde, weiche Haut… Ich sehe aus, wie frisch aus einer Modezeitschrift entsprungen…
    „Und, gefällst du dir?“ Aphrodites neues Gesicht taucht neben meinem im Spiegel auf. „Ist mir doch gelungen, oder?“
    Ich nicke stumm. Ich weiß nicht, ob ich… Ob mir das gefällt. Ich meine… So sehe ich nicht aus. Das Mädchen im Spiegel ist eine ganz andere Person. Aber… Daran würde ich mich gewöhnen müssen. Es ist ja nur für zwei Monate. Danach habe ich mein eigenes Gesicht zurück. Mein eigenes Leben.
    Und seien wir ehrlich… Es hätte mich schlimmer treffen können.
    „Hätte es. Ich hätte dir ein ähnliches Gesicht geben können wir dein altes, aber das wäre dir gegenüber ziemlich unfair gewesen. Dann hättest du ja nicht den Hauch einer Chance gehabt!“ Aphrodite lachte ich Glockenlachen, und meine Augenbraue zuckte.
    Zumindest reagiert mein neuer Körper genauso wie mein alter.
    Wie soll ich bitte zwei Monate mit dieser Frau zusammenwohnen, ohne sie zumindest einmal körperlich zu verletzen? Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich weiß es jetzt schon. Das ist nämlich eine der Bedingungen, die Aphrodite mir nicht genannt hat. Dass wir zusammen in diesem Haus leben und einen auf Mutter und Tochter machen. Das kann heiter werden…


    „Also, wie heißt du?“
    „Ava Jolie“, murmele ich halbherzig. „Müssen wir wirklich Jolie heißen? Das lädt doch förmlich zu blöden Angeline Jolie Witzen ein!“ Auf Ava hatte ich bestanden. Der Name war recht häufig. Und ich würde mich niemals irgendwo mit Jaqueline vorstellen. Das kann sie vergessen!
    „Jolie ist französisch für-“, will sie mich belehren, aber ich unterbreche sie.
    „Hübsch, ich weiß. Trotzdem-“
    Aber Aphrodite geht gar nicht darauf ein.
    „Wie heißen deine Eltern?“, fragt sie stattdessen weiter.
    „Elina Jolie, das bist du, und Thomas Jolie, der aber leider an einer Krankheit verstarb, als ich noch klein war“, leiere ich herunter. Ich wackele mit meinen nackten Zehen. Wir sitzen am großen Esstisch, und während Aphrodite mich ausfragt, fummelt sie gleichzeitig an einem weiteren, mittlegroßen Spiegel herum. Man, die liebt diese Dinger wirklich, kann das sein?
    „Wir sind hierhergezogen, weil…?“
    „Weil du hier ein kleines Café eröffnet hast, da das immer dein Traum war.“
    „Wann hast du Geburtstag?“
    „Der siebte Juni 1998.“
    „Dein Sternzeichen?“
    „Zwilling.“
    Aphrodite verengt die Augen und setzt ein triumphierendes Lächeln auf.
    „Geburtstag deiner Mutter?“
    „Keine Ahnung, mit Daten habe ich es nicht so.“ Ich zucke die Schultern.
    „…Gut genug. Und fertig!“
    Meine neue Mutter legt den Spiegel vorsichtig auf den Tisch. Er sieht genauso aus, wie vorher auch, aber ich habe nicht vor, sie darauf hinzuweisen. Also warte ich einfach ab. Sie ist die Göttin.
    „Nicht so ungeduldig“, mahnt sie mich, und legt dann ihre Hand mitten auf die Spiegelfläche. Und… Es passiert nichts.
    Dachte ich. Gerade, als ich ihr einen Spruch reindrücken will, beginnt der Spiegel zu leuchten. Und innerhalb von zehn Sekunden formen die Lichtstrahlen direkt über den Spiegel etwas, das mich entfernt an Tony Starks holografisches Display erinnert. Nur mit weniger Zahlen und Daten. Dafür mit mehr Bildern. Also perfekt für jemanden, der kein genialer Wissenschaftler, Playboy, Philanthrop und Superheld ist.
    „Also gut! Ich habe dir ja gesagt, dass ich dir eine Auswahl von Kandidaten geben werde, deren Herzen du zum Strahlen bringen sollst.“
    „Können wir das anders nennen? Das hört sich so bescheuert an“, klinke ich mich ein, aber Aphrodite geht gar nicht darauf ein.
    „Insgesamt habe ich dir sieben Kandidaten ausgesucht.“
    Sie nimmt ihre Hand vom Display und wischt einmal quer durch das Hologramm. Sieben Bilder von Personen tauchen auf. Und als ich begreife, wen ich da sehe, entgleiten mir meine Gesichtszüge. Das ist nicht ihr ernst, oder? Aber das bedeutet ja-
    Aphrodite grinst mich an.
    „Ahnst du jetzt, wo dieses Haus steht?“
    „Wir sind immer noch in derselben Stadt?“, stoße ich entgeistert aus. „Da, wo auch mein Dad und meine Schwester wohnen?“
    Aphrodite nickt selbstzufrieden.
    Ich starre auf die Bilder. Alles kleine Portraits, darunter ein paar Angaben zu ihnen. Und jedes einzelne Gesicht kenne ich.
    Ich bin ihnen gestern begegnet. Nein, eigentlich vor fünf Wochen, aber für mich ist es gestern.


    Der erste, Arthur Dale. Er hat sich mir sogar vorgestellt. Der Schülersprecher, der keinen Sinn für Sarkasmus hat.
    Der zweite ist die Grinsebacke vom Basketballplatz. Darryl Orton ist sein Name und wird ganz einfach mit „Das Sportass“ betitelt.


    „Ist das dein Ernst? Gingen die Titel nicht noch einfallsloser?“
    Aphrodite zuckt nur mit den Achseln. Hätte mir denken können, dass ihr das herzlich egal ist. Ich schaue das nächste Bild an.


    Neben dem Musiknarr saß ich sechs Schulstunden. Emile Jeston, also known as „Hans guck durch das Fenster“…
    Henry Borrough ist der arme Tropf, den ich so angemacht habe, als er sich nach meinem kleinen Zusammenstoß nach mir erkundigt hat. Der Belesene… Na zumindest hat sie sich nicht für „Bücherwurm“ entschieden.
    Der nächste ist Julien Woods… Mein zweiter Klassenkamerad, der, den ich mit meinem Blick des Todes durchbohrt habe, als er während Englisch gekichert hat. Der Komiker also. Passt erschreckend gut.
    Die Schüchterne. Olivia... Dale? Sie muss mit Arthur verwandt sein. Ich erinnere mich vage an sie. Sie hat mich beinahe umgelaufen, als sie aus dem Sekretariat ging.
    Und zuletzte Tyler Prescott. Ich verziehe das Gesicht. Meine erste Begegnung mit ihm war nicht gerade toll. Wenn ich jetzt noch wüsste, welcher von den beiden Doppelgängern Tyler ist... Hoffentlich nicht der, der mich so angemacht hat. Das wäre übel.


    Ich starre die Portraits für eine Weile an. Meine Mundwinkel wandern immer mehr in Richtung Erdmittelpunkt.
    „Und, schon eine Idee, wen du nehmen willst?“
    Aphrodite strahlt mit an. „Ich finde, ich habe eine tolle Wahl getroffen!“
    „Willst du mich verarschen?“, herrsche ich sie an. „Die hassen mich doch alle!“
    „Falsch, Ava. Die haben dein altes Ich gehasst. Ava Hale existiert nicht mehr. Und Ava Jolie kennen sie noch nicht. Ein vollkommen neuer Start.“ Ihr Gesicht wirkt geisterhaft mit den Schatten, den das Hologramm darauf erscheinen lässt. Ihr kleines Grinsen lässt mich schaudern.
    Stimmt. Ein neuer Start. Niemand erkennt mich.
    Absolut niemand. Auch meine Familie nicht.
    Oh Gott, meine Familie. Wie geht es ihnen? Wie geht es Hannah? Ist sie traurig, dass ich tot bin? Ich… Ich habe bisher keinen Gedanken an sie verschwendet. Plötzlich ist mir schlecht.
    Ich bin tot. Wirklich tot. Bis ich das verarbeitet habe, wird es wohl noch etwas dauern.


    „Ich bin eine gütige Göttin.“ Aphrodites Stimme reißt mich aus den Gedanken. „Ich gebe dir zwei Tage, dann musst du dich entscheiden, wen du wählst. Ab diesem Zeitpunkt gelten die zwei Monate. Exakt 61 Tage.“
    „Morgen gehe ich dann also zur Schule.“
    „Als Ava Jolie, ja.“
    Ich schlucke. Das alles ist gerade noch etwas viel. Jetzt, wo ich die Chance habe, richtig darüber nachzudenken… Aber was bleibt mir anderes übrig.


    Das Fenster von meinem Erker steht offen. Angenehm kühle Nachtluft strömt herein und vertreibt meine trüben Gedanken. Ich sitze jetzt schon eine ganze Weile hier auf meinem Fensterbrett und starre einfach nur aufs Meer hinaus. Es ist so seltsam. Gestorben, eine Wette mit einer Göttin eingegangen, wiederbelebt…
    Es fühlt sich immer noch komisch an, meinen neuen Körper zu berühren. Meine Haut fühlt sich ganz anders an, meine Wimpern sind länger und meine Haare sind seltsam weich. Daran werde ich mich wohl erst noch gewöhnen müssen. Der Ring an meinem Finger ist genauso ungewohnt. Ich muss ihn immer anlassen, egal was passiert. Wenn ich ihn ausziehe, dann wird mein normaler Körper wieder sichtbar. Keine schöne Angelegenheit. Ich seufze.


    Der Ozean liegt immer noch ruhig und endlos vor mir. Und am Horizont wird der blaue Streifen langsam größer. Als die ersten hellen Strahlen der Sonne den Himmel einfärben, schließe ich das Fenster, lege mich ins Bett und schließe die Augen.
    Nur ein bisschen Schlaf.


    Den habe ich mir wirklich verdient.




    18 Seiten Prolog. Oh mein Gott. Ich sterbe.
    Seht das hier vielleicht mehr als eine generelle Einleitung anstelle eines Prologs. Da ich nicht alles für jede Route neu schreiben wollte, ist die Einleitung auch etwas länger, um alles wichtige schon mal erklärt zu haben.


    Jetzt liegt es also an euch: Sucht euch einen Charakter aus, den wir als erste verfolgen sollen. Ich würde mich über Meinungen freuen. (:


    Oh, und 3000. Beitrag o/

  • [font=georgia][size=8]

    Kuchen: locker (fällt beim Anschauen schon zusammen), aber auch lecker!
    Nija: geninjat, aber motiviert!
    Slush-Eis: bereitgestellt!


    Let's do this.


    Und damit hallo und herzlich willkommen zu ... Einem Kommentar. Kannst du's glauben? Ich sicher nicht.
    Ich hab keine Ahnung, was ich hier labere, aber ich weiß eins: Alpaka!


    Startpost & Krimskrams


    Zitat von Cáithlyn

    „Bringe ein Herz zum leuchten, und ich erfülle dir einen Wunsch.“


    Leuchten groß.


    Wenn man den Einstieg in einem Kommentar gleich mit einem Rechtschreibfehler beginnt, dann wahrscheinlich, weil einem sonst nichts einfällt. Der Startpost ist schlicht gehalten, informiert aber genug, die Farben sind schick, die Steckbriefe sind nicht zu lang, sondern ebenfalls eher einfach, dank den Bildern hat man gleich eine Vorstellung von den Charakteren und ... Ansonsten hab ich einfach nichts zu sagen. '-' Eventuell hätte man noch einen längeren Klappentext einfügen können, das halte ich aber nicht für notwendig. Es ist einfach ... Alles drin. Wow, kompetentester Kommentar. Das hier macht ja dem zu Midnight Call Konkurrenz. .___."


    Warum eigentlich "Blue Horizon"? Hab auf den Titel erstmal so null geachtet, haha, aber gerade stehe ich dahingehend auf dem Schlauch. Wird sich eventuell noch klären, hm. Schön klingt es aber allemale und es passt auch zum Farbschema. Oder eher, das Farbschema passt zum Titel ...


    Plädiere hiermit ganz offiziell für die Olivia-Route, sie wirkt voll knuffig. owo


    [align=center]PROLOG - A NEW HORIZON


    Ganz bescheuerte Frage, aber wo ich das grad so sehe: ist die Schriftart Calibri oder vertu ich mich? Hab das letztens erst selbst benutzt, weil in Schriftgröße 10 ist das schon so winzig ... Wtf, warum frage ich überhaupt, das hat doch null mit der Story zu tun ... .________.


    First things first, R&G, dann ist das aus dem Weg!
    Wollte dir gerade "wank" ankreiden, bis ich herausfand, dass man sowohl "wank" als auch "winkte" schreiben kann. Wieder was gelernt.


    Zitat von Cáithlyn

    Mit leicht grünlicher Gesichtsfarbe, tiefen, schwarzen Schatten unter den Augen und Haare


    HaareN, wir sind immer noch im Dativ. ^-^


    Zitat von Cáithlyn

    Ich möchte kotzen, und dieses mal ganz freiwillig!


    Mal groß. (Und haha. xD)


    Ich hab noch mehr gesehen (unter anderem noch ein kleingeschriebenes Nomen), hätte ich mal notieren sollen, whut. Ist bei der Länge nicht wirklich verwunderlich (r u insane). Aber das waren gerade die drei Sachen, an die ich mich konkret erinnerte. xD


    Was mir auffiel, war der plötzliche Zeitwechsel, als sie Montag aufwacht; sollte die plötzliche Vergangenheitsform, die in einem Absatz kurz darauf wieder revidiert wird, Absicht gewesen sein, wüsste ich nicht, was sie bezwecken sollte. '-' War da kurzzeitig verwirrt - "warte, war das schon die ganze Zeit im Präteritum oder bin ich blöd?", bis dann auf einmal wieder im Präsens geschrieben wurde. Ich tippe jetzt mal ganz frech darauf, dass das einfach übersehen wurde. Passiert, wenn man 12 Stunden am Stück schreibt (r u insane²), schätze ich.


    Ansonsten ... Wo sind die eigentlich? '-' Englisch scheint als Fach eine Fremdsprache zu sein, aber die Namen klingen alle recht Englisch, ich bin verwirrt. xD Liegt vielleicht einfach nur an mir, aber ich erinnere mich nicht daran, dass das irgendwo erwähnt wurde.


    Weg von dem ganzen technischen Krams, hin zu dem, was eigentlich passiert ist! Ich muss wohl nicht nochmal erwähnen, wie awesome dein Humor ist, musste mehrmals lachen, Ava ist mir jetzt schon seeehr sympathisch. =D Verständlich, dass sie gelinde gesagt ziemlich angepisst ist von dem, was passiert. Und dann auch noch zu sterben ... Kein wirklich guter Tag für sie. Wär ich genauso drauf. '-' Auch Aphrodite mag ich schon auf eine ... Komische Art. Einerseits denke ich, dass sie noch einigen Ärger bereiten wird, andererseits hat sie irgendwie was, haha. Ebenso sehr freue ich mich auf die Routen, die Charas haben alle Potenzial, zumindest von dem, was wir bislang schon gesehen haben. =D


    Find ja das Grundkonzept ziemlich interessant, wobei es noch einige Fragen aufwirft - gehen wir mal davon aus, Ava gewinnt die Wette. Technisch gesehen ist sie ja tot. Wiederbelebung? Erinnerungsresetting? Zeitreisen? Oder bleibt sie auf immer Ava Jolie? Wär ja irgendwie auch traurig, gerade was ihre Familie angeht. Wollte ihr schon ankreiden, dass sie gar nicht an ebendiese denkt, während sie da so im Olymp mit Aphrodite labert, aber ungefähr in dem Zeitraum fiel er das dann selbst auf, also gut. Dennoch, ich an ihrer Stelle wäre ziemlich panisch, was das angeht, sie wirkt ja recht gelassen. Noch, schätze ich. Ob sich das wohl ändern wird, wenn sie Hannah oder die anderen mal wieder sieht? Sie läuft ihnen bestimmt noch über den Weg. Stell ich mir ziemlich interessant vor. Ob jemand wohl was merkt? Schlussendlich ist sie trotz anderem Aussehen immer noch Ava, ich bezweifle mal stark (und hoffe es auch nicht), dass sich ihr Charakter sonderlich ändert. Außer vielleicht aus Developmentgründen. owo


    Ich versuch hier gerade, mehr und mehr nach Sachen zu kramen, die ich sagen kann, aber irgendwie fällt mir nichts mehr ein, was bei so einem langen Prolog (r u insane³) eigentlich eine Schande ist. Bislang kann ich nur sagen, dass ich total gespannt bin auf die verschiedenen Routen (und mal sehen, mit wem ich sie am meisten shippe - LET THE SHIPWARS COMMENCE! ... Äh, lieber nicht, let's all get along ...) und wie das dann am Ende ... Wrapped up wird. #denglisch
    Und vor allem, ob und wie die Routen miteinander verbunden werden. Du meinst ja, dass du wieder vom Stand des Prologes beginnst, ich frag mich, ob das Ava auch merkt (quasi wie im Amnesia-Anime) oder es einfach ein tatsächlicher Reset ist. Fänd ja Ersteres interessanter, aber wer weiß. o/


    Nur hab ich ehrlich gesagt ein wenig Angst vor der Länge der Kapitel. Das hier geht ja laut woerter-zaehlen.de schon über 10 000 ... Aber hey, dafür las es sich weg wie nix, aber das muss ich dir wohl nicht mehr sagen, haha.


    Mehr! o/ Und du hast mich jetzt übrigens für jedes neue Kapitel am Hals, leb damit! Wie ich gerade fragen wollte, ob ich auf die Benachrichtigungsliste kann, lol.


    Nija out ~

  • Hallo Cáithy,


    um Nija mal nicht zu ninjan, habe ich mich zurückgehalten. Aber davon abgesehen bin ich froh, dass du diese Geschichte endlich schreiben und veröffentlichen kannst. Ich erinnere mich noch, als du mir vor einigen Monaten von der Idee erzählt hast und auch schon recht detaillierte Ausführungen hattest, worauf ich sehr gespannt war. Und wenn es schon nicht als Visual Novel umgesetzt werden kann, dann eben als hoffentlich lange Kapitelgeschichte. Und der Einstieg ist schon mal sehr ansprechend.
    Ich möchte mich auch gar nicht so lange mit dem Startpost aufhalten, da ich das sowieso selten mache und du da alles schon perfekt umgesetzt hast. Alle wichtigen Informationen für die Geschichte sind vorhanden, gut strukturiert und es passt einfach.


    Nun zum Prolog selbst. Es mag vielleicht daran liegen, weil du in der ersten Person schreibst, aber weißt du, dass es sich atmosphärisch und auch im Ausdruck stark wie eine Visual Novel anfühlt? Besonders anfangs entstand dieser Eindruck schnell, später nicht mehr ganz so stark, aber das wollte ich einmal anmerken, dass sich die eher kurz genannten und abwechslungsreichen Passagen fast schon daran anlehnen. Generell hat man mit Ava einen recht stürmischen Einstieg erwischt, nachdem sie erst einmal mit ihren Problemen zurechtkommen muss und dabei nebenbei noch ihre Lebensgeschichte erzählt. Geschickt eingefädelt und so erfährt man alles Wichtige, was später womöglich noch wichtig werden könnte. Zumal es für die Love Interests wohl sowieso nicht großartig von Belang wäre.
    Wo wir schon bei den Interests sind, auch hier ist es interessant zu sehen, dass diese allesamt am ersten Tag der Schule quasi vorgestellt werden und gleich mit Ava Bekanntschaft machen; der eine wohl unliebsamer als der andere. Auch wenn es vereinzelt nur sehr kurz war, so konnte man sich doch gute Bilder über ihre Charaktereigenschaften machen. Auch das ist dir gelungen, wobei mich wundert, dass Ava so ein gutes Gedächtnis für Gesichter hat und sie diese bei Aphrodite später allesamt wieder erkennt.
    Generell ist auch die Art der Wette interessant. Götter haben ja nicht selten Langeweile im Olymp und schicken sich an, Menschen zu Spielen zu überreden, um sie so zu unterhalten. Man darf gespannt sein, ob dabei auch alles mit rechten Dingen zugeht, denn ganz umsonst wird Ava nicht einfach so vor dem Tartarus gerettet worden sein. Aber wie auch immer, das wird sich später noch herausstellen; nur um die Zweifel hier mal zu protokollieren! Man bekommt schnell ein Bild für die neue Situation, in der sie sich befindet. So viele Fragen, so wenige Antworten und doch hat sie nicht mehr als zwei Monate Zeit, um sich zurechtzufinden. Eigentlich keine schöne Sache, wenn man den Tod zeitgebunden erwarten darf; aber das macht es wiederum spannend und könnte vielleicht auch mal für ein Bad End sorgen, je nachdem, ob du nur die Routen durchgehst oder auch Fehlschläge aufzeichnest.
    Wo wir schon beim Tod sind, eine Sache war doch etwas kurz und zwar geht es um die Szene, als Ava in die Traumwelt übergleitet. Es scheint, als wolltest du dich nicht recht lange damit aufhalten, dabei wirkt dieser Übergang, als sie vom LKW erfasst wird, relativ zügig. Das mag nun auch daran liegen, weil es sofort im Text weitergeht, aber das wollte ich gern einmal so vermerken, weil längere Pausen oder reine Gedankenströme hilfreich zur Überbrückung sein können.
    Und wie mir gerade auffällt, ist der Prolog so lang, dass man im Grunde noch länger Ereignisse aufgreifen könnte. Um es nun kurz zu machen: Du hast wirklich ganze Arbeit geleistet und einen sauberen Start hingelegt. Ich bin daher gespannt, wie es weitergehen wird! Und da du so schön nach einem Charakter fragst, würde ich gern die Entwicklung mit Tyler sehen. Ganz einfach deswegen, weil sie mit ihm keine guten Erfahrungen gemacht hatte und eine neue Chance interessant aussehen dürfte.


    Von daher hoffe ich, dass dir der Kommentar hilfreich ist und man liest sich sicher wieder einmal, denke ich. Bis dann!


    ~Rusalka

  • Tyler Route



    Chapter 1: Raindrops



    Wie lange liege ich hier nun schon? Ich weiß es nicht. Stunden? Tage? Oder doch nur Sekunden? Ich liege einfach hier, auf dem kargen, felsigen Untergrund. Steine bohren sich in meinen Rücken. Kann meinen Körper nicht bewegen. Nicht mal die Augen schließen. Bin wie paralysiert. Mein Körper und mein Geist. Kann keinen richtigen Gedanken fassen. Alles driftet einfach weg.
    Ich höre Schreie. Weit entfernt, aber klar und grausam. Alle leiden hier. Werde ich auch leiden? Werde ich eine von ihnen? Bestimmt. Eine dieser transparenten Wesen. Formlos, willenlos. Tot.
    Hoch über mir sehe ich Gestein. Ich bin in einer Höhle. Flammen schlagen gegen die Wände. Ich höre den flüssigen Stein zischen. Lava. Ob ich darin verbrenne? Kommt sie näher? Ich weiß es nicht. Kann mich nicht bewegen. Spüre nichts. Fühle nichts.
    Schwinde davon. Stück für Stück. Wie ein Sog. Wie seltsam.


    Licht. Weißes Licht, nicht rot wie Feuer. Kommt immer näher. Was will es?
    Licht. So viel Licht. Sehe ein Gesicht. Goldene Locken.
    Drifte weg. Der Sog wird stärker. Hilfe. Hilfe!
    Ich will nicht. Ich habe Angst. Bitte, Hilfe!
    Ihre Hand auf meinem Gesicht. Schreie.
    Angst. Angst!
    Und plötzlich…
    Schmerz, so viel Schmerz! Halte es nicht aus! Schwinde davon! Tut so weh! Bitte, bitte! Es. Tut. Weh!
    Tränen. Schmerz. Schreie. Meine eigenen. Ein Lächeln über meinem Gesicht. Fingernägel in meiner Haut. Es tut so weh. So weh! Will nicht mehr! Bitte!
    Hilfe!




    Ich stehe fast im Bett, als ich aufwache. Meine Decke fliegt zurück und ich ringe nach Atem, als ich merke, dass ich das scheinbar für einen Moment vergessen habe. Mein Puls rast. Mein Körper fühlt sich so heiß an.
    Hektisch blicke ich mich im Zimmer um. Eine blassgrüne Tapete, der Erker mit den bunten Kissen darauf, ein großer Eichenkleiderschrank mit einem mit feinen, goldenen Linien verzierten Spiegel. In der Ecke ein nahezu leerer Schreibtisch, über mir die Stützen des Himmelsbetts.
    Ich brauche einen Moment, um mein neues Zimmer zu erkennen. Dann sinke ich mit klopfendem Herzen zurück in meine Daunenkissen.


    Ein Albtraum? Nein, das war kein bloßer Albtraum. Dafür waren die Bilder viel zu scharf. Aphrodite kam darin vor. Ich sehe die merkwürdigen, blassen Gestalten noch genau vor mir. Wie die Silhouetten von verhungerten Menschen, mit eingefallenen Gesichtern und leeren Augenhöhlen. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Ich drehe mich zur Seite, ziehe meine Beine an und drücke ein Kissen gegen mein Gesicht.
    Mein Herz schlägt immer noch heftig in meiner Brust. Ich zwinge mich dazu, ruhig und kontrolliert zu atmen, aber die Bilder in meinem Kopf machen das schwer.
    Wo bin ich da gewesen? Wenn Aphrodite dort war… Und dieses komische Gefühl, als würde alles Leben aus mir herausgesaugt werden. War das die Unterwelt?


    Es macht Sinn. Aphrodite sagte mir, sie hätte mich aus der Unterwelt zurückgeholt. Habe ich mich in meinem Traum daran erinnert?
    Ich hebe meine Hand und sehe, wie sie zittert. Ich will nicht wieder dort hin. Auf keinen Fall.
    Und das bedeutet, dass ich diese Wette gewinnen muss.


    Ich weiß nicht, wie lange ich reglos in meinem Bett lag und darauf gewartet habe, dass sich mein Puls beruhigt. Die Sonne schien schon durch das Fenster hinein, was merkwürdig beruhigend war. Zumindest konnte ich mir so sicher sein, dass ich auch wirklich noch über dem Grundwasserspiegel war.
    Irgendwann stand ich jedenfalls auf, und obwohl meine Beine noch etwas zittrig waren, schaffte ich es zumindest, mich ins Bad zu begeben. Und dort starre ich gerade mein neues Gesicht im Spiegel an.


    Dass ich mich nach knappen fünf Stunden im neuen Körper noch nicht an mein neues Gesicht gewöhnt habe, ist irgendwie klar. Aber dass ich mich regelrecht davor erschrecke, als ich am Spiegel vorbeigehe, ist dann doch etwas übertrieben.
    Eigentlich kann ich mich wirklich glücklich schätzen. Das hier ist ein Modelkörper. Kein wenn und kein aber. Egal, was ich für Grimassen ziehe, ich schaffe es einfach nicht, mein neues Gesicht hässlich aussehen zu lassen. Bei meinem alten Gesicht reichte dabei schon eine Kamera und ich hatte den perfekten Kifferblick. Und das Beste: Keine Schatten unter den Augen! Ich sehe merkwürdig erholt aus, dafür, dass ich gerade wieder durch die Hölle gegangen bin. Wortwörtlich. Die Haare sind immer noch flauschig, die Augen leuchten immer noch in einem schönen Blauton und mein Teint ist auch immer noch perfekt.


    Ich stöhne frustriert aus. Seit meinem zwölften Lebensjahr habe ich mich mit Pickeln und Mitessern rumgequält, Cremes und Reinigungsmittel für drei ganze Kosmetiksalons gekauft und ausprobiert… Und was ist das Gegenmittel? Sterben. DAS hat mir bisher noch keine Kosmetikerin empfohlen.


    Ja, ich gebe es zu. Ich freue mich nicht so sehr über dieses perfekte Aussehen, wie ich sollte. Zum einen, weil ich das Gefühl habe, dass es nicht zu mir passt. Ja, mein Körper war ein wenig kleiner. Und ja, meine Haare hatten auch nicht den Glanz von diesen. Aber das waren wenigstens meine Haare. Mein Körper. Aus der Phase, in der ich an allem herummäkele bin ich nun einmal lange raus. Ich fands okay, dass meine Taille nicht ganz so dünn war, wie andere es gerne hätten. Es hat mich nicht gestört, dass meine Nase einen kleinen Knick hatte… Und jetzt sehe ich dieses perfekte Wesen und finde, dass sie zu glatt ist. Zu perfekt für mich.
    Zum anderen erinnert mich jeder Blick in den Spiegel an eine simple Tatsache: Ich bin tot und gehöre faktisch Aphrodite. Und das macht mich fertig. Ich versuche, nicht allzu sehr darüber nachzudenken, aber so etwas verkraftet man nicht so einfach. Fünf Wochen sind jetzt vergangen, seit ich vor den LKW gerannt bin. Meine Mutter weiß mittlerweile bestimmt bescheid. Macht sie sich Vorwürfe, dass sie mich hierher geschickt hat? Was ist mit Hannah?
    Oh Hannah. Es hat sie mitgenommen. Sie war so froh darüber, dass ich wieder bei ihr war. Und dann… Dann sterbe ich einfach.
    Schlechteste Schwester aller Zeiten.


    Ich taumle bis zum Badewannenrand und setze mich darauf. Meine Hände fahren über mein Gesicht. Selbst das fühlt sich komisch an. Viel kantiger, glatter. Ohne die gewohnten Grübchen und Fältchen… Ein Seufzer entkommt mir. Wundervoll. Ich versinke in Selbstmitleid. Ich merke es ganz genau, aber ich kann nichts dagegen machen.
    Wenn ich ganz einfach gestorben wäre und mit den anderen Seelen im Whirlpool of ultimate disaster schwimmen würde, dann hätte ich das Problem jetzt nicht.


    Okay. Wow. Das geht jetzt wirklich zu weit.
    Eigentlich geht es mir ja gar nicht so schlecht. Ich habe eine zweite Chance bekommen. Ich hatte das Glück, dass Aphrodite ausgerechnet mich ausgewählt hat. Mich, von allen Menschen, die so pro Minute sterben.
    Und verdammt, diese Chance werde ich ergreifen! Wenn ich erst mal wieder lebendig bin, dann wird alles so wie vorher. Ich lebe mit meiner Schwester zusammen, bei meinem Dad, Ariana und Gideon. Wir führen ein schönes, ruhiges Leben, weit weg von Göttern, Wetten und der Unterwelt. Ich werde mit meiner Schwester Filme sehen, werde mit meinem Vater scherzen und Unsinn machen. Und vielleicht schaffe ich es ja auch, ein Stiefmutter-Tochter-Gespräch zu führen. Ariana kocht gerne, hat mein Vater mir mal erzählt. Wir könnten zusammen kochen. Omelette vielleicht, oder Lachs, das isst Hannah am liebsten, und ich habe schon so oft für sie gekocht, dass ich diese Gerichte mittlerweile fast blind kann. Ich würde mich zusammenreißen, mich nicht mehr beschweren. Vielleicht mit meiner Mutter telefonieren und mich entschuldigen dafür, dass ich so wütend auf sie war. Ich würde meine letzten Jahre zur Schule gehen, Freunde finden und alles wäre gut.
    Himmel, ich würde sogar das Badezimmer für Gideon räumen!


    Aber dafür muss ich erst einmal wieder lebendig werden.


    Also genug Trübsal geblasen! Schluss mit Selbstmitleid! Lass uns diese verdammten Herzen zum Strahlen bringen!
    Ich springe auf, reiße meine Faust in die Luft und rufe „Los geht’s!“. Das Gesicht im Spiegel sieht entschlossen aus und hellwach.
    Und obwohl ich mir leicht affig vorkomme, spüre ich tatsächlich, dass meine Motivation etwas zurückkommt.


    Als ich aus dem Badezimmer trete, steht Aphrodite in ihrem neuen Körper direkt vor mir. Ich weiche mit einem kleinen Schrei aus und laufe dabei volle Kanne gegen den Türrahmen. Au!
    „Was schreist du hier am frühen Morgen schon so herum?“, grummelt Aphrodite. Hab ich sie etwa aufgeweckt?... Schlafen Götter überhaupt?
    „Natürlich tun wir das. Vor allem in menschlichen Körper, da sind unsere Kräfte sowieso etwas eingeschränkt“, nuschelt sie und schiebt mich aus dem Weg. Die Badezimmertür fällt hinter ihr ins Schloss. Oh wow. Da ist wohl jemand ein ziemlicher Morgenmuffel, hm? Ich muss etwas grinsen. Also hat selbst die ach so perfekte Aphrodite eine Schwachstelle. Oh, das werde ich mir merken. Und irgendwann werde ich es ausnutzen.
    Als ich einen lauten Knall höre, springe ich von der Tür weg. Hat sie gerade wirklich etwas gegen die Türe geworfen? Hey, mach das Haus gefälligst nicht kaputt!
    „Dann behalt dein stupides Grinsen für dich!“, schallt es gedämpft zu mir. „Und denk gar nicht erst daran, irgendetwas anzustellen! Ich verarbeite dich schneller zu Hackfleisch, als du um Verzeihung bitten kannst!“
    Ja. Morgenmuffel. Und ich dachte, ich bin schlimm.


    Ich weiß nicht ganz, welche magische Medizin sie im Badezimmer eingenommen hat- und im Ernst, ich will es eigentlich auch gar nicht so genau wissen- aber als sie sich nach zehn Minuten zu mir in die Küche gesellt, ist Aphrodite wieder erfrischt und fröhlich wie der junge Morgen in Person.
    „Guten Morgen!“, trällert sie mir eine Oktave zu hoch ins Ohr. Ich verziehe das Gesicht, und durch das spöttische Grinsen in ihrem weiß ich sofort, dass das Absicht ist. Aber was erwarte ich von jemandem, der einer anderen Göttin einen Dauerorgasmus verpasst, nur weil ihr neuer Spielkamerad besagte Göttin besser findet?
    Ich weiß, dass sie meine Gedanken liest, aber Aphrodite verzieht nicht einmal das Gesicht. Stattdessen setzt sie ihr bestes süßes-Mädchen-Lächeln auf.
    „Was gibt’s zum Frühstück?“
    „Das müsste ich dich fragen“, meine ich zwischen zwei Bissen von dem Toast, den ich mir gemacht habe. Dieses Haus ist wirklich gut ausgestattet. Der Kühlschrank ist voll, die Vorratskammern ebenso. Wir haben sogar sau teures Shampoo von einer französischen Luxusmarke im Badezimmer stehen. Das werde ich heute Abend definitiv benutzen. „Immerhin bist du doch meine Mutter, Mum!“
    Aphrodite blinzelt überrascht. Dann zuckt sie mit den Schultern.
    „Sehe ich so aus, als ob ich mir mein Frühstück selbst zubereite?“ Sie tritt hinter mich und legt ihre Arme um meinen Hals, umarmt mich leicht und legt ihre Wange an meine. Ich protestiere kurz, da säuselt sie mir ins Ohr: „Oh, allerliebste Tochter, deine Mutter muss später noch arbeiten. Sei ein gutes Kind und mach ihr etwas zu essen, ja?“
    Ohne zu zögern drücke ich ihre Arme von mir weg und drehe mich zu ihr herum
    „Und was springt für mich dabei heraus?“, frage ich nüchtern und ziehe eine Augenbraue hoch. Aphrodite stöhnt gespielt entrüstet und stemmt die Arme in ihre Wespentaille. Sie klimpert mit den Augen. „Du bist viel zu frech für meinen Geschmack. So geht man doch nicht mit seiner Mutter um!“
    Hättest du dir eben jemand anderen aussuchen müssen. Und davon abgesehen bist du nicht meine Mutter. Aphrodite lächelt, ein leichter Schatten liegt über ihrem Gesicht. Ich lasse mich davon nicht mehr einschüchtern. Sie hätte mich schon längst in die Unterwelt zurückgebracht, wenn sie es wollte.
    „Na gut.“ Mein göttlicher Mutterersatz seufzt theatralisch. Sie legt den Zeigefinger an ihre Lippe und setzt ein nachdenkliches Gesicht auf. Irgendwann scheint sie eine Erleuchtung zu haben.
    „Du machst mir Frühstück und dafür fahre ich dich zur Schule.“
    Moment. Heißt das… Kein Berghochklettern? Hell yes!
    Ich lasse den letzten Bissen Toast in meinem Mund verschwinden und noch bevor ich wirklich anfange zu kauen, springe ich auf und sause zur Küchenzeile.
    „Was will die gnädige Dame denn frühstücken?“, frage ich mit halbvollem Mund. Aphrodite lässt sich auf den Stuhl fallen und lächelt mich engelsgleich an. „Alles, was meine Tochter für mich zaubert, werde ich mit Freuden essen!“


    Das war eine glatte Lüge. Ich werde nie wieder für sie kochen! Nie, nie wieder!
    Drei perfekte Omlette, zwei Pfannkuchen mit honiggoldener Kruste und fünf aufgeschlagene Eier mit Speck später ist sie nämlich immer noch nicht zufrieden.
    „Zu wenig Salz!“, stößt sie aus.
    „Du hast noch nicht mal probiert!“, stöhne ich und fahre mir verzweifelt mit den Händen über das Gesicht. Mittlerweile habe ich eingesehen, dass Wut nichts bringt. Rein gar nichts, Aphrodite reagiert nämlich nicht mal darauf. Ich habe sie angeschrien, beleidigt, Vorwürfe gemacht, sie mit der Pfanne bedroht… Und alles was sie dazu sagte war: „Das ändert nichts daran, dass das Essen nicht schmeckt. Fang noch einmal neu an.“ Und da beschloss ich, dass es keinen Sinn hat, sich zu ärgern.
    „Komm schon, probier doch zumindest mal!“ Ich kann es nicht ganz fassen, dass ich sie förmlich anbettele, endlich etwas zu essen… Soll sie doch verhungern! Ist mir doch egal!
    Nur… Wer fährt mich dann zur Schule? Gottverdammter Mist! Ich sollte wohl besser anfangen zu trainieren, wenn ich mich nicht weiter emotional foltern lassen will.
    „Nein. Da ist zu wenig Salz drauf.“ Aphrodite schaut den Speck und das Ei mit einem leicht angewiderten Blick an, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine überschlagen. Bockig wie ein kleines Kind. Na gut. Du willst es ja so. Ich drehe mich um, greife mir den Salzstreuer und kippe. Weißes, körniges Pulver rieselt auf mein kleines kulinarisches Meisterwerk. Mehr, immer mehr, so lange, bis alles mit einer Schicht davon überzogen ist.
    Ist es jetzt genug Salz? Ja? Wahrscheinlich immer noch nicht! Gut, dann bekommst du eben noch sehr viel mehr. Trockne doch von Innen aus und verrecke, du-
    „Stopp!“, stößt sie dann plötzlich aus. Ich reiße den Salzstreuer zurück. Mittlerweile hat sich ein kleiner Haufen Salz auf dem Teller gebildet. Ich schaue Aphrodite verwirrt an, da nimmt sie sich plötzlich ihre Gabel und schiebt sich ein vollkommen versalzenes Stück Speck in den Mund. Mir fällt die Kinnlade herunter. Das kann doch nicht ihr Ernst sein! Da ist ein Berg Salz drauf! Wie soll das jetzt bitte noch-
    „Lecker!“ Das Gesicht der Göttin verzieht sich zu einem entspannten, fröhlichen Lächeln. „Wundervoll! Genau so muss ein Frühstück schmecken!“
    Ich drehe durch.
    Aber noch bevor ich ein Wort sagen kann, steht meine Ziehmutter aus, packt mich an den Schultern und schiebt mich in den Flur.
    „Jetzt bin ich zufrieden! Zieh dich an und dann können wir los!“ Und damit schubst sie mich in Richtung Treppe. Als ich mich umdrehe, ist sie schon wieder in die Küche verschwunden. Ich höre Besteck klimpern.
    Das kann nicht gesund sein. Wirklich nicht.
    Versteh einer die Götter!


    Ich habe bisher noch keine Gelegenheit gehabt, in meinen Kleiderschrank zu schauen. Und jetzt, wo ich es tue, will ich Aphrodite noch sehr viel mehr verprügeln.
    „Was zur Hölle ist das bitte?“, murmele ich, als ich die Bügel durchgehe. Kleid, Kleid, Kleid, Rock, Kleid, Rock, Hose-… Nein, Jumpsuit. Und überall Rüschen, Spitze, Satin… Und diese Farben! Knallig rot, Babyrosa, Himmelblau… Keine stink normalen, gedeckten Farben! Ich kann nicht einmal den Stil richtig einordnen. Aber eins steht fest: Nichts davon sieht auch nur halbwegs gemütlich aus. Zumindest finde ich ein paar Hosen, als ich den zweiten Teil des Schrankes öffne. Shirts auch, aber viele davon mit Spitzenbesatz, buntem Aufdruck oder sonstigen, kitschigen Details. Als ich eines finde, das halbwegs in Ordnung aussieht und es schon freudig hervorhole, fällt mir recht schnell auf, dass ihm der gesamte Rücken fehlt. Gottverdammter Aphrodite! Wo holst du dir bitte deine Modetipps her?
    Ich vermiss meine Lieblingssweatjacke jetzt schon…


    Am Ende entscheide ich mich für eine Jeans, die zwar recht eng sitzt, aber mit der man sich immerhin noch hinhocken kann, ohne sich sämtliche Arterien abzuklemmen, und eine Bluse, die nach längerer Betrachtung doch gar nicht so dramatisch aussieht. Obwohl die Ärmel und der Bereich über der Brust rosa sind, ist der Rest in einem schönen, schlichten Schwarz gehalten. Es sieht ein wenig so aus, als hätte ich ein schwarzes Tubetop über einer Bluse an. Meine neu gewonnene Oberweite und die schlanke Taille kommen durch den engen Schnitt wunderbar zur Geltung. Und wenn ich mich so im Spiegel ansehe, dann kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich echt gut aussehe.
    Pf, gut aussehen ist untertrieben. Ich bin verdammt nochmal heiß.
    Der schlichte, goldene Ring an meinem Finger fällt mir ins Auge. Ich halte meine Hand vors Gesicht und betrachte ihn. Merkwürdig, wie so etwas Kleines die Kraft dazu hat, mich so sehr zu verändern.
    Ich streiche mir meine Haare aus dem Gesicht und lächle den Spiegel an.
    Ja, so wird es gehen. Wollen wir hoffen, dass dieser erste Schultag besser verläuft als mein letzter.


    Nachdem ich meine Tasche mit all dem gepackt habe, dass Aphrodite wohl extra für mich hergezaubert hat-dazu zählen Schulkram, ein neues Handy, Kopfhörer, Haustürschlüssel, vor allem aber Taschenspiegel, Bürste, Lipgloss in fünf verschiedenen Farben und diverse Cremes, Mascaras und sonstigen Kram, dessen Namen ich nicht mal aussprechen kann- laufe ich schnell die Treppe herunter. Die Uhr zeigt mir an, dass ich nur noch eine halbe Stunde bis Schulanfang habe. Und dieses Mal will ich nicht zu spät kommen.
    Ich greife mir im Flur noch schnell einen dunkelblauen Trenchcoat, denn heute sieht das Wetter nicht ganz so rosig aus, öffne die Tür und… erstarre.
    „Da bist du ja endlich!“, schallt Aphrodites Stimme über die lauten Motorengeräusche zu mir herüber. Mir klappt zum zweiten Mal an diesem Tag die Kinnlade herunter.
    Wenige Meter vor mir steht ein Cabrio. Komplett mit knallroter Lackierung, Chromfelgen und Ledersitzen. Blinzelnd gehe ich darauf zu.
    Ich bin kein Autonarr aber selbst ich weiß, dass dieses Ding ein Vermögen gekostet haben muss. Falls sie es überhaupt gekauft hat.
    „Gefällt es dir?“ Aphrodite sieht aus, als würde sie es ziemlich genießen, mich zu schockieren. „Mein Ehemann hat es mir organisiert. Er ist ein richtiger Autonarr!“
    Ehemann? Oh. Macht Sinn, dass der Herr der Schmiedekunst mit der Zeit auch Interesse an Technologie und Mechanik findet. Und damit auch an Autos.
    „Will ich wissen, woher er es hat?“, frage ich leicht zweifelnd, als ich die Autotür öffne und mich in den Sitz gleiten lasse. Götter sind nicht wirklich dafür bekannt, faire Geschäftsmänner zu sein. Und bei der Familiengeschichte kann ich mir gut vorstellen, dass einige Menschen ihr Leben für dieses Auto gelassen haben.
    Komplett mit Sitzheizung, Touchscreen-Terminal und elektronischem Krimskrams, den ich noch nie gesehen habe. Wahnsinn.
    „Hephaistos hat seine Quellen“, meint Aphrodite einfach nur mit einem Lächeln. Sie tritt die Kupplung, legt den ersten Gang ein und rast los.


    Ich muss zugeben, erst hatte ich ein wenig Angst. So extrem, wie Aphrodite beschleunigt kann ihr Fahrstil nicht sicher sein. Ich krallte mich an der Tür fest und presste die Lippen zusammen, die Augen ängstlich auf den Straßenverlauf gerichtet. Und Aphrodite? Die hat nur eine Hand am Lenkrad, mit der anderen richtet sie sich die Haare, während sie sich selbst im Spiegel, der in dem Klappding über der Windschutzscheibe angebracht ist, betrachtet. Das mit mein Todesurteil, dachte ich. Zum zweiten Mal würde ich wegen eines Autos sterben!
    Aber nichts passierte. Es glich schon fast einem Wunder, aber sie wich allen Hindernissen aus, ohne sie überhaupt genau anzusehen. Gut, hin und wieder war der Abstand zwischen dem Cabrio und dem Auto vor uns etwas gering, und mit der Höchstgeschwindigkeit nahm sie es auch nicht unbedingt genau, aber ich überlebte die Fahrt ohne den kleinsten Anflug von Gefahr. Das mussten wohl ihre Göttinnen-Kräfte sein. Oder ihre Erfahrung. Während des Trips quatschte sie mich nämlich noch voll. Dass sie schon gefahren sei, da steckten meine Großeltern noch in den Windeln, dass sie mich im Notfall einfach noch einmal belebt, und dass mein Outfit zwar hart an der Grenze, aber gerade noch so akzeptabel sei. Andere Gesprächsthemen gingen im lauten Hupen anderer Autofahrer unter, was sie gekonnt ignorierte.
    Ich versank etwas mehr im Sitz. Wollte ich wirklich mit dieser Frau in einem Auto gesehen werden?


    Jetzt, wo es vorbei ist, bin ich froh, dass ich endlich aussteigen kann. Denn auch wenn ich bezweifle, dass Aphrodite jemals einen Unfall bauen wird, ist ihr Fahrstil doch eher Gift für meinen Magen. Zum Glück habe ich mich doch noch dagegen entschieden, alle fehlgeschlagenen Gerichte selbst zu essen. Die wären spätestens jetzt nämlich wieder in Freiheit gewesen.
    Ich klettere aus dem Cabrio, das direkt vor dem Tor der Schule gehalten hat. Schüler und Schülerinnen haben sich zu uns umgedreht und starren uns an. Und weil ich mir sicher bin, dass sie lauschen, besinne ich mich auf meine neue Identität.
    „Also dann, Mum“, raune ich Aphrodite zu, die ebenfalls für einen kurzen Moment den Wagen verlässt. Sie drückt mich theatralisch an sich und beginnt, leise zu schluchzen.
    „Oh, mein Schatz. Ich wünsche dir einen wunderschönen, ersten Schultag. Sei artig, ma petit jolie, ja?“
    Stimmt. Meine „Mum“ ist Halbfranzösin. Warum? Fragt sie das, nicht mich.
    „Sicher“, antworte ich und muss mich arg zurückhalten. Muss das sein? Sie macht mich hier vollkommen lächerlich, vor all meinen neuen Mitschülern! Ich werde schon das Gesprächsthema Nummer eins sein, noch bevor ich das Schulgelände überhaupt betreten habe.
    „Kopf hoch, Brust raus und mit den Hüften schwingen. Nicht zu stark, aber auch nicht steif bleiben. Selbstbewusstsein! Ich hab dich wundervoll hinbekommen, also nutz das gefälligst aus!“, flüstert mir Aphrodite ins Ohr, bevor sie sich von mir löst, noch einmal mit einem mütterlichen Lächeln zu mir sieht und dann wieder ins Auto steigt. Sie erwähnte während der Fahrt etwas davon, dass sie zu ihrem Café müsse. Wann auch immer sie das organisiert hat.
    Etwas unschlüssig stehe ich am Straßenrand. Das Gemurmel der Schüler dringt zu mir vor. Einige starren mich mit kaum verhohlenem Interesse an. Ein Kerl sieht aus, als müsste ich ihm bald einen Schlabberlatz umbinden oder er verwandelt die Bergstraße in eine Wasserrutsche. Eine Wasserrutsche aus Speichel.
    Aber keiner wagt es, sich mir zu nähern. Ich fahre mir durchs Haar, um es nach dieser rasanten Tour etwas zu glätten, atme einmal ein und einmal aus und mache mich auf den Weg zum Sekretariat. Den Kopf erhoben und die Brust herausgestreckt. Sogar die Hüften schwinge ich ein wenig.
    Aphrodite ist immerhin die Göttin der Schönheit… Wenn sie nichts von Beliebt sein versteht, wer denn dann?


    Diesmal komme ich pünktlich im Sekretariat an. Pünktlich und ohne ungewollte Zusammenstöße mit finster dreinblickenden Zwillingen. Ich weiche vorsorglich nämlich allen Ecken weitläufig aus. Den Blick des Todes muss ich mir kein zweites Mal geben. Zumal einer von beiden Tyler ist. Ein potentieller Kandidat für meine Leuchteherzen-Aktion. Ja, so nenne ich das jetzt. Habt ihr ein Problem damit?
    Vor der Türe bleibe ich stehen und klopfe drei Mal leise an. Die Sekretärin, die beim letzten Mal so beschäftigt durch die Gegend gehuscht ist, sitzt jetzt hochkonzentriert vor ihrem Rechner. Ich warte fünf Sekunden, aber sie ist wirklich versunken. Vielleicht liest sie gerade ihr Horoskop. So angespannt, wie sie gerade aussieht, steht der Mond vermutlich im falschen Aszendenten und ihr Liebesleben befindet sich auf Faultierlevel.
    Ich räuspere mich und trete ein. Für einen Moment bleiben ihre Augen noch auf dem Bildschirm haften, dann seufzt sie leise und schaut auf.
    „Ja, bitte?“ Als sie mich dann sieht, stockt sie für einen Augenblick und betrachtet mich von oben bis unten. Ich runzle die Stirn. Aphrodite sagte doch, mein Outfit wäre okay… Oder habe ich irgendwas im Gesicht? Vielleicht liegt es auch an meinem neuen Aussehen. Es ist schon komisch, wie anders die Leute auf mich reagieren. Im Flur war das auch schon so. Überall, wo ich hinging, machten mir die anderen Schüler Platz. Als hätte ich plötzlich die Ausstrahlung eines nuklearen Brennstabs.
    Na gut. Warte ich eben, bis die gute Frau keine Lust mehr auf Gaffen hat.
    „Guten Morgen, mein Name ist Ava Jolie.“ Sie schaut mir ins Gesicht, sagt aber nichts. Unruhig trete ich auf der Stelle herum. „Ich ähm… Bin die neue Schülerin?“
    Stille. Dann, nach zehn Sekunden…
    „Oh, richtig, richtig!“ Sie steht postwendend auf, stolpert fast auf ihrem Weg zum Schreibtisch und nimmt dort einige Dokumente auf, die sie auf die Theke vor mir legt.
    „Wir bräuchten noch eine kleine Unterschrift von dir. Oh, und hier ist eine Liste von Unterrichtsmateralien, die du brauchst. Und ein Stundenplan!“ Ich nehme mir den Stift und setze ihn auf der Linie an. Dann stocke ich. Verdammt, bald hätte ich Hale statt Jolie geschrieben… Daran werde ich mich wohl auch erst noch gewöhnen müssen. Zumindest meinen Vornamen habe ich behalten dürfen. Das macht die Sache ein wenig einfacher.
    „Eigentlich sollte der Schülersprecher kommen, um dich etwas herumzuführen“, spricht mich die Sekretärin an. Sie setzt ein entschuldigendes Lächeln auf. „Ich werde mal im Lehrerzimmer anrufen, vielleicht weiß dort jemand, was los ist. Es sieht ihm nicht ähnlich, zu spät zu kommen.“
    Ha. Diesmal bin ich die Pünktliche. Blöd, dass ich das Arthur nicht unter die Nase reiben kann… Zum einen, weil ich ja eine neue Schülerin bin und ihn noch nie gesehen habe und zum anderen, weil ich es mir mit ihm wirklich nicht verscherzen sollte… Er ist immerhin auch ein Kandidat.
    Die Sekretärin weist mich an zu warten. Ich solle mich doch bitte auf einen der Stühle rechts von der Theke setzen. Dann wendet sich dem Telefon zu und führt ein kurzes, leises Gespräch.
    Etwas anderes bleibt mir sowieso nicht übrig, also tue ich, was sie mir sagt. Mit einem Blick auf den Stundenplan stelle ich fest, dass ich wieder in der gleichen Klasse bin. Ich beschwere mich nicht, zwei meiner Kandidaten sind ebenso drin, das ist eigentlich die ideale Ausgangssituation. Vielleicht sollte ich mir den Komiker… Pardon, Julien, vornehmen. Mit ihm ins Gespräch zu kommen ist sicher einfach. Emil wird mich vermutlich weiter ignorieren. Obwohl, vielleicht taut er etwas auf, jetzt wo ich so aussehe, wie ich aussehe. Kein Junge kann diesem Aussehen wiederstehen… oder?
    „Was er wohl jetzt wieder will.“
    Ich horche auf. Schritte und Stimmen nähern sich dem Sekretariat. Als ich aufsehe kommt ein vertrautes Gesicht durch die Tür. Naja, eigentlich sind es zwei. Und die sind identisch.
    „Guten Morgen, Frau Weiß“, sagt der eine von ihnen, als er sich an die Theke stellt. Der zweite schaut desinteressiert an die Decke. Keiner von beiden hat mich bisher entdeckt.
    „Ah, Seth und Tyler.“ Die Sekretärin sieht nicht wirklich überrascht aus. Trotzdem lächelt sie milde. „Was habt ihr nun schon wieder angestellt?“
    „Wenn wir das wüssten“, grummelt der linke von beiden. Von mir aus gesehen liegt sein Scheitel auf der linken Kopfseite. Wenn ich mich recht erinnere, dann ist das der, den ich gestern angerempelt habe. Dann muss der andere Tyler sein. Ich weiß noch, dass er seinen Bruder mit „Seth“ benannt hat… Aber sicher bin ich mir nicht. Ich hoffe trotzdem, dass ich richtig liege. Tyler scheint der freundlichere von beiden zu sein. Mich mit jemandem auseinander zu setzen, der konstant schlechte Laune zu haben scheint könnte schwierig werden…
    Irgendwann bemerkt Seth wohl meinen Blick. Er erwidert ihn eisern und obwohl meine erste Reaktion sein müsste, einfach wegzusehen, tue ich es nicht. Ich weiß nicht genau, warum. Etwas in seinem Blick nimmt mich gefangen.
    Seth betrachtet mich für einen Moment, dann merkt auch Tyler, dass sein Bruder geistig abwesend ist. Er dreht sich in die gleiche Richtung um, also zu mir. Jetzt starren mich zwei Paar rote Augen an. Und langsam aber sicher wird mir das unangenehm.
    Das Klingeln des Telefons ist meine Rettung. Als Frau Weiß abnimmt, winkt sie mich zum Tresen heran. Ich nehme meine Tasche, klemme Stundenplan und Materialliste unter den Arm und eile an den Zwillingen vorbei, ohne sie noch einmal anzusehen. Ihre Blicke in meinem Rücken spüre ich aber trotzdem. Und es ist ein verdammt grässliches Gefühl. Wie ein Beutetier, das von zwei Jagdhunden verfolgt wird.
    „Verstehe… ja, in Ordnung. Vielen Dank.“ Frau Weiß legt auf, seufzt und setzt ein entschuldigendes Lächeln auf.
    „Tut mir Leid, Ava. Der Schülersprecher scheint gerade in einer wichtigen Besprechung mit einigen Lehrern zu sitzen. Er wird dich leider nicht herumführen können.“
    Oh wow. Es ist immer noch zehn Minuten vor Schulbeginn und Arthur sitzt jetzt schon in einer Besprechung? Schülersprecher zu sein muss echt nerven.
    „Ist schon okay!“, sage ich schnell. Vielleicht etwas zu schnell, denn meine Stimme überschlägt sich. „Ich komme schon zurecht.“
    „Wirklich? Ich kann dir den Weg zu deiner Klasse beschreiben, wenn du willst.“
    „Das geht schon, danke. Ich frage mich einfach durch!“ Beschwichtigend hebe ich meine Hände… Und vergesse dabei vollkommen, dass ich noch etwas unter den Armen eingeklemmt hatte. Mit einem Rascheln fallen die Blätter zu Boden.
    Ich fluche leise, rücke die Tasche auf meiner Schulter zurecht und will mich gerade vorbeugen, da tauchen zwei Paar Hände in meinem Sichtfeld auf, die meine Papiere aufheben.
    „Du hast da was verloren“, meint Tyler mit einem leicht schelmischen Lächeln und streckt mir meinen Stundenplan entgegen.
    „Immer so verplant?“, kommentiert Seth spöttisch und drückt mir die Materialliste in die Hand, ohne mich anzusehen.
    Ich brauche einen Moment um zu verstehen, dass sie gerade wirklich freundlich zu mir sind. Naja, im Ansatz vielleicht. Ein bisschen. So sehr, wie es einem Paar Bluthunden wohl möglich ist.
    Schnell bedanke ich mich, schaffe es aber nicht mal, mich zu einem Lächeln zu zwingen. Ihre Blicke sind immer noch fürchterlich intensiv. Als ob sie genau durch mich durchschauen würden. Ich will einfach nur aus diesem Raum raus, und weg von diesen Typen. Sie… Sie machen mir nicht direkt Angst, aber… ihre bloße Anwesenheit verpasst mir ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube. Ich schlucke den Kloß herunter und schaue Tyler in die Augen. Für einen Moment ändert sich sein Gesichtsausdruck. Nur ein kleiner Moment, danach ist er wieder normal. Gelassen, ruhig und selbstbewusst, aber mit einem kleinen Schatten darüber, der wohl für mein merkwürdiges Gefühl verantwortlich ist. Nicht direkt böse, aber… Ich kann es nicht beschreiben.
    Und der Ausdruck, der gerade für einen Moment auf seinem Gesicht lag… Überraschung? Verwirrung? Ich weiß es nicht.
    „Danke“, sage ich nochmal und dieses Mal zwinge ich mich zu einem kleinen Lächeln. Dann drehe ich mich um, wünsche Frau Weiß noch einen schönen Tag und verschwinde aus dem Raum. Aber ich könnte schwören, dass die roten Augen mich noch bis zum Ende des Flurs verfolgen.



    Nach diesem kleinen Vorfall ging es glücklicherweise wieder etwas bergauf. Natürlich hatte ich keinen Plan, wohin ich musste. Beim letzten Mal hat Arthur mich immerhin geführt und ich war zu sehr damit beschäftigt, ihm in Gedanken Schimpfwörter an den Kopf zu schmeißen, als wirklich darauf zu achten, wohin wir gingen. Aber während ich so durch die Flure lief, bemerkte ich einen fliederfarbenen Wuschelkopf, der an seinem Schließfach kramte.
    Jackpot! Julien würde mich schon zur richtigen Klasse führen. Und so war es auch. Ich folgte ihm mit sicherem Abstand und blieb direkt vor der Türe stehen.


    Irgendwann kam dann endlich auch ein Lehrer. Ich stelle mich kurz vor und erklärte ihm, dass ich neu bin.


    Dummerweise haben wohl alle Lehrer einen Fetisch für peinliche Vorstellungsrunden. Ich stehe also schon zum zweiten Mal vor der gleichen Klasse und versuche mir zusammenzureimen, was ich denn über mich sagen soll. Okay, Ava. Letztes Mal war ja gar nicht so schlecht. Dieses Mal probieren wir es aber mal mit einem Lächeln.
    Ich sehe mich im Raum um und setze ein Engelslächeln auf.
    „Hallo zusammen“, beginne ich. Locker stehen, die Hüfte etwas heraus, Kopf hoch, Brust raus. Guter erster Eindruck. Los jetzt. „Mein Name ist Ava Jolie. Ich bin 17 Jahre alt und bin kürzlich hierher gezogen. Ich freue mich darauf, hier zur Schule gehen zu können.“
    Wow. Kreativität ist echt nicht meine Stärke. Zumindest fängt dieses Mal keiner an, über mich zu lachen.
    „In Ordnung, setz dich doch bitte“, spricht mein Biologielehrer, Herr Haste mich dann an. Ich nicke ihm zu und steuere wie automatisch auf den Sitzplatz neben Emile zu. Als ich mich hinsetze bemerke ich, dass mich alle meine Mitschüler seltsam ansehen.
    „Oh, äh“, beginnt Herr Haste. „Dieser Platz ist eigentlich…“
    Er besinnt sich eines besseren, schüttelte leicht den Kopf und verlangt dann wieder unsere Aufmerksamkeit. Seltsam. Ich erwische Emile noch, wie er mir einen Blick aus dem Augenwinkel zuwirft, dann schaut er auch schon wieder weg. Die anderen Schüler wenden sich nach und nach auch nach vorne, aber das komische Gefühl, die merkwürdige Stimmung bleibt.


    Warum, bekomme ich erst in der Mittagspause mit.
    Es ist die obligatorische Fragerunde der Hölle. Woher kommst du, wann hast du Geburtstag, hast du Geschwister, was sind deine Hobbies? Ich bin umringt von meinen Klassenkameraden, die es gar nicht abwarten können, mich mit ihren Fragen zu löchern. Ich beantworte sie geduldig, auch wenn ich bei einigen ein wenig improvisieren muss. Gott, es wird schwierig, alle diese Infos über meine neue Identität im Kopf zu behalten. Nach der Pause sollte ich sie mir besser aufschreiben, nur für den Fall.
    „Es ist aber echt merkwürdig“, meint Lisa gerade. Sie ist ein nettes Mädchen mit kurzem, hellblauem Haar. Ein wenig zu klein geraten und sehr neugierig, aber ich denke, ich werde gut mit ihr zurechtkommen. „Dass du ausgerechnet Ava heißt, meine ich.“
    Ich horche auf.
    „Warum denn?“, frage ich scheinbar ahnungslos. Natürlich weiß ich warum. Aber eigentlich dürfte ich es nicht wissen, deswegen muss ich so tun, als wüsste ich nichts und-
    Gottverdammt, das wird wirklich anstrengend werden.
    „Stimmt, du weißt wahrscheinlich nichts darüber“, meint Lisa. Dann klinkt sich Joshua ein.
    „Vor fünf Wochen hatten wir schon einmal eine Ava in dieser Klasse. Und sie saß genau auf deinem Platz.“
    „Wirklich?“ Ich klimpere überrascht mit den Augen. „Was ist denn passiert?“
    Und die Stimmung sinkt plötzlich ab. Lisa tauscht einen Blick mit dem Mädchen neben ihr, Joshua schaut zu Boden. Ich spüre förmlich, wie es im Raum kälter wird. Und obwohl ich längst weiß, was kommt, läuft mir trotzdem ein Schauer über den Rücken.
    „Naja… Sie-“, beginnt Lisa zögerlich, bricht dann aber ab. Die Haare auf meinen Armen stellen sich auf. Sagt es doch endlich. Sprecht es aus, na los.
    „Sie ist bei einem Autounfall gestorben.“ Als Dennis die Worte dann endlich sagt, zucke ich etwas zusammen. Es ist merkwürdig, wenn es jemand anderes sagt. Es hat etwas… Endgültiges. Es ist real. Jeder hier weiß es. Aber niemand weiß, dass ich nicht wirklich tot bin. Für sie alle bin ich eine Person, die sie keine sechs Stunden kannten und die dann niemals wieder kam.
    „Oh“, stoße ich gepresst aus. Das Herz in meiner Brust pocht heftiger, fast so, als wolle es allen beweisen, dass es noch schlägt. Bedrückte Stille.
    „Wir kannten sie nicht gut“, setzt Lisa an. „Sie war erst einen Tag bei uns in der Klasse.“
    „Ich habe gehört, dass ihre Schwester zwei Stufen unter uns ist.“
    „Armes Mädchen… Ihre Schwester auf so eine Art zu verlieren.“
    „Ich habe gehört, dass sie seitdem nicht mehr zur Schule gekommen ist.“
    „Wirklich nicht? Es muss ihr sehr schlecht gehen…“
    „Ob sie sich wohl sehr nahe standen?“
    „Ich weiß nicht. Ava wirkte nicht so, als würde sie jemanden an sich heranlassen.“


    Ich schaue auf mein Pult und versuche, keinen Ton von mir zu geben. Meine Augen brennen wie die Hölle.
    Hannah. Oh Hannah. Ich habe mir schon gedacht, dass sie leidet. Aber dass sie nicht mehr zur Schule geht? Ob sie sich in ihrem Zimmer einschließt? Das hat sie immer getan, wenn es ihr schlecht ging. Hannah… Es tut mir so Leid…
    „Ava?“
    Ich schrecke hoch. Die besorgten Gesichter meiner Klassenkameraden erwarten mich.
    „Warum weinst du?“
    Was? Ich… Was?
    Ich habe es gar nicht bemerkt. Aber ja. Ich weine. Tränen fließen über meine Wangen. Ich schmecke das Salz in ihnen, als sie mir über die Lippen rinnen. Schnell wische ich mir über die Augen, atme tief ein und aus. Ich zwinge mich zu einem entschuldigenden Lächeln, aber meine Lippen zittern.
    „Tut mir Leid“, stoße ich gepresst aus. „Ich… Ich weiß auch nicht. Es erinnert mich einfach an etwas.“
    Lisa reicht mir ein Taschentuch, leises Gemurmel geht durch die Runde. Keiner sagt etwas, bis ich die Tränen getrocknet habe und keine neuen nachkommen.
    „Ist schon wieder gut“, sage ich, als ich mich etwas beruhigt habe. Eigentlich ist nichts gut, nein. Gar nichts. Aber davon kann ich mich im Moment nicht aufhalten lassen. Ich habe eine Wette zu gewinnen. Und wenn ich das schaffe, dann wird alles wieder gut werden. Versprochen, Hannah. Ich verspreche es dir hoch und heilig.


    Der Rest des Schultages zieht sich wie Kaugummi. Nach meinem kleinen Ausbruch war die Fragerunde erst einmal zu Ende. Lisa und Eve legten mir eine Hand auf die Schulter und sagten, dass sie da wären, wenn ich reden wolle. Ich wank ab und sagte, dass es schon okay sei. Aber das leichte Gefühl in meiner Brust blieb. Es war schön zu wissen, dass sie sich sorgten. Diese Klasse war nicht so schlecht, wie ich anfangs gedacht hatte.
    Wir wechselten das Thema auf die Stadt. Hemsfort, meine neue Heimat, hatte laut meinen Kameraden einiges zu bieten. Die nächstgrößere Stadt war auch nicht allzu weit entfernt.
    „Lass uns mal shoppen gehen!“, schlug Eve vor.
    „Wenn wir wieder ein Spiel haben, schaust du und dann zu?“, fragte Dennis. Er ist im örtlichen Fußballteam und als ich sagte, dass ich mich dafür interessiere, war er sofort Feuer und Flamme.
    Aber als dann die Schulglocke läutete und die Pause zu Ende war, war ich auch mit meinen Gedanken wieder vollkommen alleine. Und damit verbunden kamen die Gedanken an Hannah. Ich musste noch ein oder zwei Mal meine Augen fest zusammenkneifen, um nicht wieder anzufangen zu weinen.


    Als die Schulglocke dann zum Schluss läutet habe ich mir wieder etwas beruhigt. Ich packe meine Sachen zusammen, schaue kurz auf mein Handy, muss aber feststellen, dass ich keine Nachricht habe. Von wem denn auch? Ich habe bis auf Aphrodites Nummer, die schon vorher eingespeichert war, keinen einzigen Kontakt.
    „Ach, Ava!“ Eve kommt auf mich zu. Sie ist unsere Klassensprecherin, ein etwas rundliches, aber durchweg glückliches Mädchen. Ich glaube, ihr kann so ziemlich nichts die Laune verderben. „Gib mir doch bitte deine Handynummer, dann kann ich dich zu unserer Gruppe hinzufügen! Dann hast du auch alle Nummern von den anderen. Wir besprechen da meist nichts sonderlich wichtiges, aber wir wollen ja unsere gesamte Klasse vertreten haben!“ Eve strahlt mich an und ich lächle zurück. Ich bin also jetzt schon ein Teil der Klasse.
    Das ist wundervoll.


    Fünf Minuten später verlasse ich den Klassenraum. Es ist schon Nachmittag und einige andere Klassen habe bereits Schluss. Wir als Oberstufe hocken aber immer etwas länger in der Schule. Immerhin gehen wir mit großen Schritten auf unseren Abschluss zu, wie unsere Mathelehrerin gerne immer und immer wieder wiederholt.
    Oh, wie wenig mich das im Moment interessiert. Es ist merkwürdig. All diese anderen Schüler denken über ihre Noten nach, vielleicht auch über ihre Zukunft. Was sie mal werden wollen. Ob und wen sie heiraten. Eine Wohnung, Kinder…
    Und ich? Ich fokussiere mich ganz auf die 64 Tage, die noch vor mir liegen. Weil mir mehr nicht bleibt.


    Ein Blick in die Mediabibliothek meines Handys zeigt mir, dass ich exakt null Lieder darauf gespeichert habe. Seufzend lasse ich es zurück in meine Tasche gleiten. Das wird das erste sein, was ich heute Abend ändere.
    Ich habe noch nicht wirklich Lust, schon nach Hause zu gehen. Meine Gedanken hängen zum Teil immer noch bei Hannah, obwohl ich versuche, mich irgendwie anders zu beschäftigen. Ich muss mich konzentrieren. Und dafür muss ich erst einmal abschalten.


    Als ich das Schulgebäude in Richtung Pausenhof verlasse, ist der wie leer gefegt. Klar. Die Klassen, die jetzt noch da sind, haben auch Unterricht. Ein guter Moment, um in Ruhe alles zu erkunden und den Kopf etwas frei zu bekommen.
    Hinter der Schule beginnt der Pausenhof mit einem großen, gefliesten Bereich. Ich sehe einige Bänke und Tische. Verpackungspapiere von irgendwelchen Süßigkeiten liegen darauf herum, und Namen sind in das leicht verwitterte Holz eingeritzt. Ich gehe daran vorbei, geradewegs auf die Wiese zu, die sich weit hinter dem Schulgebäude erstreckt. Als ich nach rechts schaue, sehe ich die Sporthalle in einiger Entfernung. Davor verläuft die Rennstrecke. Ich sehe einige Schüler darauf laufen, die armen Schweine haben wohl gerade Sport. Für einen Moment beobachte ich den monotonen Trott, dann gehe ich weiter.
    Eve hat mir erzählt, dass es weiter hinten einen kleinen Bereich mit vielen Bäumen und Büschen gibt, in dem auch einige Pflanzen für die Biologie gezüchtet werden. Die Sonne scheint auf mich herunter und langsam brauche ich etwas Schatten- da kommt mir dieser kleine Privatwald wirklich gelegen. Ich sehe ihn schon von weitem und er ist wirklich nicht groß. Die Bäume sind vielleicht fünf Meter hoch, einige ganz gewöhnlich grün, aber andere haben weißlich-rosane Blüten. Ein Kirschbaum vielleicht? Das sind die einzigen Bäume die ich kenne, die rosane Blüten haben.
    Ein kleiner Holzzaun trennt das Wäldchen vom restlichen Schulgelände ab. Ich folge ihm, bis ich ein Tor erreiche. Es ist nicht abgeschlossen, also schlüpfe ich hindurch.


    Der Schatten ist eine ziemliche Wohltat. Unter dem dichten Blätterdach der Bäume ist die Hitze gleich viel eher ertragbar. Es hat sich über den Tag immer weiter aufgeheizt, in den Klassen war es kaum aushaltbar. Selbst die Lehrer haben sich andauernd darüber beschwert. Einer hat den Unterricht sogar früher beendet, um wieder in Lehrerzimmer zu können, wo irgendjemand einen Ventilator aufgestellt hatte. Niemals wollte ich dringender in ein Lehrerzimmer, wirklich.
    Aber hier lässt es sich aushalten.


    Ich wandere eine wenig über den improvisierten Weg des kleinen Waldes. Rechts und links wächst Gebüsch in alle Richtungen. Über mir höre ich das Piepsen von Vögeln, und etwas weiter weg höre ich Rascheln in den Büschen. Eine Maus vielleicht? Oder ein Hase?
    Tiefer im Wäldchen entdecke ich sogar einen kleinen See, dicht bewachsen und übersät mit grünem Algenzeug. Ein Stück vom Ufer ist frei gemacht, vielleicht untersuchen die Biologiekurse hier die Tiere oder das Wasser. Als ich mich ins weiche, kühle Gras fallen lasse spüre ich erst, wie müde ich bin. Die Hitze macht verdammt schläfrig. Die Hitze und die Sorgen.


    Zwei Tage. Nein, eigentlich sogar nur noch einer, denn der heutige ist fast vorbei. Für wen soll ich mich entscheiden? Vier von den Kandidaten bin ich heute gar nicht erst begegnet. Mit Julien und Emil habe ich nicht gesprochen, und Tyler… Ich ziehe meine Beine an und lege mein Gesicht auf meine Knie. Morgen ist Samstag. Keine Gelegenheit, groß jemanden zu treffen. Ich könnte Julien heute Abend anschreiben und ihn etwas ganz Unverbindliches fragen. Dann würden wir ins Gespräch kommen und hätten zumindest etwas miteinander zu tun. Von da an würde es ganz einfach werden…
    Vielleicht sollte ich Darryl nehmen. Bei meiner feierlichen Fragezeremonie habe ich ganz nebenbei nach all den Kandidaten gefragt, zu denen ich kaum etwas weiß. Julien, Emil und Arthur habe ich ausgelassen. Bei Darryl sagte man mir sofort, dass er das Sport-Ass schlecht hin ist. Aber vorsichtig soll ich sein, immerhin ist er dafür bekannt, Beziehungen mit Mädchen nicht sonderlich ernst zu nehmen.
    Zu Henry konnte mir nur Mia ein wenig erzählen. Er treibt sich wohl öfters in der Bibliothek herum und hilft dort aus. Er sei eine Stufe über uns und sehr freundlich. Das glaubte ich ihr aufs Wort. Das schlechte Gewissen, ihn so grundlos angemault zu haben, ist auch immer noch da.
    Bei Olivia wusste ich nicht, wie ich das Thema auf sie lenken sollte. Ich hatte sie heute noch nicht gesehen, genauso wenig wie Arthur. Vom Alter her war sie vielleicht eine Stufe unter uns, oder in der Parallelklasse.


    Zum Schluss erzählte ich davon, dass ich ja so tollpatschig bin.
    „Ich habe heute Morgen im Sekretariat sogar meine Dokumente fallen lassen“, erzähle ich mit einem schiefen Grinsen. „Zwei Jungen haben sie für mich aufgehoben. Die schienen zum Direktor zu wollen.“
    Eve und Lisa sahen sich an und zuckten mit den Schultern.
    „Zwillinge?“, fragte Eve und ich nickte. Volltreffer.
    „Seth und Tyler“, erklärte Lisa dann. Die schulbekannten Bad-Boys. Immer zusammen, immer verschworen. Seth hat das große Mundwerk, Tyler dagegen trifft immer genau da, wo es wehtut. Unheimlich seien sie.
    „Halt dich lieber von ihnen fern“, murmelte Eve. „Die haben Dreck am Stecken. Und wie sie einen immer anschauen…“ Sie schauderte.
    „Keiner weiß wirklich viel über sie“, ergänzte Joshua. „Die sind richtig verschworen.“
    „Aber irgendwie auch… cool.“ Lisa lächelte entschuldigend, als Eve sie augenrollend ansah. Mädchen und Bad-Boys. Manche stehen wohl drauf.


    Was könnte das Problem von jemandem wie Tyler sein?
    Selbstbewusstsein scheint er ja zu haben. Schlechte Noten vielleicht? Zu wenige Freunde? Er sah nicht wirklich danach aus, als würde ihn das interessieren. Andererseits… Aphrodite sagte, dass die Probleme tiefergreifend sind. Wie kann ich also erwarten, dass ich sofort verstehe, wo es liegt? Aber wie soll ich dann wissen, ob ich ihm helfen kann?
    Zwei Tage sind zu wenig um herauszufinden, wen ich auswählen soll. Zu wenig um eine Entscheidung zu treffen, die meine komplette Zukunft beeinflusst.
    Ich seufze und schließe die Augen. Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich muss mich entscheiden, ob ich es will oder nicht.


    Die Schritte höre ich erst, als sie schon unmittelbar neben mir sind. Ich öffne die Augen und blicke hoch zu zwei Gestalten, die ich erst nicht so recht erkenne. Als ich etwas blinzle, werden die Konturen deutlicher. Und sie sind fast genau gleich.
    Tyler und Setz schauen auf mich herunter. Beide tragen schlichte, schwarze Sporthosen und ein weißes Tanktop. Offenbar haben sie sich aus dem Sportunterricht geschlichen, so wie sie gerade aussehen. Und ein wenig verschwitzt sind sie auch. Bei dem Wetter wohl kein Wunder.
    „Na schau mal einer an“, murmelt Tyler.
    „Da hat wohl wer unseren Platz entdeckt“, fügt Seth hinzu. Gruselig, wie die beiden scheinbar ihre Sätze gegenseitig vollenden. Ich dachte, das wäre ein schlechtes Zwillingsklischee aus irgendwelchen B-Horror-Filmen.
    Seth sieht nicht sonderlich begeistert aus. Ich stehe langsam auf. Auf Territorienstreiterein habe ich gerade absolut keine Lust. Als ich meine Tasche über meine Schulter lege, spricht Tyler mich wieder an.
    „Ein schöner Ort, oder?“
    Überrascht schaue ich auf. Und auch Seth sieht nicht gerade aus, als hätte er so eine Reaktion von seinem Bruder erwartet.
    Ich nicke lautlos. Fühle mich ein bisschen wie ein Beutetier, das abwägt, ob es rennen soll oder doch lieber tot umfallen.
    „Perfekt um sich vor neugierigen Augen zu verstecken.“
    Das ist wohl wahr. Hier kommt einem keiner so schnell zu nahe. Und von draußen sieht man auch nicht wirklich viel, dafür ist das Gebüsch einfach zu dicht.
    „Es ist schön ruhig“, antworte ich, weil ich einfach das Gefühl habe, dass ich etwas sagen sollte. Tyler lächelt ein wenig, als er auf den kleinen See schaut. Seth tritt an seine Seite und starrt mir in die Augen. Das ungute Gefühl stellt sich sofort wieder ein.
    „Vielleicht sollte sich ein Fräulein wie du lieber verziehen“, raunt er mir zu. Er steht leicht vorgebeugt und seine Arme sind angespannt. Fast so, als würde er sich darauf vorbereiten, mich anzuspringen. Würde er sowas tun? Laut den Gerüchten, die ich gehört habe soll er wohl ziemlich aggressiv sein… „Hier sind immerhin überall Käfer und Krabbeltiere. Nicht, dass du gleich noch ohnmächtig wirst, wenn eine Raupe über deinen Fuß kriecht.“
    Ich hebe eine Augenbraue. Gott, dieser Kerl ist wirklich vorurteilsbelastet wenn er denkt, dass eine Raupe mich zum Schreien bringt…Und das provokante Grinsen soll er sich gefälligst auch vom Gesicht wischen. Die Müdigkeit macht mich aggressiv. Und er trägt nicht gerade zur guten Stimmung bei. Bevor ich registriere, was ich da tue, stoße ich aus: „Ein Wunder, dass du dich dann noch hierher traust.“
    Stille. Oh, Fuck. Seth hat den Mund leicht offen, als wolle er etwas sagen. Aber an seinem Gesichtsausdruck sehe ich, dass ihm nichts einfällt. Er scheint vollkommen baff zu sein, dass ihm jemand Widerworte gibt. Und obwohl ich jetzt vielleicht um mein Leben fürchten sollte… Es fühlt sich verdammt gut an. Unwillkürlich muss ich etwas grinsen.
    Tyler fängt an zu lachen. Seth funkelt ihn böse an, aber er ignoriert es gekonnt.
    „Der war gut, gib es zu!“, wendet er sich an seinen Zwilling, der erst etwas sagen will, dann aber nur ein unverständliches Murmeln hervorbringt.
    „Die kleine Miss ist schlagfertig“, wendet sich Tyler wieder an mich.
    „Und sie hat ganz schön Mumm, sich mit uns anzulegen“, knurrt Seth. Komischerweise sieht seine Körperhaltung plötzlich ganz anders aus. Er steht gerade und entspannt, auch wenn sein Kopf etwas gesenkt ist. Sehr viel weniger… aggressiv. Wie merkwürdig.
    Ich zucke mit den Schultern. Was soll ich groß sagen? Ja, ich bin nicht auf den Mund gefallen. War ich noch nie. Aber das hat bisher eher für Ärger gesorgt als für Lacher. Weil ich meist rede ohne zu denken. Kaum zu glauben, dass genau das hier die richtige Lösung war.
    „Und dabei sieht sie aus wie eine dieser Großstadttussen“, fügt Seth noch hinzu. Er mustert mich wieder von oben bis unten. Aber dieses Mal bleibe ich cool.
    Wem sagst du das… Ich hab doch gesagt, dass dieses Aussehen nicht zu mir passt. Viel zu glatt und perfekt.
    Ich grinse schief und merke, wie die Anspannung aus meinem Körper weicht. Scheiß doch auf Bauch rein, Brust raus. Ich bin müde. Und für ein positives Bild ist es bei den beiden wahrscheinlich sowieso zu später.
    „Ein Modepüppchen“, bestätigt Tyler und lächelt schelmisch.
    „Oh bitte“, entgegne ich leise. „Wenn es nach mir ginge, würde ich in Shorts, Top und Sneakers durch die Gegend laufen.“
    „Tust du aber nicht“, antwortet Seth.
    „No shit, Sherlock.“
    Diesmal muss sogar Seth etwas grinsen, und das, obwohl er sich stark zusammenreißt, es nicht zu tun. Aber sobald Tyler wieder anfängt zu lachen und ich auch etwas kichern muss, ist seine Selbstbeherrschung am Ende.
    Ich weiß nicht ganz, wie es dazu kommt, aber aus irgendeinem Grund sitzen wir dann plötzlich nebeneinander am Seeufer. Wir starren auf die grüne Oberfläche des Wassers. Meine Finger reißen immer wieder ein paar Halme Gras heraus und zermalmen sie auf meiner Handfläche. Die ist mittlerweile schon genauso grün wie der Wasser vor uns.
    Die Stille ist angenehm. Ich fühle mich nicht mal mehr bedroht in der Gegenwart der Zwillinge. Echt komisch, wie schnell sich so etwas verändern kann.
    „Ava, oder?“, stößt Tyler irgendwann aus.
    Ich schaue ihn überrascht an.
    „Dein Name. Ava.“
    Ich nicke leicht.
    „Habt ihr mich etwa gestalkt oder was?“, frage ich mit einer hochgezogenen Augenbraue.
    „Oh bitte, das ist gar nicht nötig“, schaltet sich Seth ein. „Wohin man auch kommt, überall sprechen sie von der Neuen. So viel Trubel gab‘s nicht, seit die aus der Elften letztens das Zeitliche gesegnet hat.“
    Ich bemühe mich, den letzten Teil zu ignorieren. Ob er wohl weiß, dass das Mädchen, mit dem er zusammengestoßen ist, auch diejenige ist, die vor fünf Wochen gestorben ist? Vermutlich nicht. Ich glaube nicht, dass Seth die Art von Person ist, die sich großartig für so etwas interessiert.
    „Ich bin also Schulgespräch, hm?“ Sowas habe ich mir eigentlich schon gedacht. In einer verhältnisweise kleinen Schule spricht sich so etwas eben schnell herum. Vor allem, weil ich erst fünf Wochen nach Beginn der Schulzeit hierher wechsle. „Was sagt man denn so über mich?“
    „Die üblichen Gerüchte“, antwortet Tyler. Und Setz fügt hinzu: „Manche behaupten, dass sie dich im Internet auf Modeseiten gefunden haben.“
    „Solange es nur Modeseiten sind und nichts anderes…“, gebe ich zurück. Modeseiten… Haha, wie lustig. Ich wette, wenn ich länger gelebt hätte, hätten sich über Ava Hale auch Gerüchte breitgemacht. Aber die wären lange nicht so schmeichelhaft gewesen.
    „Das wird auch noch kommen. Die ersten haben schon Besitzansprüche gestellt.“ Tyler zuckt nur mit den Schultern.
    „Bitte was?“ Ich hebe eine Augenbraue. Unglaublich. Kaum sieht man gut aus, schon…
    „Verübeln kann ich‘s ihnen nicht“, grinst Seth. „Deine Mutter hat ein verdammtes Cabrio und du schreist gerade zu nach Großstadt, Geld und Bekanntheit.“
    „Dann sollen sie mit meiner Mutter anbandeln. Ich bin nicht hier, um mir nen Freund zu angeln“, knurre ich.
    Seth lacht sein beißendes Lachen.
    „Mach dir nichts draus.“ Tyler schaut mich aus dem Augenwinkel an. „Wir wissen wohl am besten, wie bescheuert Gerüchte sein können.“
    Ich fühle mich etwas ertappt. Immerhin habe ich zumindest einem Teil der Gerüchte auch Glauben geschenkt. Nicht, dass sie nicht Sinn gemacht hätten. Wenn Seth mich so anstiert braucht er sich nicht zu wundern, wenn ich wirklich denke, dass er hochgradig aggressiv und dauernd in Prügeleien verwickelt ist.
    Aber jetzt, wo ich so mit ihnen am Seeufer sitze, habe ich sogar ein wenig Spaß. Mit ihnen zu sprechen ist ungezwungen. Ich brauche mir keine Sorgen machen, dass ich etwas Falsches sage. Dass ich zu frech bin, dass ich ausspreche, was ich denke. Das scheint die beiden kaum zu interessieren. Sie tun es ja selbst auch. Ich kann mir zwar immer noch vorstellen, dass Seth mal die Hand ausrutscht, wenn man ihn zu sehr provoziert, aber... Wenn man die beiden einmal auf seiner Seite hat, scheinen sie sogar relativ entspannte Zeitgenossen zu sein.
    „Welches hast du zuerst gehört?“, fragt Seth mich und zieht dabei eine alberne Grimasse. „Ich wette, darauf, dass es das Mafia-Gerücht war.“
    „Ich halte dagegen. Es war bestimmt das Mord-Gerücht.“ Sie schlagen ein und schauen mich erwartungsvoll an.
    Ich blinzle wild. Beides hört sich echt nicht gut an.
    „Will ich wissen, worum es in den Gerüchten geht?“, frage ich mit zweifelndem Blick. „Ich hab von beidem nichts gehört. Wusste bisher nur, dass ihr die Bad-Boys der Schule seid. Schule schwänzen, Fünftklässlern das Geld aus der Tasche ziehen, Dauergast beim Direktor, hängt immer zusammen…“
    Zumindest die letzten beiden Punkte scheinen wirklich wahr zu sein. Immerhin hat selbst die Sekretärin von „schon wieder“ gesprochen. Und dass sie immer zusammen sind kann ich ja selbst bestätigen.
    Seth rollt mir den Augen. „Pf. Warum sollten wir Fünftklässlern beklauen? Neuntklässler bekommen wesentlich mehr Taschengeld.“
    Für einen kleinen Moment bin ich mir nicht sicher, ob er es wirklich ernst meint. Als Tyler dann aber resignierend grinsend den Kopf schüttelt, fange ich an zu lachen.
    Ich will gerade zu einer Antwort ansetzen, da vibriert auf einmal etwas in meiner Tasche. Schnell durchsuche ich sie nach meinem Handy. Das Display ist hell erleuchtet und darauf abgebildet steht in großen Buchstaben „Deine Göttin“. Oh man. Den Eintrag werde ich sowas von ändern.
    Ich drücke auf das Icon des grünen Hörers und halte mir das Handy ans Ohr.
    „Ja, was ist?“ Meine Begrüßung ist nicht gerade herzlich. Warum sollte sie auch. Es ist ja nur Aphrodite.
    „Ava, Schätzchen, ich brauche dringend etwas zu Essen, wenn ich nach Hause komme. Sei so lieb und bereite mir etwas vor.“
    „Nein.“
    „… Bitte was?“
    „Du hast mich schon gehört. Nein. Ich koche nie wieder für dich.“
    Für einige Sekunden bleibt es still am anderen Ende der Leitung. Dann höre ich ein Räuspern.
    „Was verlangst du?“
    Das ist schon sehr viel besser. Ich grinse in mich hinein. Ihr schien dieser vollkommen versalzene Speck wohl wirklich zu schmecken. Das kann ich sicherlich irgendwie ausnutzen.
    „Was kannst du mir denn anbieten?“, flöte ich ins Telefon. Es ist mir ein Rätsel, warum sie sich nicht einfach Essen herzaubert. Kann sie das in ihrer aktuellen Form etwa nicht? Und warum verwandelt sie sich nicht einfach in ihr normales Ich, beschafft sich etwas zu essen und wird dann wieder menschlich? Ich bezweifle, dass es Faulheit ist. Vielleicht kann sie es auch einfach nicht.
    Ich höre ein Stöhnen aus dem Lautsprecher.
    „Was weiß ich denn. Gefälligkeiten? Tipps? Was immer du verlangst, ich verhungere hier gerade, Ava!“
    Ich hab sie also in der Hand.
    „Das hört sich doch schon einmal nach einem guten Anfang an“, raune ich. „Den Rest besprechen wir, wenn ich zu Hause bin. Bye, Mum.“
    Als ich auf den roten Hörer drücke, höre ich noch, wie Aphrodite einen Satz anfängt. Was sie sagt, verstehe ich aber nicht. Ha. Ich habe sie wirklich in der Hand. Gegen Hunger ist selbst die Göttin der Liebe also nicht immun.
    Gott. Das fühlt sich so GUT an.


    Als ich aufstehe und meine Tasche über die Schulter streife, schauen mich Tyler und Seth fragend an.
    „Muss los“, erkläre ich knapp. „Essen kochen.“
    Seth zuckt nur mit den Achseln. Ich murmele noch ein kurzes „Ciao“ und will mich umdrehen, da berührt Tyler mich am Bein. Er schaut zu mir hoch, lächelnd. Dieses Mal ist es nicht spöttisch, nicht schelmisch. Ein einfaches, ehrliches Lächeln.
    „Man sieht sich“, raunt er mir zu. Ich nicke und erwidere das Lächeln kurz.
    Dass Seth seinen Bruder stirnrunzelnd ansieht, bemerke ich nur aus dem Augenwinkel.



    „Ich werde dir nicht verraten, welche Probleme die Kandidaten haben!“
    „Dann kannst du den Speck vergessen.“
    „Ava!“
    „Was?“
    „Du weißt, dass das Erpressung ist?“
    Ja. Das weiß ich. Und ich genieße es so richtig.
    Ich stehe mit verschränkten Armen vor ihr. Aphrodite scheint wirklich verdammt verzweifelt zu sein. Aber trotzdem lässt sie sich darauf nicht ein.
    „Hör zu, Ava.“
    Ihre Stimme klingt plötzlich verdammt ernst.
    „Selbst wenn ich wollte, könnte ich dir nicht sagen, welche Probleme sie haben. Dafür hätte ich mich vorher schon genauer mit ihnen beschäftigen müssen. Ich habe nur gesehen, dass ihre Herzen in etwa so hell sind wie die Unterwelt angenehm. Das hat mir gereicht. Und jetzt, wo ich ein faktisch ein Mensch bin, kann ich ihnen auch nicht in den Kopf schauen.“
    „Aber du kannst meine Gedanken lesen!“, stoße ich entrüstet aus. Ich weiß nicht, ob sie lügt. Die Probleme meiner Kandidaten zu kennen würde es mir erheblich einfacher machen, eine kluge Wahl zu treffen und diese Strahleherzen-Sache durchzuziehen. Vielleicht behauptet sie ja auch nur, dass sie es nicht weiß, damit ich keinen Vorteil habe. Unwahrscheinlich ist es nicht. Die griechischen Götter sind hinterhältig wie sonst nichts, wenn man den Sagen Glauben schenkt. Und das muss ich wohl, immerhin steht eine dieser Sagen gerade keinen Meter von mir entfernt.
    „Deine Gedanken kenne ich nur, weil du einen Teil von meiner Kraft in dir hast. Ich habe dich immerhin temporär wiederbelebt. Wir sind für die nächsten zwei Monate miteinander verbunden.“
    Es hört sich nicht so an, als würde sie lügen.
    „Und wenn du mir nichts zu essen machst, dann werde ich verhungern. Selbst wenn du dann die Wett gewinnst, kann ich dir schlecht einen Wunsch erfüllen, wenn ich verhungert bin!“
    Das macht Sinn.
    Nicht.
    „Du bist eine verdammte Göttin, du kannst gar nicht verhungern.“
    Ertappt. Aphrodites erstarrtes Gesicht spricht Bände. Sie lächelt schief.
    „Die Zeit, in der ich für dich koche, geht von meiner Wettzeit ab.“ Ich schaue ihr direkt in die Augen, die Arme vor der Brust verschränkt. „Deswegen ist es nur fair, wenn ich eine Gegenleistung dafür bekomme.“
    Wir schweigen uns für einen Moment an.
    „Du erwähntest Tipps und Gefälligkeiten. Was für Gefälligkeiten?“
    „Wissen über bestimmte Themengebiete, Geld zum Shoppen, Tipps im Umgang mit deinem Auserwählten… Nicht zu viel, versteht sich. Ich wäre ja schön blöd, meine eigene Wette zu sabotieren!“
    Naja. Es ist mehr, als ich an Hilfestellung von ihr erwartet habe. Und ich kann wirklich alles gebrauchen, was ich bekommen kann…
    Ich danke an dieser Stelle übrigens unsere alte Haushälterin Frau Müller, die irgendwann darauf bestanden hat, dass ich Kochen lerne. Danke, Frau Müller! Sie werden es mir niemals glauben, aber Ihr Starrsinn rettet mir vielleicht noch das Leben.
    „Na gut“, stoße ich irgendwann aus. „Wir haben einen Deal.“ Aphrodite strahlt mich an und deutet, aufgeregt wie ein kleines Kind in Disneyland, auf die Pfanne.
    „Dann koch jetzt endlich, ich hab Hunger!“


    Ich sitze an meinem Schreibtisch, aus meinen Kopfhörern schallt laute Musik. Vor mir liegen ein Haufen Blätter, manche schon leicht zerknittert. Auf einigen stehen Informationen zu meiner neuen Identität. Ich habe alles, was ich heute improvisieren musste, haarklein aufgeschrieben. Es wäre verdammt ätzend, wenn ich mich verplappern würde und Fragen aufkämen. Das kann ich wirklich nicht gebrauchen.


    Auf den anderen sieben Zetteln stehen je ein Name eines Kandidaten und alle Informationen, die ich zu ihnen finden konnte. Ich habe sogar das Internet durchforstet auf der Suche nach mehr Wissenswertem. Aber in den meisten Fällen blieb die Suche ziemlich erfolglos. Zu Arthur fand ich einige Artikel, die sich aber auf die Schule beschränkt haben und mir nicht wirklich weiterhalfen. Darryl hatte lauter Erwähnungen aus Websites zu Basketballturnieren in der näheren Umgebung. Emile hatte wohl schon bei einigen Wettbewerben im Bereich Musik vorgespielt, aber nie wirklich etwas gerissen. Zum Rest konnte ich einfach nichts finden.
    Gerade bin ich bei Tyler Prescott dran. Ich weiß nicht so genau, warum ich mir ausgerechnet ihn zum Schluss aufgehoben habe.
    Mit flinken Fingern tippe ich seinen Namen in einer Suchmaschine ein. Einen Moment lang bleibt die Seite weiß, dann listetet sie einen Haufen Ergebnisse auf. Aber nicht die, die ich suche.
    Prescott Immobilien irgendwo in Amerika, Informationen zu einer Stadt, die offenbar Prescott hieß. Aber Tyler Prescott? Kein Treffer. Ich probiere es auch mit Seth, aber da ist das gleiche Ergebnis.


    Ich starre auf das Papier mit Tylers Namen drauf. Mit ihm habe ich wohl die meiste Zeit verbracht. Aber ich habe keine Ahnung, was sein Problem sein könnte.
    Bei Darryl dagegen ist es vielleicht einfach dieser klischeehafte „Meine Eltern zwingen mich zum Sport aber eigentlich habe ich gar keine Lust und will lieber Tänzer werden“- Konflikt oder so. Das wäre einfach. Mit Julien komme ich bestimmt auch recht weit, immerhin sind wir in der selben Klasse und er schweigt einen nicht permanent an wie Emile.
    Aber je länger ich darüber nachdenke, desto weniger begeistert bin ich davon.



    Mein Erwachen am nächsten Morgen ist alles andere als sanft.
    Lautes Gepolter erschreckt mich so sehr, dass ich wortwörtlich aus dem Bett falle. Unsanft komme ich auf dem Rücken auf.
    Urgh. Was ist das für ein ätzendes Geräusch? Mein Schädel brummt, weil mir das Geräusche durch Mark und Bein geht.
    Stöhnend versuche ich mich aus meiner Decke zu befreien, die mich umwickelt wie ein Kokon. Ich strample so lange, bis ich eine Hand freibekomme, danach geht der Rest fast von alleine.
    „Guten Morgen!“, begrüßt das fröhlich lächelnde Gesicht von Aphrodite mich, als ich meinen Kopf über die Bettkante lugen lasse. Erst als ich den kleinen Mini-Gong in ihrer Hand sehe, kapiere ich, woher das Poltern kam.
    „Bist du wahnsinnig?“, brülle ich sie an. Aphrodite zuckt nicht einmal mit der Wimper und das nervt mich nur noch sehr viel mehr. „Kannst du mich nicht wie jeder normale Mensch wecken?!“
    „Ich dachte wir hätten das schon geregelt“, lächelt sie unentwegt. Meine Ersatzmutter stellt den Gong auf meinen Schreibtisch und wandert dann zum Erker, wo sie die Gardinen vor dem Fenster zurückzieht. Gleißendes Sonnenlicht scheint ins Zimmer und ich muss wild blinzeln, um überhaupt etwas zu erkennen. „Ich bin eine Göttin, kein Mensch.“
    Murrend komme ich auf die Beine. Was kommt sie überhaupt auf die Idee, mich so früh am Morgen zu wecken? Es ist Samstag, verdammt nochmal… Ich habe nicht mal Schule und-
    Mein Blick fällt auf den kleinen Digitalwecker auf meinem Nachttisch.
    12:49.


    Ich brauche einen Augenblick um zu begreifen, was ich da sehe.
    „Verdammte scheiße“, hauche ich.
    „Verstehst du jetzt, warum ich dich aufgeweckt habe?“, meldet sich Aphrodite wieder zu Wort. Aber ich ignoriere sie einfach.
    „Mist. Verdammter MIST!“
    Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf. Verdammt, verdammt, verdammt! Es ist schon eins! Warum ist es schon so spät?! Verdammt!
    Ich schlüpfe in irgendwelche Klamotten, spüle mir den Mund mit Mundwasser aus, klatsche mir Wasser ins Gesicht, stopfe mir einen trockenen Toast in den Mund und werfe direkt darauf noch einen Kaugummi hinterher. Aphrodite verfolgt mich während dem ganzen Prozedere stumm, aber grinsend. Ja, die hat Spaß. Blöde Kuh! Wenn sie schon auf die blöde Idee kommt, mich mit einem verdammten Gong zu wecken, warum hat sie das nicht schon früher getan. Das werde ich dir heimzahlen! Das Frühstück setzt aus! Und just, als ich das gedacht habe, verschwindet das Grinsen auf ihrem Gesicht. Dafür taucht es auf meinem auf. Aber auch nur kurz. Dann schnappe ich mir meine Jacke, meine Tasche und meine Notizen und verschwinde aus der Haustür.


    Das Dumme an solchen Kurzschlussreaktionen ist, dass sie meist absolut nicht zu dem Ziel führen, zu dem sie eigentlich sollen.
    Ich stehe an einer Straßenecke, zehn Minuten Laufweg von meinem neuen Zuhause entfernt, starre auf das Straßenschild an einer Hauswand und frage mich…
    Was tue ich hier überhaupt? Warum bin ich aus dem Haus gegangen?
    Es ist Samstag. Ich habe keine Schule. Ich weiß nicht, wo meine Kandidaten sich gerade herumtreiben.


    Durch die Straßen von Hemsfort zu laufen bringt mir effektiv nichts. Gar nichts. Wenn man mal von dem Schweiß absieht, der meinen Rücken herunterläuft.


    Ich versuche, meinen stockenden Atem irgendwie unter Kontrolle zu bringen. Ich bin so eine Idiotin! Welchem blöden Kurzschluss in meinem Hirn habe ich es zu verdanken, dass ich einfach aus dem Haus gelaufen bin? Was hatte ich denn überhaupt vor? Nichts hatte ich vor. Ich habe einfach nicht nachgedacht. Bin aufgewacht, habe Panik geschoben und bin dorthin gelaufen, wo meine Beine mich hingetragen haben. Und das ist… die Reinertz-Straße. Zumindest sagt mir das das Straßenschild gegenüber.
    Himmel, ich habe nicht mal eine Ahnung, wo ich gerade bin!
    Ich könnte mich schlagen. Ich sollte mich schlagen. Blöderweise laufen hier Menschen herum und die komischen Blicke möchte ich mir gerade nicht geben.


    Ich wandere also weiter durch die Stadt und habe immer noch keine richtige Ahnung, wo ich bin. Ein Straßenschild deutet auf die Polizeiwache, ein anderes weist den Weg zum Museum für Fischerei. Beides gerade eher mäßiger interessant. Niemals würde ich mich an den Tresen der Polizei stellen und sagen „Entschuldigung, Herr Wachtmeister… Ich habe mich verlaufen. Können sie mich nach Hause bringen?“.
    Oh nein. Nur über meine Leiche.
    … Diesen Ausdruck werde ich auch nie wieder mit denselben Augen sehen.


    Ich gehe rechts, dann links, dann geradeaus. Mir begegnen immer mal wieder Menschen, aber etwas, das nach Hauptstraße aussieht, finde ich nicht. Von da hätte ich zumindest einen etwas besseren Überblick. Im Moment bin ich noch mitten in einem Wohnviertel und alles sieht gleich aus. Ich schleppe mich durch die Straßen. Der Drang, mich selbst zu verprügeln, wird mit jedem Schritt größer.
    Als ich um die nächste Ecke biege, sehe ich am Ende der Straße eine große, grüne Wiesenfläche. Ein Park vielleicht? Da gibt’s bestimmt Bänke. Meine Beine brennen, als würde man sie gerade kochen… Ich muss mich etwas ausruhen, dann frage ich einfach einen Passanten, ob er mir sagen kann, wie ich zur Schule komme. Irgendwie werde ich den Weg schon zurückfinden. Die Sache ist nur, dass ich damit extrem viel Zeit verschwendet habe.


    Der Park ist wirklich ziemlich weitläufig. Gleich rechts vom Eingang steht ein großzügiger Kinderspielplatz, komplett mit Klettergerüst, diesen bunten Spielhäusern und einigen Schaukeln. Ich wiederstehe dem Drang, mich einfach auf eine davon zu setzen. Links sehe ich einige gute gepflegte Beete. Aber Bänke? Fehlanzeige.
    Also folge ich einfach dem Steinweg tiefer in den Park hinein. Hohe Bäume stehen willkürlich um ihn herum und spenden etwas Schatten. Heute ist es aber sowieso nicht so heiß wie gestern. Und dazu weht ein angenehmer Wind durch die Anlage.


    Der Weg läuft weiter und weiter, bis er irgendwann in einem offenen Areal endet. Ich sehe einige Menschen, die mit ihren Hunden auf der Wiese tollen. Rechts und links stehen Bänke –Gottseidank!- und einige kleine Brunnen. Alles sieht ein wenig zusammengewürfelt aus. Die Beete sind hier nicht wirklich geordnet, die Büsche und Bäume wachsen wilder. Aber das hat seinen ganz eigenen Charme. Ich wende mich nach rechts und steuere auf eine vollkommen leere Bank zu. Gott, meine Beine… Es würde mich nicht wundern, wenn Frührente einreichen, sobald ich mich setze. Vielleicht lösen sie sich ja auch einfach ganz von meinem Körper und hüpfen davon?
    Mittlerweile überrascht mich wirklich nichts mehr.
    Ich lasse mich auf die Bank fallen und ein erleichtertes Stöhnen entkommt mir. Ahhhhh… Sitzen. Endlich. Ich lehne mich gegen die Lehne und schließe für einen Moment einfach nur die Augen um mich ein wenig zu entspannen.
    Aber die Realität holt mich schnell wieder ein.
    Heute ist der zweite Tag. Deadline. Heute Abend werde ich mich entscheiden müssen.
    Nur dass ich immer noch keinen Plan habe, wen ich wählen soll.
    Ja, ich weiß. Ich reite darauf herum. Aber was bleibt mir denn bitte auch großartig anderes übrig? Das ist eine wichtige Entscheidung! Eine, die wortwörtlich mein zukünftiges Leben bestimmen wird! Ich muss diese Wette einfach gewinnen. Ich muss. Für Hannah, für Mum und Dad. Für mich selbst. Und ich bin mir sicher, dass ich es schaffen kann. Ich muss nur die richtige Wahl treffen.
    Wenn ich jetzt noch wüsste, welche das ist…


    Ein lautes Kläffen lässt mich hochfahren. Ich öffne die Augen und suche nach dem Ursprung. Rechts von mir werde ich dann fündig.
    In zwanzig Meter Entfernung sehe ich einen kleinen, schwarzen Fellball, der genau auf mich zusteuert. Und das mit einer ziemlich rasanten Geschwindigkeit. Mehr aus Reflex als aus Angst springe ich auf und gehe einen Schritt zurück. Aber die Fellkugel kommt immer näher. Und als es nur noch zwei Meter sind erkenne ich, dass ich absolut nichts zu befürchten habe.
    Ich knie mich hin und lasse zu, dass mich der kleine Welpe anspringt. Die Pfoten auf meinen Beinen abgestützt drückt er seine Schnauze gegen meine Hände und leckt munter an ihnen. Immer wieder entkommt ihm ein kleines, niedliches Kläffen. Ich will laut „Naaw“ rufen. Aber es sind Leute im Park und ganz blamieren will ich mich dann doch nicht.
    „Na, du kleiner Fellball?“, spreche ich den Welpen an. Ein Großteil seines Fells ist schwarze, nur der Bereich um seinen Mund, seine Beine, seine Brust und die Stellen über seinen Augen sind weiß-braun. Er hat süße, kleine, spitze Ohren und einen geringelten Schwanz. Wenn ich mich nicht irre, dann ist das ein Shiba Inu-Welpe. So einen wollte Hannah schon immer haben. Sie hat Stunden damit zugebracht, mir Bilder von ihnen zu zeigen…
    Ich nehme den kleinen Kopf des Hundes in meine Hände und streiche ihm mit meinen Daumen über die Ohren.
    „Wo ist denn dein Herrchen?“, frage ich leise. Ich erwarte natürlich keine Antwort. Aber… wundern würde es mich trotzdem nicht. Ich muss etwas lachen, als seine raue Zunge über meine Finger streicht. Wie süß er mit dem Schwanz wedelt!
    Und alle, die gerade an etwas Zweideutiges gedacht haben gehen jetzt in die Ecke und schämen sich eine Runde!


    „Hibiki!“
    Die Stimme ist nicht weit entfernt. Der Welpe bewegt seinen Kopf in die Richtung des Rufes, offenbar kennt er die Stimme. Und da ist er nicht der Einzige.
    Keuchend atmend kommt der Junge vor mir zum Stehen. Während ich den Fellball streichele, schaue ich zu ihm hoch.
    Tyler hält für eine Sekunde inne. Er schaut mich verwirrt an und ich kann es ihm nicht verdenken. Dass wir uns hier treffen ist echt verdammt großer Zufall.
    „Na sowas“, stößt er aus. Der verwirrte Gesichtsausdruck verschwindet und ein leichtes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. „Hallo Ava.“


    „Dass jemand wie du ausgerechnet einen Shiba Inu als Haustiert hat.“ Wir sitzen nebeneinander auf der Bank. Hibiki, der kleine Welpe, liegt auf meinem Schoß und genießt ausgiebige Streicheleinheiten. Tyler wollte ihn erst von mir weghalten, aber als ich sagte, dass es mich nicht stört und Hibiki recht deutlich machte, dass er meinen Schoß über dem harten Boden bevorzugt, hat er seufzend nachgegeben. „Ich hätte dich eher für den Rottweiler-Typ gehalten.“
    „Hibiki ist nicht direkt mein Hund.“ Tyler beobachtet den Welpen aus dem Augenwinkel. Er sitzt zurückgelehnt und hat die Augen die meiste Zeit über geschlossen. Seine Haare sind etwas zerzaust, vermutlich, weil er hinter dem kleinen Shiba Inu herjagen musste. Der war urplötzlich einfach losgelaufen, als hätte ihn etwas gestochen. Und dass er für seine Größe ziemlich schnell ist habe ich ja selbst gesehen.
    „Er gehört meiner Mutter. Aber ich gehe meist mit ihm Gassi, wenn sie arbeiten geht.“
    „Verstehe.“ Als ich Hibiki am Bauch kraule, kläfft er zufrieden.
    „Was machst du eigentlich hier? In diesem Park gibt es nicht wirklich etwas Interessantes.“
    Ich kann ihm unmöglich sagen, dass ich mich verlaufen habe… Eine Notlüge muss her!
    „ Ich wollte mich einfach etwas umschauen“, sage ich möglichst beiläufig. „Ich wohne immerhin noch nicht lange hier…“
    „Und dann treibst du dich in einem Wohngebiet herum?“ Ich zucke kaum merklich zusammen. Erwischt. Tyler öffnet die Augen und dreht seinen Kopf zu mir um. Ich grinse schief.
    „Würdest du mich auslachen, wenn ich dir sage, dass ich mich verlaufen habe?“
    „Würde ich.“
    Ich seufze. „Dann ist es ja gut, dass ich es dir nicht gesagt habe.“
    Wir bleiben für einen Moment still und schauen uns einfach gegenseitig an. Und wie auf ein unsichtbares Kommando hin brechen wir in Gelächter aus.
    „Du hast dich verlaufen?“, lacht Tyler. Sein gesamter Körper zittert vor Lachen. Irgendwann beugt er sich vor und hält sich den Bauch.
    „Ja, Mann, ein Problem damit?“ Ich bin nicht wütend, dass er lacht. Es hätte mich auch stark gewundert, wenn nicht. Ich habe Mist gebaut, so einfach ist die Sache. Und ich sehe es als gutes Zeichen, dass ich schon darüber lachen kann.
    Tränen steigen mir in die Augen. Man, bin ich blöd. Einfach so loszulaufen… Auf so eine Idee kommt auch nur mein Hirn.
    Hibiki tapst auf meinem Schoß herum. Mein Körper schüttelt so sehr, dass er nicht bequem liegen kann und das geht dem kleinen Welpen wohl gegen den Strich. Er springt von mir herunter auf die freie Fläche links von mir und lehnt sich mit den Vorderpfoten gegen Tylers Bein. Sein Herrchen schaut kurz zu ihm herunter, greift ihm dann unter die Beine und hebt ihn sich vors Gesicht.
    „Vielleicht ist Hibiki ja ein Spürhund für vermisste Personen.“ Er zuckt zurück, als die raue Zunge seine Nasenspitze streift, muss aber nur leicht grinsen.
    „Das muss es sein“, antworte ich und fahre dem kleinen Rüden über den Kopf. Er schleckt an meinen Finger und aus Instinkt zucke ich zurück. Ich streife Tylers Hand, aber er scheint es gar nicht zu bemerken. Der ach so böse Bad-Boy ist zu beschäftigt mit seinem kleinen Hundewelpen um irgendetwas um sich herum zu bemerken. Ich muss etwas kichern.
    Aber es ist schon merkwürdig. Warum ist Hibiki so interessiert an mir? Tyler sagte, dass er plötzlich lausgelaufen ist, und das, obwohl er am anderen Ende der Grasfläche war. Ich weiß ja, dass Hunde ein gutes Gehör haben, aber ich habe keinen Ton von mir gegeben… Bisher sind Hunde mir nie allzu nah gekommen, warum also…
    Ah. Vielleicht wegen meinem neuen Körper? Vielleicht wegen Aphrodites Kraft darin? Tiere haben doch angeblich so eine gute Wahrnehmung. Ich werde Aphrodite später danach fragen.
    „Also, was hast du jetzt vor?“
    Tylers Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich setze einen fragenden Gesichtsausdruck auf, als ich Tylers Blick bemerke.
    „Was meinst du?“
    „Du hast dich hoffnungslos verlaufen in einer Stadt, die du nicht kennst und hast keine Ahnung, wie du nach Hause kommst.“
    Ja. Das beschreibt meine Situation ziemlich genau… Und je länger ich darüber nachdenke, desto schlimmer erscheint mir das. Ich muss so schnell wie möglich nach Hause. Vielleicht kann ich doch noch ein paar Nachforschungen machen… Vielleicht finde ich noch etwas heraus.
    Es ist eigentlich eine dumme Hoffnung, immerhin habe ich bis heute Morgen um halb vier vor meinem Schreibtisch gesessen und nachgedacht. Aber am Ende ist nicht dabei herumgekommen. Warum sollte es also dann heute klappen?
    Ich stoße einen Seufzer aus, den Tyler sofort bemerkt. Er dreht überrascht den Kopf. Hibiki dagegen springt wieder zurück auf meinen Schoß, jetzt wo ich ruhig sitze. Er drückt seinen Kopf gegen mein Kinn und ich muss etwas lächeln.
    Ach. Was macht das schon. Ich kann nicht mehr wirklich etwas daran ändern. Vielleicht sollte ich einfach nach dem Zufallsprinzip entscheiden. Damit kann ich am Ende zumindest sagen, dass Fortuna mir einfach nicht hold war, wenn ich versage.
    Nein. Nein, das geht nicht. Ich muss einfach gewinnen. Ich darf kein Risiko eingehen.
    Hannah… Was soll ich tun?
    „So schlimm ist das nun auch nicht.“
    Überrascht schaue ich auf. Tyler hat die Arme vor der Brust verschränkt und starrt auf die Wiese vor uns. Ich höre immer noch Bellen und das Rufen von Herrchen, die verzweifelt versuche, die Aufmerksamkeit ihrer Hunde auf sich zu lenken. Einer läuft hinter einem weißen Fellball her… Als er fällt, verziehe ich kurz das Gesicht. Aber er steht direkt darauf wieder auf, also kann ihm nicht wirklich etwas passiert sein.
    „Jeder verirrt sich mal.“ Das meint er also. Mh, versucht er gerade wirklich, mich aufzuheitern? Ist ja lustig. Von ihm hätte ich das wirklich nicht erwartet. Tyler, der bisher immer nur spöttische Antworten gegeben hat. Tyler, der Bad-Boy. Tyler, der Schläger, der Mörder, der Mafia-Sohn. Ja, ich habe am Abend noch bei Eve nachgeharkt, was diese Gerüchte betrifft und ich konnte nicht anders, als zu Lachen, als ich hörte, was die Leute so alles erzählen.
    Er ist doch eigentlich ganz in Ordnung. Seth auch. Etwas zurückgezogen vielleicht, verschlossen und eingeschworen. Und ja, die freundlichsten Zeitgenossen sind sie auch nicht. Zumindest nicht auf den ersten Blick.
    Aber ich bin froh, dass er es ist, der mich hier gefunden hat. Er ist kein schlechter Mensch. Niemand, der so liebevoll mit einem kleinen Welpen umgeht, kann ein schlechter Mensch sein. Und dass er bei mir geblieben ist, dass er mich zum Lachen gebracht hat und dass er sich jetzt scheinbar wirklich um mich kümmert… Das rechne ich ihm hoch an. Er hat eigentlich keinen Grund dazu.
    Vielleicht hatte ich auch einfach nur ein schlechtes Bild von ihm, weil unsere erste Begegnung so blöd verlaufen ist. Ich hatte schlechte Laune und bin patzig geworden… Die bösen Blicke haben da ihr übriges getan. Aber ich war voreilig. Sie waren es ja auch.
    „Das ist es nicht“, antworte ich und streiche meine Haare aus meinem Gesicht. Tyler schaut mich fragend an, aber ich schüttele nur den Kopf. „Ist schon in Ordnung.“
    Was jemand wie er wohl für ein Problem hat? Seine Eltern vielleicht? Die Gerüchte in der Schule? Ich weiß es nicht. Aber je länger ich ihn aus dem Augenwinkel ansehe, desto mehr möchte ich es wissen.


    So sitzen wir eine Weile einfach nebeneinander auf der Bank. Dass hoch über unseren Köpfen Wolken aufziehen bemerken wir nicht. Ich streichle Hibiki weiter und schaue auf die Wiese, wo Hunde munter miteinander herumtollen. Wir bleiben still. Eine angenehme Stille.
    Ich bemerke den Regen erst, als ich den Kopf zurücklehne und mir ein Tropfen auf die Stirn fällt.
    „Huch“, stoße ich aus. Ich halte meine Hand vor mich und schaue in den Himmel. Die Wolken stehen dicht und grau über unseren Köpfen.
    „Regen“, stößt Tyler aus, macht aber erst keine Anstalten aufzustehen. Ich dagegen bin nicht sonderlich scharf darauf, wieder nass zu werden. Das letzte Mal ist in einer heillosen Katastrophe geendet…
    Ich setze Hibiki, der kläffend protestiert, neben mich auf die Bank und stehe schnell auf. Mit einer Hand krame ich in meiner Tasche herum, mit der anderen versuche ich meine Jacke anzuziehen, die über meiner Tasche lag. Der Regen wird immer stärker, und irgendwann steht auf Tyler auf und wirft sich die Kapuze von seinem Pullover über.
    Verdammt nochmal. Wo ist dieser bekloppte Regenschirm, wenn man ihn braucht. Den führe ich nebenbei erwähnt jetzt immer mit mir herum. Ich will nie wieder so nass werden. Nie. Wieder.
    Als meine Finger den Griff umschließen erlaube ich mir ein triumphierendes Lächeln.
    „Na also“, stoße ich aus. Mit schnellen Fingern ist der weiße Regenschirm offen. Ich lege ihn mir gegen die Schulter und drehe ihn einmal zwischen meinen Händen. Die Tropfen fliegen von ihm weg.
    „Hast du keinen Schirm?“, frage ich Tyler, der nur mit den Schultern zuckt. Er hockt gerade am Boden und versucht angestrengt, die Leine an Hibikis Halsband zu befestigen. Der junge Welpe scheint aber so fasziniert vom Regen, dass er keine Sekunde still hält. Ich will mich gerade herunterbeugen und ihn festhalten, da hat er es doch geschafft.
    „Also, wo wohnst du?“
    Die Frage kommt doch etwas unerwartet.
    „Hä?“, stoße ich selten intelligent aus.
    „Wir sind zwar auch erst vor ein paar Jahren hierhergezogen, aber ich kenne mich hier zumindest ein wenig aus.“ Tyler zuckt mit den Schultern, schaut mich aber nicht an. Stattdessen legt er den Kopf zurück und blickt in den Himmel, aus dem jetzt immer dickere Tropfen herunterfallen. „Ich kann dich schlecht einfach so im Regen stehen lassen, oder?“



    Wir waren keine fünf Schritte aus dem Park gegangen, da schüttete es mit einem Male wie aus Kübeln. Tyler verzog das Gesicht, sagte aber, dass es ihm nichts ausmachen würde. Eine glatte Lüge. Als ich mich dichter an ihn heranstellte sprang er förmlich erschrocken weg, was ich ihm etwas übel nahm. So schlimm bin ich nun auch nicht. Ich sagte ihm, dass ich keinen Schritt weitergehen würde, wenn ich ihm nicht zumindest den Schirm über den Kopf halten würde. Erst lehnte er ab, aber als ich dann wirklich stehen blieb und ihm mit einem Blick klar machte, dass ich es wirklich ernst meine, gab er seufzend nach.


    Wir laufen jetzt schon zehn Minuten dicht an dicht und schweigend nebeneinander her. Tyler gibt den Weg an, indem er einfach in die richtige Richtung läuft. Ich merke, dass es ihm noch immer nicht wirklich recht ist. Aber das ist mir sowas von egal. Wenn er meint, plötzlich einen auf Gentleman machen zu müssen und mich nach Hause zu bringen, dann schulde ich es ihm zumindest dafür zu sorgen, dass er auf dem Weg nicht klitschnass wird.
    Hibiki läuft immer ein, zwei Meter vor uns weg. Dem kleinen Welpen scheint es gar nichts auszumachen, dass es regnet. Er springt von Pfütze zu Pfütze, schüttelt sich hin und wieder und läuft dann zurück zu uns, um uns mit seinen dreckigen Pfoten anzuspringen. Mir macht das nicht wirklich etwas aus. Wofür gibt es Waschmaschinen? Abgesehen davon ist er so unglaublich niedlich…
    Für einen Moment passe ich nicht auf, da läuft Tyler in mich hinein. Ich stolpere nach rechts, schaffe es aber gerade so mich noch zu fangen. Und dann spüre ich eine Hand an meinem Arm.
    Verwirrt blicke ich zur Seite. Tyler schaut mich etwas erschrocken an. Er hat offenbar versucht, mich festzuhalten. Fünf Sekunden starren wir uns einfach nur an. Dann zehn. Als Hibiki bellt, zucken wir beide kaum merklich zusammen. Tyler reißt seine Hand förmlich weg und ich blinzle etwas.
    Dann muss ich lachen. Tyler wendet sich von mir ab, ein wenig peinlich berührt. Wird er etwa rot? Das bringt mich erst recht zum Lachen.
    Er stöhnt und wirft mir einen seiner bösen Blicke zu, aber ich zucke nur mit den Schultern. Unser Bad-Boy wird rot. Das ich das noch erlebe, haha.
    Ohne etwas zu sagen stelle ich mich wieder neben ihn und halte uns den Schirm über den Kopf.
    „Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt“, knurrt Tyler, aber sein böser Blick hat sich schon wieder in Luft aufgelöst. Jetzt sieht er eher etwas zerknirscht drein. Die wenigen Sekunden, die er im Regen stand, haben seine Haare schon nass gemacht. Kleine Tropfen fließen an den langen Strähnen herunter.
    „Das weiß ich auch nicht“, sage ich so unschuldig wie ich kann. Als ich seinen genervten Gesichtsausdruck sehe, muss ich prusten. Ich weiß nicht, warum es ihm so unangenehm ist. Ich kann‘s nicht so recht verstehen. Gestern hat er mich doch auch berührt und da ist es ihm doch auch nicht peinlich gewesen. Vielleicht ja auch einfach, weil das hier ein absolutes Liebesfilm-Klischee ist? Wir gehen zusammen im Regen, teilen uns einen Schirm, ich stolpere, er fängt mich heldenhaft auf… Der Gedanke bringt mich wieder zum Lachen. Hannah und ich haben uns immer darüber aufgeregt, dass die Situation im echten Leben niemals passieren würde.
    Und jetzt, wo sie passiert ist, weiß ich nicht, wie jemand so etwas romantisch finden kann. Mir kommt es eher lustig vor. Ich schaue Tyler aus dem Augenwinkel an. So cool wie er sich gibt, ist er anscheinend doch nicht, hm?
    Als er meinen Blick bemerkt, seufzt er bloß. Aber ich erwische ihn bei einem kleinen Lächeln. Auch wenn es nur für einen Moment anhält.


    Weitere zehn Minuten später sind wir bei mir angekommen. Keine weiteren Zwischenfälle, nur ein bisschen mehr Gebelle, ein wenig Gekichere und rollende Auge. Er muss denken, dass ich absolut kindisch bin. Vielleicht bin ich das ja auch.
    Ich habe zwar irgendwann gesagt, dass ich jetzt weiß, wo wir sind, aber er gar nicht darauf reagiert. Bis zur Haustür hat mich Tyler sogar gebracht. Wir stehen unter dem Vordach, ich schließe den Schirm und krame in meiner Tasche nach meinem Schlüssel. Klimpernd ziehe ich ihn hervor.
    Hibiki springt an meinen Beinen hoch. Ich beuge mich lächelnd zum kleinen Shiba-Inu herunter und streichle ihm sanft über den Kopf. Er ist immer noch vollkommen energiegeladen. Ich dagegen bin jetzt etwas müde. Aber ich fühle mich gut. Die Unruhe ist weg und die schleichende Panik auch. Etwas Besseres als dieser kleine Ausflug hätte mir wahrscheinlich kaum passieren können.
    „Auf Wiedersehen, Hibiki“, murmele ich und lasse grinsend zu, wie er mir über die Wange schleckt. Dann richte ich mich auf und schaue Tyler an. Keiner von uns scheint so recht zu wissen, was wir sagen sollen.
    „Danke fürs Herbringen“, setze ich dann irgendwann an. Er nickt mir zu, murmelt ein „Bis später“ und dreht sich dann postwendend um. Blinzelnd schaue ich ihm hinterher. Er haut wirklich ein so ab. Ohne ein weiteres Wort. Andererseits… was soll er groß sagen?
    Regen prasselt auf die Straße herunter.
    Ich laufe los.
    „Tyler, warte!“, rufe ich ihm hinterher. Als er sich umdreht, wirkt er überrascht.
    „Nimm zumindest meinen Regenschirm.“ Ich warte seine Antwort nicht ab, drücke ihm den weißen Schirm einfach in die Hand. Er scheint erst protestieren zu wollen, so wie er sein Gesicht verzieht, aber ich schneide ihm das Wort ab noch bevor er den Mund öffnen kann. „Gib ihn mir einfach später wieder.“ Dann grinse ich. „Kann dich ja schlecht im Regen stehen lassen, oder?“
    Es braucht einen Moment, dann lacht Tyler leise. Er legt sich den Schirm gegen die Schulter.
    „Danke“, sagt er noch. Wir lächeln uns für einen Moment an, da merke ich, wie meine Kleidung langsam nass wird. Ich schüttele den Kopf, grinse schief und laufe zurück unters Dach. Als ich die Tür öffne und hindurchgehe, werfe ich noch einen letzten Blick zurück auf die Straße. Tyler ist schon etwas weiter weg. Nach jedem zweiten Schritt dreht sich der Schirm über seinem Kopf.



    Aphrodite ist nicht zu Hause, als ich reinkomme. Sie hat einen Zettel auf dem Tisch hinterlassen, laut dem sie sich ihre Zeit in der Stadt vertreibt. Ein kleiner, fröhlicher Smiley starrt mich vom unteren Ende an. Zumindest scheint sie nicht wütend darüber zu sein, dass ich ihr kein Frühstück gemacht habe.
    Ich lege meine Tasche in meinem Zimmer ab, da fällt mein Blick auf die Zettel auf meinem Schreibtisch. Ganz oben liegt Tylers Informationsblatt. Kurz entschlossen nehme ich mir einen Stift und füge noch zwei Punkte hinzu.


    Mag Tiere, hat einen Hund namens Hibiki.
    Ist lange nicht so cool wie er vorgibt.


    Kichernd lege ich ihn zurück auf den Stapel. Ich schaue noch eine Weile darauf, aber als ein Windzug durchs offene Fenster dringt, fröstelt es mich etwas. Ich schließe das Erkerfenster und verschwinde ins Bad.


    Eine schöne, heiße Dusche ist perfekt, wenn man so nass ist wie ich. Sie wäscht die Kälte weg und auch die Müdigkeit. Zwanzig Minuten später trete ich erfrischt und motiviert aus der Glaskabine, duftend wie ein verdammter Obstsalat. Aus irgendeinem Grund, den ich selbst nicht ganz verstehe, muss ich dauergrinsen. Ist aber eigentlich auch egal. Ich bin gut drauf. Jetzt muss nur noch Aphrodite zurückkommen.
    Denn gerade jetzt weiß ich genau, was ich tun werde.


    Ich stehe im Pyjama vor einer Pfanne mit Geschnetzeltem darin, als die Haustür klackend aufgeht. Für einen Moment bleibt es still, dann stürmt Aphrodite ins Zimmer. Als sie sieht, dass ich am Herd stehe, fällt sie mir förmlich um den Hals.
    „Ava, Schätzchen!“, frohlockt sie. Sie reibt ihre Wange an meiner, was ich mit einem genervten Stöhnen über mir ergehen lasse. Heute ruiniert sie mir meine Laune nicht mehr. Meinetwegen kann sie mir so sehr auf die Pelle rücken wie sie Lust und Laune hat. „Essen! Du machst Essen!“
    Ich nicke wortlos, hebe die Pfanne vom Herd und verteile das Geschnetzelte auf die Teller, die ich vorhin auf den Tresen neben mir gestellt habe. Aphrodite fängt fast an zu sabbern, als ich die Teller hinstelle. Ich schnappe mir noch den Salzstreuer und kippe einen Berg vom weißen Pulver auf ihre Portion.
    Aphrodite lächelt mich mütterlich stolz an.
    „Ava, ich-“
    „Jaja“, unterbreche ich sie. „Fang schon an zu essen. Wir haben heute noch etwas vor.“
    Das leichte Lächeln auf ihrem Gesicht ignoriere ich gekonnt, als ich mir eine Gabel Essen in den Mund schiebe.


    „Du hast dich also entschieden?“
    Die Teller vor uns sind restlos leer. Aphrodite hat ihr Kinn in ihre Hände gelegt und schaut mich mit einem leichten Lächeln an. Oh, sie genießt diese Wette wirklich sehr, hm?
    Ich nehme einen Schluck aus meinem Glas und nicke dann stumm.
    „Verstehe.“
    Sie greift neben sich an die Wand. Der Zauberspiegel von vorgestern lehnt noch da. Aphrodite legt ihn vor sich auf den Tisch, nachdem ich Teller und Besteck weggeräumt habe. Eine Berührung auf der glatten Oberfläche und das Tony-Stark-Hologramm baut sich wieder auf. Sieben Gesichter schweben direkt vor mir mitten in der Luft. Sechs davon schaue ich mir kurz an, dann bleibt mein Blick auf dem hängen, das ganz links aufgetaucht ist.
    „Also dann.“
    Aphrodite schaut mir tief in die Augen. Ich erwidere den Blick ohne das Gesicht zu verziehen. „Wer soll es sein?“
    Ohne zu zögern deute ich auf Tylers Bild.
    „Bist du dir da sicher?“
    Bin ich mir sicher? Ja. Ja, ich denke schon. Von allen Kandidaten habe ich mit ihm bisher am meisten zu tun gehabt. Und das Treffen mit ihm hat es festgesetzt. Für ein paar Minuten nur hatte ich das Gefühl, dass ich den Tyler hinter der coolen Fassade sehe.
    Er war freundlich zu mir. Hat sich die Mühe gemacht, mich nach Hause zu bringen. Er wollte mich aufmuntern, als es mir schlecht ging.
    Ich weiß immer noch nicht, was sein Problem sein könnte. Ich habe keine Ahnung. Aber ich möchte es herausfinden. Ich werde es herausfinden und es lösen. Dann gewinne ich diese Wette und werde wieder lebendig.
    So schwer kann es ja gar nicht werden. Oder?


    Als ich Aphrodite zunicke schließt sie für einen Moment die Augen. Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Sie tippt kurz auf die glatte Spiegeloberfläche und das Hologramm verändert sich. Die sechs anderen Bilder verschwinden, das von Tyler wird dafür größer.
    „Also gut. Ab sofort hast du, Ava Hale, 62 Tage Zeit, das Herz von Tyler Precott zum Strahlen zu bringen. Schaffst du es, dann erfülle ich dir einen Wunsch. Schaffst du es nicht…“
    Der Schatten über Aphrodites Gesicht lässt mich innerlich schaudern. Aber äußerlich bleibe ich stark.
    „… Dann wirst du zurück in die Unterwelt gehen.“


    Ich sitze noch eine Weile am Esstisch und starre auf das holografische Abbild von Tyler. Habe ich die richtige Wahl getroffen? Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich werde es schaffen.
    Für Hannah. Für Mum und Dad. Für mich. Und vielleicht auch ein bisschen für ihn. Sein Problem für ihn zu lösen, wird ihn auch glücklicher machen, oder? Damit wäre dann die Schuld beglichen.


    Als die große Standuhr im Flur zehn schlägt, stehe ich auf und berühre den Spiegel. Das Hologramm erlischt, ich steige die Treppe zu meinem Zimmer hoch und bewege mich auf mein Bett zu. Ich weiß nicht warum, aber gerade bin ich wieder fürchterlich müde.
    Ich schlüpfe in mein Himmelbett und ziehe die Decke bis ans Kinn hoch.
    62 Tage. Zwei Monate.
    Es wird schon funktionieren. Ich schaffe das. Ganz bestimmt. Warte nur auf mich, Hannah.


    Als ich die Augen schließe, muss ich ein wenig lächeln.
    Morgen beginnt Mission Tyler.




    [tabmenu]
    [tab='Raindrops falling from the sky.'']
    \o P A R T Y o/


    Wow. Keine Woche ist vergangen, seit ich den Prolog geschrieben habe und ich bin so glücklich über die Reaktionen. Vielen Dank an dieser Stelle schon mal an Nija und Rusalka für eure Lieben Kommentare, auf die antworte ich im nächsten Tab nochmal ausführlich.


    Ich hab nicht für möglich gehalten, dass so viele Leute auf mich zukommen und sagen, dass sie sich auf das nächste Kapitel freuen. Das Auswahlprinzip scheint auch gut anzukommen. Sobald wir bei Tyler das vorletzte Kapitel erreicht haben, werde ich euch informieren und hoffe, dass ihr dann den nächsten Chara auswählt o/


    Als kleine Info: Dieses Mal war es wirklich ziemlich knapp. Für eine Weile waren Olivia und Tyler mit jeweils zwei Stimme vorn, als sich dann noch jemand (Huhu Tenebra!) umentschied und meinte, dass er dann auch lieber Tyler statt Arthur oder Emile möchte, fiel dann am Ende die Wahl und unseren kleinen Bad-Boy.
    Ich muss zugeben, dass ich auch ein wenig darauf gehofft habe, dass Olivia erst etwas später gewählt werden wird, einfach aus dem Grund, weil sie schon etwas besonderes ist, so als weibliche Love-Interest.


    Es hat mir durchaus Spaß gemacht, über Tyler zu schreiben, auch wenn in diesem Kapitel noch recht viel zu Avas Gedankenwelt drin ist. Ganz rausfallen wird das wohl auch nicht, aber jetzt, wo sie sich entschieden hat, wird ihr Interesse natürlich sehr auf ihm liegen. :'D
    Chapter 1: Raindrops ist 24 Seiten lang und über zwei Tage entstanden.


    (Benachrichtigungen gehen raus an @Arythmia, @Obelisk und @raspberry
    [tab='Like tender tears from heaven.']
    [subtab=Nija]




    [subtab=Rusalka]


    [/tabmenu]

  • [font=georgia]

    Caaaaaaaaaaaaith!


    Ich hab heute witzigerweise wieder ein Slush-Eis dabei sowie die Gewissheit, dass mich auch diesmal zumindest im Topic niemand ninjan wird. Hoffe ich. Ääääh.


    Diesmal hab ich sogar nebenbei Notizen aufm Handy gemacht was R&G angeht, denn ich bin ein vorrausschauendes Alpaka!


    [align=center]CHAPTER 1 - RAINDROPS


    Dann entweder "Prologue" oder "Kapitel 1" bitte, wie sieht das denn aus. =< "Raindrops" passt aber aus gegebenem Anlass sehr gut!


    First things first: TYLER IST JA MAL MEGAKNUFFIG. Hätte nicht erwartet, dass er tatsächlich so knuffig ist. Schon alleine mit Hibiki. *^* (Mir fallen einige Hibikis ein, die ich eigentlich verlinken wollte, aber dazu bin ich zu faul.) Er wirkt auf den ersten Blick tatsächlich recht intimidating, aber gawd, ist er KNUFFIG. ;w; *tyler pat* Noch viel besser ist allerdings, dass er tatsächlich bislang sehr gut mit Ava shipbar ist. Weiß aus offensichtlichen Gründen zwar noch nicht, ob er mein Favorit sein wird (duh), aber wir haben auf jeden Fall schon einmal einen guten Start hingelegt!


    Und vor allem einen langen Start. Über 15000 Wörter (woerter-zaehlen sagt 15155), r u kidding me. Das könnte ich nicht mal, wenn ich Kapitel zusammenlegen würde. o______O" Mein längstes war 5182 ... Das wirkt dagegen ja winzig. Meine einzige Frage ist: WIE MACHST DU SOWAS UND DANN AUCH NOCH SO GUT ;____; Es wirkt an keiner Stelle künstlich in die Länge gezogen, blablabla, x-tausendste Wiederholung meines Praises gegenüber deines Pacings, you get the idea, ich find das trotzdem creepy. =< Immerhin hast du bei der Länge ein paar R&G-Fehler drin, das beruhigt mich irgendwie, weil alles andere wär unmenschlich. Und weil ich die so schön hier habe ...



    Im Endeffekt sind das aber alles Peanuts, die ich nur benenne, weil a) ich ein Grammarnazi bin und b) ich sonst nicht allzu viel zum Stil zu sagen haben, bei dem ich mich nicht permanent wiederholen würde. D=


    Was ich mich gerade ein wenig frage, ist, wie um alles in der Welt die Gerüchte um Tyler und Seth eigentlich entstehen konnten, zumindest in diesem Maße. Ja, sie wirken sehr einschüchternd, aber sobald man sie besser kennt, sind sie doch voll okay, und klar reden die Leute immer mal, aber ... Gut, Ava hat nun nicht die ganz schlimmen gehört, aber was Tyler da so erzählt hat ... Kann natürlich gut sein, dass er übertreibt, aber irgendwie müssen die Leute doch merken, dass sie Mist labern. xD But then again, that's life. Und vielleicht erfahren wir darüber ja noch was im weiteren Verlauf der Route, den haben wir ja eh noch vor uns. Und Ava hat ja auch noch Zeit, was das angeht. Ist ja noch kaum Zeit vergangen.


    Spontane Frage am Rande, wie lang sollen die Routen eig jeweils werden Kapitel-wise? Will nur wissen, auf wie viele WoTs ich mich einzustellen hab und wann wir zu Olivia kommen. xD Immerhin haben wir ja tatsächlich noch eine vergleichsweise lange Zeit vor uns. Fast-forward? Tatsächliche Abarbeitung der gesamten Zeit, nur komprimierter? WoT of DEATH? Das werden wir dann ja erfahren, denke ich. Ich bin in jedem Falle mit dabei!


    Irgendwas wollt ich noch gesagt haben. Äh, genau, Aphrodite! Zu gut einfach, wie Ava mit ihr umgeht. xD Irgendwie erinnert sie mich teils doch mehr an ein weinerliches Kind als eine Göttin, lol. Und SALZ, so viel Salz, wtf. Hat bestimmt irgendeinen mythologischen Hintergrund, den ich gerade zu faul bin, nachzuschlagen. =D Ihre Morgenmuffeligkeit erinnert mich an mich, so ungern ich es zugebe ... *hust* Avas Kleiderschrank hätte ich aber gern übernommen, Kleider und Pastellfarben ftw.


    Viel mehr zu sagen habe ich eigentlich gar nicht, aber ich konnte es mir ja doch nicht nehmen lassen, zu kommentieren, weil was wäre ich für eine Alpakaqueen, die ihre Drohungen nicht wahr macht? o/ Dass es gelungen war, erspare ich mir mal zu sagen, freu mich schon auf das nächste Kapitel und blablabla, DANACH PLÄDIERE ICH ABER FÜR DIE OLIVIA-ROUTE, pff.


    Nija out ~

  • Tyler Route



    Chapter 2: Two sides of a coin




    „Ich werde ganz sicherlich nicht für dich Kellnerin spielen!“
    „Aber Ava, verstehst du denn nicht, dass deine Mutter deine Hilfe braucht?“
    „Du bist nicht meine Mutter!“
    „Gut, dann braucht deine Göttin eben Hilfe.“
    „Meine Göttin kann mich mal!“


    Aphrodites Gesicht verwandelt sich in einen einwandfreien Hundeblick. Die Lippen leicht gespitzt und hochgezogen, die Augenbrauen verengt… Selbst die verdammten Krokodilstränen stehen in ihren Augen. Aber nicht mit mir. Oh nein, bestimmt nicht.
    Ich wende mich wieder der Pfanne zu, in der munter der Speck brutzelt. Missmutig schiebe ich in darin herum. Meine Laune ist sowieso schon auf dem Tiefpunkt, denn der kleine Handgong scheint Aphrodites Lieblingsfolterinstrument geworden zu sein. Um sechs Uhr morgens steht die Alte tatsächlich in meinem Zimmer und macht einen auf Glöckner von Notre Dame. Das muss man sich mal vorstellen! Es ist Sonntag, gottverdammter!
    „Ava!“
    Sie zieht meinen Namen in die Länge und ihre Stimme trieft dabei vor lauter Zucker.
    „Warum soll ich in deinem Café helfen?“, grummele ich vor mich hin.
    „Weil das eine ganz wundervolle Chance ist, die Leute in dieser Stadt kennen zu lernen!“
    Ich werfe ihr einen genervten Blick aus dem Augenwinkel zu. Eigentlich müsste ihr klar sein, dass dieses Argument nicht zieht, immerhin-
    „… Gehen dir die Leute in dieser Stadt am Arsch vorbei“, vollendet sie meinen Gedanken laut. Aphrodite hat die Beine auf dem Stuhl im Schneidersitz unterschlagen und zupft an einer der Blumen herum, die in der schönen Kristallvase auf dem Esstisch steht. Wie üblich sieht sie perfekt aus. Aber was erwartet man schon von der Göttin der Schönheit?
    Nun, ich beschwere mich wohl besser nicht. Obwohl ich letzte Nacht nicht sonderlich viel Schlaf bekommen habe- Operation Tyler hat mich in meinen Träumen heimgesucht, und selbst der niedlichste Shiba Inu ist nicht mehr ganz so niedlich, wenn er zehn Meter groß ist, aber immer noch das Bedürfnis hat, sich auf deinem Schoß breit zu machen- von Augenringen ist bei mir keine Spur. Ich brauchte im Bad weder Abdeckstift, noch Mascara, noch nicht einmal Puder, um den hässlichen Glanz aus meinem Gesicht zu verbannen. Langsam aber sicher fange ich ab, meinen neuen Körper ziemlich zu mögen.
    „Ganz genau.“ Unwirsch kippe ich den Speck auf einen Teller und trage ihn rüber zum Esstisch. Dass ich ihn etwas fester aufsetze als nötig scheint Aphrodite nicht zu interessieren.
    „Alles, was ich in den nächsten 60 Tagen tun werde, wird sich um Tyler und sein defektes Glühbirnenherz drehen.“
    „Pass nur auf, dass er dich nicht für eine Stalkerin hält“, murmelt Aphrodite. Ihr Blick haftet dabei aber auf der Portion frittiertes Glück, das ich mir gerade auf meinen Teller schaufle. Auf den Rest kippe ich etwas widerwillig den halben Inhalt des Salzstreuers. Vielleicht sollte ich davon absehen, das kleine Ding immer wieder aufzufüllen und stattdessen einfach das ganze Paket auf den Tisch stellen…
    Wir essen eine Weile in absoluter Stille und die Stimmung ist frostig, obwohl draußen die Sonne scheint und mir mit ihren warmen Strahlen ihre Fröhlichkeit förmlich ins Gesicht drückt. Aber ich habe gerade keine Lust auf Fröhlichkeit. Die Welt ist nicht schön. Nicht, wenn man um sechs mit einem verdammten Handgong aufgeweckt wird. Und davon abgesehen hatte ich schon andere Probleme. Ich brauche keine Göttin, die mich den ganzen Tag durch ihr Café scheucht. Davon abgesehen wäre ich wohl auch schlecht fürs Business… Die Kosten für neues, nicht zerbrochenes Geschirr wären astronomisch.
    „Keine Chance, hm?“ Aphrodite scheint nicht mehr wirklich enttäuscht davon zu sein. Salz vertreibt bei ihr allen Kummer und Sorgen, so sehr wie sie ihr Frühstück gerade anstrahlt. Das ist schon fast gruselig… „Dabei könnten dafür sogar ein paar Tipps herausspringen…“
    „Heute nicht.“ Ich stopfe mir den letzten Bissen Speck in den Mund und stehe dann auf. Tipps sind verlockend, ja. Aber im Moment gibt es nichts, wobei mir Aphrodite großartig weiterhelfen kann. Immerhin weiß sie genauso viel über Tyler wie ich. Was nicht wirklich viel ist. Und genau das will ich heute ändern.


    Nachdem sie ihren Salzberg verschlungen hat, steht Aphrodite auf, greift sich ihre Designertasche, haucht mir einen Kuss auf die Wange mit den Worten „Bis heute Abend dann, meine liebe Tochter!“ (sie nimmt diese Familiensache plötzlich erschreckend ernst) und huscht dann aus dem Haus. Ich höre das laute Aufheulen des Motors und dann die quietschenden Reifen in der Einfahrt, danach ist Stille. Ich habe das Haus ganz für mich allein. Zeit, was draus zu machen!


    „Hey, ich habe ein kleines Problem mit meinen Mathe Hausaufgaben… Kann mir jemand helfen?“
    Kritisch schaue ich auf den Text, der darauf wartet, an meine Klassenkameraden losgeschickt zu werden. Eve hat ihr Versprechen gehalten und mich vorgestern noch direkt nach der Schule in die Klassengruppe gepackt. Ich wurde herzlich begrüßt und alle versicherten mir, dass ich nur fragen bräuchte, wenn ich Probleme hätte. Und genau das will ich jetzt ausnutzen. Ich brauche Informationen.
    Aber wie fange ich es am besten an? Die Matheausrede ist mir als erstes eingefallen. Ich könnte sie darum bitten, zu mir nach Hause zu kommen, weil ich ja keine Ahnung habe, wo die anderen wohnen oder wie ich in die Innenstadt komme. Andererseits werde ich so wahrscheinlich nicht allzu viele Leute anlocken… Denn wer beschäftigt sich an seinem freien Sonntag schon gerne mit Mathematik?


    Stöhnend lasse ich mein Handy auf mein Kopfkissen fallen. Ich hab mir bisher noch nicht einmal die Mühe gemacht, mich umzuziehen. Das seidene Nachthemd, das ich in einer der Schubladen meines Kleiderschranks gefunden habe ist verdammt kuschelig. Dass es knallpink ist, kann ich deswegen sogar geflissentlich ignorieren.
    Ein Blick auf meinen Radiowecker verrät mir, dass es erst kurz vor acht ist. Die Sonne scheint durch mein offenes Erkerfenster ins Zimmer und eine sanfte Brise weht den Geruch von Salzwasser herein. Die anderen werden vermutlich noch nicht einmal wach sein… Vielleicht sollte ich mir meine Zeit etwas anders vertreiben.


    Langsam schlendere ich in Richtung Kleiderschrank. Unterwäsche auszusuchen ist noch das kleinste Problem, wobei Aphrodite scheinbar selbst da ziemlich exzentrisch ist… Ich meine, komm schon. Tropischer Blumenprint auf einem BH? Ich durchwühle die Schublade nach etwas, das nicht übersät ist mit Spitze und Rüschen oder vor lauter Neonfarben geradezu radioaktiv strahlt… Vielleicht sollte ich schon jetzt damit anfangen, das auszusortieren, was ich definitiv nicht tragen werde. Andererseits würde dann wohl nicht viel übrig bleiben. Und wie sagt man so schön, im Notfall frisst der Teufel Fliegen. Es dauert zwar seine zehn Minuten, aber dann habe ich tatsächlich ein Outfit gefunden, das sich für einen faulen Sonntag super eignet. Grobmaschiger Strickpullover, der so oversized ist, dass ich nicht mal eine Hose darunter tragen muss, und eine schwarze Strumpfhose, fertig. Auf großartiges Styling habe ich heute wirklich keine Lust. Und sollte mir später wirklich noch ein Vorwand einfallen, um meine Klassenkameraden zu treffen, dann kann ich mich auch immer noch umziehen.
    Es ist ganz leise im Haus. Ich bin wirklich komplett allein hier. Der Kloß in meiner Brust, den ich bisher heruntergeschluckt und ignoriert habe, kommt jetzt in voller Größe zurück. Ich will nicht darüber nachdenken, warum ich hier bin, in diesem fremden Haus, in diesem fremden Körper. Wenn ich die Wette gewinne, ist das sowieso alles hinfällig. Nicht daran denken. Einfach nicht daran denken, Ava. Lass dich nicht herunterziehen. Dein Tod ist nur relativ. Du wirst wieder lebendig. Ganz sicher.
    Der Kloß in meiner Brust scheint mir da allerdings nicht zuzustimmen.
    Ich atme einmal tief ein und einmal aus. Ein Windstoß von draußen weht mir die Haare aus dem Gesicht, als ich ans Fenster trete. Die Luft in meinem Zimmer ist plötzlich so stickig. Vielleicht sollte ich rausgehen.


    Mit meinem Handy in der einen Hand und einem Block und Stift in der anderen drücke ich die Terrassentüre unseres Hauses auf. Als ich tief Luft hole prickelt der salzige Geruch in meiner Nase. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, seltsam… Belebend. Die Terrasse besteht aus einigen Quadratmetern Steinplatten. Ein kleiner Holztisch und vier Holzstühle stehen darauf, ansonsten ist sie leer. Aber ich habe sowieso nicht vor mich dort hinzusetzen. Stattdessen gehe ich direkt auf den Horizont zu.
    Es ist ein wunderschöner Sonntag. Keine Wolke am Himmel, herrliches Azurblau. Und je weiter ich an die Klippe herantrete, desto mehr Meer sehe ich. Ich sehe kaum einen Unterschied zwischen Wasser und Himmel…
    Ich trete an den Zaun heran, der direkt am Rande der Klippe steht. Von hier aus sieht es so aus, als würde die Welt ganz einfach zu Ende sein. Eine große, endlose Weite aus Blau… Kein stechendes Blau wie im Olymp. Beruhigend und angenehm. Und der Wind hilft mir, einen klaren Kopf zu bekommen. Ich glaube, ich habe meinen neuen Lieblingsort gefunden.


    Wenig elegant lasse ich mich aufs Gras fallen. Mein Handy platziere ich neben mich auf den Boden, den Block auf meinen Schneidersitz. Ich starre auf die weißen Seiten und kaue an der Rückseite meines Bleistifts herum. Wie gehe ich die nächsten 61 Tage an? Ich muss möglichst viel Kontakt zu Tyler aufbauen, aber ich kann nicht darauf hoffen, dass ich ihm jedes Mal wieder im Park begegne. Und selbst wenn, wie erkläre ich denn, dass ich immer wieder ans andere Ende der Stadt laufe, ohne wie eine geistesgestörte Stalkerin zu wirken? So hübsch anzusehen war die Hundewiese jetzt auch wieder nicht. Wir sind nicht in derselben Klasse, noch nicht einmal in derselben Stufe. Er wirkt auf mich auch nicht wie der Typ Mensch, der in einem Tutorenprogramm mitmachen würde, also fällt sowas auch raus. Und Clubaktivitäten? Solange es keinen „Wir lieben Shiba Inus“-Club gibt, fällt die Möglichkeit wohl auch flach.
    Es bleibt mir vorerst also nur die zufällige Begegnung. Und das möglichst geheime Ausspionieren.
    Gottverdammt… Ich habe die leise Ahnung, dass ich in ein paar Wochen eine Anzeige wegen Stalkings haben werde…
    „Vielleicht hätte ich doch einfach jemanden aus meiner Klasse nehmen sollen“, grummele ich missmutig. Schwachsinn. Ich weiß ja ganz genau, dass Tyler keine falsche Wahl war. Wir haben nur leichte Anlaufschwierigkeiten, das ist alles.
    „Also gut!“, stoße ich möglichst motiviert aus. Vielleicht schaffe ich es ja, mich selbst zu belügen. „Ich schaffe das schon. Ich muss nur weiter nachdenken.“ Es ist albern, aber ich schließe die Augen und atme tief ein und aus. Meine Mutter sagt immer, dass kontrollierte Atmung Wunder wirkt. Wenn es funktioniert, werde ich mich nie wieder über sie lustig machen. Wenn nicht, dann gleich doppelt so oft.
    Denken, Ava, denken. Zuerst musst du dich mit deinen Klassenkameraden treffen. Dann lenkst du das Thema ganz zufällig auf Tyler. Du brauchst nur ein paar Informationen. Wo er sich so herumtreibt, was er für Hobbies hat… Und wenn ich das weiß, wird es ein Kinderspiel.
    Nicht. Seth existiert ja auch noch. Verdammt. Versteht mich nicht falsch, er ist nicht ganz so schlimm wie der Bluthund, für den ich ihn gehalten habe, aber einfacher wird er mir meine Aufgabe sicher nicht machen. Ob ich ihn irgendwie loswerden kann? Vielleicht lässt sich hier in der Gegend irgendein Auftragskiller finden und-
    Haha, sicher. Ganz so verzweifelt bin ich doch noch nicht. Aber wie trennt man das wohl verschworenste Geschwisterpaar des gesamten verdammten Landes? Denk, Ava, denk, es muss doch eine Möglichkeit geben, sie-


    „Wenn du nicht aufpasst, dann platzt dir gleich eine Ader.“
    Ich kippe mit einem lauten Schrei zurück. Meine Beine sind noch ineinander verhakt, deswegen schaffe ich es nicht, mich aufzurappeln. Stattdessen liege ich einfach auf dem Boden, die Augen weit aufgerissen und die Hände im Boden verkrallt.
    Über mir steht eine Frau. Es ist nicht Aphrodite, ihr fehlen die roséfarbenen Augen. Außerdem erweckt ihr Anblick in mir nicht das Bedürfnis, sie gleichzeitig küssen und verprügeln zu wollen. Also ist es definitiv nicht Aphrodite.
    Ich brauche einen Moment um zu begreifen, warum ich sofort an Aphrodite gedacht habe. Sie sehen sich nicht einmal ähnlich, ganz im Gegenteil. Die Frau über mir ist schmal. Wenig Hüfte, wenig Brust, langes, leicht gelocktes schneeweißes Haar. Ausschlaggebend sind allerdings vor allem das schlichte, schwarze Kleid und die grobmaschige Strickjacke, deren Ärmel ihr viel zu lang sind. So etwas Farbloses würde Aphrodite niemals tragen.
    Was mich dann an meine liebste Göttin erinnert hat? Die Ausstrahlung. Ich bin noch nicht vielen Göttern begegnet, aber… Ich bin mir sicher, dass die Person, die da vor mir steht, ebenfalls eine ist. Und ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob mich das freuen soll.
    Ich wage es kaum, ihr ins Gesicht zu schauen, denn ihres ist bei weitem nicht so freundlich aussehend wie das von Aphrodite. Die hat sich ihr Gesicht extra sympathisch gemacht, um bei den Menschen besser anzukommen, wie sie mir selbst erklärt hat. Das, was da gerade über mir schwebt dagegen ist kantig, schmal und mit so dunklen Augen ausgestattet, dass sie schwarz aussehen. Und wie blass sie ist… Als hätte sie in ihrem gesamten Leben noch nicht die Sonne gesehen!
    „Wie schmeichelhaft“, stößt sie trocken aus und ich kann nicht anders, als ein wenig zu zucken. Ihre Stimme ist tief und rauchig, genau so habe ich mir damals immer die Hexen aus meinen Märchenbüchern vorgestellt.
    „Charmant“, kommentiert sie erneut meine Gedanken. Ich sinke ein wenig in mich zusammen, so scharf ist ihre Stimme. „Aber um noch einmal darauf zurückzukommen: Ich kenne die Sonne sehr wohl. Aber er ist ein recht anstrengender Zeitgenosse, deswegen ziehe ich es vor, seine Gesellschaft zu meiden.“
    Ich wundere mich schon gar nicht mehr darüber, dass Götter meine Gedanken lesen können. Sie tauchen immerhin auch ganz plötzlich direkt vor meiner Nase auf, können mich aus der Unterwelt herausziehen und stehen auf Unmengen an Salz. Ich frage einfach gar nicht mehr.
    Obwohl, eine Frage habe ich doch noch. Wer zur Hölle ist das da vor mir überhaupt?
    Ich schaue zu ihr hoch und warte ab. Sie kann meine Gedanken lesen, also kann sie mir auch antworten. Aber die mysteriöse Dame über mir bleibt still. Und hält den Blickkontakt. Was mir überhaupt keine Angst einjagt. Nein. So überhaupt nicht.

    Bitte reiß mir nicht den Kopf ab!
    Sie stößt ein trockenes Lachen aus und sinkt sehr viel eleganter als ich es jemals könnte auf die Knie. Den Kopf leicht schräg gelegt und ein leichtes Lächeln auf den Lippen betrachtet sie mich. Ich fühle mich wie ein Tier auf einem Untersuchungstisch und sie ist die Forscherin, die nur so darauf brennt, mir die Bauchdecke aufzuschneiden.
    „Oh bitte. Es wäre doch wirklich höchst unpassend für die Göttin der Magie, sich auf wissenschaftliche Forschung einzulassen, meinst du nicht auch?“ Ihre schmalen Lippen werden zu einem breiten, aber kalten Lächeln. Und dann schweigt sie wieder.
    Ich schätze sie erwartet von mir, dass ich sie kenne. Und das gerade war der einzige Hinweis, den sie mir geben wird. Na ganz wunderbar. Weil die Griechen ja auch nur eine Hand voll von Göttern hatten. Der verdammte Wikipedia-Stammbaum füllt zwei komplette Bildschirme!
    Keine Reaktion. Sie ist wesentlich.. kühler als Aphrodite. Ich kann es nicht genau beschreiben. Sie ist nicht wirklich gelassen, ihre Körperhaltung ist aufrecht und standhaft, auch nicht entspannt… Ihre Ausstrahlung ist mächtiger als die von Aphrodite. Erhabener. Ihr Ziel ist es ganz offensichtlich nicht, sympathisch auf andere zu wirken.
    Okay, Ava, zurück zur göttlichen Aufgabe. Eine kleine Runde „Wer ist es“.
    Sie ist eine griechische Gottheit. Sie ist weiblich, was schon wieder einiges ausschließt. Sie hat mit Magie zu tun…
    Keine olympische Göttin hatte etwas mit Magie zu tun, oder? Fruchtbarkeit, Jagd, Kriegsführung und Weisheit... Hera ist die Göttin der Familie… Nein, Fehlanzeige. Bleiben also nur noch die gefühlt fünfzigtausend anderen göttlichen Wesen.
    Ein Seufzen lässt mich aufschauen. Die Frau vor mir betrachtet mich mit leichter Enttäuschung, dann wirft sie einen Blick auf den Boden neben mir. Erst bin ich verwirrt, dann sehe ich, dass sie mein Handy anstarrt.
    Ich soll… schummeln?
    „Es ist kein Schummeln, wenn man seine Ressourcen nutzt“, antwortet sie auf meine unausgesprochene Frage. Ich zögere nicht lange. Die Geschichten, die ich mir als dreizehnjährige durchgelesen habe, damals, als ich einen kleinen Fetisch für Mythologie hatte, haben mir beigebracht, dass man Götter besser nicht warten lässt. Oder sie ärgert. Oder sonst in irgendeiner Form verstimmt.
    Ich entsperre den Bildschirm und öffne den Internetbrowser. In die Suchzeige oben gebe ich mit flinken Finger die Suchbegriffe „griechische Göttin Magie“ ein, dann warte ich für eine Sekunde. Der blaue Balken huscht über den Screen, dann baut sich die Seite auf. Und als ich das erste Suchergebnis sehe, fällt es mir wieder ein.
    „Du bist Hekate!“
    Da fängt sie plötzlich an, langsam zu klatschen. Ich starre sie für einen Moment reglos an, weil ich erst nicht begreife, dass diese Frau mir mit einem Pokerface, das sich gewaschen hat, über mich lustig macht.
    „Bravo!“, stößt sie mit neutralem Gesichtsausdruck aus. „Du kannst das Internet bedienen.“
    Sie reizt mich, genauso, wie es Aphrodite auch nur zu gerne tut, aber bei ihr wage ich es gar nicht erst, mich zu beschweren. Vielleicht sollte ich man kontrollieren, mit wem genau ich es hier zu tun habe. Ich schaue noch einmal auf mein Handydisplay. Göttin der Magie, Theurgie (was auch immer das ist) und Nekroman-…. Nekromantie?!
    „Ja, ich kann auch Menschen wiederbeleben, wenn ich möchte“, sagt sie, als wäre es etwas vollkommen Normales. Wie Schaufensterbummel. Oder Zeitung lesen. „Nur bevorzugt es der alte Höllenfürst, wenn ich mich nicht in seine Gefilde einmische, deswegen hole ich sie meist nur für kurze Zeit wieder. Um des Friedens Willen.“
    Jetzt habe ich zumindest fundamentierte Gründe für meine Angst vor Hekate. Sie kann mir Zombies auf den Hals hetzen, wenn sie will. Zombies!
    Ich sehe, wie sie kurz grinst, dann ist das Pokerface wieder da.
    „Ich bin nicht gekommen, um dir Zombies auf den Hals zu hetzen“, stößt sie nach einigen Sekunden bedrückender Stille aus. Wie kommt es, dass ich jetzt noch mehr Angst vor dem Grund habe, für den sie eigentlich gekommen ist?
    „Du bist wirklich misstrauisch.“ Sie hebt eine Augenbraue, scheint aber mehr amüsiert als verärgert. „Gut so. Ohne Misstrauen wirst du eine Wette mit einer Göttin niemals überstehen. Bewahr dir die Zweifel, sie werden dich irgendwann einmal retten.“
    „Ist das eine Ahnung oder eine Vorhersage?“ Meine Stimme ist leise und zittrig. Ich weiß gar nicht, wann sich die Atmosphäre von freundlich zu düster und kühl geändert hat. Wohl schon, bevor ich von dieser Nekromantiesache erfahren habe.
    „Wer weiß das schon?“ Das schmale Lächeln jagt mir einen Schauer über den Rücken. Hekate steht in einer fließenden Bewegung auf und streckte mir die Hand entgegen, als wolle sie mir aufhelfen. Ich entwirren meine Beine, die mittlerweile vollkommen taub geworden sind und rapple mich aus eigener Kraft hoch, was mit Gliedmaßen, die sich anfühlen, als würden tausende kleine Würmer unter meiner Haut krabbeln, alles andere als angenehm ist.
    „Ich werde dir nicht helfen. Zumindest vorerst nicht.“ Ihre Hand sank wieder zurück an die Seite ihres Körpers. Das schmale Lächeln blieb auf ihren Lippen. „Aber ich werde zusehen. Es ist lange her, seit ich Unterhaltung hatte. Und wenn das, was ich in deiner Zukunft sehe, wahr wird, dann wird es unterhaltsam werden.“
    Ich wage es nicht, mich zu bewegen. Es ist, als hätte die gesamte Umgebung den Atem angehalten. Ich höre nichts außer ihre Stimme, kann nichts sehen, außer diesen tiefschwarzen Augen, die sich in meinen Körper bohren wie Pfeile. Als Hekate einen Schritt auf mich zutritt, weiche ich nicht einmal zurück. Ich zucke kurz, als ihre Hände mein Gesicht umschließen. Sie zwingt mich dazu, ihren Blick zu erwidern.
    „Ava Hale… Ich hoffe doch, dass du mich nicht enttäuschst?“
    Ich kann mich nicht bewege. Bringe keinen Ton heraus. Aber nachdem sie mir für einen Moment in die Augen blickt, lässt sie mich wieder los. Ich bin noch immer wie erstarrt, habe keine Kontrolle über meinen Körper. Keinen Muskel kann ich bewegen. Wie festgefroren. Es ist ein schreckliches Gefühl. Aber ich kann nicht einmal schreien oder zittern.
    Und mit einem Schlag ist alles wieder vorbei. Die Welt um mich herum bricht über mir zusammen. Das Rauschen des Meeres, das Krächzen der Möwen, die Wärme der Sonne auf meiner Haut, der Geruch von Pflanzen und Salz. Ich stoße kalten Atem aus meinen Lungen aus und hole hektisch Luft. Der Boden unter mir scheint zu wackeln, sicherheitshalber setze ich mich hin.
    Erschütternd. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Dieses Gefühl von absoluter Machtlosigkeit.
    Ich schaue mich um, aber Hekate ist verschwunden. Mit ihr die Kälte und die Anspannung. Aber das unwohle Gefühl in meinem Körper bleibt.


    Mein Handy klingelt.
    Erschrocken schaue ich hoch. Ich brauche einen Moment um zu verstehen, dass ich wieder in meinem Zimmer bin. Wie bin ich hierher gekommen? Das letzte, an das ich mich erinnere ist Hekate… Alleine der Gedanke an sie jagt mir einen Schauer über den Rücken. Bin ich von alleine gegangen? Ich weiß es nicht. Aber es muss so sein. Es ist doch sonst keiner im Haus? Ich erinnere mich wage, dass ich tatsächlich aufgestanden bin. Aber danach wird alles schwammig und-
    Mein Handy klingelt wieder.
    Ich schaue mich um. Wo ist es überhaupt? Ich muss es mitgenommen haben.
    Langsam tapse ich mich voran. Meine Beine sind immer noch etwas wackelig, deswegen halte ich mich vorerst am Pfosten meines Bettes voran. Das warme Licht von draußen wirkt mit einem Male merkwürdig unpassend. Auf meinem Bett ist es nicht, dafür ist der Klingelton nicht laut genug. Als ich mich umdrehe, sehe ich es auf meinem Schreibtisch, direkt auf meinem Schreibblock. Eilig gehe ich herüber und schaue aufs Display. „Eve“ steht dort.
    Eve?
    Ach ja. Die Klassensprecherin. Ich bin wirklich neben der Spur…
    Ich schüttele kurz meinen Kopf und wische dann über das Display. Als ich mir das Handy ans Ohr halte, höre ich schon ihre Stimme.
    „ Vielleicht ist sie gar nicht da oder-… Oh, hallo? Ava?“
    Ich brauche einen Moment um zu reagieren. „Ja? Eve?“
    „Ah, ich dachte schon, du würdest noch schlafen“, rauscht es vom anderen Ende zu mir herüber. „Weil du nicht dran gegangen bist, meine ich.“
    „Achso, ja… Ich-“ Was soll ich sagen? Ich bin traumatisiert von der Göttin der Magie, die plötzlich in meinem Garten aufgetaucht ist, aber keine Sorge, mir geht’s gut? Sicher nicht. „Ich bin noch ein wenig müde. Meine Mum hat mich heute Morgen ziemlich früh aufgeweckt.“
    „Oh, du Arme. Dabei ist doch Sonntag!“
    Ja. Das kannst du laut sagen. Langsam werde ich wieder etwas klarer im Kopf.
    „Weswegen rufst du denn an?“
    „Richtig, ja!“ Es raschelt kurz, dann höre ich gedämpfte Stimmen. Irgendwann hält sie sich das Telefon dann wohl wieder ans Ohr, denn ihre Stimme wird klarer. „Hast du Zeit? Wir treffen uns gleich in einem Café in der Innenstadt, da dachten wir, wir laden dich ein.“
    Jackpot! Oh wow, habe ich ein verdammtes Glück.
    „Ja, ja sicher!“, stoße ich etwas zu enthusiastisch aus. Ich räuspere mich und versuche, mich etwas zusammenzureißen. „Ich weiß nur nicht, ob ich das Café finde. Gestern habe ich mich verlaufen, als ich raus gegangen bin.“
    „Kein Problem, wir können dich abholen. Ist kein großer Umweg.“
    Oh Junge, was ist denn plötzlich los? Will sich das Schicksal etwa für das göttliche Trauma von vorhin entschuldigen? Innerlich feier ich eine Party, aber anmerken lassen möchte ich mir das gerade nicht.
    „Also dann bis gleich?“, erkundigt sich Eve nach einem Moment Stille.
    „Oh, ja, klar. Kennst du meine Adresse?“
    „Na hör mal“ Ich kann das Grinsen auf der anderen Seite der Leitung förmlich spüren. „Ich bin Klassensprecherin. Ich weiß alles.“


    Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist schon fast elf… Wie lange war ich denn weg vom Fenster? Gruselig, was die Macht eines Gottes so alles anstellen kann.
    Ich hoffe doch, dass du mich nicht enttäuschst. Alleine, wenn ich mich an diesen Satz erinnere, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Was, wenn ich sie nicht unterhalte? Wird sie mich dann aus der Hölle immer wieder wiederbeleben um mich zu quälen? Sie scheint mir der Typ… Wesen zu sein, der seinen Spaß an so etwas hat. Vielleicht lässt sie mich ja auch eine ewige Strafe absitzen, so wie dieser Sisyphos- Typ, der einen riesigen Stein einen Berg hochschieben muss, es aber nie zur Spitze schafft, weil ein kleinerer Stein den Weg blockiert und die Kugel deswegen immer wieder zurück zum Anfang rollt. Warum probiert er es eigentlich immer wieder? Oder besser, warum räumt er den kleineren Stein nicht weg?
    Mann, die Griechen sind scheinbar echt dumm.
    Ich schüttele den Kopf. Konzentration, Ava. Erst einmal muss ich mich umziehen. Schnell rausche ich zum Kleiderschrank herüber, ziehe wahllos eine Jeans und ein Oberteil heraus und setze mich dann auf mein Bett um die super-skinny-Jeans irgendwie anzuziehen. Das würde sich wohl auch als Strafe gut machen… „Schaffe es, diese Hose anzuziehen, und du bist frei“… Ich ziehe und quetsche und die Nähte spannen sich gefährlich stark, aber irgendwann flutscht sie dann hoch. Glück gehabt, die Hose ist an und hat auch nur da Löcher, wo sie auch sein sollen. Dann noch das marinefarbene Oberteil mit der weißen Schleife am Kragen und fertig. Sicherheitshalber schaue ich nochmal in den Spiegel, aber mein Gesicht sieht so wach und strahlend aus wie auf dem Cover eines Modemagazins. Und das ganz ohne Photoshop. Top.


    Mit gepackter Handtasche stehe ich im Flur und warte. Ich gehe auf und ab, wie ein pubertärer Teenager vor seinem ersten Date. Ja, ich gebs zu. Ich bin nervös. Und ein wenig ängstlich. Klar, der Plan ist simpel, sammle Informationen zu Tyler. Aber wie soll ich das Thema denn ansprechen, ohne, dass es auffällig wird. Diese Schule scheint Gerüchte zu lieben, und wenn sich eines breit macht, das besagt, dass ich auf Tyler stehe, wird die Sache wohl nur weiter unangenehm… Andererseits...Vielleicht würde das Tyler auch kaum stören. Es schien ihn jedenfalls wenig zu kümmern, dass man ihnen vorwarf, auf ihrer alten Schule am laufenden Band Leute erpresst und verprügelt zu haben.
    Trotzdem, ich möchte nicht gleich auffällig werden. Langsam eine Beziehung aufbauen ist wohl die beste Devise.
    Als ich ein Klopfen an der Tür höre, zwinge ich mich dazu, einen Moment zu warten. Dann schlendere ich betont langsam herüber und drücke die Klinke runter.
    Eve steht vor mir, die Apfelbäckchen leicht gerötet. Ihre kurzen, schwarzen Haare wippen ein wenig, sie scheint gerade wegen irgendetwas gelacht zu haben. Neben ihr steht Lisa, die den Mund etwas offen hat und sich beinahe ehrfürchtig umschaut. Zwei weitere Mädchen stehen in der Einfahrt, ein wenig abseits. Beide sind in meiner Klasse, bisher habe ich aber noch nicht mit ihnen gesprochen. Oder zumindest erinnere ich mich nicht dran. Die großgewachsene mit dem hellblonden Dutt müsste Irene heißen, wenn ich mich nicht irre. Zumindest hat unsere Mathelehrerin sie so angesprochen. Die letzte im Bunde ist etwa meine Größe mit wilden, knallroten Locken und Sommersprossen auf der blassen Haut. Als sie sieht, dass ich die Türe geöffnet habe, greift sie Irene am Arm und zieht sie näher zum Eingang.
    „Hallo Ava!“, begrüßt Eve mich.
    „Guten Morgen“, erwidere ich mit einem freundlichen Lächeln. Ich schließe die Tür hinter mir und drehe den Schlüssel im Schloss um. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Lisa beinahe schon enttäuscht aussieht. Vermutlich wollte sie das Haus von innen sehen.
    „Also, wollen wir dann los?“ Eve klopft mir leicht auf die Schulter. „Wollen wir doch mal sehen, wie die Hemsfort so gefällt!“


    Wir sind noch keine zehn Meter gegangen, da fangen die wilden Gespräche auch schon wieder an. Die Rothaarige, die von Lisa mit Charlie angesprochen wird, diskutiert mit Eve darüber, welchen Kuchen sie heute nehmen werden, Irene hat einen resignierenden Gesichtsausdruck aufgesetzt, nachdem sie die beiden zum fünften Mal ermahnt hat, nicht so laut zu sein und Lisa kichert leise.
    „Erdbeerkuchen ist der leckerste!“, behauptet Charlie jetzt schon seit drei Minuten.
    „Sahnekuchen ist besser“, hält Eve schon genau so lange dagegen. Sie werden sich einfach nicht einig, aber weder Lisa, noch Irene oder ich wollen uns einmischen. Wir bleiben ein Stück zurück und unterhalten uns leise.
    „Wie war dein erster Schultag so? Ich habe dich nachher gar nicht mehr gesehen“, spricht Lisa mich an.
    „Ich wollte mich ein wenig auf dem Schulgelände umsehen, deswegen war ich so früh weg“, erklärte ich kurz. Dass ich auf der Suche nach ein meinen Leuchteherz-Kandidaten war kann ich getrost verschweigen.
    „Wir hätten dir auch eine Führung geben können“, klinkt sich Irene ein. Von dem, was ich bisher so mitbekommen habe, ist sie eine eher ruhige und zurückhaltende Person, aber ziemlich fürsorglich. Ich habe wirklich Glück mit meinen Klassenkameraden.
    „Das ist nett, danke. Ich hatte ein wenig Kopfschmerzen, deswegen wollte ich auch gleich Luft schnappen. Die Ruhe hat mir gut getan“, rede ich mich mit einem Engelslächeln heraus. Es ist kein allzu schönes Gefühl, sie so dreist anzulügen, aber mir bleibt kaum etwas anderes übrig.
    „Ja, das kann ich verstehen. So wechselhaft, wie das Wetter im Moment ist, bekommt man leicht Kopfschmerzen“, pflichtet mir Lisa bei.


    Wir unterhalten uns noch den gesamten Weg bis zum Café. Es ist gar nicht so weit bis zur Innenstadt, ich bin scheinbar nur immer wieder falsch abgebogen. Dafür habe ich dieses Mal besonders drauf geachtet, wo es lang geht, damit ich zumindest eine ungefähre Ahnung habe.
    Die Altstadt hat einen schönen, urigen Charme. Dicke Backsteinverkleidungen, Pflastersteine, in deren Ritzen und Nischen kleine Büschel Gras wachsen, ein alter Brunnen, der schon etwas angelaufen ist… Rechts und links von der Fußgängerzone, durch die wir gerade schlendern, sind überall Cafés, Restaurants und kleine Läden. Letztere sind sonntags natürlich geschlossen, aber ein Schaufensterbummel geht immer.
    „Die Innenstadt ist im Vergleich zu deinem früheren Wohnort wahrscheinlich ein Witz, oder?“ Charlie verzieht das Gesicht, als sie hinter einer Scheibe ein grässliches, rosa-grün gepunktetes Kleid sieht. Ich kann es ihr nicht verübeln. „Du kommst doch aus einer größeren Stadt, oder?“
    „Ich finde es hier ehrlich gesagt schöner“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Die Großstadt ist laut und unübersichtlich, hier ist es…“
    „Langweilig“, stößt Eve trocken hervor. Ich muss kurz grinsen. Wenn ich Eve ansehe, erinnert sie mich ein wenig an meine Mutter. Resolut, verantwortungsbewusst und unheimlich ehrgeizig, dabei aber so freundlich und zuckersüß, dass man eigentlich Diabetes bekommen müsste.
    „Ruhig“, korrigiere ich dann. „Und friedlich. Man muss zumindest keine Angst davor haben, ausgeraubt oder von einem Betrunkenen angemacht zu werden.“
    „Sprichst du etwa aus Erfahrung?“ Lisa hebt scheinbar leicht schockiert die Augenbraue hoch, ich schüttele schnell den Kopf.
    „Nein, ich nicht. Aber einigen Bekannten ist so etwas schon passiert.“
    Wir schweigen für eine Weile. Vermutlich war das keine so gute Idee, dieses Thema anzuschneiden. Ich könnte das Thema wechseln, aber wie-
    „Was ist denn dein Lieblingskuchen, Ava?“, springt Charlie mir zur Hilfe. Himmel, dieses Mädchen scheint ihren Kuchen wirklich zu lieben.
    „Ich mag so ziemlich jeden Kuchen“, antworte ich mit einem Schulterzucken. „Meine Haushälterin hat immer einen genialen Mandarinen-Schmand-Kuchen gebacken. Da gabs bei uns zu Hause immer Streit, wer die letzten Stücke haben darf.“ Ich muss etwas grinsen. Hannah und ich hätten uns das eine oder andere Mal beinahe darüber geprügelt…
    „Aber… Ist der Kuchen nicht sehr… fettig? Mit dem Schmand darin, meine ich?“ Lisa mustert mich für einen Moment von oben bis unten. Da begreife ich.
    „Ist doch egal. Ich mache keine Diät, falls du das dachtest.“ Ihr klappt die Kinnlade für einen kurzen Augenblick herunter.
    „Bitte was?“, fragt auch Eve. Sie sieht ganz und gar nicht überzeugt aus.
    „Diäten sind doch Blödsinn. Ich will gar nicht dünn wie ein Ast sein“, stoße ich aus. „Und abgesehen davon gibt es so viele leckere Sachen auf der Welt. Solange man es nicht übertreibt, ist doch alles gut.“
    „Du meinst, solange man essen kann wie ein Scheunendrescher und keinen Gramm zunimmt, hat man Glück“, grummelt Lisa und starrt ganz offen auf meinen flachen Bauch, der unter dem hautengen Shirt noch dünner wirkt als ohnehin schon.
    „Gelobet seien die Gene.“ Ich muss schief grinsen, als ich das sage. Ja. Die Gene. Und die Magie einer beautysüchtigen Göttin.


    Wir setzen uns draußen unter einen großen, dunkelroten Schirm. Eine leichte Brise sorgt für etwas Abkühlung, denn die Sonne heizt die Luft ziemlich stark auf. Ich krempele mir die Ärmel hoch und fächere mir mit der Speisekarte ein wenig Luft zu. Wir waren noch auf unsere Bestellung, die wohl aber etwas dauern kann. Das Café ist ziemlich voll, die Innenstadt brummt an diesem sonnigen Tag. Es ist geschäftig, aber gleichzeitig merkwürdig entspannt. So etwas sieht man in der Großstadt nicht, wo alle immer nur von Ort zu Ort hetzen. Ich werde diesen Ort mögen, denke ich.
    „Wir können dich später auch noch etwas herumführen, wenn du möchtest“, spricht Eve mich irgendwann an. „Nicht, dass du dich wieder verirrst.“
    „Du hast dich verirrt?“, Charlie grinst schelmisch. „Und das von jemandem, der sich in einer Großstadt zurechtfinden musste. Dagegen ist unsere Stadt doch eigentlich übersichtlich.“
    „Nicht, wenn du ohne einen großen Plan losläufst“, gebe ich mit einem schiefen Grinsen zu. „Ich weiß selbst nicht genau, was in mich gefahren ist. Ich hab mich irgendwann einfach am anderen Ende der Stadt wiedergefunden und wusste nicht, wie ich dahin gekommen bin.“
    Oh, danke Eve, dass du dieses Thema ansprichst. Jetzt kann ich es ganz einfach zu Tyler lenken. Es muss mich nur noch jemand fragen, wie-
    „ Und wie bist du wieder nach Hause gekommen?“, fragt Irene mich ernsthaft besorgt. Jackpot. Das Schicksal will wohl wirklich Ausgleich betreiben.
    „Oh, ich bin in einem Park gelandet und da bin ich Tyler begegnet.“
    „Tyler?“, fragt Lisa überrascht. „Tyler Preston?“
    „Ja, ich denke schon. Ich wusste gar nicht, wie er mit Nachnamen heißt.“ Glatte Lüge.
    Lisa schaut mich für einen Moment mit einem intensiven Blick an, Irene und Charlie tauschen einen aus, Eve ist schließlich diejenige, die wieder das Wort ergreift.
    „Und er hat dir gesagt, wie du nach Hause kommst?“
    „Nicht ganz“, antworte ich. Ich will zur einer Erklärung ansetzen, da taucht die Kellnerin auf und stellt unsere Getränke und Kuchen ab, zusammen mit einer hastigen Entschuldigung für die lange Wartezeit. Als sie weg ist, starren mich die Mädchen intensiv an.
    „Er hat mich nach Hause gebracht“, beende ich meinen Satz. Für einen Moment reagieren sie gar nicht erst. Dann, in Unisono, ein vereintes, lautes „Er hat was?!“. Ich zucke zurück und blinzle wild. Schon klar, die Gerüchte sagen, dass er ein brutaler Mistkerl ist, aber ihm nicht mal einen Hauch Menschlichkeit zuzusprechen ist doch etwas hart.
    „Ich fass es nicht“, murmelt Lisa. Sie hat eine Schnute gezogen. Richtig, sie war ja auch diejenige, die Tyler und Seth cool fand. Ist sie etwa eifersüchtig?
    „Hätte ich echt nicht von ihm gedacht“, meint Charlie schlechthin. Sie scheint es aber erstaunlich schnell zu akzeptieren. Irene dagegen legt zweifelnd den Kopf schief und auch Eve scheint nicht wirklich überzeugt zu sein.
    „Ihr mögt sie wirklich nicht, oder?“, frage ich in die Runde. Es macht mich etwas ärgerlich, dass sie so reagieren. Sicher, Tyler und Seth sind nicht die freundlichsten Zeitgenossen. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Aber sie scheinen vollkommen auf die Gerüchte zu vertrauen.
    „Das hat nichts mit mögen und nicht mögen zu tun“, stellt Eve eilig klar. „Wir hatten alle noch recht wenig mit ihnen zu tun. Es ist nur so…“
    „Sie sind immer zusammen unterwegs, reden mit anderen nur dann, wenn sie unbedingt müssen, schwänzen immer wieder den Unterricht und haben die schärfsten Zungen, die ich in meinem Leben erlebt habe“, zählt Charlie auf. Ihr Blick haftet dabei auf dem Stück Erdbeertorte, das wirklich verdammt gut aussieht. „Ich glaube nicht an die Gerüchte, aber sie sind komplett unnahbar und stoßen alle weg, die ihnen zu nahe kommen. Sie sehen alle anderen scheinbar als nervig oder umständlich.“ Der letzte Satz geht in einem Happen Kuchen unter, ist aber gerade noch so verständlich.
    „So ist er mir gar nicht vorgekommen“, stoße ich kleinlaut aus. Charlie ist nicht der Typ Person, der andere schlecht redet. Und ich kann nicht behaupten, dass ihre Aussage nicht zu den Zwillingen passen würde. Seth hat mich ja auch angefahren, als wir uns im Garten begegnet sind, obwohl er eigentlich keinen Grund dazu hatte. Sie haben sich mir erst geöffnet, als ich bewiesen habe, dass ich auch zurückschlagen kann. Ist es das? Habe ich damit ihren Respekt bekommen?
    Andererseits… Den merkwürdigen Blick von Seth, als Tyler sich von mir verabschiedet hat, habe ich nicht vergessen. Seltsam kritisch. Unzufrieden.
    „Vielleicht ist es der Schönheitsbonus“, grinst Eve.
    „Glaube ich kaum“, ich lächle schief. „Seth hat mich als Modepüppchen bezeichnet.“
    „Dann wohl doch kein Schönheitsbonus.“
    Wir bleiben für eine Weile stumm. In meinem Kopf laufen die Gedanken Amok. Wehe, jemand wechselt jetzt das Thema. Ich brauche Informationen. Neue Informationen. Zeit, etwas zu wagen.
    „Tyler kann kein allzu schlechter Mensch sein“, rede ich unvermittelt in die Stille hinein. „Als er mir begegnet ist, hat er seinen Hund Gassi geführt.“
    „Das ändert natürlich alles“, grinst Charlie. Ich muss etwas lachen.
    „Nein, ernsthaft. Er war sogar ziemlich freundlich zu mir.“
    „Vielleicht ist er einer dieser Mensch, die, wenn sie alleine mit einem sind, doch ziemlich nett sind“, murmelt Lisa in ihre Tasse. Gut möglich.
    „Naja… Ich weiß ja auch nicht viel über ihn“, sage ich schulterzuckend in der Hoffnung, das irgendjemand drauf anspringt.
    „Du meinst abgesehen von den Gerüchten?“, lacht Eve.
    „Sie sind schon etwas länger an unserer Schule, oder?“ Irene schaut in ihre Tasse, die schon fast wieder leer ist.
    „Drei Jahre, glaube ich. Oder vier?“ Eve schaut Lisa fragend an. Ich habe mir schon gedacht, dass es Lisa ist, die die Informationen hat. Sie scheint sich auch für die Zwillinge zu interessieren. Sie wird eine verdammt gute Quelle sein…
    „Vier müssten es sein. Mein Bruder ist mit ihnen in einer Klasse, er hat mir erzählt, dass sie wohl die Söhne eines Investment Bankers sind. Ihre Mutter arbeitet glaube ich in der nächsten Stadt… Irgendetwas im kreativen Bereich, glaube ich, bin mir aber nicht sicher.“
    Gut, das bringt mir nicht wirklich viel. Ich will immerhin nicht die Herzen ihrer Eltern zum Leuchten bringen…
    Lisa bemerkt meinen drängenden Blick und muss etwas grinsen.
    „So interessiert?“
    „Oh, naja. Ich schulde ihm noch etwas“, sage ich möglichst ruhig und beiläufig. „Und er hat noch meinen… besser gesagt den Schirm von meiner Mum, den brauche ich wieder, bevor sie merkt, dass er weg ist. Ich weiß nur nicht, wo ich ihm in der Schule begegnen könnte.“ Genial, Ava. Innerlich klopfe ich mir selbst auf die Schulter.
    „Soweit ich weiß, sind sie meist entweder in den Gärten hinten bei der Laufbahn oder hinter dem Chemietrakt“, stößt Eve aus. „Ich weiß, dass es die Leute der Bio-AG immer gestört hat, dass sie sich dort herumtreiben, weil sie dachten, die beiden machen da etwas kaputt.“
    „Und hinter dem Chemietrakt war für eine ganze Weile die Raucherecke, deswegen soll dort eigentlich keiner mehr hin“, erklärt Irene.
    „Die ganzen verbotenen Plätze also“, murmele ich. „Fast so, als wollen sie Ärger bekommen.“
    Ich weiß, dass es das nicht ist. Tyler und Seth haben im Garten nichts kaputt gemacht und schienen auch nur dort zu sein, weil es schattig und ruhig war. Dann wird es bei der Chemieecke wohl genau das Gleiche sein. So wollen sich scheinbar wirklich von den anderen abgrenzen.
    Das macht es mir alles andere als einfach.
    „Du solltest langsam mal deinen Kuchen essen“, spricht mich Eve an.
    „Es sei denn, du willst ihn nicht mehr!“, stößt Charlie schnell aus. Sie beugt sich schon über den Tisch um nach meinem Teller zu greifen. „Dann nehme ich ihn auch gerne!“
    Schnell ziehe ich den Teller aus Griffweite. „Vergiss es, Charlie. Der gehört mir!“


    Die Mädchen führten mich gefühlt den halben Tag durch Hemsfort. Wir gingen an den Strand, wo wir kurz unsere Füße im Meer abkühlten, besuchten die Bibliothek, für den Fall, dass ich mal Bücher für ein Projekt oder ein Referat haben müsste, die Polizeistation und die wichtigsten Ärzte (Irene bestand darauf, immerhin müsste ich wissen, wohin ich gehen muss, wenn etwas passiert), die Supermärkte, ein kleines Einkaufszentrum, in dem heute alle Läden geschlossen waren, Bäckereien, Restaurants, die ich unbedingt ausprobieren musste… Es war schon sechs, als sie mich endlich vor meiner Haustür abluden. Ich verabschiedete mich freundlich winkend, aber innerlich war ich halb tot. Meine Füße taten weh, mein Kopf dröhnte vor lauter Informationen und der Gedanke, dass ich morgen früh aufstehen musste, um zur Schule zu gehen, machte das alles auch nicht besser.
    Aphrodite war noch nicht zu Hause. Ich hätte kochen können, aber ich war einfach zu müde um Hunger zu haben. Stattdessen schmiss ich alle meine Klamotten wahllos auf den Boden, streifte das Nachthemd über und ließ mich einfach ins Bett fallen. Nicht einmal die Zähne habe ich geputzt…


    Jetzt gerade ist es Montagmorgen und meine Füße tun mir immer noch fürchterlich weh. Mir graut es schon davor, den Hügel hochzugehen… Das wird alles andere als angenehm werden. Aphrodite hat sich noch nicht blicken lassen, vermutlich schläft sie heute länger. Soll mir recht sein, für mich alleine recht auch eine Schüssel Müsli, das in einem der Hängeschränke gefunden habe. Ich sitze am Küchentisch wie ein Schluck Wasser in der Kurve und schaufle Haferflocken in mich hinein. Draußen strahlt schon wieder die Sonne, dieses Mal aber gedämpft durch einige dicke Zuckerwattewolken. Als mein Handywecker klingelt, den ich mir gestellt habe, weil ich befürchtet habe, dass ich eventuell wieder einschlafe, stehe ich auf, stelle meine Schüssel in die Spüle, greife meine große Handtasche, die Platz für einen halben Kleiderschrank bietet, eine dünne Jacke und schlüpfe in meine Turnschuhe, von denen Aphrodite so gnädig war, welche erscheinen zu lassen. Ich schaue noch einmal die Treppe hoch, aber ihre Zimmertür ist noch immer geschlossen. Die blöde Kuh kann ja auch lange schlafen…
    Grummelnd öffne ich die Haustür und ziehe sie fester als nötig ins Schloss.


    Der Aufstieg zur Schule ist mal wieder eine Qual. Auf halbem Wege begegnet mir aber Charlie, die mich mit ihrem Gequasele etwas von den Schmerzen in meinen Füßen ablenkt. Kurz daraufhin kommen auch Lisa und Irene dazu und unsere kleine Runde steuert munter plaudernd das Klassenzimmer an. Eve ist schon da und begrüßt mich mit einem ehrlichen Lächeln.
    „Und, wie fühlst du dich?“
    „Müde. Und meine Beine sterben ab“, entgegne ich mit einem schiefen Grinsen.
    „Dann haben wir ja alles richtig gemacht“, meint Charlie und boxt mir spielerisch in die Seite. Dennis und Joshua klinken sich ein und lachen lauthals, als Eve ihnen die Route erklärt, die wir gegangen sind.
    „Wolltet ihr sie umbringen oder was?“, stößt Joshua zwischen zwei Lachern aus. Bevor wir groß weiter reden können, stampft auch schon unsere Erdkunde-Lehrerin herein und herrscht uns an, dass wir uns gefälligst setzen sollen. Ich platziere mich neben Emil, der schweigsam ist wie immer.


    Drei Schulstunden vergehen, dann ist endlich Pause. Zeit, meinen Plan in die Tat umzusetzen.
    Welcher Plan? Operation Tyler natürlich.
    Noch während die Glocke läutet springe ich auf und verlasse eilig die Klasse. Eve ruft mir hinterher, wohin ich denn so schnell will, meine Antwort ist ein eiliges „Regenschirm“, dann bin ich verschwunden. Die Treppe herunter, zwei Mal rechts, dann noch eine Treppe. Ich verlasse das Schulgebäude als eine der ersten und steuer sofort auf die große Rasenfläche vor mir zu. Ich verlangsamere meinen Gang etwas. Ich wollte nur aus der Schule heraus, bevor mich jemand in ein Gespräch verwickeln konnte, denn dann würde ich es in dieser Pause sicherlich nicht zum Garten schaffen. Ich muss etwas suchen, bis ich das Tor wiederfinde, denn es ist dicht mit Efeu bewachsen. Es quietscht etwas, als ich es öffne und hereintrete.
    Sofort umfängt mich wieder die angenehme Kühle. Über den Mittag hinweg ist es wieder etwas schwüler geworden und damit auch schwerer zu atmen. Aber hier im Garten fehlt diese drückende Wärme und ich kann endlich wieder tief Luft holen.
    Langsam schlendere ich zum kleinen Teich, wo ich am Freitag mit den Zwillingen saß. Keine Spur von ihnen. Es gibt anscheinend wirklich nur zwei Orte, an denen sie sich während der Pause aufhalten. Wenn ich Glück habe, entscheiden sie sich heute für diesen. Hinter den Chemietrakt möchte ich nicht gehen, denn wie sollte ich diese zufällige Begegnung erklären? Ich würde sicher nicht sagen, dass ich wegen eines Schirms nach ihm suche. Schließlich war ich diejenige, die ihn ihm geliehen hat. Lieber möchte ich, dass es aussieht wie ein zufälliges Treffen. Und hier war ich schon einmal. Ich kann sagen, dass mir die Hitze zu viel geworden ist.
    Ich werfe einen Blick auf mein Handydisplay. Noch eine halbe Stunde Pause. Insgeheim bete ich ein wenig dafür, dass sie auftauchen.


    Eine Viertelstunde noch. Langsam geht mir die Hoffnung aus. Aber es ist doch nicht so schlimm. Ich habe noch 60 Tage Zeit. Ein Tag mehr oder weniger wird da schon nicht so dramatisch sein… Oder?
    Nervös klopfe ich auf dem Display herum. Vermutlich sind sie dieses Mal wirklich hinter dem Trakt… Dann habe ich wohl Pech gehabt, hm?
    „Na sieh mal einer an.“
    Mein Herz macht einen Hüpfer, als ich die spöttische Stimme hinter mir höre. Ich drehe mich um und sehe die Zwillinge, Seth hat die Arme vor der Brust verschränkt und schaut schon beinahe genervt drein, während Tyler mir ein kurzes Lächeln schenkt, dann wieder neutral schaut.
    „Nicht einmal hier hat man seine Ruhe“, grummelt Seth, aber er scheint nicht wirklich wütend zu sein.
    „Wusste nicht, dass euch der Garten gehört“, gebe ich zurück und mache keine Anstalten, mich zu bewegen.
    Tyler lacht leise und die Zwillinge bewegen sich wieder zum See. Seth lässt sich neben mich fallen, mit genug Abstand um deutlich zu sagen, dass wir nicht zusammengehören. Er nickt Tyler zu, das er sich links neben ihn setzen soll. Die beiden tauschen kurz einen Blick, dann setzt sich auch Tyler. Ich weiß nicht, was dieser Blick bedeuten sollte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Seth ihm eine Botschaft übermittelt hat.
    „Also, was macht das Modepüppchen schon wieder hier?“, beginnt Seth nach ein paar Momenten Schweigen.
    „Ich genieße die Aussicht“, gebe ich trocken zurück und deute auf den veralgten See vor mir. „Hab selten so schöne Natur gesehen.“
    Seth lacht bellend und ich sehe Tyler grinsen.
    „Das Wetter bekommt mir nicht“, antworte ich dann ehrlich. „Ich brauchte etwas Schatten und Kühle, sonst sagt mein Körper ‚leck mich doch‘ und macht einen auf Notabschaltung.“
    „Bist ganz schön empfindlich“, erwidert Seth, aber es liegt keine Schärfe in seiner Stimme.
    „Passiert hin und wieder.“
    „Bist du schon mal damit zum Arzt gegangen?“, schaltet sich Tyler ein. Er hat sich vorgebeugt, um an Seth vorbei zu mir herüberschauen zu können. „Kann doch nicht gut sein, dass du so darauf reagierst.“
    „Ja, mehr als einmal. Die sagen alle, ich wäre unterzuckert, aber noch mehr Süßkram kann ich schon gar nicht in mich hineinstopfen.“ Ich schneide eine alberne Grimasse.
    Wir schweigen für einen Moment. Ein Blick auf mein Display verrät mir, dass ich nicht mehr allzu viel Zeit habe. Ich muss irgendwie dafür sorgen, dass ich ihnen so oft wie möglich begegne. Langsam eine Beziehung aufbauen…
    Ah. Der Schirm.
    „Bist du noch trocken nach Hause gekommen, Tyler?“, frage ich in die Stille hinein. Ich rutsche unauffällig etwas weiter nach vorne, denn Seth sitzt zwischen uns wie ein kleiner Sichtschild. Tyler schaut mich für einen Moment überrascht an, da wendet sich Seth schon ruckartig in meine Richtung.
    „Was meinst du?“, fragt er merkwürdig drängend.
    „Tyler und ich sind uns am Samstag begegnet“, sage ich, ohne mir wirklich etwas dabei zu denken. Aber als ich sehe, wie die Zwillinge plötzlich intensive Blicke tauschen, bin ich mir fast sicher, etwas Falsches gesagt zu haben. Für eine Weile tragen sie ihr Blickduell aus und ich sehe, wie Seth ärgerlich das Gesicht verzieht. Oh oh.
    „Ihr habt einen süßen Hund!“, stoße ich wenig geistreich aus. Seth dreht sich wieder zu mir um.
    „Du hast Hibiki gesehen?“
    „Wir sind uns begegnet, als ich mit ihm spazieren war. Sie hatte sich verlaufen“, erklärt Tyler seinem Bruder und schaut ihm eindringlich in die Augen. Der Ärger weicht etwas aus Seths Gesicht, ist aber immer noch präsent. Ich weiß nicht warum, aber die Stimmung ist angespannt. Hätte ich das nicht sagen dürfen? Aber warum? Was ist denn so schlimm daran, dass ich ihn gesehen habe?
    Seth grummelt etwas Unverständliches.
    „Der Regenschirm hat auf jeden Fall geholfen“, wendet sich Tyler dann wieder an mich. Er lächelt merkwürdig freudlos. „Den muss ich dir auch mal zurückgeben…“
    „Ach, stimmt.“ Ich tue so, als ob ich etwas nachdenken müsste. Das ist die Gelegenheit. „Wie wärs, wenn wir uns morgen wieder hier treffen und du bringst in vorbei?“
    „Oder wir bringen ihn dir morgen vor dem Unterricht“, schaltet sich Seth ein. Er mustert mich von oben bis unten und für einen kurzen Moment sehe ich wieder diesen gefährlichen Ausdruck in seinen Augen. Genauso wie damals, als wir ineinander gerannt sind. Als hätte ich ihm irgendetwas getan.
    „Macht euch keine Umstände!“, stoße ich schnell aus und versuche, nicht auf ihn zu achten. Sein fast schon giftiger Blick, als ich das sage, jagt mir einen Schauer über den Rücken. „In der Pause reicht vollkommen.“
    „Ja, das machen wir“, bestätigt Tyler schnell, bevor ein Wort aus Seths Mund kommen kann. Der wendet sich mit einem scharfen Blick an seinen Zwilling. Die Stimmung ist angespannt. Und ich verstehe die Welt nicht mehr. Was habe ich getan, um Seth so zu verärgern? Egal was es ist, es ist für mich nur vom Nachteil. Die beiden sind beinahe immer zusammen. Wenn Seth mich nicht mag, wie soll ich dann an Tyler herankommen?
    Sie stoßen alle weg, die ihnen zu nahe kommen. Ist es das?


    Von weit her höre ich die Schulglocke. Die Pause ist vorbei. Plötzlich habe ich es eilig, den Garten zu verlassen. Ich möchte nicht weiter von diesen giftigen Blicken durchbohrt werden.
    „ Ich muss zum Unterricht“, murmele ich vor mich hin, greife mir meine Tasche und mein Handy und verabschiede mich kurz und bündig.
    „Bis morgen dann, Ava“, stößt Tyler aus, von Seth ernte ich nur einen vernichtenden Blick. Ich nicke und schlucke gleichzeitig, dann stürme ich schon fast aus dem Garten heraus.
    Den Rest des Unterrichts kann ich mich kaum konzentrieren. Was soll ich denn jetzt tun? Wenn Seth mich wirklich wegstoßen will, wie Charlie es gesagt hat, gibt es für mich kaum eine Möglichkeit an Tyler heranzukommen. Und wenn ich das nicht schaffe, kann ich sein Herz nicht zum Leuchten bringen. Dann verliere ich die Wette und-
    „Ava?“
    Irene sitzt in Chemie neben mir. Sie schaut mich besorgt an.
    „Du bist ganz blass. Ich alles okay mit dir?“
    Ich nicke wortlos. Nein, nichts ist okay. Ich habe ein großes Problem. Ein Gigantisches.
    Ich reibe mir über die Schläfen. Mein Kopf bringt mich um. Er pocht und schmerzt und jeder Gedanke dreht sich im Kreis. Verdammt nochmal.
    „Ava, möchtest du mal rausgehen? Die Luft hier drin ist wirklich stickig?“
    Ich murmele eine undeutliches nein, aber Irene scheint es als Ja aufzufassen. Als der Lehrer an unserem Tisch vorbeischlendert spricht sie ihn leise an. Er fragt mich etwas, aber ich reagiere kaum. Es muss doch eine Lösung geben…
    Irene zieht mich von meinem Stuhl herunter, raus aus dem Klassenraum und durch die Tür zum Pausenhof. Ich merke davon kaum etwas. Das Wetter, der Stress, die Müdigkeit… Vielleicht auch ein wenig die Tatsache, dass ich tot bin, alles belastet meinen Körper. Ich kann nicht richtig denken. Wenn ich Pech habe, dann sagt er mir gleich wirklich ‚leck mich doch‘…
    Irene bleibt die ganze Zeit neben mir. Sie reicht mir eine Flasche Wasser, die ich gehorsam leere. Ich lehne mich gegen die Wand und lege den Kopf in den Nacken.
    „Hast du noch mehr Durst?“ Ich nicke schwach. „Warte kurz hier.“ Mit diesen Worten ist sie auch schon verschwunden. Danke Irene, denke ich. Danke, dass du dich so sehr um mich kümmerst. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich in diese Klasse gekommen bin. Alle sind so nett und hilfsbereit. Ich würde gerne weiter mit ihnen zur Schule gehen. Nicht nur diese 60 Tage. Aber so, wie es im Moment aussieht, bleibt das wohl ein Wunschtraum.


    „Weswegen bist du wütend?“
    Die Stimme ist gar nicht so weit entfernt. Ich hatte für einen Moment die Augen geschlossen, öffne sie aber sofort, als ich die Stimme höre. Weil ich sie kenne.
    Langsam bewege ich mich auf die Quelle zu.
    „Ich bin nicht wütend.“
    Direkt um die Ecke müssten sie stehen. Ich wage nicht, nachzusehen. Mit etwas Pech sehen sie mich. Ich weiß, es ist falsch, sie zu belauschen. Aber wenn das die einzige Möglichkeit ist, etwas herauszufinden…
    „Ob bitte, Seth. Verarsch mich doch nicht!“
    Seth schweigt für einen Moment. Bitte, spuck es schon aus. Vielleicht verrät er mir, was ich falsch gemacht habe…
    „Warum hast du sie nach Hause gebracht?“
    „Bitte was?“
    „Warum hast du ihr nicht einfach gesagt, wo sie lang muss?“
    „Sie wohnt seit nicht einmal einer Woche hier. Glaubst du echt, dass sie es alleine quer durch die Stadt geschafft hätte?“
    „Dann hätte sie jemand anderen fragen können.“
    Stille.
    Ist Seth… eifersüchtig? Ist es das? Er hört sich an wie ein quengeliges, pubertierendes Mädchen.
    „Was hast du gegen sie, Seth?“
    „Du meinst abgesehen davon, dass sie mich nervt?“
    „Lüg mich nicht an.“
    Wieder Stille.
    „Magst du sie? Hast du sie deswegen nach Hause gebracht?“
    „Erzähl doch keinen Unsinn.“
    Ouch.
    „Sie hat sich verirrt, es war beschissenes Wetter und sie wusste nicht weiter. Hätte ich sie einfach da sitzen lassen sollen?“
    „… Nein.“
    „Na also.“
    „Aber warum musstest du sie für morgen in den Garten einladen? Das war immer unser Platz. Ich habe keine Lust darauf, dass sie sich da jetzt einnistet.“
    „Was ist daran denn so schlimm? Gib‘s doch zu, du hattest Spaß mit ihr zu reden.“
    Genau, gibs ihm Tyler! Ich bin überhaupt nicht nervig. Zumindest nicht extrem.
    „Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, hin und wieder mit jemand anderem zu reden.“
    Seth schweigt.
    „Vielleicht“, presst er nach einer Weile widerwillig hervor. Zufrieden ist er aber ganz offensichtlich nicht.
    „Wir müssen zurück in den Unterricht“, sagt Tyler irgendwann. Ich höre nichts mehr, nur noch das Rascheln von Schritten im Gras. Als ich sicher bin, dass sie weg sind, bewege ich mich wieder zurück zur Position, an der Irene mich abgestellt hat.


    Eifersüchtig. Seth ist tatsächlich eifersüchtig auf mich. Es macht Sinn… Von seinem Standpunkt aus zumindest. Sie haben ja nur einander, mit den anderen kommen sie kaum zurecht. Wenn Tyler plötzlich neue Freunde hat, wird er auch Zeit mit ihnen verbringen wollen. Und dann ist Seth alleine…
    Es ist seltsam, aber ich kann ihn verstehen. Immer, wenn Hannah mir von ihren tollen neuen Freunden hier erzählte, konnte ich nicht anders, als etwas wütend zu sein. Wütend, dass es bei mir nicht so gut lief. Dass ich niemanden hatte, mit dem ich stundenlang reden konnte, dem ich alles anvertrauen konnte… Hannah war ja weg. Seth muss sich ähnlich fühlen. Und dann sind die beiden auch noch Zwillinge, die sich niemals voneinander trennen.
    „Entschuldige bitte!“ Irene kommt mit leicht rotem Gesicht angerannt. Sie hält eine Flasche Wasser in den Händen, die sie mir reicht. „Geht es dir schon etwas besser?“
    Ich nicke und zwinge mich zu einem tapferen Lächeln. Mit einigen Schlücken leere ich die Flasche und bedanke mich bei Irene. Nebeneinander gehen wir zurück zum Unterricht.


    Es tut mir Leid, Seth. Aber ich kann keine Rücksicht auf die nehmen. Mein Leben steht auf dem Spiel. Wenn das alles vorbei ist, dann wirst du dich vermutlich sowieso nicht daran erinnern.
    Tyler ist der, der zählt.
    Entschuldige.




    Benachrichtigung an:
    @Molnija, @Obelisk, @raspberry


    Rekommentare kommen, sobald ich aus dem Urlaub zurück bin. Wollte vorher aber unbedingt noch ein Kapitel raushausen. Temposchreiben und deswegen auch "nur" 14 Wordseiten Text. Enjoy!

  • Tyler Route



    Chapter 3: Astray in the tempest




    „Ein eifersüchtiger Zwilling?“
    Ich nicke. Meinen Frust lasse ich an den schlabbrigen Nudeln auf meinem Teller aus, die durch die ganzen Gabelstiche mehr eine Masse aus gelbem Teig sind als alles andere. Aphrodite salzt sich ihre Portion noch etwas nach, den Blick an die Decke gerichtet und einen Finger auf ihre Lippen gelegt. Ich habe sie nach Rat gefragt. Ich wollte eigentlich gar nicht, denn ich weiß, dass sie mir deswegen einige Punkte abziehen wird. Meine Adoptivgöttin hat schon eine Tabelle angefertigt, wie ich mir Belohnungspunkte verdienen kann, die ich dann gegen Prämien einlöse. Eine merkwürdige Art, unsere Zwecksgemeinschaft zu erklären…
    „Es ist eigentlich recht einfach. Bring sie auseinander.“
    Ich hebe eine Augenbraue und schaue sie mit einem zweifelnden Blick an.
    „Ist das dein Ernst?“ Meine Hände fahren durch die goldenen Haarsträhnen, die mir ins Gesicht fallen, und streichen sie hinter die Ohren. „Ich hab dir doch gesagt, dass die beiden verschworener sind als die verdammten Tempelritter. Wie stellst du dir das vor?“
    „Bring sie gegeneinander auf.“ Aphrodite zuckt gleichgültig mit den Schultern. Sie sieht durch und durch gleichgültig aus. „Für jemanden mit deinem Aussehen sollte das eine verdammt leichte Übung sein.“
    „Aber das kann ich doch nicht tun“, stoße ich halbherzig aus. Ich möchte, dass ich genau das glaube. Dass ich niemanden auseinander bringen kann, nur, damit ich mein eigenes Ziel erreiche. Dass ich nicht so egoistisch bin, so selbstsüchtig. Aber ich würde mich nur selbst anlügen. Denn die Wahrheit ist, dass ich zu genau dem gleichen Ergebnis gekommen bin. Den ganzen restlichen Schultag habe ich versucht, eine Lösung zu finden. Ich hab kaum mehr wahrgenommen, was überhaupt um mich herum passiert. Im Grunde ist es ja auch völlig egal. Das einzige, das für mich aktuell zählt, ist die Wette. Und das ist beängstigend.
    Deswegen habe ich Aphrodite wohl auch um Rat gefragt. Weil ich gehofft habe, dass sie einen anderen Weg kennt. Tut sie aber nicht.
    Ich fühle mich grauenhaft.
    „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.“ Aphrodite zuckt nur mit den Schultern und schaufelt sich eine Ladung Salz mit Nudeln in den Mund. Ich stoße ein Seufzen aus und schaue aus dem Fenster. Es wird langsam Abend und die Sonne verschwindet zwischen den verwischten Wolken. Ich kann einen Streifen Meer sehen, der einfach nur vor sich hin glitzert. Plötzlich kommt mir die Luft im Haus fürchterlich stickig vor.
    „Aber das hier ist weder Krieg noch Liebe“, murmele ich. Ich lasse die Gabel klappernd auf meinen Teller fallen. Der Appetit ist mir sowieso vergangen.
    „Ich gebe dir einen Rat, Schätzchen, und der ist sogar frei Haus.“ Aphrodite richtet ihre Gabel auf mich und kneift ihre Augen ein wenig zusammen. „Mitleid kannst du dir nicht erlauben. Jedes intelligente Lebewesen weiß, dass jeder für sich selbst kämpfen muss.“
    „Du musst es ja wissen“, stoße ich leise aus. Mein Stuhl kratzt über den Holzboden als ich aufstehe, meinen Teller nehme und ihn in die Spüle stelle. Mir ist gerade nicht nach abspülen. Stattdessen drehe ich mich in Richtung Flur und nehme mir meine Jacke.
    „Mir soll es egal sein, was du tust. Aber du hast nach Rat gefragt und ich habe ihn dir gegeben.“
    Der leichtfertige Unterton in ihrer Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken. Ich vermeide es, sie anzuschauen, als ich durch die Küche ins Wohnzimmer gebe und dort die Tür zur Terrasse öffne. Wie bin ich auf die Idee gekommen, ausgerechnet von ihr so etwas wie Verständnis zu erwarten?


    Die salzige Meerluft klärt meinen Kopf etwas. Ich schlendere zur Klippe und setze mich, ziehe die Knie an und schlinge die Arme um sie. Es ist kälter geworden, als ich gedacht hatte, aber komischerweise stört mich das nicht. Ich starre in Richtung Horizont und verharre in meiner Position. Meine Gedanken lasse ich treiben, aber um ehrlich zu sein habe ich gar nicht das Gefühl, dass ich irgendetwas denke. Ich brauche einfach ein wenig Zeit für mich. Zeit, mir einen Plan zu machen, mit dem ich zu Recht komme. Oder mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als Tyler und Seth auseinander zu bringen.
    Auf dem Papier hört sich alles ganz einfach an. Seth und Tyler gegeneinander aufwiegeln, Tyler dazu bekommen, mir zu vertrauen, sein Problem herausfinden, es lösen. Bum, Wette gewonnen. Aber wie soll ich sie gegeneinander aufbringen? Sie vertrauen doch niemand anderem.
    Ich reiße etwas Gras aus dem Boden neben mir und halte mir einen der Halme vor das Gesicht.
    Wie bringt man Menschen auseinander? Räumlich trennen geht schlecht, sie wohnen immerhin in einem Haus. Gerüchte finden die beiden eher lustig als alles andere. Tyler sagen, dass Seth böse zu mir ist? Ja sicher.


    Ein starker Windhauch wirft mich fast um. Mit ihm kommt das leise Geräusch von Wellen, die gegen die Klippen krachen. Ich schließe die Augen und höre einfach zu.
    Vielleicht hat es keinen Sinn, heute weiter darüber nachzudenken. Die besten Ideen kommen einem sowieso erst dann, wenn man sie nicht sucht. Ich muss aufhören, mir Stress zu machen.
    Sonst platzt mir noch eine Ader.
    Als hätte ich Angst, dass dieser Gedanke meine Besucherin von gestern heraufbeschwört hat, drehe ich mich um. Ich sehe die weite Wiese, die beiden Bäume, die mitten darin stehen, und unser Haus. Von einer totenbeschwörenden Göttin keine Spur. Zum Glück.
    Ah, ich bin müde. Ich lasse mich ins weiche Gras fallen und schaue in den Himmel hoch, wo die Wolken langsam vorbeiziehen. Ich sehe die ersten Sterne auf dem dunklen Grund, zwei Flugzeuge. Wo die wohl gerade hinfliegen? Vielleicht in die Karibik? Da wäre ich jetzt auch gerne.


    Aphrodite ist am nächsten Morgen schon wieder weg, noch bevor ich in der Küche aufschlage. Ein kleiner, pinkfarbener Post-It verkündet mir einen Guten Morgen und endet mit einem „Heute habe ich Lust auf Lachs zum Abendessen“. Ich reiße ihn vom Kühlschrank und zerknülle ihn in eine kleine Kugel.
    Sich keine Gedanken zu machen ist einfacher gesagt als getan.
    Ich strecke mich und höre, wie meine Gelenke knacken. Heute gibt Tyler mir den Regenschirm zurück. Was danach kommt… Mir wird schon etwas einfallen. Vielleicht ändert sich heute auch alles. Vielleicht hat Seth eingesehen, dass ich nicht die Staatsfeindin Nummer eins bin. Und vielleicht wachsen mir Flügel und ich bekomme einen Zauberstab, mit dem ich alle meine Probleme in Luft auflösen kann.
    Mein Blick fällt auf einen Kuchen, als ich die Kühlschranktür öffne. Stimme, Aphrodite hatte ihn aus dem Café mitgebracht, aber vermutlich ist er ihr nicht salzig genug.
    Eigentlich weiß ich ja, dass Frustessen blöd ist, aber… Scheiß drauf. Das hab ich mir verdient.
    Mit zwei großen Stücken Kirschkuchen setze ich mich an den Esstisch und schaue aus dem Fenster. Der Himmel ist wolkenbedeckt und die Sonne versucht vergeblich, sich durch die graue Masse durchzukämpfen. Aber zumindest nach Regen sieht es nicht aus.


    Charlie und Irene laufen nebeneinander den Berg hoch zur Schule hoch. Ich beschleunige meine Schritte ein wenig, als ich sie sehe, und geselle mich zu ihnen. Charlie schenkt mir ein breites Grinsen, Irene dagegen starrt mir ins Gesicht, fast so, als würde sie darin etwas suchen.
    „Danke nochmal für deine Hilfe gestern“, raune ich ihr zu, als Charlie kurz zurückbleibt, um ihre Schnürsenkel zu binden. Die Blonde legt den Kopf etwas schief.
    „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Sie scheint wirklich besorg t zu sein. Für einen Moment überlege ich, ob ich mich ihr anvertraue. Nicht komplett natürlich, wie sollte ich ihr meine Situation erklären, ohne, dass sie mich ins Irrenhaus einweisen lässt? Aber ich könnte es sicher etwas anders umschreiben, so, dass man noch nicht einmal Rückschlüsse auf Tyler und Seth ziehen könnte.
    Stattdessen nicke ich.
    „Es wird schon. Im Moment ist alles etwas… schwierig.“
    „Wenn du reden möchtest-“, beginnt Irene, wird dann aber jäh von Charlie unterbrochen, die sich zwischen uns drängt und sich bei uns einhakt.
    „Ich hab keinen Bock auf Bio“, stößt sie aus und schneidet eine Grimasse. „Die blöde Kuh mit ihren Tests geht mir auf die Nerven.“
    „Test?“, stoße ich wenig begeistert aus. Ich wusste nicht, dass wir einen Test schreiben. Aber ehrlich gesagt ist mir das sogar relativ egal.
    „Sag bloß, du hast nicht gelernt.“ Charlies Grinsen schwankt zwischen mitleidig und schadenfreudig. „Du Arme. Das wird ein Desaster.“
    „Wir können in der Pause noch etwas mit dir lernen, vielleicht hilft das.“ Jetzt sieht Irene wirklich besorgt aus.
    „Hab in der Pause schon etwas vor“, nuschele ich, den Blick auf meine Schuhe geheftet. Ihr Angebot auszuschlagen wird mir keine Pluspunkte einbringen, aber ich habe kaum eine andere Wahl. Ich höre Charlie lachen.
    „Da lebt wohl jemand gerne gefährlich.“


    Die Stunden bis zur Pause verstreichen anstrengend langsam. Emil neben mir schaut wie immer nur aus dem Fenster und schenkt mir keinerlei Beachtung, der Unterrichtsstoff ist schrecklich langweilig und ähnelt mehr einem Vortrag als alles andere. Ich habe keinerlei Beschäftigung und dadurch kann ich mich auch nicht ablenken. Mir bleibt nur das Starren auf die Uhr, die langsam vor sich hin tickt. Tick. Tock. Tick. Tock.
    Tick. Tock.
    Tick.
    Frustriert stöhne ich in meine Hände auf denen ich mein Kinn abgelegt habe.
    Ich fühle mich fürchterlich unproduktiv und das kann ich nicht ausstehen. Ich war nie eine Person, die geduldig war, schon gar nicht, wenn man ihr nichts gab, womit sie sich beschäftigen konnte.
    Brainstorming. Damit kann ich meine Gedanken vielleicht ordnen.
    Ich nehme mir einen Block und einen Stift und kritzele alles darauf, was mir einfällt.


    Welches Problem könnte Tyler haben? Ich weiß noch nicht viel über ihn, es könnte also so ziemlich alles sein. Schulprobleme? Ich schreibe es unordentlich auf, mit einem dicken Minus daneben, führ „höchst unwahrscheinlich“. Er ist nicht der Typ Mensch, der sich dafür interessiert. Probleme mit seinen Eltern? Möglich. Vielleicht auch wahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass er so viel Ärger hat. Ein Plus dahinter. Ärger mit seinem Bruder? Unwahrscheinlich. Tyler und Seth sind immerhin-
    Ich spüre etwas an meinem Arm. Emils Stift ist gegen ihn gerollt. Wir haben kurzen Blickkontakt und er nuschelt ein undeutliches „Tschuldigung“, danach schaut er wieder aus dem Fenster. Wir haben eine gute Aussicht auf den Pausenhof, auf dem gerade natürlich keiner ist… Sollte man zumindest meinen.
    Auf der Abdeckung der großen Hochsprungmatte sitzen zwei Schüler, und obwohl einiges an Distanz zwischen uns liegt, erkenne ich sie sofort. Tyler und Seth. Aber sie sitzen nicht nebeneinander, sondern merkwürdig weit voneinander entfernt.
    Ich recke meinen Kopf, denn Emil sitzt mir etwas im Weg. Fast, als hätte er es bemerkt, lehnt sich mein Sitznachbar plötzlich zurück. Für einen Moment denke ich, dass auch er die Zwillinge beobachtet, aber sein Blick ist fest in den Himmel gerichtet.
    Sie scheinen nicht miteinander zu reden. Seth schaut in Richtung des kleinen Wäldchens, Tyler dagegen sitzt mit dem Rücken zu ihm, auf der anderen Seite der metallenen Abdeckung und schaut auf den Boden. Ob sie sich nach der Diskussion gestern wohl noch gestritten haben? Oder vielleicht ist es genau das Gegenteil und sie haben danach gar nicht mehr miteinander zu reden. Ich kann selbst von hier sehen, dass sie sich anders verhalten als sonst. Und ich weiß, dass ich der Grund dafür bin.


    Ich beobachtete sie noch eine Weile, dann wurde es unserer Erdkundelehrerin zu bunt und sie verlangte meine vollständige Aufmerksamkeit zusammen mit einer detaillierten Erklärung des Klimazonen der Erde. Ich schwafelte etwas vor mir hin, zusammengesetzt aus den Infos, die ich noch aus meinem alten Unterricht hatte und den Bruchstücken, die es geschafft hatten ihren Weg in mein Gehirn zu finden, obwohl ich nicht zugehört hatte. Es war eine magere Erklärung und ich fühlte mich für einen kurzen Augenblick schlecht, dass ich so unaufmerksam war, aber dieser Augenblick war sofort wieder vorüber, als ich aus dem Fenster sah und die Zwillinge verschwunden waren. Nicht, dass mir mein Stalking großartig weiterhilft, aber trotzdem…
    Nur noch zwei Minuten bis zur Pause. Frau Gerde hält weiter ihren Vortrag über den tropischen Regenwald und das empfindliche Ökosystem, aber davon bekomme ich nicht mehr viel mit.
    Was sage ich, wenn wir uns treffen? Was tue ich? Ich darf mir nicht anmerken lassen, dass ich sie belauscht habe. Ganz natürlich sein, Ava. Aber was ist natürlich, wenn ein menschlich gewordener Bluthund einen geradezu anknurrt?
    Zumindest Tyler wird da sein. Das macht die Vorstellung etwas erträglicher.


    Irene will mich noch aufhalten, als ich pünktlich zum Pausengong aufspringe und mir meinen Weg aus der Klasse bahne, aber ich ignoriere sie. Und ich fühle mich verdammt schlecht dabei, aber ich habe keine andere Wahl.
    Zwei Minuten später bin ich auf dem Pausenhof und überquere die Wiese, suche das Tor zum kleinen Wäldchen und stapfe durch das feuchte Gras bis zum Teich. Sie sind noch nicht da. Natürlich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Seth sich sonderlich darauf freut, mich zu treffen.
    Ich verstecke meine Hände in den Jackentaschen meines Blazers, den ich mir heute Morgen aus Mangel an akzeptablen Alternativen über mein weißes Shirt angezogen habe. Im Schatten ist es verdammt kalt. Aber vor allem sieht man in den Taschen nicht, wie nervös meine Finger an allem herumspielen, was sie zu fassen bekommen.
    Ich bin noch nie gut mit Konflikten umgegangen. Klar bin ich nicht auf den Mund gefallen und ich kann mich wehren, aber die angespannte Stimmung eines Streits macht mich fertig. Und alleine der Gedanke an dieses Treffen, ein Treffen mit jemandem, der mich ganz offensichtlich am liebsten in kilometerweiter Entfernung wissen möchte, nimmt mir alle Ruhe, die ich versucht habe anzusammeln.
    Es wird schon alles gut gehen, Ava. Tyler hasst dich nicht, und darum geht es. Wenn es nicht anders geht, dann-
    Ein Knacken im Gebüsch hinter mir.
    Ich drehe mich hektisch um und sehe ihn über den Pfad zu mir kommen.
    Nein. Nicht Tyler. Seth. Und er ist alleine.
    Zwei Meter bleibt er vor mir stehen, seine Blicke durchbohren mich. Kein Hallo. Ich wage es kaum, den Blickkontakt abzubrechen.
    „Hier.“
    Mehr sagt er nicht. Stattdessen streckt er mir etwas kleines Weißes entgegen. Der Regenschirm.
    „Wo ist Tyler?“, frage ich, und ich möchte mich am liebsten dafür schlagen. Seth‘ Blick wird für einen Moment unerträglich durchdringend.
    „Er hat Besseres zu tun“, stößt er dann kurz angebunden hervor. Er tritt einen Schritt näher und drückt mir den Regenschirm in die Hand. Ich drücke ihn an mich, als könnte er mir vor Seth‘ Wut beschützen.
    „Aha“, antworte ich. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Game over. Er hat Besseres zu tun ist das halbwegs höfliche Äquivalent zu „Er hat keinen Bock auf dich“. Vielleicht haben sie gestern doch noch gesprochen. Ganz sicher haben sie gestern noch gesprochen. Und Tyler hat Seth versprochen, dass ich ihm egal bin. Und um das zu beweisen, schickt er jetzt Seth vor, um mir die traurige Nachricht zu überbringen.
    „Danke fürs Vorbeibringen“, presse ich heraus. Ich wedele mit dem zusammengeklappten Schirm kurz herum, stecke meine Hand durch die Schlaufe und verlagere mein Gewicht von einem Bein auf das andere. Seth sagt nichts mehr. Ich bin also entlassen.
    Ich will einfach nur noch weg von hier. Mein Kopf hat noch nicht ganz verarbeitet, was hier gerade passiert, aber mein Körper spürt meine Anspannung und die mittlerweile eher beunruhigend neutralen Blicke von Seth auf sich und entscheidet sich dafür, dass er das nicht mag. Ich gehe einen Schritt, dann zwei. Beim dritten stehe ich auf Seth‘ Höhe.
    „Stehst du auf Tyler?“
    Ich brauche einen Moment um zu begreifen, was er gesagt hat. Überrascht drehe ich mich zu ihm um, Seth mustert mich aus zusammengekniffenen Augen.
    „Was? Nein“, stoße ich aus, aber ich merke, wie meine Stimme zittert.
    „Warum hängst du dich dann so an ihn dran?“
    „Tue ich nicht!“
    Hat er es gemerkt? Unmöglich. Ich hab mich nicht auffällig benommen. Ganz bestimmt nicht. Mein Mund wird trocken und meine Finger spielen ruhelos an meinem Schirm herum.
    „Such dir jemand anderen, den du nerven kannst.“ Er spuckt die Wörter förmlich aus. Als ich nicht antworte, packt er mich am Handgelenk und zieht mich näher an sich heran. Mein Körper verkrampft als er mir in die Augen schaut, seine Glühen in unheilvollem Rot. „Hast du das kapiert?“
    Ich nicke eilig, weil ich nichts anderes tun kann. Ich will einfach weg von ihm, so viel Distanz zwischen uns bringen wie nur möglich. Der Griff um mein Handgelenk wird fester, aber den Schmerz merke ich erst, als er mich loslässt und ich beinahe rennend aus dem Garten stolpere. Ich schaue nicht zurück, stoße das Tor fester auf als notwendig.


    Erst, als ich vor meiner Klasse ankomme bleibe ich stehen. Ich öffne die Türe nicht, sondern gehe einen Schritt zur Seite und stütze mich an der Wand ab. Mein Atem geht unregelmäßig. Mein Handgelenk tut weh. Ich sehe, wie einige Stellen daran langsam rot werden.
    Was ist da gerade passiert? Ich… Ich verstehe es nicht. Er hat mich bedroht. Ganz eindeutig. Würde er mir etwas antun, wenn ich nicht das tue, was er sagt? Ich dachte, die Gerüchte wären erfunden!
    Ich schließe für einen Moment die Augen, doch sofort taucht Seth‘ Gesicht im schwarzen Nichts auf. Sein finsterer Blick, das halbe Knurren in seiner Stimme. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken und ich zwinge mich dazu, die Augen wieder zu öffnen.
    „Ava?“
    Ich fahre herum, bereit, sofort wieder die Flucht zu ergreifen. Aber es ist nur Joshua. Etwas weiter hinter ihm steht Dennis, der jetzt auch näher kommt.
    „Alles okay mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
    Ich nicke stumm. Was würde es mir bringen, ihnen davon zu erzählen? Nichts. Vielleicht würden sie es einem Lehrer melden. Seth würde Ärger bekommen. Aber das würde mir auch nichts nützen.
    Verdammt. Ich bin am Arsch. Komplett am Arsch.
    Aber ich darf es mir nicht anmerken lassen.
    „Alles klar“, stoße ich aus, darauf bedacht das verräterische Zittern aus meiner schwachen Stimme zu verbannen. Es funktioniert nicht ganz, aber Joshua ist nicht aufmerksam genug um es zu bemerken. Er schaut mich noch einen Moment an und zuckt dann die Schultern.
    „Kommst du dann mit rein oder willst du weiter in der Gegend herumstehen?“ Ich ringe mich zu einem schwachen Lächeln durch.
    „Klar.“


    Ich verhaue den Bio-Test in der vierten Stunde. In der fünften ignoriere ich unsere Musiklehrerin. In der sechsten Stunde lachen alle über die Witze unseres Philosophielehrers. Nur ich nicht. Ich starre stumm auf meinen Tisch.
    Was soll ich jetzt machen?
    Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich komme einfach nicht weiter. Ich verstehe immer noch nicht, was passiert ist. Was dieses Gespräch für Konsequenzen hat.
    Ich werde Tyler nicht mehr sehen. Er möchte mich scheinbar nicht mehr treffen, vermutlich um die Beziehung zu seinem Bruder nicht zu gefährden. Und wenn ich mich ihm nähere, dann wird Seth…Was wird Seth? Würde er mich schlagen? Verprügeln? Mich seelisch fertig machen? Ich will es gar nicht wissen.
    Ich will gar nicht darüber nachdenken. Denn Tyler nicht mehr sehen zu können bedeutet auch…
    Die Schulglocke läutet und ich werde aus meinem Gedankenwirrwarr gerissen. Für einen Moment bleibe ich einfach regungslos sitzen, dann räume ich meine Sachen in meine Tasche und stehe leicht schwankend auf.
    „Hey, Ava, wir wollten noch in die Stadt gehen.“ Eves fröhliches Gesicht taucht in meinem Blickfeld auf. „Möchtest du mitkommen?“
    Ich komme gar nicht dazu, eine Antwort zu geben. Irene erscheint auf einmal neben mir und legt mir die Hand auf die Schulter. „Komm doch mit“, sagt sie uns lächelt mir leicht an. Dann beugt sie sich vor und raunt mir kaum hörbar zu: „Etwas Ablenkung könnte dir gut tun.“


    Ich hatte nicht wirklich Gelegenheit dazu, abzulehnen. Ganz zu schweigen von der Kraft. Ich ließ mich einfach von Eve und Irene mitziehen. Charlie verabschiedete sich am Fuße des Berges von uns, sie musste noch Hausaufgaben machen und hatte später Training. Was für welches weiß ich nicht. Ich wollte nicht fragen.
    „Ich muss unbedingt zum Schreibwarenladen“, informiert uns Eve. Wir folgen einer kleinen Menge an plaudernden Schülern, die sich auch alle zum Stadtzentrum aufmachen. Die Wolken am Himmel hatten sich mittlerweile eine wenig aufgelöst, lagen aber immer noch wie ein grauer Vorhang über uns.
    „Ich brauche auch einen neuen Block“, meinte Irene. Eve und sie drehen sich zu mir um. Ich setze ein Lächeln auf, von dem ich sicher bin, dass es nicht überzeugend wirkt.
    „Ich glaube, ich könnte ein paar neue Stifte gebrauchen.“ Ich sehe, dass die beiden einen Blick tauschen, aber sie sagen nichts. Da beruhigt mich ein wenig. Wenn sie mich jetzt fragen würden, was los ist… Ich weiß nicht, ob ich es einfach so abtun könnte. Ob ich es schaffen würde, überzeugend zu sein. Ich glaube nicht. Ich glaube, ich würde zusammenbrechen. Ich weiß nicht, ob sie mir genau das ansehen.


    Wir schlendern durch die Innenstadt und machen die kleinen Besorgungen im Schreibwarenladen. Ich picke mir einen zufälligen Stift heraus und bezahle ihn an der Kasse, dann warte ich auf die Mädchen.
    Eve ist die erste, die herauskommt. Wir stehen nebeneinander am Schaufenster des Ladens, den Blick auf die Straße gerichtet, wo hin und wieder Menschen entlang laufen. Es ist leerer als am Sonntag, vermutlich auch, weil wir gerade Mittag haben.
    „Der Bio-Test war echt blöd, oder?“
    Eve hat die Stille nicht lange ausgehalten. Das wundert mich nicht. Sie scheint der Typ Mensch zu sein, dem Stille schnell unangenehm wird.
    „Ich habe völlig versagt“, antworte ich wahrheitsgemäß.
    „Keine Sorge, der erste Test bei ihr geht immer schief“ Sie zuckt mit den Schultern und schüttelt gleichzeitig den Kopf. Ihre schwarzen Haare fliegen durch die Luft. „Aber im Ernst, ihre Tests sind der letzte Dreck. Wir haben noch nicht einmal ordentlich über Neurobiologie gesprochen und sie erwartet eine halbe Doktorarbeit darüber.“
    „So schlimm war es jetzt auch nicht.“ Ich grinse schief. Ja, ich grinse tatsächlich und muss nicht einmal so tun als ob. Eve hat ihre Wangen aufgepustet, vermutlich als Zeichen ihrer Empörung, aber es sieht mehr niedlich aus als ärgerlich.
    „Ich dachte, du hättest völlig versagt.“ Sie hebt ihre Augenbraue.
    „Habe ich. Aber das lag weniger am Test. Ich bin heute einfach nicht gut drauf.“
    Ich bemerke Eves Blick aus dem Augenwinkel. Sie wartet ab, vermutlich, falls ich ihr davon erzählen will. Aber ich will nicht. Sie kann mir auch nicht helfen. Niemand kann das. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter.
    Die Tür zum Laden öffnet sich und Irene kommt heraus. Sie verstaut ihren neu gekauften Block in ihrem Rucksack und gesellt sich dann zu uns.
    „Ein paar Straßen weiter hat ein neues Café aufgemacht“, sagt sie dann. „Wollen wir hingehen?“


    Das Café ist nicht sonderlich groß, aber zumindest von außen macht es schon einmal etwas her. Es erinnert mich ein wenig an Paris, das ich mit meinem Vater besucht habe, als ich noch jünger war. Die Außenwände sind weiß und ebenmäßig, aber mit einem Stuck versehen, der viele kleine Kringel und Details hat. Große Glasfenster zeigen das Pastellfarbene Innenleben. Über der Tür, durch die Irene gerade geht, hängt ein großes Schild mit verschnörkelter Schrift. Ich brauche einen Moment bis ich das Wort „Charis“ darauf entziffern kann. Eve stößt mich an und ich folge Irene herein.
    Innen duftet es nach Kaffee und süßlichem Gebäck. Ich hole tief Luft und merke sofort, wie mein Kopf sich etwas klärt. Es ist seltsam, aber als ich mich in dem hell gehaltenen Raum umsehe, bekomme ich sofort bessere Laune. Wir setzen uns in eine etwas abgeschiedenere Ecke. Die Sessel in Créme sind so weich, dass man sofort in ihnen einsinkt. Von meinem Platz aus kann ich nach draußen sehen.
    Seltsam, vorhin erschien mir der Himmel noch nicht so hell. Wann hat es sich so plötzlich aufgeklärt?
    „Ich glaube, wir müssen am Tresen bestellen“, sagt Eve, die sich im Laden umschaut. Er ist nicht komplett voll, gerade so, dass er gut besucht ist, aber es auch nicht zu laut wird. Eine angenehm ruhige Atmosphäre. Wir lassen unsere Taschen am Tisch stehen und gehen nach vorne zum Tresen, wo uns in einer Glastheke schon der Kuchen entgegen lacht. Ich sehe Erdbeertarte, kleine Cupcakes, Macarons, Apfelkuchen, Sahnetorten… Manche der Kuchen kann ich gar nicht genau definieren. Aber alles sieht lecker aus. Ich merke schon, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft…
    „Womit kann ich- Oh, Ava Schatz!“
    Die nur allzu bekannte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Und meine gute Stimmung nimmt sie mir auch sofort.
    Ich schaue auf und hinter der Theke steht Aphrodite, die braunen Haare zu einem unordentlichen Zopf zusammengesteckt, aus dem sich aber keine Strähne löst. Sie trägt ein weißes Spitzenkleid und eine rosafarbene Schürze, auf der kein einziger Fleck zu sehen ist. Die Göttin der Schönheit macht ihrem Ruf mal wieder alle Ehre…
    „Hallo, Mama“, gebe ich gezwungen neutral zurück.
    „Das ist deine Mutter?“, raunt Eve wenig unauffällig zurück. Meine Freundinnen starren meine „Mutter“ mit leicht offenem Mund unverhohlen an. Die lacht ihr glockenhelles Lachen und lächelt sie diabeteserregend süß an.
    „Ihr müsst Freundinnen von Ava sein!“ Sie klatscht in die Hände wie ein grenzdebiles Kind und stößt hocherfreut aus: „Oh, ich freue mich so sehr, dass meine Kleine so schnell Anschluss gefunden hat. Sie kann ja manchmal so schwierig sein!“
    Eve und Irene antworten gar nicht. Sie starren einfach nur weiter.
    „Da komme ich ja ganz nach dir, Mama!“, flöte ich gekünstelt freundlich. „Wir hätten gerne etwas Kuchen und Tee, wenn‘s geht. Wobei… Hast du den Kuchen gebacken?“
    Aphrodite zieht die Nase kraus. „Natürlich nicht, dafür habe ich meine Angestellten.“
    „Gut, dann ist die Gefahr, dass sie vergiftet sind um einiges kleiner.“
    Aphrodite lächelt zwar weiter, aber ich sehe das kurze Aufflackern von Ärger in ihren Augen. Dann verschwindet es aber sofort wieder.
    „Setzt euch, ihr Lieben“, säuselt sie uns mit einem Engelslächeln zu. „Ich bringe euch ein paar ganz besonders leckere Sachen!“


    Die Arme voll mit mehreren Tellern Kuchen, Torten und sonstigem Gebäck und wundervoll duftendem Tee machen wir uns auf den Weg zurück zu unserem Tisch. Kaum sitzen wir und Aphrodite ist außer Sichtweite spricht Irene mich noch immer mit leicht offenem Mund und verträumten Blick an.
    „Deine Mutter ist wirklich schön“, säuselt sie. Ich unterdrücke mein Bedürfnis, mit den Augen zu rollen und einen schnippischen Kommentar zu geben. Natürlich ist sie hübsch. Das ist ihr verdammter Job. Viel anderes kann sie vermutlich auch nicht…
    „Und ihr Lächeln!“, schwärmt jetzt auch Eve. „Und wie angenehm sie roch. Wie in einem Blumengarten. So ein Parfum hätte ich auch gerne.“
    „Ihr steht euch bestimmt nah, oder?“
    Ich kann mir ein freudloses Lachen nicht verkneifen. Eve und Irene schauen mir verwirrt an.
    „Sie ist wirklich nicht halb so toll, wie ihr denkt…“, setze ich an, belasse es dann aber dabei. Aphrodites Macht wirkt gerade so stark auf meine Freundinnen, dass ich ihnen erzählen könnte sie wäre eine Männermordende Hexe- was nicht einmal so verkehrt ist, jetzt, wo ich genauer darüber nachdenke- und sie würden es toll finden.
    Ich lasse sie also weiter darüber faseln, wie schön ihre Haare sind und wie toll ihre Fingernägel gefeilt sind, lehne mich im Sessel zurück und schaue aus dem Fenster, während ich auf meinem Teller wahllos Gebäck mit meiner Gabel aufspieße. Die angenehme Atmosphäre, die schöne Aussicht, der tolle Geruch… Alles nur Aphrodites Macht. Jetzt, wo ich Bescheid weiß, wer diesen Laden leitet, wirkt ihre Macht nicht mehr so stark auf mich und der schöne Glanz hat stark nachgelassen. Kein Wunder, dass hier alle so zufrieden aussehen, wenn sie mit Pheromonen zugepumpt werden…


    Als sich die Türe öffnet drehe ich mich zum Eingang. Zwei Personen betreten das Café und ich brauche einen Moment um zu begreifen, wer sie sind. Als ich es tue erstarre ich.
    Vorneweg geht Ariana, die blonden Haare in einen unordentlichen Dutt gebunden, mit tiefen Schatten unter den Augen und einem müden Lächeln auf den Lippen. Doch viel wichtiger ist die Person dahinter.
    Sie hat die Kapuze über ihren Kopf gezogen, die Hände in ihren Jackentaschen versteckt, die Schultern angezogen und den Blick auf die Fließen vor ihren Füßen gerichtet. Sie ist blass, schrecklich, kränklich blass. Ihre Lippen sind zerbissen und ihre Augen trüb.
    Hannah.
    Oh Gott, Hannah.


    Mein Körper springt von alleine auf. Der Sessel kratzt über den Boden und der Lärm lässt Hannah zu mir herüberschauen. Ich will ihren Namen rufen, will zu ihr gehen, sie umarmen, ihr sagen, dass es mir gut geht, dass ich bald wieder bei ihr bin-
    Unsere Blicke treffen sich. Für fünf Sekunden halten wir den Kontakt.
    Und dann dreht sie sich wieder um und folgt Ariana, die von alledem nichts mitbekommen hat.


    Und ich stehe dort, den Mund zu einem stummen Ruf geöffnet.
    Mein Körper sackt zurück auf den Stuhl. Was habe ich denn erwartet. Ava Hale ist tot. Das hier ist nicht mein Körper. Natürlich erkennt sie mich nicht. Ich bin eine Fremde für sie. Nur ein weiterer Mensch, den sie nicht kennt.
    Mit einem Male habe ich das Gefühl, nicht mehr Atmen zu können.
    Ich starre auf den Boden, wo sie gerade eben noch gestanden hat. Höre Aphrodites fröhliche Stimme und Ariana, wie sie eine Bestellung aufgibt. Hannah bleibt stumm. Ich sehe sie nicht, denn die Theke wird durch eine Ecke verdeckt.
    Oh Hannah.
    Ich wusste, dass es dir schlecht geht. Ich habe es doch von den anderen gehört. Und ich habe es mir gedacht. Aber dich so zu sehen. Es tut weh. Es tut so sehr weh.
    Ich klammere mich an meinem Stuhl fest. Ariana bedankt sich. Hannah trottet hinter ihr her, doch dieses Mal schaut sie mich nicht an. Ihr Blick bleibt am Boden haften.
    Es tut mir Leid. Es tut mir so sehr Leid.
    Die Eingangstür fällt wieder ins Schloss. Und dann sind sie verschwunden. Einfach so. Und ich weiß, dass ich in diesem Moment genauso leer aussehe, wie Hannah auch.


    Ich verabschiedete mich von Eve und Irene, die noch immer berauscht waren. Ihnen schien mein merkwürdiges Verhalten gar nicht aufzufallen, sie waren zu beschäftigt damit, über Aphrodite zu schwärmen.
    Die Ablenkung, die sie mir verschafft hatten, ist wieder weg. Und ich fühle mich sehr viel schlimmer als zuvor. Weil ich jetzt keine Angst mehr habe und keine Panik. Mein Kopf ist einfach wie leer gefegt. Ich bin nicht einmal traurig. Oder vielleicht bin ich so traurig, so verzweifelt, so aufgebracht, dass ich es gar nicht mehr spüre.
    Mein Körper hat mich von selbst zurück nach Hause getragen. Ich schließe die Türe auf, ziehe Schuhe und Jacke aus und stehe dann einfach im Flur. Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Jeder Gedanke wird weggeweht wie in einem Sturm. Ein Sturm so heftig, dass ich das Gefühl habe, jeden Moment umgefegt zu werden, einfach umzufallen und nie wieder aufzustehen, und doch so leise, dass ich rein gar nichts höre. So leise, dass ich weiß, dass ich ganz alleine bin und es niemanden gibt, der mich wieder aufrichten kann.
    Für einen Moment verliere ich das Gleichgewicht, kippe einfach so zur Seite weg. Ich fange mich an der Wand auf und kämpfe mich mühsam vorwärts, durch die Küche, durch das Wohnzimmer. Mit tauben Fingern öffne ich die Terrassentür. Meine Beine geben nach ein paar Schritten zur Klippe hin nach. Ich falle auf meine Knie und bleibe einfach sitzen. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr.


    Es ist meine Schuld, dass es Hannah so schlecht geht. Wäre ich vorsichtiger gewesen, dann würde ich jetzt noch leben.
    Aber das ist noch nicht alles. Ich habe sogar eine zweite Chance bekommen, eine Möglichkeit, alles rückgängig zu machen. Und ich habe sie nicht genutzt. Ich hätte jemand anderen nehmen sollen. Jetzt ist es zu spät. Ich komme nicht mehr an Tyler heran. Seth wird sicherstellen, dass ich nicht mehr an ihn herankomme.
    Egal, was ich tue, so kann ich die Wette nicht gewinnen. Ich kann es einfach nicht. Ich habe verloren. Dabei lief doch am Anfang alles so gut. Ich verstehe es nicht. Ich kann es nicht verstehen. Ich… Ich will es nicht verstehen.
    Ich habe verloren. Aphrodite hat gewonnen. Und diese Tatsache muss ich noch sechzig Tage lang ertragen. Und danach… Danach geht es in die Unterwelt. Ich will nicht in die Unterwelt. Ich habe Angst.
    Hannah. Mama. Papa. Warum ist es so schief gelaufen? Warum muss mir das passieren? Ich war doch eigentlich ganz zufrieden mit meinem Leben. Ja, ich habe mich so oft beschwert, aber-


    Ein Bellen.
    Erst nehme ich es gar nicht richtig wahr. Aber dann wird es lauter und kommt näher. Langsam drehe ich meinen Kopf. Meine Augen brennen und ich brauche eine Weile, bis ich meine Umgebung so richtig erkenne. Von der Straße aus rennt etwas kleines Schwarzes auf mich zu.
    Hibiki stürzt sich regelrecht auf mich. Er drückt sich mit den Vorderpfoten von meinen Beinen ab und klettert an mir hoch, drückt seinen kleinen Kopf gegen meine Wange. Langsam streiche ich über seinen Rücken. Wo kommt Hibiki plötzlich her?
    Der Welpe schaut mich aus seinen großen, dunklen Augen an. Mir entkommt ein kleines Lachen.
    „Was tue ich hier überhaupt? Ich hatte wahrscheinlich von Anfang an keine Chance, hm?“
    „Keine Chance wobei?“
    Überrascht drehe ich mich um.
    Tyler schaut auf mich herunter. Er hat die Hände in den Hosentaschen, steht nur einen Meter von mir entfernt. Deswegen ist Hibiki also hier.
    Ich antworte nicht und drehe mich wieder um. Die Sonne geht schon wieder unter. Wie lange habe ich hier gesessen? Ich friere…
    „Ava?“
    Tyler spricht mich wieder an. Warum? Er hat keinen Grund hier zu sein. Hibiki kläfft. Ich streichle ihm über den kleinen Kopf.
    Aus dem Augenwinkel sehe ich eine Bewegung. Als ich mich umdrehe, sitzt Tyler mit einem Male neben mir. Er schaut aufs Meer hinaus, aber ich sehe, wie er mir immer wieder kurze Blicke zuwirft. Ich kann sein Gesicht nicht lesen, auch, weil ich es nicht komplett sehe. Die Abendsonne ist heller als gewöhnlich. Fast schon hämisch.
    „Warum bist du hier?“, frage ich noch einer gefühlten Ewigkeit. Ich rede nicht, weil mir die Stille unangenehm ist. Ich will wirklich wissen, warum er hier ist.
    „Ich gehe mit Hibiki spazieren.“
    „Das meine ich nicht. Warum sitzt du neben mir?“
    Er antwortet nicht. Stattdessen zieht er die Beine an und legt seine Arme darauf. Ich schaue wieder zurück zum Horizont und drücke Hibiki leicht an mich. Was passiert hier gerade?
    „Tut mir Leid, dass ich dir den Schirm nicht selbst geben konnte“, stößt Tyler dann irgendwann aus. Ich blinzele und drehe mich wieder zu ihm. Er hat stößt einen Seufzer aus und verzieht genervt das Gesicht. „Unsere Lehrerin hat mich zum Laufburschen gemacht und mich die ganze Pause über Bücher tragen lassen. Wie ein verdammter Packesel. Seth hat dir den Schirm doch gebracht, oder?“
    ‚Er hat Besseres zu tun.‘ Besseres.


    Mir entkommt ein kurzes Lachen. Dann noch eines. Und noch eines. Und irgendwann lache ich laut und ausgiebig. Und noch während ich lache steigen mir die Tränen in die Augen. Aber ich kann sie nicht aufhalten. Genauso wenig wie ich aufhören kann zu lachen. Die Leere weicht langsam und der bittere Knoten aus Verzweiflung, Angst, Trauer und Sorgen kommt zurück. Aber auch er wird kleiner und kleiner, mit jeder Träne und jedem Lachen.
    Tyler bleibt still, aber ich sehe genau, dass er mich beobachtet. Es ist mir egal. Bin ich glücklich? Ich weiß es nicht. Erleichtert? Vielleicht. Vermutlich.
    Seth hat gelogen. Nein, eigentlich hat er nicht gelogen. Es hat sich nur so ausgedrückt, dass ich es missverstehe. Tyler will sich gar nicht von mir fernhalten.
    Langsam verebbt mein Lachen.
    Aber so sehr ich auch versuche, meine Tränen genauso zurückzuhalten, sie fließen mir weiter über die Wangen.


    Hannah.
    Ich merke, wie mein Schluchzen lauter wird. Hibiki schleckt mir über die Wange, als würde er versuchen wollen, meine Tränen einfach verschwinden zu lassen. Tyler neben mir bewegt sich nervös.
    Hannah.
    Ich kann einfach nicht vergessen, wie schlecht sie ausgesehen hat. Wie ausgezehrt und müde und… fertig mit der Welt. Hätte sie sich nicht bewegt, hätte ich gedacht, dass sie auch tot wäre.
    Und das ist ganz alleine meine Schuld.
    Hannah. Es tut mir so Leid.
    Ich weine, laut und offen. Es ist mir egal, dass Tyler mich sieht. Ich könnte es sowieso nicht verhindern, selbst, wenn ich wollte. Und nach und nach verebbt die Unruhe in meiner Brust, dieser grausame Sturm. Ich weine ihn einfach heraus. All diese Gefühle, die ich versucht habe zu unterdrücken, seit der ersten Minuten in der ich wusste, dass ich tot bin, gestorben bei diesem blöden Unfall, wiederbelebt und als kleine Spielfigur in einer Wette eingesetzt wurde. Die Wut über mich selbst, die Angst vor den Konsequenzen, die Sorge um meine Schwester…


    Irgendwann spüre ich etwas schweres Warmes auf meinen Schultern. Mein Schluchzen ist nur noch ein leises Atmen, alle meine Tränen habe ich aufgebraucht. Meine Augen brennen als ich mich umdrehe. Tyler hat mir seine Jacke über die Schulter gelegt.
    „Dir muss doch kalt sein“, murmelt er mit einem Blick auf meine nackten Arme und zitternden Hände. Ich protestiere nicht, ziehe die Jacke und meine Beine enger an mich und verharre still. Tyler schweigt.
    „Tut mir Leid“, raune ich mit heiserer Stimme. „Ich bin echt armselig.“
    Er schüttelte leicht den Kopf, sagt aber weiter nichts. Hibiki in meinen Armen drückt sich weiter an meine Brust, bleibt ansonsten aber auch ruhig liegen. Er ist flauschig und warm, genau das richtige, um mich jetzt etwas aufzumuntern.
    Ich weiß, dass Tyler keine Erklärung erwartet. Aber ich habe das Gefühl, dass ich ihm eine schulde. Also hole ich Luft.
    „Ich habe Mist gebaut“, stoße ich schwach aus. Er schaut mich erst überrascht an, dann bemüht er sich, möglichst neutral zu schauen. Sein Blick haftet aber auf Hibiki. Vermutlich will er mich nicht so verweint sehen. Vielleicht ist es ihm unangenehm. „Jemand ist wegen mir… Traurig. Fertig mit den Nerven. Hinüber. Wie auch immer du es nennen willst. Ich kann mich nicht entschuldigen. Ich kann es wieder gerade rücken, aber das wird schwierig. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe.“
    „Warum glaubst du nicht, dass du es schaffst?“
    „Weil es nicht nur von mir abhängt. Es ist schwierig zu erklären.“ Ich schüttele den Kopf. „Nein, eigentlich kann ich es gar nicht erklären.“
    Ich erwarte, dass er mir Fragen stellt, aber Tyler bleibt einfach still. Dann hebt er die Hand und vergräbt sie in Hibikis Fell.
    „Ich kann dir keinen guten Rat geben“, murmelt er irgendwann. „Ich bin in sowas nicht gut.“
    „Ist schon okay“, sage ich und muss lächeln. Ein ernst gemeintes Lächeln. „Das habe ich auch nicht erwartet.“
    „Weil ich unsozial bin?“, er grinst schief, das Gesicht ein wenig verzogen.
    „Nein, niemand kann mir damit helfen. Da muss ich alleine durch.“
    Das stimmt. Es ist meine Wette. Mein Einsatz, mein Sieg oder meine Niederlage. Wenn ich es schaffen möchte, dann muss ich darum kämpfen. Dabei kann mir niemand groß helfen.


    „Seth hat mir den Schirm zurückgegeben.“
    Wir sitzen jetzt schon eine Weile an der Klippe. Hibiki scheint eingedöst zu sein. Die Sonne versinkt langsam im Meer und färbt es scharlachrot. Ich fühle mich seltsam leicht und gelöst. Manchmal hilft es wohl, einfach alles herauszulassen.
    „Das ist gut. Ich dachte schon…“ Tyler lässt den Satz mitten in der Luft hängen.
    „Er mag mich nicht“, stoße ich aus. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, das zu sagen. Tyler schaut überrascht auf, aber mir entgeht nicht, dass er kurz finster reinschaut.
    „Wieso… Warum denkst du das?“
    „Wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt nicht mehr hier.“
    Er grummelt etwas Unverständliches und wagt es für eine Weile nicht mehr, mir in die Augen zu schauen.
    „Er meint es nicht so.“
    Ich versuche, das sarkastische Lachen zu unterdrücken. Es gelingt mir nur mäßig.
    „Ist schon okay.“
    „Nein, ist es nicht.“ Tylers Stimme klingt ärgerlicher, als er es vermutlich will. Er holt tief Luft und stößt sie gleich darauf mit einem Seufzer wieder aus. „Ich dachte, er hätte es kapiert…“
    „Eher nicht“, murmele ich leise und reibe mir über das Handgelenk. Die roten Flecken sind immer noch leicht sichtbar, und wenn ich zu fest darauf herumdrücke, schmerzen sie Stellen. Vielleicht sollte ich sie später kühlen, oder-
    „Was hast du da?“
    Tylers Blick haftet auf den roten Striemen.
    „Ach, das … Ist von heute Mittag, ist nicht so schlimm“, sage ich ohne nachzudenken. Für einen Moment starrt er die Flecken an. Dann ändert sich etwas in seinem Gesichtsausdruck. Die Ruhe darin ist weg, stattdessen…
    Verdammt. Er weiß es. Er hat eins und eins zusammen gezählt und-
    „Das kann doch nicht sein verdammter Ernst sein!“, stößt Tyler plötzlich aus. Seine roten Augen sprühen regelrecht Funken. „Er hat ernsthaft-“
    Hibiki windet sich mit einem Male wie wild in meinen Armen und springt dann Tyler entgegen, der ihn mit einem kurzen, überraschten „Hey!“ auffängt. Er kippt nach hinten und stößt einige Flüche aus, während sein Welpe munter auf ihm herumspringt.


    Irgendwann verebben die Flüche und Tyler wird still. Langsam beuge ich mir vor, so, dass ich in sein Gesicht schauen kann. Hibiki sitzt auf seiner Brust und Tyler starrt Löcher in die Luft. Sein Gesicht ist noch immer angespannt… Gerade jetzt erinnert er mich an Seth. Und das gefällt mir gar nicht. Er war bisher immer der Ruhigere von beiden…
    „Er ist zu weit gegangen“
    „Es war sicher keine Absicht“, stoße ich aus, aber ich weiß genau, dass das eine Lüge ist.
    „Doch, das war es.“
    Ich bleibe still. Nichts, was ich jetzt sage, kann es besser machen.
    Plötzlich richtet Tyler sich auf. Seine roten Augen leuchten im letzten Licht der Sonne. Er wirkt schrecklich ernst und… Enttäuscht. Ja. Sein Bruder hat ihn enttäuscht. Und das wird er nie wieder vergessen.
    „Ich rede mit ihm“, stößt er gepresst aus, fast schon angestrengt. Er rappelt sich auf, fährt sich unwirsch durch die Haare und sucht nach einem Punkt in der Landschaft, den er fixieren kann. Aber da gibt es keinen. „Er kann doch nicht einfach herumrennen und…“ Tyler geht einen Schritt nach rechts, dann wieder nach links. Und ich bleibe einfach sitzen und schaue zu ihm hoch.


    Du musst sie gegeneinander aufbringen. Dann wirst du Tyler für dich alleine haben und Seth ist kein Problem mehr.
    Ich habe es tatsächlich geschafft. Ihre Beziehung hat einen Knick. Alles wird so viel einfacher werden.


    Doch als Tyler mir hochhilft, Hibiki an die Leine nimmt und mit einem schrecklich düsteren Gesichtsausdruck in Richtung Straße zurückgeht, da fühlt es sich nicht so an, als hätte ich gewonnen.
    Ich schaue ihm noch eine Weile hinterher, dem Jungen, den ich glücklich machen soll. Als ein kalter Wind vom Meer zu mir herüber bläst, wickele ich seine Jacke enger um meinen Körper und gehe zurück ins Haus.




    Benachrichtigung an:
    @Cantor, @Molnija, @Jiang


    Ich. Bin. Unzuverlässig. Verzeiht mir die lange Wartezeit, dieses Kapitel hat mich gekillt. Ich wusste einfach nicht, wie ich es anfangen sollte. Oder wie der Mittelteil aussieht. Oder das Ende.
    Okay okay, es ist an einem Tag entstanden und dazu noch überwiegend mit spontaner Handlung ich gebs zu. ;A;
    Und dann auch nur 12 Seiten. Himmel. Ich baue ab. Ganz eindeutig. Naja. Hoffentlich bereitet euch das Kapitel trotzdem ein wenig Freude.

  • Aphrodite zuckt nur mit den Schultern und schaufelt sich eine Ladung Salz mit Nudeln in den Mund.

    Warum fühle ich mich bei dem Satz nur an L erinnert, der immer Zucker mit Kaffee trinkt?


    Hallo Cáith! Für drei Kapitel ist ja bisher schon ziemlich viel passiert und über die Zwillinge haben wir schon viel in Erfahrung gebracht. Dass sie sich quasi nicht trennen können und Seth auf seinen Bruder aufpasst; ob da in der Vergangenheit wohl etwas passiert ist? Mich würde gar nicht wundern, wenn dieser Zwang, auf ihn aufzupassen, daher rührt, dass er in der Vergangenheit bereits einmal enttäuscht wurde, sei das nun mit Freunden oder der Familie. Allem Anschein nach scheint diese Beziehung zwischen den beiden das Hauptproblem darzustellen, wie sich gegen Ende von Kapitel 3 herausgestellt hat und die Tyler nun zu verändern versucht. Solche plötzlichen Reaktionen rufen nur nicht selten eine weniger gute Lösung hervor, wie Ava auch schon festgestellt hat. Vermutlich wird es auch darauf hinauslaufen, dass sie nun versuchen wird, die beiden wieder zusammenzubringen, damit sie sich zumindest verstehen. Aber gut, das ist hauptsächlich Zukunftsmusik. Ich find's interessant, wie sich hier das Bad-Boy-Getue aus dem Prolog langsam verflüchtigt und sich doch ein weicher Kern in ihm zeigt. Ob er wohl auch langsam Gefallen an Ava findet? Bisher war davon ja nicht viel zu sehen, aber je subtiler du das beschreibst, desto besser ist es im Endeffekt.
    Und ich muss hier auch mal erwähnen, wie toll eigentlich die Charaktere sind. Alle wirken sehr natürlich und haben ihre eigene Persönlichkeit, sodass ich sie immer auseinanderhalten konnte. Besonders Avas Sarkasmus wird noch oft zu tragen kommt und die Duelle mit Aphrodite sind auch richtig amüsant, nach wie vor. Dass sie trotz der Gegenwehr so ruhig bleibt, wundert mich schon. Götter sind ja nicht unbedingt dafür bekannt, fair zu spielen. Und wer ist noch einmal diese Göttin, die mittendrin einfach aufgetaucht ist und Ava gewarnt hat? Das wird sicher nicht die einzige gewesen sein, die sich in dieses Spiel einmischt, von daher bin ich mal gespannt, was es damit auf sich hat.
    Ach ja, wann endlich kommt der Auto-Hersteller Hephaistos vor?


    Wir lesen uns!

  • Hallo, du mir vollkommen unbekanntes Mädchen! Nach drei Kapiteln ist es wohl nun langsam tatsächlich angemessen, dass ich dir mal einen Kommentar schreibe. Siehe es auch als kleiner Reminder, dass du nächste Woche auch tatsächlich mit Chapter 4 anfangen solltest. Immerhin wollen wir alle noch vor unserem 60. Lebensjahr Olivias Route erleben. :>


    (srsly tho, ich bin ein ungeübter Schreiber und könnte auch keinen dir angemessenen Kommentar versprechen. Außerdem bin ich faul. Warum mache ich das hier nur gerade? Achja, weil dir meine Likes für deine Beiträge und Lobeshymnen per Skype nicht genügen, tse.)


    Zunächst einmal ein Lob für deine hervorragend ausgearbeiteten Charakteren. Ava ist keine blasse Protagonistin mit dem man sich nicht identifizieren könnte, nein, ganz im Gegenteil - sie ist mir, aufgrund ihrer bissigen Bemerkungen und Sarkasmus, äußerst sympathisch, man kann sich gut in ihre Gefühls- und Gedankenwelt hineinversetzen und hat trotz ihrer rauen Schale, ein weicher Kern. Fast so wie du, nur weniger blutrünstig.
    Die Love Interests hast du klugerweise so gestaltet, dass für jeden Geschmäcker etwas dabei ist. Wahrscheinlich hättest du aber nicht erwartet, dass die meisten die Yuri-...ähh Olivia-Route favorisieren, haha. Viel Hingabe bei der Gestaltung der Persönlichkeit und Aussehens der einzelnen Charakteren hast du jedenfalls durchaus gezeigt. Tyler hatte ich am Anfang zum Beispiel nicht in Visier. Seine kurze Chara-Beschreibung sprach mich überhaupt nicht an, aber im Laufe der Story wurde er mir dann doch sympathisch. Jetzt interessiere ich mich sogar sehr für seine Vergangenheit und hoffe, dass er und sein Bruder sich wieder vertragen werden. Oh, und Love Triangle zwischen Ava, ihm und Hibiki will ich auch, höhö. Die Interaktionen zwischen den Charas sind gut gemacht, vor allem die Mind-Duelle zwischen Ava und Aphrodite wissen zu gefallen. Nicht übel, Buttbag, nicht übel. *klatsch klatsch* (Und Darryl...wurde da etwa jemand von "DERK! HEY DERK!" inspiriert? I wonder...;P)


    Habe ich schon erwähnt, wie sehr ich deinen Schreibstil mag? Falls ich es bisher noch nicht richtig kommuniziert habe...jetzt weißt du es. Was du aber bereits wissen solltest, ist, dass ich deine Kurzgeschichten liebe. Feedbacks, Ideen usw. gebe ich dir eigentlich auch genügend, haha. Schön ist es auch zu sehen, dass du ein paar meiner Vorschlägen angenommen und einegabut hast. ;* Du schaffst es jedenfalls immer wieder, dass ich mich gut unterhalten fühle, wenn ich deine Werke lese. Und das schafft nicht jeder. Ich kann mich nur zu gut an meine Mittagspausen in Oktober erinnern. :>


    Zur Story wurde das meiste bereits gesagt, glaube ich. Die Kombination von Modern Setting + Griechische Mythologie scheinst du besonders zu lieben, haha. Zugegeben, bei deiner Geschichte ist es besonders gelungen. Das Zusammenspiel der beiden obengenannten wirkt so...natürlich. Da hast du wirklich ein Händchen dafür. Mir gefalen außerdem die ganzen moralischen Dilemmas, wo sich der Leser fragt "Würde ich? Würde ich nicht? Darf ich das überhaupt machen, wenn ich an Avas Stelle wäre?"


    Ich ahne doch bereits, dass es ein Haken bei Aphrodites Deal gibt und Ava verarscht wird. Es wird dramatisch, sowas von dramatisch. Wenn es nicht schon bereits ist. *DÖ-DÖ-DÖÖÖM* And I love it, hehe. Aber ich glaube an deine Liebe zu mir Happy Ends und hoffe, dass du mich nicht enttäuschen wirst. Eine Hannah-Route hast du mir immerhin auch versprochen. >: Und bin gespannt, ob es so eine Art True Ending gäben wird. Es ist auch krass, wieviel du innerhalb so kurzer Zeit schreiben kannst. Ich rede jetzt natürlich nicht von der Zeit, die du brauchst, um das nächste Kapitel anzufangen. Das ist bei all den Sachen, die du immer machen musst, auch kein Wunder. Abgesehen von mehr Zeit, brauchst du immerhin auch die nötige Motivation, haha. Aber erstmal in der richtigen Stimmung gekommen, kannst du an einem Tag ein halber Roman tippen. xd


    So, ich hoffe, dass ich dich mit diesem Kommentar vorerst zufrieden stellen konnte und nun weiterschlafen kann. Du weißt, ich bin ein vielbeschäftigter Mann, also schätze es wert, dass ich meine wertvolle Freizeit, die ich zum Zocken oder Schlafen nutzen könnte, für dich opfere. >: Was tut man nicht alles, damit du dich mal wieder besser fühlst? :'D

  • Tyler Route



    Chapter 4: Torn apart




    „Ich bin stolz auf dich!“
    Und ich könnte kotzen. Genau das möchte ich gerade nicht hören. Nicht von ihr. Nicht in diesem Zusammenhang. Genau deswegen habe ich ihr mit keinem Wort gesagt, was vorgefallen ist. Dass Tylers und Seths Beziehung in etwa so stabil ist wie eine Klötzchenburg eines Zweijährigen. Und dass das meine Schuld ist.
    Nur dummerweise kann meine Adoptivgöttin noch immer meine Gedanken lesen.
    Und das finde ich noch immer zum KOTZEN.
    „Oh bitte!“ Aphrodite rollt dramatisch übertrieben mit den Augen. „Wo ist dein Siegeswille hin? Seit wann hast du so ein heftig ausgeprägtes Gewissen? Als ich dich aus der Unterwelt geschleppt habe, hast du noch alles und jeden um dich herum gehasst.“
    „Zu diesem Zeitpunkt hat mir mein Leben ja auch den Mittelfinger gezeigt“, grummele ich. „Im Gegensatz zu dir macht es mir aber keinen Spaß, Kerle in absolute Verzweiflung zu stürzen.“
    Aphrodite gibt ein kleines Grunzen von sich und starrt mich an. Ich selbst sehe nur auf den Boden. Ihren Blick kann ich gerade nicht ertragen.
    „Hör mir mal zu, Ava“, raunt sie irgendwann, als sie Stille beinahe unerträglich wurde. „Du hast eine Wette abgeschlossen. Wenn du ihn glücklich machst, dann bekommst du dein Leben zurück. Dein Leben, Ava. Du wirst wieder lebendig.“ Der eindringliche Tonfall lässt mich aufschauen. Aphrodite legt ihre Hände sanft auf meine Schultern und schüttelt mich leicht, gezwungenermaßen schaue ich ihr direkt in die Augen. Zum ersten Mal sehe ich darin keine Belustigung, keine Schadenfreude… Sie meint es ernst. Und das ist fast schockierender als alles, was ich an diesem Tag bisher erlebt habe.
    „Denk darüber nach. Dein Leben gegen sein Verhältnis zu seinem Bruder. Es ist eine leichte Entscheidung. Denn am Ende ist dein Ziel ohnehin, ihn glücklich zu machen. Er verliert also nichts.“
    Das stimmt. Sie hat recht. Eigentlich ist es simpel. Wenn das alles hier vorbei ist, werden Tyler und Seth sich vielleicht zerstritten haben. Aber ich werde einen Weg finden, Tyler glücklich zu machen. Und dann werde ich wieder lebendig, und dann-
    Dann wird auch Hannah wieder glücklich sein.
    Es ist so einfach. Warum fühlt es sich dann so schrecklich an?


    Aphrodite lässt meine Schultern los und schenkt mir etwas, was entfernt an ein aufmunterndes Lächeln erinnert. Ich spüre noch immer keine Schadenfreude. Und genau das ist mir suspekt.
    „Selbst Götter haben so etwas wie Empathie“, stößt sie seufzend aus.
    Dann sei bitte empathisch genug, um dich aus meiner Gedankenwelt fernzuhalten. Danke sehr.
    Sie grinst leicht grimmig und geht dann an mir vorbei ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch fallen lässt. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich folge ihr. Eigentlich ist sie die letzte, mit der ich über meine Situation reden will. Dummerweise ist sie aber auch die einzige, mit der ich reden kann, ohne fürchten zu müssen, in die Irrenanstalt eingewiesen zu werden. Ich bin nicht sonderlich begeistert davon, aber trotzdem folge ich dem Impuls, und lasse mich in einen Sessel rechts von der Couch fallen, in der Aphrodite gerade höchst elegant Verrenkungen anstellt, um ihre Zehennägel zu lackieren. Ich habe keine Ahnung, woher sie plötzlich das Fläschchen Nagellack hat, vor fünf Sekunden war das mit Sicherheit noch nicht in diesem Haushalt.
    Die Göttin der Pediküre starrt angestrengt auf ihre Zehennägel, deswegen bringe ich es erst nicht fertig, ein Gespräch anzufangen. Stattdessen lehne ich mich so tief wie möglich in die weichen Polster herein und schlinge meine Jacke um meinen Oberkörper. Pardon, Tylers Jacke. Mir war bisher gar nicht aufgefallen, dass ich sie noch immer trage. Sie ist mir einige Nummern zu groß und selbst, wenn ich meine Arme ausstrecke, verschwinden meine Hände in den Ärmeln. Aber vermutlich macht genau das sie so bequem. Die weiche Fütterung innen macht natürlich auch ihren Teil aus.
    „Wenn du reden willst, rede.“
    Aphrodites Stimme hält mich für einen Moment davon ab, weiter Hundehaare von den Ärmeln der Jacke zu zupfen.
    „Hast du heute deinen guten Tag?“ Eigentlich ist es eine dumme Idee, sie zu provozieren. Ich sollte mich vermutlich eher glücklich schätzen, dass sie aktuell scheinbar mütterliche Gefühle entwickelt. Und vor allem sollte ich es ausnutzen. Aber mein Tag war leider lang. Und wie man vermutlich mittlerweile festgestellt hat, bin ich weiß Gott nicht das intelligenteste Wesen auf diesem Planeten.
    „Ob du es glaubst oder nicht, ich bin nicht komplett herzlos.“ Ihr Blick bleibt weiterhin auf ihren Zehennägeln haften. Sie schneidet eine alberne, angestrengte Grimasse, während sie mit höchster Sorgfalt und leicht zittrigen Händen den kleinen Pinsel immer näher an ihren großen Zeh heranführt. Bei ihr wirkt es mehr so, als würde sie eine Bombe entschärfen.
    „Das wäre für eine Göttin der Liebe auch sehr unvorteilhaft“, sage ich mit einem überraschend neutralen Tonfall. Wir verfallen wieder in Schweigen.
    Gott, ist das awkward. Vielleicht war es doch eine bescheuerte Idee, mich zu ihr zu setzen. Selbst wenn sie ihren guten Tag hat, sie hat ihre Meinung zu diesem Thema schon klar gemacht. Und ich bezweifle, dass ich von ihr viel Mitleid zu erwarten habe. Und eigentlich will ich auch gar kein Mitleid.
    Was will ich überhaupt?
    Ablenkung. Genau. Ich möchte fürs erste gar nicht weiter über all das hier nachdenken. Es wird mir sowieso nichts bringen. Was geschehen ist, ist geschehen. Und vielleicht ist das auch gar nicht schlecht. Vielleicht ist Seth ja auch Tylers Problem. Wenn er so wütend auf ihn wird, dann ist das gar nicht so unwahrscheinlich. Und außerdem bin ich nicht diejenige, die wild Drohungen ausgestoßen hat! Im Grunde ist es also gar nicht meine Schuld, Seth ist derjenige, der-
    „Ich dachte, du wolltest nicht darüber nachdenken.“
    „Richtig“, stoße ich gedehnt aus und sinke mit einem Stöhnen noch tiefer in die Couch. Was mache ich mir eigentlich vor. Ich versuche, das alles hier zu rechtfertigen. Ich suche Ausreden. Aber eigentlich weiß ich doch längst, dass ich in dieser Angelegenheit egoistisch sein muss, um das zu erreichen, was ich haben will.
    Ich sehe, wie Aphrodite abwesend nickt. Wenn sie noch weiter so angestrengt starrt, platzt ihr demnächst eine Ader. Hekate hätte da sicher ihre Freude dran.
    Und gerade, als ich an die Zombie-Göttin denke zuckt Aphrodite erstaunlich heftig zusammen. Der kleine Pinsel verfehlt ihren Nagel und färbt stattdessen einen großen Teil ihres Fußrückens ein, was sie mit etwas kommentiert, dass sich verdächtig stark nach einem femdsprachigen Fluch anhört. Vermutlich hat sie die Nagellackdose gerade als Sohn einer Ziege beschimpft oder so. Was weiß ich, was die alten Griechen für Flüche haben.
    Verstehe. Auf Hekate ist sie also nicht so gut zu sprechen, hm?
    Aphrodite weicht meinem Blick aus und reibt wild mit ihrem Handrücken über die knallrote Färbung auf ihrem Fuß, was das kleine Missgeschick allerdings nur noch schlimmer macht.
    „Lass uns bitte über etwas anderes reden, okay?“, wendet sich meine Adoptivmutter beinahe flehentlich an mich.
    „Ich bin auch nicht unbedingt scharf darauf, lange über sie nachzudenken“, stoße ich trocken aus. „Sie ist unheimlich.“
    „Jeder, der sich mit wiedererweckten Toten umgibt, ist unheimlich.“
    Ich räuspere mich und werfe ihr einen eindeutigen Blick zu. Ihr ist aber schon bewusst, dass ich ebenso eine wiedererweckte Tote bin, oder? Sie verzieht das Gesicht.
    „Du zählst nicht. Ich spreche von Skeletten. Vergammelten Leichen. Körpern, bei denen die Hälfte der Eingeweide fehlt!“ Im Gegensatz zu ihr verziehe ich nicht einmal das Gesicht. Dafür habe ich weiß Gott zu viele Horror-Filme gesehen. Außerdem haben wir im letzten Jahr in Bio einen Fisch seziert. Qualifiziert das als pathologische Erfahrung?
    „Du bist im Vergleich zu ihren Horror-Gestalten quasi noch lebendig gewesen.“
    „Obwohl ich von einem Truck angefahren wurde?“
    „Du hast ganz offensichtlich keine Ahnung, auf welche kreativen Arten Menschen in den letzten dreitausend Jahren getötet wurden. Das ist kein schöner Anblick. Und es ruiniert jeden Hauch romantische Stimmung, glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.“
    Das stelle ich einfach mal nicht weiter in Frage. Hekate war mir auch so schon unheimlich genug. Genaue Bilder über ihre Zombie-Privatarmee zu haben ist sicherlich nicht ideal, wenn ich in den nächsten paar Wochen noch angenehm schlafen möchte.
    „Könntest du bitte über etwas anderes nachdenken?“
    Ich muss leise kichern, versuche aber wirklich, meine Gedanken vom letzten Horror-Marathon loszureißen. Stellt sich nur die Frage, über was ich jetzt nachdenken soll. Obwohl… Eigentlich habe ich schon seit einigen Tagen einige Fragen.
    Na gut. Sie hat einen guten Tag, zumindest ein wenig kann ich das wohl ausnutzen.
    „Warum tust du das alles?“
    Aphrodite hört tatsächlich auf, ihren Fußrücken wund zu reiben und hebt eine Augenbraue. Sie mustert mich eindringlich, beinahe wachsam.
    „Diese ganze Wetten-Geschichte“, stoße ich aus. „Ist dir da oben etwa langweilig geworden?“
    „Was willst du hören? Die Wahrheit, oder den weichgespülten göttliche Gnaden-Quatsch.“
    Natürlich macht sie es aus Spaß. Was habe ich eigentlich erwartet. Ich lege den Kopf in den Nacken und starre an die Decke.
    Naja, eigentlich war es ja offensichtlich. Das war es von Anfang an. Und trotzdem habe ich gehofft, dass es vielleicht doch einen triftigeren Grund gäbe, als dass ein allmächtiges Wesen sich einiges Tages dachte „Lass uns mein Lieblingsspiel spielen. Es heißt ‚Mach dich zum Affen und vielleicht springt was für dich heraus.‘“ Offensichtlich ist das nicht der Fall. Ich hatte wohl einfach Pech, zu genau diesem Zeitpunkt gestorben zu sein.
    „Wenn du es als Pech betrachtest, eine zweite Chance zu bekommen, bitte schön.“ Aphrodite hatte sich in der Zwischenzeit tatsächlich wieder ihren Zehennägel zugewandt und versuchte nun, zu retten, was sie noch retten konnte. „Nicht viele Leute haben so eine Gelegenheit. Viele würden aber liebend gerne mit dir tauschen.“
    Das „sobald sie sich ein Haus mit dir teilen müssen, überlegen sie es sich sicher anders“ verkneife ich mir gerade noch. Was nicht viel bringt, wenn sie meine Gedanken liest. Hups.
    Aber sie reagiert gar nicht darauf.
    Vermutlich hat sie recht. Eigentlich ist es gar nicht wichtig, warum sie das macht. Ihre Motive sind nicht wichtig, nur das Ergebnis.
    „Das heißt, du wirst endlich aufhören zu heulen und dich ernsthaft mit deiner Aufgabe auseinander setzen?“ Sie klingt zwar desinteressiert und meilenweit weg, aber ich sehe genau, dass sie mich aus dem Augenwinkel beobachtet.
    „Ich glaube, meine Tränenreserven für die nächsten paar Wochen sind ohnehin aufgebraucht“, gebe ich mit einem schiefen Grinsen zurück. Ich wickele mich enger in die Jacke ein. Am liebsten würde ich sie gar nicht erst zurückgeben. Vielleicht sollte ich einfach so tun, als hätte ich sie vergessen, wenn ich Tyler das nächste Mal sehe…
    „Sehr gut.“ Aphrodite schenkt mir ein schelmisches Lächeln, beugt sich vor und greift mich an den Händen. „Das schreit nach einer Belohnungsmaniküre.“
    „Kostet mich das Belohnungspunkte?“
    „Nur ein paar, die hast du bald wieder aufgearbeitet und-“
    „Dann nicht.“


    Der anfängliche Enthusiasmus verschwand recht schnell, als ich Tyler die nächsten drei Tage nicht sah. Weder auf dem Flur, noch auf dem Pausenhof, auch nicht auf dem Weg zur Schule. Er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.
    Die gute Nachricht dagegen war, dass für Seth das gleiche galt. Ich hatte mich zwar darauf eingestellt, hin und wieder tödliche Blicke zu kassieren, aber das blieb mir glücklicherweise erspart. Dummerweise hob auch das meine Laune nicht großartig an. Für gut zwei Tage schob ich erneut Panik. Was war, wenn Tyler und Seth sich jetzt doch versöhnt hatten? Ich zog es in Erwägung, aber ehrlich gesagt glaubte ich nicht wirklich daran. Ich rief mir immer und immer wieder den grimmigen Blick in Erinnerung, den Tyler aufgesetzt hatte, als er mein Handgelenkt gesehen hatte. So eine Wut verfliegt nicht einfach so, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Trotzdem blieb die Befürchtung, diese kleine Stimme, die mir zuflüsterte, dass die Beziehung zu einem Zwillingsbruder wesentlich beständiger und wichtiger ist als die zu einem dahergelaufen Mädchen eine Klasse unter dir. Darunter leiden mussten vor allem meine Fingernägel und meine Lippe, beides arg zerkaut und malträtiert. Irene, Eve und Charlie taten ihr bestes, mich irgendwie abzulenken. Sie schienen zu wissen, dass mich etwas bedrückte, aber sie quetschten mich nicht aus. Und obwohl ich wortkarg war, permanent abgelenkt und sowieso mehr eine Last als alles andere beschwerten sie sich nicht. Würde ich mir nicht am laufenden Band den Kopf über die Leuchteherzen-Aktion zerbrechen, dann würde ich versuchen, meine Dankbarkeit zu zeigen. Denn je länger ich Zeit mit ihnen allen verbrachte, desto mehr wurde mir bewusst, wie sehr ich mit ihnen befreundet sein wollte. Ich genoss es, Zeit mit ihnen zu verbringen. Mit Eve, die es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht hatte, meine schulischen Leistungen zu pushen, Irene, die immer genau wusste, was sie sagen musste, und Charlie, die mich selbst in den düstersten Momenten mit ihrem breiten Grinsen und den albernen Scherzen zum Lachen brachte. Ich mochte sie alle drei. Ich mochte sie sehr. Und deswegen nahm ich mir fest vor, ihnen eine gute Freundin zu werden. Sobald ich diese Wette gewonnen hatte und mein altes Leben wieder bekam. Ich würde nicht noch einmal den gleichen Fehler machen.

    Es war Donnerstag, als die Erleichterung kam. Der zweite Tag, an dem ich weder Tyler noch Seth irgendwo finden konnte. Charlie führte mich in der Pause in Richtung Schulkiosk, sie hatte ein starkes Verlangen nach einem Schokoladenriegel, und weil sie mir noch etwas Geld schuldete (sie war fürchterlich vergesslich, was ihre Habseligkeiten betraf), versprach sie mir, gleich einen für mich mit zu kaufen. Die Aussicht auf Schokolade munterte mich tatsächlich etwas auf, und wenn ich mich bewegte, war es einfacher, in Gedanken von Tyler wegzukommen.
    Wir liefen den Gang herunter, der zum Hauptflur führte, vorbei an einigen Klassen und Schülergruppen. Normalerweise ging ich hier nicht entlang, es war schneller, einen anderen Weg zu gehen. Aber Charlie führte mich, deswegen folgte ich. Die Schilder auf den großen, orangenen Klassentüren zeigten, dass das hier der Flur der 12. Klasse war, also eine Stufe über uns. Bisher hatte ich mich nicht groß mit anderen Klassen auseinander gesetzt. Ich erkannte vage einige Gesichter, aber ich verband nicht wirklich etwas mit ihnen. Einige von ihnen plauderten miteinander und ich schnappte ein paar Fetzen auf. Nichts interessantes, deswegen achtete ich nicht wirklich darauf, bis…
    „Ich würde jetzt auch lieber krank im Bett liegen.“
    „Als ob die krank wären“, grunzte der Gesprächspartner. „Die Prestons schwänzen sicher wieder nicht. Wenn das so weiter geht, dann werden die den Abschluss nicht packen.“
    „Ist auch wieder wahr“, raunte der Erste gedehnt. „Wie hoch ist die Chance, dann beide mit einer Grippe im Bett liegen?“
    Für einen Moment blieb ich stehen und versuchte, weiter zu lauschen. Charlie machte mir aber einen Strich durch die Rechnung und zog mich weiter. Es wäre zu auffällig gewesen, einfach stehen zu bleiben.
    Eine Grippe, hm? Das würde zumindest erklären, warum beide fehlen. Hoffnung machte sich in mir breit. Es war nicht so unwahrscheinlich. Das Wetter spielte ziemlich verrückt, schon eine ganze Weile. Heiße Tage wechselten sich mit heftigen Regentagen ab, da wurde man schnell mal krank.
    Ich klammerte mich an diesen Gedanken und machte einfach weiter. Ich weiß nicht genau warum, aber es half tatsächlich. Meine Motivation kam zurück, wenn auch nur schleppend.


    Heute ist Samstag, genau halb acht. Eigentlich würde ich um diese Zeit noch im Bett liegen und vor mich hindösen, aber diesmal war Aphrodite diejenige, die meine gute Laune ausgenutzt hat. Ich hab mich am Vorabend nämlich tatsächlich noch dazu überreden lassen, im Café zu helfen. Meine Adoptivgöttin hatte mit großen Augen und Krokodilstränen vor mir gestanden und mich geradezu angefleht, ihr auszuhelfen, da einer der Angestellten sich krank gemeldet hatte, und so kurzfristig würde sie niemanden finden. Erst blieb ich hart, das ging schließlich alles von meiner Freizeit ab.
    Als sie mir dann aber so viel Süßkram wie ich haben will und doppelte Belohnungspunkte versprach, knickte ich doch ein. Es macht mir auch gar nicht so viel aus, um ehrlich zu sein. Die Arbeit würde mich ablenken, und ich hatte heute sowieso nicht viel geplant. Eve und die anderen büffelten für die nächste Mathematikklausur, aber die interessiert mich ohnehin nicht groß. Erst war es ein merkwürdiges Gefühl, rein gar nichts für die Schule zu tun, und anfangs hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber wenn diese zwei Monate vorbei sind, wird das alles sowieso nicht wichtig sein.


    Als ich aus dem Badezimmer zurück in mein Zimmer komme, liegt auf meinem Bett eine Uniform des Cafés. Im Grunde war es nur ein High-Waist-Faltenrock in altrosa, eine weiße Bluse mit schwarzen Knöpfen und einer Schleife um den Kragen, und einer niedlichen Rüschenschürze. Beim letzten Besuch im Café hatte ich zwei, drei Bedienungen in diesem Outfit durch das Geschäft huschen sehen, um Tische abzuräumen oder Getränke nachzuschütten. Ich muss zugeben, dass ich das Outfit sogar ziemlich gut ausgewählt fand. Es schien bequem zu sein, und passte gut zur Gestaltung des Cafés. Niedlich und feminin, aber gleichzeitig erwachsen und stylisch. Damit kann ich mich anfreunden.


    Vorerst habe ich nur Rock, Bluse und eine Strumpfhose angezogen, die Schürze lege ich zusammen mit meiner Tasche und einem schwarzen Jäckchen über die Lehne meines Esstischstuhls. Aphrodite ist in eine Klatschzeitschrift versunken und echot mein „Guten Morgen“, ohne aufzuschauen. Ich störe mich nicht weiter daran. Mir ist es lieber, wenn sie beschäftigt ist. In den letzten paar Tagen haben wir nicht mehr viel miteinander geredet, die meiste Zeit ist sie ohnehin außer Haus und ich in der Schule. Selbst in der Zeit, in der wir beide hier sind, ist sie erstaunlich zurückhaltend geworden. Klar ist sie zwischendurch immer noch so ätzend und diabeteserregend niedlich, wie eh und je, aber irgendetwas scheint sich bei ihr verändert zu haben. Und bisher weiß ich noch nicht, ob ich das gut finden soll oder nicht.
    Heute habe ich nicht wirklich Lust darauf, groß zu kochen. Der kleine Berg an Geschirr im Spülbecken deutet darauf hin, dass Aphrodite bereits gegessen hat, also begnüge ich mich mit einer Schüssel Müsli, das ich quer durchs halbe Haus raus auf die Terrasse trage. Die Glasschiebetür öffnet sich mit einem Quietschen und der vertraute, salzige Geruch des Meeres steigt mir in die Nase. Es ist nicht wirklich kühl, denn die Sonne scheint schon am frühen Morgen ziemlich stark, aber die Brise, die vom Meer herüberzieht, macht es erträglich. Die Terrasse ist mittlerweile mein Lieblingsort geworden, denn hier gibt es nur das Gras, ein paar Bäume, die Klippe und das weite Meer, sonst nichts. Es ist herrlich ruhig, gut zum nachdenken. Oder auch, um die Gedanken einfach schweifen zu lassen und von dem wegzukommen, über das man sonst zwangsweise grübelt. Ich setze mich ins Gras und schaufele Müsli in mich hinein. Heute ist der siebte Tag. Meine erste Woche ist heute Abend zu Ende. Ich habe Fortschritte gemacht, denke ich. Aber es gibt noch viel zu tun. Ich muss eine Beziehung zu Tyler aufbauen. Und dann muss ich sein Problem heraufinden und lösen. Ob knapp sechs Woche dafür ausreichen?


    Irgendwann ruft Aphrodite mich herein. Sie steht schon im Flur und zieht sich ihre Jacke an, als ich mit meiner Tasche über der Schulter und Jacke und Schürze unter dem Arm geklemmt zu ihr stoße. Sie betrachtet mich von oben bis unten und bringt ein mütterliches Lächeln zustande.
    „Hach, sie werden so schnell erwachsen“, seufzt sie theatralisch und wischt sich eine imaginäre Träne aus den Augen. Ich rolle mit meinen, schlüpfe in meine Turnschuhe und drücke die Eingangstür auf.


    Nach einem weiteren Höllentrip in Aphrodites Sportwagen habe ich ein flaues Gefühl im Magen (ich hätte besser im Café gefrühstückt) und bin heilfroh, dass ich endlich aussteigen kann. Sie parkt ein Stück weit von der Einkaufsstraße entfernt, auf einem Hof mit einigen Garagen. Keine Ahnung, wann sie die angemietet hat, vielleicht hat sie das auch gar nicht und parkt trotzdem hier. Zutrauen würde ich es ihr.
    Auf dem Weg zum Café textet sie mich mit meinen Aufgaben zu. Wenn viel los ist, soll ich an der Theke helfen, oder Tische abräumen. Wenn man mich gerade nicht braucht, dann werde ich zum Geschirrspüler degradiert. Ich bin im Grunde also Mädchen für alles, aber wie schlimm kann das schon werden.


    Sehr schlimm.
    Oh Gott.
    Ich hatte ja keine Ahnung.
    „Fräulein, ich bin als nächstes dran!“ Die ältere Dame steht jetzt schon eine Weile vor dem Tresen. Oder verwechsele ich sie gerade mit jemand anderem? Ich glaube, die letzte Grauhaarige hatte keinen grünen Cardigan an. Oder?
    „Das ist doch Unsinn, ich warte schon sehr viel länger“, grummelt eine Dame mittleren Alters. Sie ist eindeutig genervt und wirft der Oma neben ihr einen tödlichen Blick zu. Passend dazu tippt sie ungeduldig mit ihrem Finger auf ihrer Uhr herum. „Ich habe nicht alle Zeit der Welt, wissen Sie!“
    „E-Entschuldigung“, stammele ich, doch bevor ich groß weiter komme, mischen sich drei weitere Kunden ein. Ich bin komplett überfordert. Wo zur Hölle kommen diese ganzen Leute eigentlich her? Der ganze Tresen steht voll und alle reden durcheinander, ich habe keine Ahnung, was zu wem gehört und wer als nächstes dran ist. Mein Schädel brummt mit Bestellungen und ärgerlichen Kommentaren. Am liebsten würde ich ihnen meine Schürze ins Gesicht schmeißen und fluchtartig den Laden verlassen, bevor jemand auf die Idee kommt, mich zu zerfleischen.
    Gerade, als ich es wirklich in Erwägung ziehe, spüre ich mit einem Mal Hände auf meinen Schultern.
    „Bitte, meine Herrschaften, beruhigen sie sich doch.“
    Niemals war ich glücklicher darüber, Aphrodites Stimme zu hören.
    Okay, es ist weniger ihre Anwesenheit, die mich glücklich macht, sondern eher deren Effekt auf die Kundschaft. Denn mit einem Male sind alle still und starren mit offenen Mündern auf einen Punkt direkt über mir. Hätten wir Fliegen in diesem Laden (haben wir nicht. Vielleicht hält irgendeine merkwürdige Magie sie fern) würden die jetzt schöne, neue Unterkünfte finden.
    „Wie wäre es, wenn du die Tische abräumst, Ava-Schatz?“, säuselt sie mir zuckersüß ins Ohr und als ich mich zu ihr umdrehe, sehe ich genau, wie sie versucht, das breite, schadenfrohe Grinsen zu verstecken. Ich schenke ihr einen tödlichen Blick und mache mich mit angezogenen Schultern aus dem Staub. Nie. Wieder. Thekenarbeit.


    Als ich so durch das Café husche, immer auf der Suche nach Tischen, die ich abräumen kann, und mein bestes gebe, keinen Augenkontakt zu den Kunden aufzubauen, weil ich immer noch leicht fertig bin, schaue ich immer mal wieder herüber zum Tresen. Mittlerweile hat Aphrodite den wütenden Mob dazu gebracht, die Mistgabeln wegzupacken und brav eine Schlange zu bilden. Dass sie sich dabei nicht an den Händen halten und ein fröhliches Lied singen ist auch alles, zuzutrauen wäre es meiner Adoptivmutter mit Sicherheit. Zwei weitere Mitarbeiter packen schneller als ich es je könnte Kuchen und Gebäck ein, wirken jetzt aber deutlich entspannter. Ich streiche Bluse, Schürze und Rock glatt und stapele einige Tassen und Teller auf mein Tablett. Nie wieder. Ich werde nie wieder in diesem Laden aushelfen. Lieber stehe ich Tag und Nacht in der Küche und koche vollkommen versalzenes Essen, als mir das noch einmal anzutun.
    Ich bahne mir den Weg vorbei an der Schlange Kunden und schiebe das volle Tablett durch eine Öffnung in der Wand nach hinten in die Küche. Ein junger Mann (äußerst gutaussehend, wie alle Angestellten hier, aber was habe ich erwartet, wenn sie die Chefin ist) nimmt es ohne ein Wort entgegen und reicht mir im Austausch ein neues. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Uhr in der Küche. Urgh. Es ist gerade einmal kurz vor zwei. Wir arbeiten erst seit vier Stunden. Und ich fühle mich jetzt schon so, als könnte ich tot ins Bett fallen. Trotz bequemen Turnschuhen fühlen sich meine Füße an, als würden sie sich jeden Moment ablösen.
    Vom Eingang her höre ich das Klingen, wenn sich die große Glastüre öffnet, ich beachte sie aber nicht weiter. Meine Aufgabe ist zum Glück damit erfüllt, aufzuräumen. Heute habe ich genug Zeit mit zickigen Kunden verbracht. Als ich ein kleines Bellen höre, werde ich aber hellhörig. Nicht, weil Haustiere hier drin nicht erlaubt sind, denn dank Aphrodites göttlicher Aura verhalten die sich hier geradezu gruselig perfekt, sondern weil mir dieses Bellen erstaunlich bekannt vorkommt. Und tatsächlich, gerade, als ich mich umdrehe, sehe ich einen kleinen, schwarzen Fellball, der verzweifelt versucht sich von der Leine zu reißen um zu mir laufen zu können. Mit einem kleinen Lächeln stelle ich das Tablett auf einen leeren Tisch und eile herüber zu meinem liebsten Welpen. Als ich in Reichweite komme, springt er an meinen Beinen hoch.
    „Oh, das tut mir schrecklich leid!“
    Erst jetzt schaue ich mir die Person an, die Hibikis Leine in der Hand hält. Es ist nicht Tyler, aber das hatte ich mir schon gedacht. Nein, es ist eine Frau, ich schätze sie auf Ende dreißig. Sie ist etwas größer als ich und wirkt etwas überfordert. Mit der einen Hand versucht sie, Hibiki von mir wegzuziehen, mit der anderen macht sie seltsame Verrenkungen, weil ihre Handtasche ihr von der Schulter rutscht. Die schulterlangen, karamellfarbenen Haare fallen ihr etwas unordentlich ins Gesicht, aber sie erträgt es mit einem tapferen Lächeln. Instinktiv muss ich zurücklächeln.
    „Normalerweise springt er keine fremden Menschen einfach so an“, erklärt sie hektisch. Dann, zu Hibiki: „Komm schon, Schatz, lass das arme Mädchen in Ruhe!“
    „Das ist schon in Ordnung“, antworte ich und beuge mich zu Hibiki herunter. Er drückt seinen kleinen Kopf in meine Hand und schleckt munter die Innenseite ab. „Ich freue mich ja auch, dich wiederzusehen.“ Das scheint die Frau etwas zu verwirren, aber vorerst beschränkt sie sich darauf, mich einfach zu beobachten.
    „Möchten Sie sich setzen?“, spreche ich sie dann irgendwann mit einem schiefen Grinsen an. Die Arme scheint etwas fertig mit den Nerven zu sein. Ich sehe jetzt erst, dass sie mehrere große Tüten mit sich herumträgt. Die sehen verdammt schwer aus.
    „Oh, danke, das wäre-“, beginnt sie, bricht aber ab, als sie sieht, wie Hibiki mich weiter anspringt. „Schluss jetzt, Hibiki!“ Sie seufzt und zieht ihn leicht, aber bestimmt weiter auf den freien Tisch zu, auf dem mein Tablett liegt. Als sie sich in den Sessel fallen lässt, sinkt sie augenblicklich darin ein und schließt für einen Moment die Augen. Dann kehrt wieder so etwas wie Körperspannung zurück und sie lässt Tüten und Handtasche auf den Boden fallen, um dann Hibikis Leine an dem Stuhl gegenüber festzumachen.
    „Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Tee, Kakao?“
    „Ich brauche dringend einen Kaffee.“
    Ich muss etwas grinsen. Ja, die Arme ist definitiv fertig mit der Welt.
    „Kommt sofort“, stoße ich möglichst fröhlich aus und mache mich auf den Weg zum Durchreichefenster. Es dauert keine halbe Minute nach meiner Bestellung, da steht der Kaffee auch schon auf meinem Tablett und ich kann ihn herüberbringen.
    Als die Kundin in sieht, ringt sie sich zu einem schwachen Lächeln durch und richtet sich etwas auf.
    „Entschuldige bitte Hibikis Verhalten. Er hört leider wirklich nur auf meinen Sohn“, murmelt sie, während sie sich Zucker und Milch ins Getränk kippt.
    Dachte ich es mir doch.
    „Entschuldigung, aber könnte es sein, dass ihr Sohn Tyler heißt?“ Die Frau sieht mich überrascht an, nickt aber.
    „Sag bloß, du kennst ihn.“
    „Wir sind… Bekannte, ja.“ Ich wüsste nicht, wie ich es sonst ausdrücken könnte. Für den Begriff Freunde ist es wohl noch etwas zu früh. „Wir gehen zur selben Schule.“
    Sofort sitzt sie kerzengerade in ihrem Sessel und ihr Gesicht hellt sich deutlich auf.
    „Ach wirklich? Das ist ja toll!“ Ich blinzele überrascht. Mit so einer Reaktion hätte ich nicht gerechnet. „Tyler und Seth reden leider nicht viel von der Schule. Sie sind etwas… introvertiert. Aber es ist schön, endlich mal einen von ihren Freunden zu treffen!“
    Okay. Freund hat sie jetzt gesagt. Ich entscheide mich, das einfach unkommentiert zu lassen.
    „Wie heißt du? Arbeitest du hier?“ Plötzlich ist diese Frau, die gerade eben noch komplett ausgelaugt war, Feuer und Flamme. Ich muss etwas grinsen. So habe ich mir Tylers und Seths Mutter wirklich nicht vorgestellt. Wie kann eine so freundliche Mutter bloß einen Sohn haben, der so… Seth ist. Offensichtlich ist dieser Apfel kilometerweit von seinem Baum gefallen…
    „Ava. Ava Jolie“, beantworte ich ihre Frage. „Meiner Mutter gehört dieses Café, ich helfe heute nur aus.“
    „Ach, das ist ja toll!“, stößt sie aus. „So jung und schon so fleißig!“
    Ich streiche mir etwas verlegen durch die Haare. Wenn sie wüsste, wie unbrauchbar ich bin…


    Ich entscheide mich dazu, Arbeit Arbeit sein zu lassen, lege meine Schürze weg und ziehe meine Mittagspause etwas vor. Die steht mir immerhin zu. Vorher hole ich aber noch zwei Stücke Torte aus der Küche und setze mich dann an den gleichen Tisch wie Tylers Mutter. Sie hat sich mittlerweile als Leah Preston vorgestellt und besteht darauf, dass ich sie mit Vornamen anspreche. „Und sieze mich bloß nicht, dann fühle ich mich immer so alt.“
    Hibiki hat es sich auf meinen Füßen bequem gemacht und atmet langsam und beständig. Auch Leah sieht jetzt wesentlich entspannter aus, wobei das vermutlich zu einem großen Teil an Aphrodite liegt, die förmlich durch den Laden schwebt und Pheromone versprüht.
    „Ist mit Tyler denn alles in Ordnung?“ Das hier ist meine Chance, so viel wie möglich über ihn herauszufinden. Leah ist äußerst redselig, und mit den richtigen Fragen bekomme ich genau die Antworten, die ich haben will. Trotzdem macht es mir ein schlechtes Gewissen. Ich mag Leah, sie ist zwar etwas überfordert, aber… Sie ist eine Person, die man einfach gerne haben muss. So etwas gibt es nur selten. „Ich habe ihn in den letzten Tagen nicht gesehen.“
    „Oh ja, er hat eine Grippe. Und was Tyler sich einfängt, hat Seth auch sofort, und andersherum“, lächelt Leah schief. „Der Arzt sagt, dass sie etwas Ruhe brauchen. Und mit der Medizin-“ sie deutet auf eine der großen Tüten neben sich auf dem Boden. „- werden sie bald wieder fit sein. Danke, dass du dich sorgst.“
    Ich nicke langsam. Ich habe mich wirklich etwas gesorgt. Zwar ist mein Hauptmotiv noch immer die Wette, aber… Dass ich mich doch etwas für Tyler interessiere, erleichtert mein Gewissen etwas.
    „Woher kennst du denn Hibiki, Ava?“
    „Oh, ich hab Tyler und Hibiki vor einer Weile in einem Park getroffen. Ich hatte mich ein wenig verirrt, und Tyler war so nett und hat mich nach Hause gebracht.“
    „Ach.“ Leah wirkt ernsthaft überrascht. So langsam beschleicht mich die Vermutung, dass sie selbst nicht das beste Bild von ihren Söhnen hat. Ich habe keine Zweifel daran, dass sie sich sehr um sie sorgt, so, wie sie von ihnen redet, aber man sieht deutlich die Sorge in ihrem Blick. Ein wenig tut sie mir leid. Sie muss den ständigen Ärger mit der Schule ja auch mitbekommen. Noch dazu sind die Zwillinge solche Einzelgänger…
    „Und letztens hat er mich aufgemuntert, als es mir nicht so gut ging“, rede ich weiter. Ich habe das dringende Bedürfnis ihr zu beweisen, dass Tyler sehr viel netter ist, als alle denken. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil ich weiß, wie es sich anfühlt, falsch eingeschätzt zu werden? Als ich noch in meinem alten Körper steckte, bin ich oft merkwürdig angesehen worden. Vermutlich, weil ich permanent wütend aussah. Dabei war ich nicht wütend. Also meist nicht.
    Leah schenkt mir ein fröhliches Lächeln.
    „Das ist schön. Ich hoffe, du kannst ihm verzeihen, wenn er ab und an etwas schwierig ist.“
    „Oh, keine Sorge“, lache ich. „Schwieriger als ich kann er nicht sein.“
    Wir schweigen beide einen Moment, ich, um mir ein Stück Kuchen in den Mund zu schieben, und sie, um mich für einen Augenblick zu beobachten.
    „Komm doch mal bei uns vorbei“, sagt sie dann unvermittelt. „Ich bin mir sicher, Tyler und Seth würden sich freuen. Und ich auch.“
    Daaaaaaaaaaaas bezweifle ich. Stark. Sehr stark. Mir entgleitet für einen Moment mein Lächeln, und ich versuche krampfhaft, es wieder auf mein Gesicht zu zaubern.
    „Die beiden brauchen sicher so viel Ruhe wie sie kriegen können“, antworte ich und spiele unter dem Tisch mit meinem Ring herum. „Da möchte ich nicht stören.“
    „Ach Unsinn, Ava, ich wette, dass ein Besuch von einer Freundin genau das ist, was ihnen gut tut. Sie verlassen schon seit Tagen nicht mehr ihre Zimmer.“
    Oha. Bitte was?
    „Echt nicht?“
    „Nein, ich sehe sie nur, wenn ich mal bei ihnen vorbeischaue. Ansonsten geben sie den ganzen Tag über keinen Laut von sich.“
    Das schreit nach einer Zwillings-Beziehungskrise. Ich habe es also wirklich geschafft, hm? Bevor das schlechte Gewissen sich bemerkbar machen kann, wende ich mich wieder meinem Kuchen zu. Gott, wo hat Aphrodite bitte Bäcker und Konditoren her, die genial backen können und dazu noch gut aussehen? Oder vielleicht lässt sie diese Typen auch einfach nur gut aussehen, bei mir hat sie es ja auch geschafft.
    Gottverdammt. Geh weg, schlechtes Gewissen. Ich kann dich jetzt nicht gebrauchen!
    „Okay, wie wäre es damit“, fängt Leah jetzt wieder an. Ich wende mich vom Kuchen ab und kaue auf meiner Gabel herum. Das ist wenig damenhaft, aber ich kann gerade nicht anders. „Du kommst gut mit Hibiki klar, oder? Eindeutig besser als ich.“ Sie deutet mit dem Finger unter den Tisch, wo Hibiki mittlerweile scheinbar eingedöst ist. Meine Füße tun es ihm langsam nach.
    „Wenn du morgen etwas Zeit hast, könntest du ihn dann Gassi führen?“ Als ich mit gerunzelter Stirn den Mund öffne, unterbricht sie mich, bevor ich auch nur einen Laut von mir geben kann. „Natürlich nicht umsonst. Du bekommst etwas dafür.“
    Jetzt bin ich verwirrt. Spekuliert sie darauf, dass ich ihren Söhnen begegne, wenn ich Hibiki abhole?
    Plötzlich greift sie über den Tisch hinweg nach meiner freien Hand. Sie lächelt mich etwas unsicher an.
    „Wenn du keine Zeit hast, ist das natürlich okay. Es ist nur so, dass Hibiki nicht auf mich hört, und du würdest mir einen riesigen Gefallen tun. Bitte?“
    Verdammt. Sie hat einen eins A Dackelblick. Ich beiße mir auf die Lippe. Eigentlich habe ich wenig Lust darauf, Seth zu begegnen. Andererseits hat sie ja gesagt, dass beide die ganze Zeit über in ihrem Zimmer sind. Die Chance, von einem Todesblick durchlöchert zu werden ist also relativ gering. Abgesehen davon habe ich morgen nicht wirklich etwas vor… Und vielleicht ist das die Gelegenheit, etwas mehr über Tyler zu erfahren. Eine gute Beziehung zu seiner Mutter ist sicher auch keine schlechte Sache, und-
    Okay, okay. Im Grunde hatte ich bei diesem Dackelblick ohnehin schon verloren.
    „In Ordnung“, stoße ich etwas gepresst aus. Leah schenkt mir ihr strahlendstes Lächeln und kramt sofort in ihrer Tasche herum. Sie zieht einen Zettel heraus, auf dem sie mit einem silbernen Kulli in einer schönen, geschwungenen Schrift einige Dinge aufschreibt.
    „Das hier ist unsere Adresse“, sagt sie und schiebt das Papier zu mir herüber. „Wann passt es dir denn am besten?“
    „Ich bin nicht wählerisch“, lächele ich schief.
    Oh man. Hoffentlich geht das gut.



    Ich habe es genau geplant. Wenn ich ankomme, werde ich klingeln, mir Hibiki noch vor der Haustüre übergeben lassen und dann meine Runde mit ihm drehen. Und wenn ich fertig bin, werde ich ihn vor der Haustüre übergeben, meinen Lohn einstecken und mich höflich verabschieden.
    Ich schau zum Himmel hoch, der blau und wolkenlos über der Stadt liegt. Zumindest das Wetter spielt mit. Es ist etwas kühler als gestern, aber leichte Kleidung reicht trotzdem noch aus. Passend zum Anlass trage ich meine Turnschuhe (und habe gestern noch meine Blasen verarztet, die nach acht Stunden Café-Arbeit zwangsweise entstanden sind) knielange Sporthosen und ein einfaches Tanktop. Um die Hüfte habe ich eine Sweatjacke gebunden, nur für den Fall, dass es doch etwas kühler wird. Ich habe lange keinen Sport mehr gemacht, und das hier könnte sie Gelegenheit sein, etwas den Kopf freizubekommen.
    Mein Smartphone zeigt mir an, dass es kurz vor eins ist. Mit der Karte, die diese praktische Navigationsapp vorgibt, dürfte ich bald ankommen. Tyler wohnt gar nicht so extrem weit von mir entfernt. Etwas weiter im Stadtinneren, in Richtung des Parks, wo ich ihn getroffen hab, was erklärt, warum er dort war. Wenn ich den Weg finde, dann werde ich Hibiki wohl auch dorthin ausführen.
    Insgeheim freue ich mich ein wenig darauf, Zeit mit dem Welpen zu verbringen. Ich durfte nie ein Haustier haben, wohl auch, weil mein Hamster damals eingegangen ist (Hannah’s Kaninchen ging es nicht besser) und in der großen Stadt auch nicht viel Platz für einen Hund oder eine Katze gewesen wäre. Von unserem Vermieter mal ganz abgesehen, der hasste alles, was atmete. Obwohl, nein. Er hasste alles, was existierte.
    Als ich aufschaue, bemerke ich, dass die Häuser in dieser Gegend sich von den anderen im Stadtinneren in einem Punkt unterscheiden: Sie sind wesentlich größer. Hier findet man keine Mietshäuser oder kleinere Familienwohnungen. Es ist eine etwas gehobenere Wohngegend. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, Lisa hatte erwähnt, dass Tylers Vater Investmentbänker ist. Scheinbar ist er gut in dem, was er tut.
    Ich folge den Hausnummern bis die Straße in einem großen Platz, und damit auch in einer Sackgasse, endet. Mein Handy stecke ich in meine Hosentasche und steuere direkt auf das Haus zu, das den Zahlen nach das richtige sein müsste. Es hat zwei Geschosse und die Fassade ist komplett weiß und glatt. Mit dem schwarzen Dach und den Glasfenstern sieht es auf den ersten Blick ziemlich modern aus, die vielen Pflanzen und einige Säulen wirken aber wieder sehr… altertümlich? Es ist eine seltsame Mischung, aber ich muss sagen, dass sie mir gefällt. Das Grundstück ist von einer weißen Backsteinmauer umschlossen, also bewege ich mich zu dem schmiedeisernen Tor. Ich sehe einen Knopf an der Seite, und ein kleines, silbernes Schild, auf dem mit Druckbuchstaben „Preston“ steht. Ich schaue kurz auf meine Armbanduhr. Zwei vor eins. Genau pünktlich.
    Ich fahre mir zwei Mal durch die Haare, übe in Gedanken noch einmal, was genau ich sagen muss („Hallo, mein Name ist Ava Jolie, ich soll Hibiki Gassi führen“) und drücke dann auf den Knopf. Für einen Moment passiert nichts, dann blinkt eine kleine Leuchte auf. Von irgendwoher höre ich eine Stimme, aber ich finde den Lautsprecher nicht.
    „Ja bitte?“, höre ich eine Stimme sagen. Ich kenne sie nicht, es ist weder Leah noch Tyler oder Seth.
    „Äh, hallo. Ich will mit Hibiki gehen. Also Gassi gehen. Ich soll mit Hibiki Gassi gehen.“
    Wow Ava. Bravo. Ten out of Ten, wenn du nicht absolut vertrauenswürdig erscheinst, wer dann?
    „Ah, du musst Ava sein. Komm doch bitte herein, das Tor ist offen.“
    Noch bevor ich etwas sagen kann, macht es „Klick“ und die Stimme ist weg. Mist. So viel zum Thema „Ich werde das Haus nicht betreten“.
    Langsam gehe ich zum Tor herüber, das etwa einen halben Kopf größer ist als ich, und drücke die Klinke herunter. Es springt tatsächlich auf. Ich verharre für einen Moment, seufze und schlüpfe dann herein. Na gut. Mir bleibt nicht viel übrig.


    Als ich die paar Meter gepflasterten Weg zur Eingangstür hinter mich gebracht habe, wartet an der Tür schon eine etwas ältere Frau auf mich, die mich mit einem warmen Lächeln empfängt. Unwillkürlich lächele ich zurück.
    „Hallo, komm herein“, sagt sie und geht schon einmal vor. Mir bleibt nicht viel anderes übrig, als ihr zu folgen. Von Innen wirkt das Haus zwar immer noch groß, ist aber auf eine Art eingerichtet, die es trotzdem heimelig aussehen lassen. Große Teppiche, einige Bilder, Regale mit allerlei Büchern und anderen, persönlichen Dingen darin. Ich habe das Gefühl, dass Leah diejenige ist, die hier eingerichtet hat. Sie erscheint mir wie der Typ Mensch, der sich nur dann wohlfühlt, wenn ein Raum eine persönliche Note hat.
    Trotz ihres etwas höheren Alters legt die Dame vor mir ein erstaunliches Tempo vor. Vielleicht ist so so etwas wie eine Hausdame? Für ein Kindermädchen sind Tyler und Seth eigentlich zu alt. Und wie eine Putzkraft sieht sie definitiv nicht aus. Ihr Haar ist fast durchgängig grau, hat aber noch ein paar wenige Strähnen braun darin. Wann immer sie sich umdreht, schenkt sie mir ein Lächeln.
    Die Frau führt mich bis in die Küche, wo sie mir sagt, ich solle kurz warten. Dann streckt sie ihren Kopf aus der Tür und ruft laut nach Leah. Ich muss etwas grinsen, denn sie kann definitiv lauter brüllen als ich es erwartet hätte.
    „Möchtest du etwas trinken, Liebes?“
    Ich schüttele den Kopf und schau mich ein wenig um. Es ist eine moderne Küche in weiß, mitsamt Kochinsel und zwei hohen Backöfen. Vieles von den Geräten, die überall verteilt stehen, erkenne ich nicht einmal. Und in den vielen Schränken ist Platz für noch mehr davon. Von der Küche mit einer nicht komplett durchgängigen Wand abgetrennt sehe ich einen großen Tisch und einige Stühle, vermutlich das Esszimmer. Die Frau deutet allerdings auf einige Hocker an der Kochinsel, also setze ich mich dort hin.
    Nach einer kurzen Weile fliegt die Tür offen und neben einem kleinen, schwarzen Fellball stürmt auch eine etwas größere Frau ins Zimmer.
    „Ava!“, begrüßt Leah mich strahlend und stürmt auf mich zu. Sie greift mich an den Händen und ich rutsche etwas ungeschickt vom Hocker herunter. „Entschuldige bitte, ich war so in meine Arbeit vertieft. Danke, dass du da bist.“
    „Keine Ursache“, sage ich und lächele höflich. Ich muss mich stark zusammenreißen, nicht zu lachen. Leahs Haare stehen etwas ab, weil der Kulli, der vermutlich eigentlich hinter ihrem Ohr klemmen sollte, nur noch an einer Haarsträhne verfangen irgendwie der Gravitation trotzt.
    Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass die ältere Dame auch etwas resigniert lächelt, sich aber gleichzeitig auch angestrengt davon abhält, zu lachen.
    „Ich bin im Garten, Liebes“, sagt sie dann an Leah gewandt.
    „Danke dir, Martha“, antwortet Leah nickend. Als Martha durch eine Glastür nach draußen geht sehe ich, dass sie die Hand vor dem Mund hält und ihre Schultern ein wenig beben.
    „Hast du gut hergefunden, Ava?“ , richtet sich Tylers Mutter nun wieder an mich. Ich nicke eilig und beuge mich dann vor, weil Hibikis Kläffen mich daran erinnert, dass ich ihn noch gar nicht begrüßt habe, was der kleine Welpe scheinbar alles andere als gut findet. Nach einer kleinen Runde Streicheleinheiten liegt er mit dem Bauch zu mir gewandt auf dem Boden und hechelt etwas.
    Leah zieht aus ihrer Hosentasche eine Leine hervor und reicht sie mir. Glücklicherweise bleibt Hibiki dieses Mal ruhig und ich bekomme ihn schnell angeleint.


    „Danke noch einmal“, spricht Leah mich an, als sie mich zurück zur Eingangstüre führt.
    „Kein Problem“, sage ich, meine Augen noch auf Hibiki gerichtet, der vor lauter Aufregung hin und her rast, so weit es die Leine eben erlaubt. Wie kommen im Flur an und ich bleibe kurz stehen.
    „In einer Stunde bin ich wieder da“, verspreche ich.
    „Keine Hektik“, lacht Leah. Als ich mich umdrehe denke ich, dass ich für einen kurzen Augenblick oben an der Treppe eine Bewegung gesehen habe. Ich runzele die Stirn, aber da ist nichts mehr. Vermutlich habe ich mir das nur eingebildet.


    Ich sollte mich vielleicht korrigieren. Ich bin nicht diejenige, die Hibiki Gassi führt. Eigentlich ist es genau andersherum.
    Für einen so kleinen Welpen hat er nämlich recht viel Kraft, vielleicht ist es aber auch nur die Aufregung, nach draußen zu kommen. Ich lasse mich also nur etwas ziehen, ermahne den Kleinen hin und wieder, was aber auch nur ungefähr zehn Sekunden etwas nutzt, und sehe zu, wie freudig er auf alles um ihn herum reagiert. Himmel, er ist so goldig.
    Hibiki schlägt scheinbar den Weg ein, den er schon kennt, denn er endet in dem Park, wo ich ihn das erste Mal gesehen habe. Wir folgen den Pfaden bis hin zu der großen, weiten Wiese, wo auch heute einige Hundebesitzer munter mit ihren Haustieren spielen. Einer wirft Frisbees, andere Stöcke, und wieder andere sehen einfach zu, wie ihre Hunde miteinander tollen. Hibiki will auch dort hin, aber ich möchte ihn nicht von der Leine lassen. Ich bezweifle, dass er mir gehorcht, und wenn ich ihn nachher nicht mehr einfangen kann, oder noch schlimmer, er einfach wegrennt… Das will ich wirklich nicht.
    Stattdessen setze ich mich auf eine der Bänke und hebe Hibiki auf meinen Schoß, wo er etwas unruhig herumkrabbelt.


    Für einige Minuten beobachte ich einfach nur die anderen Hundehalter. Hibiki jault ein wenig, aber so leid es mir auch tut, das Risiko will ich einfach nicht eingehen. Ich schließe die Augen und lege den Kopf in den Nacken. Eine Weile können wir noch hier bleiben, und danach-
    Mit einem Male spüre ich, wie meine Haut anfängt zu kribbeln. Hibiki in meinem Schoß wird noch wilder, und dieses Mal kann ich ihn nicht zurückhalten. Er springt von meinen Beinen just in dem Moment, in dem ich die Augen öffne, schafft es aber nur so weit, wie die Leine es ihm erlaubt. Was weit genug ist, um an den Beinen einer Person hochzuspringen.
    Ich wage kaum, mich zu bewegen. Ich kenne dieses Gefühl.
    „Tiere sollten frei sei. Genau für so etwas ist so ein Park da.“
    Gänsehaut. Die Stimme ist ruhig und scheinbar gelassen, aber trotzdem seltsam… hart. Ich weiß genau, dass sie mich in Angst und Schrecken versetzen könnte, wenn sie wollte.
    Langsam schaue ich von den Beinen auf.
    Vor mir steht eine junge Frau, vielleicht Mitte zwanzig, mit kurzem, gelocktem und strohblondem Haar. Sie trägt ein lockeres, weißes Shirt und kurze Sporthosen, aber ihr gesamter Körperbau ist nur wenig feminin. Sie hat nicht wirklich Kurven, und obwohl sie dünn erscheint zeichnen sich unter ihrer Haut Muskeln ab. Ich wage es kaum, ihr ins Gesicht zu schauen, aber als ich es tun, durchbohren mich schmale, stechende Augen in einem so hellen grau, dass sie aussehen wie flüssiges Silber. Selbst ihr Gesicht wirkt beinahe androgyn, mit hohen Wangenknochen, einer unglaublich schmalen Nase und dünnen, hellen Lippen. Alles an ihr wirkt kantig, schon fast roh.
    Erst als Hibiki jault, kann ich mich von ihrem Gesicht losreißen. Ich schaue zu ihm herunter und sehe, wie zwei große dünne Hunde neugierig an ihm schnuppern. Beide haben unglaublich kurzes, einmal weißes und einmal hellbraunes Fell und sind so dürr, dass man die Rippen unter ihrer Haut sehen kann. Als ich sie mustere, stellen beide ihre Ohren auf und schauen mich beinahe wachsam an.
    „Podenco Ibicenco. Windhunde. Schöne Tiere, nicht wahr?“
    Ich nicke, mehr aus Reflex, als wirklich bewusst. In den Augen der beiden Tiere spiegelt sich die Sonne wieder. Ich kann kaum wegschauen.
    „Du solltest den Kleinen frei laufen lassen“, wendet sich die Frau wieder an mich. Als ich das zweite Mal hochsehe, bin ich gewappnet, aber ihr Gesicht verschlägt mir trotzdem wieder für einen Moment die Sprache. Nein, eigentlich ist es weniger ihr Gesicht, viel mehr ihre gesamte Aura.
    „Ich kann nicht. Er wird nicht auf mich hören“, stottere ich mit heiserer Stimme. Ich räuspere mich verlegen und ziehe unter ihrem Blick die Schultern an.
    „Wenn du deinem Hund vertraust und respektvoll begegnest, wird er dir immer gehorchen.“ Es ist mehr eine Feststellung als ein Rat. „Sollte es nicht funktionieren, werden Chrysos und Asimi den Welpen zurück holen. Probier es aus.“
    Erneut mehr ein Befehl als eine Ermutigung. Ich starre die Frau noch für einen Moment an, dann gebe ich nach. Kaum habe ich die Leine von Hibikis Halsband gelöst, jagt dieser los in Richtung Wiese. Die beiden Windhunde stellen die Ohren auf und schauen erwartungsvoll hoch zu ihrer Herrin. Nach einem kurzen Handzeichen verschwinden auch sie in einem halsbrecherischen Tempo, direkt hinter Hibiki her. Innerhalb kürzester Zeit haben sie den Welpen aufgeholt. In meinem Leben habe ich noch kein schnelleres Tier gesehen…
    Als die Frau sich neben mir fallen lässt, zucke ich ein wenig zusammen.
    „Du weißt, wer ich bin?“, fragt sie unvermittelt.
    „Ich habe eine Ahnung“, stoße ich leise aus. Sie dreht sich zu mir und ich gebe mir einen Ruck. „Du bist Artemis, richtig?“
    Die Göttin der Jagd nickt schon beinahe anerkennend.
    „Nicht viele kennen heutzutage noch die alten Sagen.“
    „Es ist mehr Zufall“, murmele ich. „Für eine Weile habe ich mich für Mythologie interessiert.“
    „Stell dein Licht nicht so unter den Scheffel“, weißt sie mich an. Ich schlucke unter ihrem harten Blick. Für eine Weile schweigen wir, dann, mit einem Male, werden ihre Augen weich.
    „Du bist ein interessantes Mädchen. Es ist lange her, seit Aphrodite jemanden ausgewählt hat, der… das gewisse etwas hat.“ Dann seufzt sie und schaut mit einem Funken Ärger zum Himmel hoch. „Und trotzdem ist es eine Schande, dass du zu ihrer Belustigung an diesem kranken Spiel teilnehmen musst.“
    Danke. Da sind wir uns definitiv einig.
    „Ich bin lieber hier als in der Unterwelt“, raune ich und spiele an meinem goldenen Ring herum.
    „Wer ist das nicht.“ Artemis lacht bellend und ich zucke etwas zusammen. „Es hat seinen Grund, warum niemand gerne stirbt.“
    „Und ich habe ja etwas von diesem Spiel. Wenn ich gewinne, dann bekomme ich mein altes Leben zurück.“
    Augenblicklich verstummt die Göttin neben mir und ihr Blick wird fürchterlich düster.
    „Das hat sie dir versprochen?“, fragt sie. Wüsste ich es nicht besser, würde ich denken, dass das komische Geräusch, das ich von ihr höre, ein waschechtes Knurren ist. Aber das kann ja nicht sein. Oder?
    „S-Sie hat mir versprochen, mir einen Wunsch zu erfüllen. Egal welchen.“
    Jetzt knurrt sie definitiv. Und das gefällt mir gar nicht.
    „Hat sie gelogen?“ Meine Stimme klingt seltsam hohl. Artemis scheint das zu bemerken. Das Knurren verebbt und ihre Augen weiten sich ein wenig. Dann legt sie ihre Hände auf meine Schultern.
    „Nein. Nicht zwingend. Aber sei vorsichtig. Unsereins hat die Angewohnheit, die Dinge sehr genau zu nehmen. Und jedes Schlupfloch auszunutzen, was wir finden können.“
    Ich schlucke den dicken Kloß in mir herunter. Dort, wo Artemis mich berührt, wird mir seltsam warm. Sie scheint eine beruhigende Aura auszustoßen.
    Ich bin verwirrt. Warum ist Artemis hier? Und warum hat sie eine so starke Abneigung gegenüber dieser Wette? Sowohl Aphrodite als auch Hekate schienen sich eher darauf zu freuen. Beide hoffen auf etwas Unterhaltung.
    Fast so, als hätte sie meine Gedanken gelesen (was nicht unwahrscheinlich ist), lächelt sie mich milde an. So freundlich, wie ich es nie erwartet hätte.
    „Ich bin nicht nur die Göttin der Jagd, mein Kind. Ich bin auch die Beschützerin der Mädchen und Frauen. Und damit fällst du in mein Gebiet.“
    Richtig. Jetzt, wo sie es sagt, erinnere ich mich daran. Vage, aber die Erinnerung kommt zurück.
    „Ich kann es nicht ausstehen, wenn Mädchen und Frauen missbraucht werden. Zwar geschieht es in diesem Fall nicht körperlich, aber letztlich wirst du auch missbraucht. Zur Unterhaltung für einer Göttin mit zu viel Freizeit.“
    Ich muss schief grinsen. Artemis spricht mir aus der Seele. Aber trotzdem…
    „Ich bin die Wette eingegangen, also muss ich da jetzt durch“, stelle ich nüchtern fest. Artemis wirkt schon fast ein wenig überrascht. Für einen Moment sagt sie nichts, dann wird ihr Blick wieder etwas härter.
    „Das ist wahr“, stößt sie aus. „Aber ich bin nicht davon ausgegangen, dass du so… vernünftig bist. Ich habe dich eine Weile beobachtet Ava, und denke, dass du ein kluges Mädchen bist. Aber auch kluge Mädchen hadern oft mir ihrem Schicksal.“
    „Das habe ich. Und das tue ich immer noch ein wenig“, gebe ich zu. „Aber ich kann es nicht ungeschehen machen. Also muss ich die Zähne zusammenbeißen und das Beste daraus machen.“
    Artemis schaut mich kurz düster an… Und bricht dann plötzlich in bellendes Gelächter aus.
    „Ich mag dich, Ava“, presst sie zwischen ihren Lachern hervor. „Du bist eine Kämpferin. Du weißt, was du willst. Solltest du es nicht schaffen, werde ich Hades überreden, deine Seele frei zu lassen und dich zu einer meiner Jägerinnen machen.“
    „Danke. Schätze ich.“
    Artemis lacht noch einen Moment, und ich muss reflexartig grinsen. Zum ersten Mal bin ich einer Göttin begegnet, die mir scheinbar wirklich wohlgesonnen ist. Und irgendwie mag ich Artemis. Ich weiß nicht genau, warum. Sie ist direkt mit ihren Worten und scheint eine so starke Person zu sein. Und trotzdem scheint sie auch eine fürsorgliche Seite zu haben. Das finde ich bewundernswert.
    Als ihr Lachen verebbt, erhebt sich die Göttin der Jagd und dreht sich zu mir um.
    „Bleibe stark, Ava Hale. Lass dir die Ungerechtigkeit nicht bieten.“ Dann beugt sie sich zu mir herunter, so, dass ihre Locken meine Wange streifen. Sie riecht nach Wald und Regen und Nacht. Ein angenehmer Duft. „Mach Aphrodite fertig. Sie bekommt viel zu oft ihren Willen, weil Männer zu hirnlosen, sabbernden Marionetten werden, wenn sie in der Nähe ist. Ich möchte mich jedes Mal übergeben.“
    Ich grinse breit und nicke. Ich weiß nicht, ob ich es wirklich versprechen kann, aber ich werde mein möglichstes tun.
    Artemis dreht sich zur Wiese um und spitzt die Lippen. Eine Serie von Pfiffen schalt quer durch den Park, so laut, als hätte jemand einen Verstärker bereitgestellt. Für einen Moment passiert nichts, dann, so schnell, dass ich es kaum verarbeiten kann, sind die Windhunde wieder an ihrer Seite. Die beiden Hunde springen wild an ihre herum, doch Artemis bleibt ohne das kleinste Schwanken stehen und schiebt sie unwirsch, aber mit einem Grinsen, von sich weg. Dann sieht sie mich erwartend an.
    „Ruf nach ihm. Er vertraut dir, das spüre ich. Jetzt musst du nur noch dir selbst vertrauen, und er wird kommen. So funktioniert alles im Leben.“
    Ich sehe Hibiki nicht einmal, dafür sind zu viele Hunde auf der Wiese. Ich werde also laut sein müssen.
    Die Hände an meinem Mund zu einem Trichter geformt hole ich tief Luft. So laut wie ich nur kann rufe ich: „Hibiki, komm zu mir!“
    Fünf Sekunden vergehen. Dann zehn. Fünfzehn. Ich zweifele und schaue zur Frau neben mir, aber Artemis lächelt aufmunternd.
    Dann endlich ein vertrautes Jaulen. Rechts von mir rast der kleine, schwarze Fellball heran, mit einem Tempo, dass zwar nicht so beeindruckend ist wie das von Artemis Windhunden, aber immer noch ziemlich rasant. Ich hocke mich hin und empfange Hibiki, als er in meine Arme springt. Die Leine ist schnell angebracht und hechelnd streunert er um mich herum.
    „Es hat wirklich geklappt“, sage ich mit einem leichten Lächeln. Artemis nickt und legt mir ein letztes Mal die Hand auf die Schulter.
    „Zuversicht, Ava. Mit etwas Zuversicht und Arbeit kannst schaffen, was du dir vornimmst. Und sollte das nicht genügen, dann rufe nach mir und ich werde dir zur Seite stehen.“
    Ich sehe sie mit offenem Mund an. Ich möchte etwas sagen, ihr danken, doch als ich nur kurz blinzle, ist Artemis verschwunden. Und obwohl ich weiß, dass sie weg ist, sehe ich mich für einen Moment um.
    „Komm Hibiki“, spreche ich den kleinen Shiba-Inu an. „Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.“


    Wir kommen knapp zwanzig Minuten später beim Haus der Prestons an, als eigentlich geplant. Aber ich habe so gute Laune, dass ich mich nicht groß darum sorge. Auch Leah, die dieses Mal antwortet, als ich klingele, scheint mir keinerlei Vorwürfe zu machen. Sie begrüßt mich herzlich und lotst mich ins Haus. Komischerweise zögere ich dieses Mal nicht.
    „Und, wie war es?“ Leah scheint meine gute Laune zu merken. Sie spiegel mein breites Grinsen in ihrem Gesicht.
    „Gut“, antworte ich wahrheitsgemäß, während ich Hibikis Leine löse. Kaum ist sie ab, jagt er davon. „Ich wollte schon immer einen Hund haben, aber es gab einige Probleme, deswegen ging es nicht. Dazu ist Hibiki ein toller Hund, es macht Spaß mit ihm zu spielen.“
    Leah nickt und geht dann vorneweg, erneut Richtung Küche.
    „Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht, Ava. Martha hat extra etwas mehr gekocht. Magst du Steak?“
    Ohne nachzudenken nicke ich.
    Dann denke ich nach und das Lächeln vergeht mir für einen Moment.
    Verdammt. Ich wollte doch nicht hier bleiben. Denn wenn ich hier bleibe, dann-
    Leah öffnet eine Türe rechts von ihr und ich erkenne das Esszimmer. Auf dem großen Tisch steht eine Platte mit dampfenden Kartoffeln, und an dem Tisch sitzen…
    „Ava?“, stößt Tyler beinahe fassungslos aus, als seine Mutter mich in den Raum schiebt. Sein Blick ist allerdings nicht der einzige, der auf mir ruht. Und der andere ist alles andere als angenehm. Am anderen Ende des Tischs, möglichst weit weg von Tyler, sitzt Seth und starrt mich mit kaum verholener Missgunst an. Er schwankt zwischen fassungslos, wütend, genervt und verwurfsvoll, und diese Mischung ist so unangenehm, dass ich versuche, mich auf Tyler zu konzentrieren, der zwar etwas angespannt wirkt, aber zumindest etwas zustande bringt, das mich entfernt an ein Lächeln erinnert. Ein sehr instabiles, unsicheres Lächeln. Aber immerhin ein Lächeln.
    „Äh“, stammele ich selten intelligent. „Hi.“
    „Setz dich, Liebes.“ Aus der Küche kommt Martha, auf einer Hand balanciert sie eine große Platte mit saftigen und dampfenden Steaks, mit der anderen schiebt sie mich auf den Tisch zu. Leah deutet auf den Platz neben Tyler, also setze ich mich notgedrungen hin. Ich schlucke und starre für einen Moment die Kartoffeln in Grund und Boden, dann ringe ich mich dazu durch, Tyler anzuschauen.
    „Du bist also diejenige, die mit Hibiki spazieren gegangen ist“, stellt er fest.
    „Jep. Das war ich“, stoße ich gepresst hervor, weil ich immer noch sehe, wie Seth mit seinen Augen Löcher in mich bohrt. Himmel, wie soll ich das bitte aushalten? Ich habe ja jetzt schon das Gefühl, dass die Unterwelt vielleicht doch gar keine so schlechte Option ist.
    „Er hat sich doch hoffentlich benommen?“, richtet Leah sich jetzt an mich. Für einen Moment bin ich verwirrt und weiß nicht, was sie meint, dann nicke ich eilig.
    „Alles bestens.“
    Martha stellt das Steak auf den Tisch und setzt sich dann neben Seth. Leah nimmt am Kopfende des Tisches Platz.
    „Dann wünsche ich einen guten Appetit“, wendet sich Martha an alle und schenkt uns ein kollektives Lächeln. Das Essen sieht fabelhaft aus, aber Seth’s giftige Blicke lassen den Kloß in meinem Hals so groß werden, dass ich bezweifle, jemals wieder etwas essen zu können. Keiner scheint es zu bemerken. Denke ich zumindest, bis Tyler sich möglichst unauffällig zu mir herüber beugt und leise raunt: „Ignorier ihn.“
    „Das ist leichter gesagt, als getan“, murmele ich. Tyler platziert sowohl mir, als auch sich selbst ein Steak auf den Teller, und reicht mir dann die Kartoffeln, nachdem Leah und Martha damit fertig sind.
    Ich schneide mir ein Stück Fleisch ab, aber so sehr ich es auch versuche, ich kann es mir einfach nicht in den Mund stecken. Es riecht köstlich, aber ich mache den Fehler, noch einmal zu Seth zu schauen. Sein Blick jagt zwischen mir und Tyler hin und her. Ich lasse die Gabel sinken.
    Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Tyler sich seinem Bruder zuwendet. Als ich mich zu ihm umdrehe zucke ich wieder zusammen. Er steht Seth in keinster Weise nach, tödliche Blicke betrifft. Zwar gilt dieser hier nicht mehr, aber so nah an den Augen zu sein, die beinahe Funken sprühen, ist mehr als bloß unangenehm. Ich verstehe endlich, wie all diese Gerüchte zustande kamen.
    „Seth, Schatz, du solltest etwas essen“, wendet Leah sich an ihren Sohn. Sie runzelt zwar die Stirn, aber die schlechte Stimmung scheint sie nicht zu bemerken. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass sie es noch immer schafft, zu lächeln.
    Seth bleibt für einen Moment still, dann schiebt er mit einem lauten Krachen seinen Stuhl zurück und wendet sich von uns ab. „Ich hab keinen Hunger“, stößt er gepresst aus und verlässt dann fluchtartig das Esszimmer. Leah ruft ihm noch hinterher, aber Tyler hält sie davon ab, ihm nachzugehen.
    „Lass ihn, Ma“, murmelt er mit einem Blick zur Tür. „Er wird schon nicht verhungern.“


    Die Stimmung ist noch immer nicht komplett ausgelassen, aber zumindest bringen wir so etwas wie ein lockeres Gespräch zustande. Ich erzähle vom Spaziergang mit Hibiki, von meinem Umzug nach hier, von meiner „Mutter“… Tyler versichert mir, dass er Montag wieder zur Schule kommt.
    „Ich halte keinen weiteren Tag hier aus“, raunt er, und ich verstehe genau, was er meint.
    Das schlechte Gewissen kommt schleichend, aber stetig zurück. Er sieht nicht gerade glücklich aus. Aber was habe ich erwartet. Ich bin der Grund dafür, dass seine Beziehung zu seinem Bruder scheinbar komplett im Eimer ist. Das wusste ich schon vorher, aber mitzuerleben, wie heftig es wirklich ist, ist noch einmal etwas ganz anderes.
    Glücklicherweise lenken Leah und Martha mich ziemlich gut ab. Sie haben einige lustige Geschichten über Tyler auf Lager, die ihm hundertprozentig tödlich peinlich sind. Zumindest vergräbt er die ganze Zeit sein Gesicht in seinen Händen und vermeidet es, mich anzusehen.
    „Es gab eine Zeit, in der er sich immer in Schränken versteckt hat“, fängt Martha gerade an. Ich muss mich arg zurückhalten, nicht ständig in Gelächter auszubrechen, und das war ganz schön schwierig. Bei der Vorstellung, wie klein Tyler sich partout weigerte, sich morgens früh umzuziehen, und Martha ihn deswegen im Benjamin Blümchen Schlafanzug zum Kindergarten schickte, oder wie er auf einer Party den ganzen Abend wild zur Musik gezuckt- äh, pardon, getanzt hat, ist es echt schwer, sich zusammen zureißen.
    „Oh ja, daran erinnere ich mich“, grinst Leah und hält sich eine Hand vor dem Mund.
    „Reicht es nicht langsam?“ Ich habe in meinem Leben noch nie jemanden gehört, das verzweifelter klang. Tylers Ohren sind knallrot und ich glaube, mit seinem Gesicht sieht es auch nicht viel besser aus. Er tut mir so schrecklich leid, aber… Was ich hier gerade über ihn lerne, ist für meine Mission essentiell. Ganz bestimmt.
    „Tyler hatte als Kind Angst vorm Dunklen, musst du wissen“, wendet sich Martha wieder an mich. „Und obwohl er es nie lange im Schrank ausgehalten hat, ist er immer wieder in einen hineingeklettert.“
    „Einmal hat er sich allerdings den falschen Schrank ausgesucht, den konnte man nur von außen öffnen, weil man den Türknauf drehen muss.“
    „Ma, bitte.“ Tylers flehentlicher Tonfall bereitet mir zwar ein kleines, schlechtes Gewissen, aber jetzt will ich den Rest hören. Ich nicke Leah heimlich zu.
    „Tyler war also in diesem Schrank eingeschlossen, eine gute halbe Stunde, und hat sich die Seele aus dem Leib geschrien, weil er solche Angst hatte. Als wir ihn dann endlich wiedergefunden haben, war er völlig traumatisiert und hat den Raum, in dem der Schrank stand, ein knappes Jahr nicht mehr betreten. Und immer wenn wir ihn gefragt haben, hat er mit vollkommen ernstem Blick gesagt ‚Da ist der böse Schrank. Ich mag den bösen Schrank nicht.‘“
    „Oh Gott“, stoße ich gepresst aus und versuche krampfhaft, das Lachen zu unterdrücken. Tyler stöhnt und lässt seinen Kopf auf die Tischplatte fallen.
    „Es tut mir Leid“, presse ich an Tyler gewandt hervor. Und dann breche ich in Gelächter aus. Der böse Schrank, ich kann nicht mehr!
    „Seid ihr denn dann langsam mal fertig?“ Mittlerweile scheint er sich wirklich zu ärgern.
    „Ach komm, so schlimm ist das nicht“, grinst Leah. „Jeder hat doch seine peinlichen Kindergeschichten.“
    Ich nicke mit einem schiefen Grinsen und schnappe etwas nach Atem.
    „Aber es werden gerade nur meine herausposaunt“, grummelt er weiter.
    „Was ist mit dir, Ava?“ Martha lächelt schon beinahe etwas schadenfreudig.
    Ich schaue sie verdutzt an.
    „Genau, jetzt bist du dran! Los Ava, erzähl schon!“, spornt mich jetzt auch noch Leah an. Zwischen seinen Armen sehe ich Tylers erwartungsvollen Blick.
    Na gut. Ich schätze, das schulde ich ihm… Nur was soll ich bitte erzählen? Zu peinlich darf es auch nicht sein. Oh. Ich weiß.
    Ich hole tief Luft und merke schon jetzt, wie mir etwas Blut in den Kopf schießt. Okay. Dann mal los.
    „Als ich vier oder fünf war, habe ich ein paar Mal geschlafwandelt. Meine Mutter ist davon wachgeworden, dass ich erst einmal gegen die Türe gelaufen bin, bevor ich es aus meinem Zimmer geschafft habe, und hat mich dann beobachtet. Ich bin in die Küche gegangen, hab den Kühlschrank aufgemacht, Milch und Eier herausgenommen, beides ungeöffnet in eine Schüssel getan, die zufällig noch auf dem Tisch stand und bin dann zu meinen Eltern ins Schlafzimmer. Da habe meinen Vater angesprochen, ob er selbstgemachte Kekse haben möchte und weil keine Antwort kam, die Schüssel über ihm ausgekippt, bevor meine Mutter reagieren konnte.“
    Für einen Moment herrscht Stille, dann bricht Leah in schallendes Gelächter aus.
    „Selbstgemacht Kekse?“ Tyler runzelt die Stirn.
    „Wir haben am Vortag gebacken“, gebe ich kleinlaut zurück. Für einen Moment starrt er mich an, dann grinst er breit.
    „Noch eine Geschichte!“, fordert Leah und beugte sich über den Tisch.
    Ich verziehe das Gesicht, gebe mich aber doch geschlagen.
    „Ich habe bisher noch keine Messe vollständig miterlebt“, gestehe ich. „Irgendwann schlafe ich immer mittendrin ein. Als ich neun war, hat meine Mutter es dann aufgegeben und ich habe seitdem nie wieder einen Gottesdienst besucht.“
    „Solange du nicht anfängst zu schnarchen, Liebes“, kichert Martha.
    Ich ziehe die Schultern an und lächele unsicher.
    „Du hast geschnarcht“, stellt Tyler fest und sieht fast ein wenig ungläubig aus. Ich gebe keine Antwort. Aber das ist wohl Antwort genug.
    Und obwohl mir das fürchterlich peinlich ist, wenn ich die drei so lachen höre, muss ich mit lachen.


    Wir sitzen fast zwei Stunden am Tisch und unterhalten uns. Nachdem ich meine peinlichen Geschichten geteilt habe, wird Tyler etwas lockerer. Ich genieße es, hier zu sitzen und einfach nur zu reden und zu lachen. Es erinnert mich ein wenig an die Abende mit Mama und Hannah. Wir haben uns auch immer gegenseitig auf den Arm genommen. Mit Aphrodite geht so etwas nicht. Abende waren in der letzten Woche eher eine Tortur als unterhaltsam.
    Als es beinahe halb fünf ist, lösen wir die Tafel endlich auf. Ich sehe das als mein Zeichen, nach Hause zu gehen und bin schon fast etwas traurig. Bevor ich aber ‚Auf Wiedersehen‘ sagen kann, beugt Tyler sich zu mir und deutet auf die Tür zum Garten. In nickt mit fragendem Blick in dieselbe Richtung. Ich nicke zurück und folge ihm.


    Draußen ist es wesentlich kühler geworden, deswegen ziehe ich eilig meine Sweatjacke an. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich mit meinen Sportklamotten wohl nicht wirklich angemessen gekleidet war. Ein Blick auf Tyler zeigt mir aber, dass es bei ihm nicht viel anders aussieht. Er trägt eine graue Jogginghose und ein weites, ausgewaschenes Shirt. Die Schrift darauf kann ich nicht mehr lesen, und es hat schon einige Löcher.
    Der Garten ist ziemlich weitläufig. Vier oder fünf Meter breit ist die Terrasse, auf der ein abgedeckter, großer Grill und ein massiver Holztisch mitsamt Stühlen steht. Dahinter erstreckt sich noch bestimmt zwei dutzend Meter Gras, gespickt mit Beeten, hohen Bäumen. Und rechts sehe ich eine hölzerne Hollywoodschaukel mit einem Haufen Kissen darin. Vielleicht bekomme ich Aphrodite überredet, auch so eine zu besorgen…
    „Danke, dass du mit Hibiki spazieren gegangen bist.“ Als Tyler mich anspricht, werde ich aus meinen Gedanken gerissen.
    „Mh?“, frage ich zuerst, weil ich einen Moment brauche, um das Gesagt zu verarbeiten. „Oh, kein Problem. Hab ich gerne gemacht.“
    „Eigentlich gehe ich sonst mit ihm, aber…“
    „Du bist krank, also solltest du dich ausruhen“, gebe ich zurück. Er schaut mich für einen Moment prüfend an, zuckt dann aber mit den Schultern.
    Eigentlich will ich es gar nicht fragen. Ich will es nicht wissen, weil ich mir sicher bin, dass mir die Antwort nicht gefällt. Aber gleichzeitig muss ich es einfach fragen. Weil ich das Gefühl habe, dass er mit jemandem darüber reden will.
    „Habt ihr euch wirklich so heftig zerstritten?“
    Tylers Gesicht verdüstert sich und er versucht krampfhaft, mich nicht anzuschauen.
    Irgendwann antwortet er dann, flüsternd, als hätte er Angst, irgendjemand würde es mitbekommen.
    „Ich habe in konfrontiert. Er hat es erst bestritten, aber irgendwann dann doch zugegeben.“ Tyler dreht sich plötzlich doch zu mir um. Jetzt sucht er den Augenkontakt. Er wirkt fast gequält, ist angespannt und gleichzeitig seltsam energielos. Ich beiße mir auf die Lippe. „‘Sie soll sich von uns fernhalten. Ich würde es wieder tun‘ hat er gesagt. Er bereut es nicht einmal. Das ist nicht der Seth, den ich kenne. Auch wenn immer wieder behauptet wird, dass wir Schläger sind, wir sind nie gewalttätig geworden. Zumindest haben wir nie angefangen. Und jetzt fängt er an, so einen Mist zu machen.“ Tyler fährt sich unwirsch durch die Haare. Er schaut immer wieder zu mir herüber. Was erwartet er von mir? Dass ich sage, dass er Recht hat? Dass es besser ist, sich von Seth fern zu halten?
    Ich muss es sagen. Nur so kann ich sicher sein, dass Seth mir nicht in die Quere kommt. Ich habe, was ich brauche. Tyler ist isoliert, und gerade jetzt scheint er mir zu vertrauen, denn sonst würde er nicht mit mir sprechen. Ich habe ihn da, wo ich ihn haben will. Nur noch ein kleiner Schubs. Ich muss es tun.
    Aber ich kann nicht.
    „Das wird schon wieder werden“, sage ich, aber ich merke, dass ich meinen Worten selbst nicht ganz vertraue. Trotzdem lege ich ihm meine Hand auf die Schulter und drücke sie sanft. „Gib ihm etwas Zeit, und ihr werdet euch wieder vertragen.“
    Er lächelt leicht, aber ich sehe ihm an, dass er nicht überzeugt ist.
    „Ich weiß nicht. Er hatte immer Probleme, neue Leute kennenzulernen. Vielleicht ist es besser so.“
    Meine Fingernägel bohren sich in meine Handfläche. Scheiße.
    Für einige Momente schweigen wir beide, dann dreht Tyler sich zur Verandatüre um.
    „Sorry. Normalerweise kotze ich mich nicht bei anderen aus.“
    „Kein Problem“, stoße ich gepresst hervor, als ich ihm ins Haus folge. Es ist Zeit für mich zu gehen.
    „Sehen wir uns am Montag?“, fragt Tyler. Er ringt sich tatsächlich zu einem kleinen Lächeln durch. Ich versuche krampfhaft, es zu erwidern.
    „Sicher“, antworte ich.
    Natürlich. Ich muss dich immer noch glücklich machen. Das alles hier irgendwie wieder gut machen.
    Nur habe ich gerade das Gefühl, dass ich das nicht schaffen kann.





    Fünf Monate, oh Gott. Es tut mir Leid, ich werde zuverlässiger sein. Hoffe ich. Denke ich. Aber versprechen werde ich es nicht. :X
    Ich komme wieder etwas in Schwung, dieses Mal sind es ganze 17 Seiten, die sich zumindest zum Ende hin sogar recht flüssig haben schreiben lassen. Re-Kommentare kommen später noch, versprochen, jetzt wird erst einmal das Kapitel hochgeladen und dann hab ich für heute fertig. :X
    Viel Spaß mit dem Kapitel! o/


    PS: Ich hoffe Ava erscheint euch nicht zu depressiv und konstant schlecht drauf, hab das Gefühl, dass ich es damit ein wenig übertreibe hups.

    @Jiang @Cantor @Molnija

  • Hallo Cáith,


    lange Zeit hat es gedauert und jetzt geht es endlich weiter! Auf jeden Fall findet man durch den kleinen Rückblick auf den Vortag wieder gut rein und weiß dadurch wieder, dass sich Tyler und Seth zerstritten haben, was ja anfangs noch nicht so stark behandelt wurde. Eher fand ich Avas Verhalten interessant und dass sie nicht ganz so rücksichtslos auf ihre Mission zusteuert, sondern für alle gern das Beste möchte. Wenn man sich nun an den Anfang erinnert und ihre Reaktionen auf andere Charaktere in Erinnerung ruft, ist der Wandel bis hierhin schon einmal gut gelungen, weil sie sich auch Gedanken um die anderen macht und nicht nur stur der Wettaufgabe nachgeht. Auch wenn das womöglich nur deswegen ist, damit sie ihr altes Leben zurückbekommt, geht sichtlich etwas voran und lässt auch vermuten, dass sie in späterer Folge darauf hinarbeitet, damit auch Seth glücklich wird. Aphrodite lässt in der Situation auch eine überraschen klare Aussage fallen, was Ava zu machen habe. Erst im späteren Verlauf mit Artemis klärt sich einigermaßen, dass sie auf etwas hingearbeitet haben könnte, was aber nun nicht mehr so stattfinden wird. Ich find's generell interessant, wie du die Verlogenheit der Götter auch hier einbaust und sie auch insgesamt in die Rahmenhandlung einfließen lässt. Dadurch wirkt der Plot frisch.


    Apropos Artemis, sie fand ich echt cool dargestellt; eigentlich so, wie man sie erwarten würde. Direkt, aber freundlich und auch unterstützend; ich hoffe, dass sie noch öfters einen Auftritt findet und glänzen darf, weil sie eine gute Ergänzung zum Cast bildet. Allerdings fand ich auch Tylers Familie sehr interessant kennenzulernen. Leah und Martha bilden ruhige Gegenpole zu den Zwillingen, wobei Marthas Verbindung zu den dreien trotzdem nicht ganz geklärt wurde. Vielleicht ist sie auch einfach so eine Art Tante.


    Ich freu mich auf das nächste Kapitel; bis dahin!

  • Tyler Route



    Chapter 5: Into your quicksand



    Es ist Montagmorgen und ich besteige seit Stunden den Mount School. Die Luft wird mit jedem Meter dünner, doch ich kämpfe mich tapfer voran. Meine Füße sind schwer wie Blei, doch ich kann jetzt nicht aufgeben. Nicht so. Ich habe versprochen, dass ich es schaffe, und ich werde es schaffen. Aber es ist so schwer. Mein Atem geht rasselnd, meine Sicht verschwimmt und-


    „Wir müssen definitiv an deiner Kondition arbeiten“, reißt Charlie mich mit einem breiten Grinsen aus meinem inneren Monolog. Wie unhöflich. „Du verreckst ja jedes Mal beinahe.“ Ha. Wenn du wüsstest…
    Im Gegensatz zu mir, die hechelnd um jeden Meter kämpft, laufen Charlie, Irene und Lisa relativ entspannt den Berg neben mir hoch. Aber die gehen ja auch schon seit Jahren auf diese Schule und sind Steigungen gewöhnt. Und das ist auch gar keine Ausrede oder so.
    „Komm doch mal mit zum Training“, schlägt der rothaarige Lockenkopf vor. „Baseball macht ziemlich Spaß, wenn man die Basics beherrscht.“ Ich schneide eine Grimasse.
    „Sorry, aber ich glaube, noch mehr körperliche Aktivität hält mein Körper nicht aus.“ Charlie hebt eine Augenbraue, grinst dann aber schief.
    „Ich wüsste wirklich gerne, wie du mit der Einstellung so eine Figur behältst“, murmelt Lisa und der kritische Unterton in ihrer Stimme entgeht mir nicht. Ich war die letzten Tage abgelenkt, aber selbst ich habe gemerkt, dass sie zunehmend schlechtere Laune bekommt und ich weiß, dass das an mir liegt. Wenn ich nicht da bin, ist sie nämlich wesentlich entspannter. Nur warum genau kann ich nicht sagen. Getan habe ich ihr eigentlich nichts…
    Irene sieht kurz zu der Türkishaarigen, und dann zu mir. Ich hebe fragend eine Augenbraue, aber die Blonde schüttelt kaum merklich mit dem Kopf. Wenn nicht einmal Irene, die jeden noch so kleinen Unterton hört und in einem liest wie in einem offenen Buch, Bescheid weiß, dann kann man das von mir kaum erwarten.
    „Wie war euer Wochenende denn so?“, frage ich schließlich, als die Stille viel zu unangenehm wird.
    „Ich habe gelernt“, antwortet Irene, scheinbar glücklich darüber, dass wir ein anderes Thema anschneiden. „Sonntag war ich dann in der Stadt, da war Buchmesse.“
    Buchmesse, hm? Ja, Irene mag Bücher, das hatte ich am Rande mitbekommen. Es klingt vielleicht klischeehaft, aber es passt zu ihr. Sie ist nicht direkt schüchtern, eher introvertiert. Lange Gespräche mit vielen Menschen sind für sie eher anstrengend als entspannend, hatte sie mir letzte Woche mal erzählt. Ich verstehe sie da nur allzu gut. In der Stadt war es mir auch zu oft zu laut, deswegen blieb ich lieber in der Wohnung und vertrieb mir da die Zeit. Im Moment ist ausruhen und mich im Haus verstecken kaum Option, immerhin teile ich mir den Wohnraum mit der Göttin der Nervensägen, andererseits ist Hemsfort auch kein Vergleich zu meinem alten Wohnort. Ich glaube, hier kann es gar nicht zu laut werden, dafür ist es zu idyllisch.
    Charlie erzählt währenddessen von ihrem Spiel gegen die nächstgrößere Stadt. Es war wohl ein ziemlich knappes Match geworden, aber mit ihr als Pitcher „kann man gar nicht verlieren“. Ich muss etwas grinsen, als sie das Spiel schildert, so viel dramatischer als es am Ende vermutlich gewesen ist.
    „Nimm mich das nächste Mal mit!“, stoße ich aus, und ich meine es wirklich ernst.
    „Ich dachte, Baseball interessiert dich nicht?“ Charlie unterbricht ihre dramatische Berichterstattung und scheint tatsächlich verwirrt zu sein.
    „Ich hab nicht gesagt, dass es mich nicht interessiert“, murmele ich, den Wind etwas aus den Segeln genommen. Ist es so unwahrscheinlich, dass ich Interesse an ihr habe? „Ich würde gerne mal zusehen. Dir scheint es ja Spaß zu machen.“
    „Oha, bekomme ich gerade etwa einen Fan?“ Das breite Grinsen kommt zurück auf Charlies Gesicht.
    „Ich kann gerne Pompoms mitbringen. Dann brauche ich nur noch einen Cheerspruch und ab geht’s.“
    Charlie stößt ein trockenes Lachen aus und boxt mich in die Seite. Für eine Weile konzentrieren wir uns nur auf unseren Aufstieg zum Gipfel des Mount Schools, als Irene plötzlich die Stille unterbricht, mehr zu sich selbst als zu uns.
    „Los geht’s Charlie, leg sie über’s Knie.“
    Sie braucht wohl einen Moment um zu begreifen, dass sie das gerade laut ausgesprochen hat. Beinahe fassungslos schaut sie von Charlie zu mir und obwohl wir uns größte Mühe geben, spätestens als Irenes Ohren knallrot anlaufen brechen wir in lautes Gelächter aus.
    „Ich spiele Baseball, Irene! Ich mache kein Kickboxen!“
    Weil ich etwas Mitleid mit ihr habe- und ganz im Ernst, etwas Besseres wäre mir auch nicht eingefallen- lege ich meinen Arm um ihre Schulter und ziehe sie in eine halbe Umarmung. Irene stöhnt nur, was mich nur noch mehr zum Kichern bringt.
    „Guten Morgen.“
    Erst begreife ich gar nicht, dass der Gruß an mich gerichtet ist und gehe einfach weiter. Lisas leicht aufgerissene Augen und der Blick der absoluten Fassungslosigkeit lassen mich aber inne halten. Charlie und Irene haben sich längst zu der Stimme umgedreht, also tue ich es ihnen nach.
    Es ist Tyler. Er ignoriert das Starren meiner Freundinnen gekonnt- das muss er sich über Jahre hinweg antrainiert haben- und lächelt mich leicht verschmitzt an. Vermutlich ist mein Kopf vom Lachen hochrot.
    „Guten Morgen“, erwidere ich und löse meinen Arm von Irenes Schulter. Ich gehe die zwei Schritte zu ihm, etwas unschlüssig, was ich sagen soll. „Alles klar?“, kommt am Ende dann wenig geistreich aus meinem Mund. Tyler zuckt nur mit den Schultern.
    „Ihr scheint ja Spaß zu haben“, wechselt er das Thema. Klar, er will nicht darüber sprechen. Kann ich verstehen. Und um ganz ehrlich zu sein, will ich das auch gerade nicht. Er nickt kaum merklich in die Richtung der anderen Mädchen, die noch immer wie angewurzelt auf dem Gehweg stehen.
    „Ah, ja. Wir sind regelrechte Spaßkanonen“, gebe ich leise von mir und grinse schief. Er muss wirklich denken, dass ich schrecklich kindisch bin. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir bewusst, wie erwachsen er sich verhält. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt kann er durchaus höflich sein. Zwar macht er auch ab und an Scherze, aber im Vergleich zu uns ist er ziemlich ernst.
    Ich streiche mir mit der Hand über den Arm und beiße mir kurz auf die Lippe. Irgendwie ist diese Stille peinlich.
    „Kommst du in der Pause wieder in den Garten?“, stößt er dann irgendwann kaum hörbar aus. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Lisa ihren Hals reckt, um möglichst viel zu sehen, aber das macht ihre Hörfähigkeiten auch nicht besser. Für einen Moment zögere ich.
    „Er ist noch zu Hause.“ Ertappt. Bin ich wirklich so durchschaubar?
    „Klar“, stoße ich dann aus und versuche mich an einem lockeren Lächeln. Ich höre ein kurzes, leises Lachen, dann geht Tyler an mir vorbei und gibt noch ein „Bis später dann“ von sich, ehe er, ohne sich noch einmal umzudrehen, weiter den Berg hochklettert. Ich verfolge ihn mit den Augen, bis ich ihn kaum mehr erkennen kann.
    „Was war das denn?“ Charlies Lippen sind zu einem schelmischen Lächeln verzogen. Vielleicht erwartet sie, dass es mir peinlich ist, aber ganz im Ernst? Ich bin gerade mehr glücklich als peinlich berührt. Nach den ganzen Turbulenzen in den letzten Tagen hätte ich nie gedacht, dass Tyler mal von sich aus mit mir spricht. Besonders nicht, wenn andere Leute dabei sind. Sonst hält er sich ja von allen fern. Aber jetzt, wo er und Seth… Die Dinge haben sich scheinbar ganz einfach geändert. Jetzt bin ich die Person, mit der er redet, mit der er Zeit verbringen möchte. Der Gedanke ist etwas seltsam, aber… es freut mich. Und das liegt nicht daran, dass mich das meinem alten Leben etwas näher bringt. Zumindest nicht nur.
    „Was meinst du?“, frage ich Charlie scheinbar unwissend. Ich weiß ja, worauf sie hinauswill. Aber irgendwie habe ich nicht das Bedürfnis, ihnen alles zu erzählen, was passiert ist. Es liegt nicht daran, dass ich ihnen nicht traue, im Gegenteil. Aber es gibt Dinge, die sollten zwischen den Menschen bleiben, die es betrifft. Und ich glaube kaum, dass Tyler es gut heißen würde, wenn die halbe Schule wüsste, dass er und Seth sich geradezu shakespeare-like zerstritten haben, und das nur wegen mir. Er hat schon genug Sachen, um die er sich Gedanken machen muss.
    „Tyler, der einsame Wolf, spricht mit jemand anderem als seinem Spiegelbild?“ Charlie meint es nicht böse, das sehe ich ihr an. Ich glaube, dass sie sich wirklich nur wundert. Irenes Blick ist genauso fragend, aber sie merkt, dass ich nicht vorhabe darüber zu sprechen und wirft Charlie einen eindeutigen Blick zu. Die zuckt nur mit den Schultern. Das Thema ist also gegessen. Gottseidank, ich hatte wirklich nicht vor-
    „Was ist dein Geheimnis?“ Lisas Stimme lässt mich dann wieder inne halten. Alle drei schauen wir zu ihr herüber, und obwohl sie sich Mühe gibt, möglichst locker zu klingen sehe ich in ihren Augen, dass sie alles andere als glücklich ist.
    „Was für ein Geheimnis?“, frage ich, und dieses Mal weiß ich wirklich nicht, was sie meint.
    „Oh komm schon“, sie schnaubt und verdreht die Augen. Das Lächeln auf ihren Lippen ist definitiv erzwungen. „Seit vier Jahren haben alle möglichen Leute versucht, sich mit den Zwillingen anzufreunden. Keinem ist es gelungen. Und plötzlich kommst du daher und schaffst es innerhalb von einer Woche, dass sie freiwillig mit dir reden.“
    Ich blinzele verwirrt. Ja… Warum eigentlich? Ich weiß ja selbst nicht genau, warum. Ich gehe ja davon aus, dass mein loses Mundwerk mir ausnahmsweise mal geholfen hat. Abgesehen davon hatte ich wohl einfach Glück. Hätte mein Gehirn letzten Samstag nicht einen Totalausfall gehabt und ich wäre nicht im Park gelandet, dann wäre ich wohl auch nie auf die Idee gekommen, mich näher mit Tyler zu beschäftigen.
    Aber einen Trick? Einen bestimmten Spruch, ein Zauberwort, oder ein Liebestrank? Gibt es alles nicht. Wenn doch, dann würde ich davon gerne selbst erfahren.
    Mein Schweigen scheint Lisa aber falsch aufzufassen.
    „Dann behalt es eben für dich“, zischt sie. Ich zucke ein wenig zusammen. Was ist denn in die gefahren?
    „Es gibt kein Geheimnis, Lisa“, setze ich noch einmal an, doch gerade als ich meinen zweiten Satz anfangen möchte, unterbricht sie mich schon.
    „Ne, ist klar. Dann ist es vielleicht doch der Schönheitsbonus, hm?“ Sie rollt schon wieder mit den Augen, aber ich sehe, dass sie es ernst meint.
    „Das ist mal wieder typisch“, fährt sie fort und dieses Mal sprühen ihre Augen Funken. „Kaum kommt jemand an, der halbwegs gut aussieht, reißen sich alle drum. Da ist es auch vollkommen unwichtig, dass du dich einen scheiß um andere kümmerst, während wir versuchen, dir alles recht zu machen.“
    Autsch. Das sitzt.
    Sie hat Recht.
    Mein neutraler Gesichtsausdruck entgleitet mir und plötzlich schaffe ich es nicht mehr, Lisa in die Augen zu schauen. Charlie und Irene bleiben still. Vermutlich denken sie das Gleiche wie sie auch. Ich kann es ihnen nicht verübeln.
    „Was auch immer“, schnaubt Lisa. „Irgendwann wird dir das auch nichts mehr nützen. Irgendwann bist du nicht mehr die interessante Neue und dann hat sich das Thema sowieso gegessen.“ Und damit dreht sie sich auf dem Absatz um und kraxelt den Berg hoch.
    Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Shit. Alles, was sie sagt, ist wahr. Ich weiß es ja selbst genau. In der letzten Woche haben sich alle so gut um mich gekümmert und ich? Ich kenne von den meisten nicht mal den Nachnamen. Sicher habe ich eine Erklärung dafür, immerhin gibt es da die Wette, und Tyler und Seth haben mich auch auf Trab gehalten, von Aphrodite ganz abgesehen. Aber ist das eine Entschuldigung?
    Ich atme tief ein und aus. Das muss sich ändern. Ich weiß, dass diese sechzig Tage am Ende doch wieder weg sind, sobald ich die Wette gewonnen habe. Niemand wird sich daran erinnern, außer mir. Aber ich werde die Erinnerungen gut bewahren. Die Erinnerungen an all die Menschen, die sich um mich gekümmert haben, als ich es am meisten brauchte. Und ich werde es ihnen doppelt und dreifach zurückzahlen. Das bedeutet aber nicht, dass ich damit nicht jetzt schon anfangen kann.


    Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Als ich aufschaue sehe ich, wie Irene mich leicht anlächelt.
    „Das meint sie nicht so“, raunt sie mir zu.
    „Doch“, antworte ich. „Und sie hat Recht. Ich hab mich nicht verhalten, wie ich sollte.“
    Charlie kratzt sich am Kopf und ich merke, wie schwer es ihr fällt, als sie sagt: „Naja, stimmt schon. Zumindest ein wenig.“
    „Es tut mir Leid“, stoße ich aus. Für einen Moment zögere ich. Ich kann ihnen schlecht alles erzählen. Das geht einfach nicht. Aber zumindest eine Art Erklärung haben sie doch verdient, oder nicht? Nur wie?
    Ich hole Luft, schaue kurz Richtung Himmel, der heute seltsam farblos erscheint, und setze dann an. „In letzter Zeit war alles etwas viel… Es gibt… Dinge, um die ich mich kümmern muss, aber das ist keine Entschuldigung. Ich bin froh, dass ich in eurer Klasse gelandet bin, und ich bin froh, dass ihr mich so gut aufgenommen habt. Wirklich.“ Ich meine es ernst. Das tue ich wirklich. Und diese Erkenntnis ist merkwürdig erleichternd.
    Charlie und Irene tauschen einen Blick, dann sehe ich, wie sich Charlies Gesicht aufhellt und sie nur mit den Schultern zuckt.
    „Hey, es ist für niemanden einfach, mitten im Schuljahr auf eine neue Schule zu wechseln. Abgesehen davon… Du bist cool. Etwas seltsam, aber cool.“
    Ich grinse schief. „Das nehme ich einfach mal als Kompliment.“ Charlie kommt herüber und legt ihren Arm um meinen Hals, zieht mich zu sich und schenkt mir ihr breitestes Grinsen. Irene lächelt mild und nickt mir zu.
    „Ich glaube wirklich, dass Lisa es nicht so gemeint hat. Ich rede mal mit ihr.“
    Ich schüttele sofort den Kopf.
    „Danke, aber das werde ich selbst machen. Ich möchte es ihr erklären.“
    Irenes Blick sagt am ehesten „Bist du dir sicher?“, aber ich weiß, dass es sinnlos wäre, jemand anderen zu Lisa zu schicken. Ich bin nicht so feige, dass ich jemanden vorschicke. Und das hat sie auch nicht verdient.


    Als wir oben in der Klasse ankommen, begrüße ich alle mit einem lauten „Guten Morgen“ und einem breiten Lächeln. Charlies schlechte Witze haben mich auf dem Weg nach oben etwas aufgemuntert und ich habe mir fest vorgenommen, dass ich jetzt sofort anfange, mich so zu verhalten, wie ich es sollte.
    „Da hat aber jemand gute Laune!“, stößt Joshua aus, erwidert mein Lächeln aber trotzdem. Er sitzt mit dem Rücken zum Eingang und hat sich bis gerade scheinbar mit Julien und Dennis unterhalten, die mir beide auch eine Begrüßung zurufen. Eve bewegt sich zu meinem Tisch, als ich meine Tasche darauf abstelle und stützt sich darauf.


    „Also, was ist passiert?“, kommt sie sofort zum Punkt und nickt knapp in Lisas Richtung. Die gibt sich größte Mühe mich zu ignorieren, ich sehe aber trotzdem, wie sie mich ab und an aus dem Augenwinkel anschaut.
    „Ein Missverständnis“, antworte ich kurz und schüttele dann den Kopf. Das ist etwas zwischen Lisa und mir, und auch wenn jetzt nicht genug Zeit ist, das zu klären, werde ich das heute definitiv noch hinter mich bringen. Eve scheint das nicht wirklich zu gefallen, vermutlich sieht sie sich als Klassensprecherin in der Pflicht dafür zu sorgen, dass alle sich verstehen, aber groß etwas dran tun kann sie auch nicht. Sie will noch etwas sagen, aber langsam strömen alle meine Klassenkameraden in den Raum und einige von ihnen brauchen dringend Eves Hilfe, die die natürlich nicht ausschlagen kann. Ich geselle mich mit Charlie zu Mia und Dustin und höre zum ersten Mal, dass Mia in ihrer Freizeit reitet und Dustin samstags immer im Restaurant seiner Eltern kellnert. Ich nehme mir vor, ihn mal zu besuchen. Ich habe schon lange nicht mehr auswärts gegessen, und so ein Chicken-Burger, wie er ihn beschreibt, klingt verdammt himmlisch.


    Nach zwei Stunden Englisch, in denen ich ausnahmsweise sogar aufpasse und einen Teil beisteuere, sehe ich meine Chance. Wir haben als nächstes Sport, und während wir unsere Taschen geschultert nach unten zur Sporthalle laufen, verfalle ich in leichtes Joggen, bis ich Lisa, die sofort nach dem Klingeln aus dem Klassenraum verschwunden ist, eingeholt habe. Sie macht große Schritte vorwärts und ignoriert mich als ich sie rufe, also bleibt mir nichts anderes übrig, als einen Gang zuzulegen. Wir sind schon draußen und folgen dem überdachten Weg Richtung Sporthalle, als ich sie endlich einhole und an der Schulter packe. Lisa wirbelt herum und wirft mir einen giftigen Blick zu, aber das beeindruckt mich nicht.
    „Können wir reden?“, frage ich ruhig und bemühe mich, ihr dabei in die Augen zu schauen. Komischerweise ist es diesmal sie, die meinem Blick so gut es geht ausweicht.
    Erst sagt sie nichts, dann, kaum hörbar: „Worüber denn?“
    Ich antworte nicht, sondern greife sie leicht am Arm und ziehe sie bis zur Turnhalle. Rein gehen wir aber nicht, mein Ziel ist die Rückseite. Da werden wir sicher nicht so schnell gestört. Lisa lässt es über sich ergehen und stolpert hinter mir her. Es ist recht offensichtlich, dass ich nicht die einzige bin, die sich schlecht fühlt, was die Situation noch schlimmer für mich macht. Sie hat immerhin die Wahrheit gesagt, sie sollte also die Letzte sein, der es schlecht geht.
    Als wir hinter der Turnhalle ankommen macht sich peinliches Schweigen breit. Klar habe ich mir vorgenommen, die Sache zu klären, aber ganz ehrlich? Ich war noch nie gut in sowas. Ich weiß einfach nicht, wie ich es anfangen soll. Was ist denn, wenn ich am Ende alles nur noch schlimmer mache? Der Kloß, der in der letzten Woche deutlich zu oft in meiner Brust aufgetaucht ist, ist plötzlich wieder da. Langsam sollte der echt mal Miete zahlen.
    Jetzt aber nur blöd herum zu stehen macht es auch nicht besser. Also Augen zu und durch. Wenn ich die Wahrheit sage, wird schon nichts allzu Schlechtes dabei herauskommen. Hoffe ich.
    „Es tut mir Leid“, stoße ich aus, nachdem ich einmal tief Luft geholt und allen Mut gesammelt habe. Jetzt, wo ich einmal angefangen hatte, musste ich alles sagen, was ich zu sagen hatte.
    Lisa schaut auf, in ihren Augen Überraschung. Gott, sie hält mich wirklich für ein herzloses Miststück, hm?
    „Du hast recht. Ich habe mich in der letzten Woche nur um mich gekümmert, und das, obwohl ihr mich so freundlich aufgenommen habt. Das war dumm von mir, und unfair.“ Ich gerate etwas ins Stocken, schaue unsicher auf die Brennnesseln neben mir und trete sie mit einem Fuß etwas platt, als würde mir das irgendwie helfen. „Ich habe Gründe dafür, aber entschuldigen tut das am Ende doch nichts.“
    Wir verfallen wieder in Schweigen. Alles, was mir im Kopf herumspukt klingt bescheuert. Ich werde mich bessern! Klingt auch überhaupt nicht nach leeren Versprechungen. Gib mir noch eine Chance! Genauso blöd. Vielleicht, wenn ich-
    „Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss.“
    Lisa reißt mich wieder aus meinen Gedanken.
    „Du bist erst eine Woche hier, dass du dich noch eingewöhnen ist, ist eigentlich klar“, murmelt sie vor sich hin. Als sie hochschaut sehe ich, dass ihre Augen etwas geweitet sind, die Brauen zusammengezogen. Sie beißt sich auf der Lippe herum, ehe sie weiterredet.
    „Ich schätze, ich bin einfach… Keine Ahnung.“ Ihr fallen die Worte ganz deutlich schwer, es sieht fast so aus, als würde es ihr körperliche Schmerzen bereiten. „Neidisch.“
    „Auf mich?“, stoße ich selten intelligent aus. Lisa nickt knapp und starrt ihre Füße an, die Löcher in den Boden bohren.
    „Du… Du bist halt du“, sagt sie dann irgendwann und mustert mich von oben bis unten. „Einen Schritt in die Klasse gemacht und schon wollten alle mit dir befreundet sein. Selbst die Zwillinge hast du aufgetaut, und das hat noch keiner geschafft.“
    Stimmt. Es ist mir ja auch aufgefallen. Mit meinem neuen Aussehen Marke Schönheitsgöttin bin ich deutlich beliebter als vorher. Ich hoffe zwar, dass es nicht nur daran liegt, sondern auch, dass ich mir mehr Mühe gebe nicht so grantig zu sein wie vor sechs Wochen, aber ein wenig göttliche Kraft macht wohl alles einfacher. Es würde mich nicht wundern, wenn ich genauso Pheromone abstoße wie Aphrodite auch, ohne es zu wissen. So unwahrscheinlich ist das gar nicht. Und ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll.
    „Glaub mir, du willst nicht mit mir tauschen“, murmele ich leise vor mich hin, gerade so laut, dass Lisa es nicht versteht. Sie wirft mir einen fragenden Blick zu, aber ich schüttele nur den Kopf.
    „Das letzte Mal, als ich die Schule gewechselt habe, habe ich es innerhalb eines Tages geschafft, dass mich alle hassen“, stoße ich dann lauter aus. Genau. Und danach bin ich gestorben und von einer beautysüchtigen Göttin wiedererweckt worden. Du willst definitiv nicht mit mir tauschen.
    „Als ob“, stößt Lisa aus und hebt eine Augenbraue. Ich zucke nur mit den Schultern.
    „Hatte einen schlechten Tag.“
    „Der muss wirklich massiv schlecht gewesen sein.“
    „Ja.“
    Wir schauen uns für einen Moment in die Augen, beinahe wachsam. Irgendwann kann ich nicht anders als zu grinsen. Als Lisa es mir gleich tut, verschwindet der Kloß schneller als ein ertappter Mietnomade.
    „Ich weiß, es klingt abgedroschen“, fange ich an. „Aber ich werde mich bessern.“ Ich vergrabe meine Hand in meinen Haaren und lächele schief. „Und wenn ich mich nochmal daneben benehme, dann sag mir bescheid. Oder besser noch, schlag mich.“
    „Ich soll dich schlagen?“
    „Nur nicht zu fest.“
    Ich strecke ihr meine Hand entgegen und warte ab. Nur einem kurzen Blick zwischen meiner Hand und meinen Augen hin und her seufzt Lisa schließlich und ergreift sie.
    „Dann schlag mich bitte auch, wenn ich mich wie eine Zicke aufführe“, murmelt sie. Dann, mit einem schiefen Grinsen: „Aber nicht zu fest.“


    Nach der Aussprache fühlte ich mich wie beflügelt. Lisa und ich schlüpften möglichst unauffällig in die Umkleidekabine, wo ich zwar ständig die fragenden Blicke von Eve, Irene und Charlie auf mir spürte, die aber spätestens dann nachließen, als Lisa und ich ohne groß zu zögern für die Partneraufgabe zusammenschlossen. Ich sah noch, dass Irene mir zwischendurch ein Lächeln schenkte, und ich lächelte zurück. Heute war doch ein guter Tag.
    Nach der Sportstunde beeile ich mich beim Umziehen. Ich habe Tyler immerhin versprochen, dass ich wieder in den Garten kommen würde und gerade bin ich fürchterlich motiviert. Zum Ende der Stunde haben wir noch einige Volleyball-Matches gespielt, und ich hatte das dringende Bedürfnis, mich richtig auszupowern. Meine Schienbeine sind jetzt zwar vollkommen aufgeschürft und brennen, als hätte man Säure darauf ausgekippt, aber das ist mir gerade egal.
    Ich entscheide mich dafür, meine schwarze Sporthose anzulassen, weil die Jeans, die ich heute Morgen angezogen habe, nur weiter an den Wunden reiben würde, und ziehe ein weißes Tubetop und darüber mein schwarzes, lockeres Tanktop an, von dem ich mich immer noch wundere, dass es in meinem Kleiderschrank zu finden ist. Feminin ist es nämlich nicht gerade, eher lässig. Aber beschweren werde ich mich sicher nicht.
    Ich greife mir meine Tasche und schlüpfe durch die Eingangstür. Von hier aus ist es nicht weit bis zum Garten, ich muss nur über die Wiese stapfen und nach dem Tor suchen. Als ich mich setze und es mir bequem mache, höre ich von weiter weg die Pausenglocke läuten. Das Gras um mich herum ist noch immer etwas feucht, die Bäume halten hier die Sonne ab, aber das stört mich kaum. Ich strecke meine Arme in die Höhe, gähne einmal ausgiebig und lasse mich dann nach hinten fallen. Alle viere von mir gestreckt schließe ich die Augen.


    Heute ist der neunte Tag. Ich habe noch massig Zeit und es geht gut vorwärts. Nach der letzten Woche ist das eine unheimliche Erleichterung. Gewonnen habe ich trotzdem noch nicht, und bevor ich lauthals Party mache, sollte ich erst einmal herausfinden, wie ich Tylers Herz wieder anknipsen kann. Zuerst einmal werde ich weiter Vertrauen aufbauen. Und vielleicht sollte ich auch einen Haufen Psychologie-Bücher lesen… Schaden kann es bestimmt nicht.
    Ich hätte mich in Sport vielleicht doch nicht so auspowern sollen. Ich merke, wie der nächste Gähner hochkommt und versuche ihn irgendwie zu unterdrücken, muss mich am Ende aber doch geschlagen geben. Tränen steigen in meine Augen. Meine Gedanken driften immer weiter ab. Irgendwann lausche ich nur noch dem Rascheln der Blätter über mir. Hin und wieder höre ich leise Stimme vom Pausenhof, Rufe von Vögeln, Geräusche im Gebüsch…


    „Schlecht geschlafen?“
    Ich reiße überrascht die Augen auf und sehe Tyler, der sich über mich gebeugt hat. Scheiße, hab ich mich erschrocken.
    „Wie lange bist du denn schon hier?“, stoße ich wild blinzelnd aus, um die Feuchtigkeit aus meinen Augen herauszubekommen. Ich hab ihn wirklich nicht kommen hören.
    „Eine Weile“, antwortet er und ich sehe genau, dass er kurz grinsen muss. Er antwortet nur so vage, um mich zu ärgern. „Ein Wunder, dass sie dich überhaupt noch in eine Kirche gelassen haben, so laut wie du schnarchst.“
    Ich merke, wie mir die Gesichtszüge entgleiten. Ich… Ich habe doch nicht geschnarcht!
    … Oder?
    Als ich Tylers leises Lachen höre, strecke ich ihm die Zunge heraus. Blödmann.
    „Ich hab nicht einmal geschlafen“, gebe ich zurück und schaue zu, wie er sich neben mich ins Gras setzt. „Ganz schön unhöflich, sich nicht einmal bemerkbar zu machen.“
    „Nicht unhöflicher, als mitten am Tag in der Gegend herumzuliegen und einzuschlafen.“
    „Ich habe nicht geschlafen“, sage ich noch einmal, aber er antwortet nicht mehr. Ich will mich gerade aufsetzen, um wieder mit ihm auf Augenhöhe zu sein, da lässt er sich neben mich zurückfallen. Tyler schaut hoch in die Baumkronen, durch die ab und an Fetzen von graublauem Himmel zu sehen sind. Er holt einmal tief Luft, aber mittendrin fängt er an zu husten.
    „Du bist immer noch krank“, stelle ich fest.
    Tyler schüttelt den Kopf. „Ist nicht weiter schlimm. Sind nur noch die letzten Reste.“
    Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das nicht stimmt. Er hat gestern selbst gesagt, dass er keinen Tag mehr zu Hause aushält. Was im Grunde nichts anderes bedeutet als „mit Seth in einem Haus“. Er sollte sich ausruhen, erst wieder ganz gesund werden, aber ich glaube, dass es nichts bringt, ihm das zu sagen. Er würde vermutlich sowieso nicht auf mich hören, oder?
    Ich wende mich wieder dem Himmel zu und schweige. An seiner Stelle würde ich niemanden haben wollen, der mir dauernd sagt, was ich zu tun habe. Also lasse ich es sein.


    Für eine Weile bleibt es einfach still und obwohl ich an sich kein Problem damit habe, schleicht sich doch wieder diese kleine Stimme in meinen Kopf, die mich an die Wette erinnert. Eigentlich kann ich es mir nicht leisten, in der Gegend herumzuliegen und ihn anzuschweigen. Jeder Tag ist kostbar und ich würde diese Wette lieber früher gewinnen als später. Aber wenn ich ihn zu sehr dränge, könnte das auch nach hinten los gehen.
    Also schweige ich weiter. Wenn er so weit ist, wird er anfangen zu reden. Oder?
    Gerade, als ich meine Augen wieder schließe, höre ich ein dumpfes Brummen aus meiner Sporttasche. Ich setze mich auf und suche in der Seitentasche nach meinem Handy, das wild vibriert und leuchtet, als hätte es einen Herzanfall. Auf dem Display steht in großen Lettern „Der Teufel“ („Deine Göttin“ konnte definitiv nicht stehen bleiben), aber zum Glück ist es dieses Mal nur eine SMS und kein Anruf. Ich streiche über den Screen und öffne dann die Textnachricht. Es ist ein halber Roman darüber, wie stressig es im Café heute zugeht und wie schnell es beliebt geworden ist und dass alle Menschen hier ganz reizend sind und blah blah blah. Wirklich wichtig wird es erst am Ende, wo sie mir mitteilt, dass sie heute Abend ein Date mit einem herzallerliebsten Herrn aus der Nachbarschaft hat und deswegen erst spät zu Hause sein wird. Armer Tropf. Er weiß gar nicht, auf was sich sein pheromonbenebeltes Hirn da eingelassen hat.
    Kussi Kussi, Bussi Bussi, deine allerliebste Mama.
    Ich unterdrücke einen Würgereiz und schließe die SMS. Einen Vorteil hat die Sache: Ich habe das Haus für mich alleine und das Essen wird heute Abend tatsächlich angenehm. Endlich mal kein angespanntes, merkwürdiges Schweigen, und das Geräusch von krachendem Salz zwischen Aphrodites Zähnen. Keine Vergewaltigung von gutem Essen durch einen Berg an Würzmitteln! Wundervoll!
    Ich merke Tylers Blick auf mir, der fragend zu meinem Handy nickt.
    „Nur meine Mutter.“
    „Du hast deine Mutter unter ‚Der Teufel‘ abgespeichert?“
    Oh. Das hat er gesehen? Hups. „Deine Göttin“ wäre aber vermutlich noch merkwürdiger gewesen.
    „Wenn du sie kennen würdest, dann würdest du mir zustimmen“, sage ich und grinse schwach.
    „Kein besonders gutes Verhältnis, hm?“
    Ich schweige. Ich kann ihm nicht die ganze Story erzählen, dann wäre ich schneller in der Klapse als ich Unterwelt sagen kann. Aber vielleicht muss ich das auch gar nicht.
    „Sie ist etwas schwierig. Im Grunde ist sie ein zu groß gewachsenes Kind mit großen- und ich meine großen- Problemen.“ Tyler legt seinen Arm unter den Kopf und dreht ihn zu mir. Seine Augenbrauen sind leicht angehoben. „Meine Mutter ist narzisstisch, selbstsüchtig und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Sie würde mich die Klippe herunterstürzen, wenn es ihr etwas bringen würde. Aber dummerweise ist sie so gutaussehend, charmant und schauspielerisch talentiert, dass sie nur zu schnipsen braucht, und alle liegen ihr zu Füßen.“
    „Wow“, murmelt Tyler. „Du kannst sie wirklich nicht ausstehen.“
    Ich zucke mit den Schultern und stoße einen Seufzer aus.
    „Warum lebst du dann bei ihr?“
    Die Frage erwischt mich auf dem falschen Fuß. Natürlich habe ich einen guten Grund. Aber den kann ich ihm nicht nennen. Zwangsjacken sollen immerhin fürchterlich unbequem sein. Ich muss mir also irgendetwas einfallen lassen. Und das bedeutet leider auch, dass ich ihn anlügen muss. Und das macht mir wesentlich mehr aus, als es sollte.
    „Es ist nicht für lange“, fange ich zögerlich an. Mein Gehirn rattert förmlich. Am einfachsten ist es, die Wahrheit nur etwas zu verdrehen. Ich denke an meine echte Familie, an Mum, Hannah und Dad. Ich denke an unsere alte Wohnung, an mein altes Zimmer, und aus irgendeinem Grund denke ich an die Abende, an denen wir zusammen saßen und aßen. Es war so anders als jetzt. Ich wünsche mich dahin zurück, aber ich weiß, dass es niemals wieder so sein wird. Und eigentlich war das bisher auch immer okay gewesen. Aber trotzdem… Trotzdem tut es gerade etwas weh.
    „Eigentlich lebe ich bei meiner Tante. Kurz nach meiner Geburt hat meine Mutter zugestimmt, dass ich bei ihrer Schwester und ihrem Mann leben kann, damit die mich erziehen.“ Soweit so gut. „Sie ist ziemlich früh schwanger geworden und wollte die Verantwortung nicht tragen, schätze ich. Meine Tante und mein Onkel sind für mich mehr Eltern als sie es je sein wird, und meine Cousine ist für mich immer schon eine Schwester gewesen.“ Ich presse die letzten Worte förmlich heraus, denn die Bilder von Samstag sind immer noch schmerzhaft präsent. Davon kann ich mich aber gerade nicht ablenken lassen. Ich rede einfach weiter. Bisher läuft es ganz gut. „Irgendwann haben sich meine Tante und mein Onkel dann getrennt, ich bin bei ihr und meiner Cousine geblieben. Mein Va-… mein Onkel ist ausgezogen und hat mittlerweile eine eigene Familie. Aber das ist okay. Wir verstehen uns trotzdem noch gut. Ich war immer zufrieden. Aber jetzt hat meine Erzeugerin scheinbar ihre Muttergefühle entdeckt und da sie das Aufenthaltsbestimmungsrecht hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als bei ihr zu bleiben. Zumindest bis ich alt genug bin, selbst zu entscheiden.“
    Meine Story macht Sinn. Alles ist schlüssig. Er hat keinen Grund, mir nicht zu glauben.
    „Shit“, stößt Tyler irgendwann aus. Ich schaue zu ihm herüber und bekomme massive Gewissensbisse als ich sehe, wie er mich anschaut. Eine Mischung aus Unglaube, Ärger und… Ist das etwa… Sorge? Verdammt.
    „Es ist eigentlich gar nicht so schlimm“, sage ich schnell, aber möglichst gelassen. „Wir ignorieren uns sowieso die meiste Zeit und das klappt ganz gut.“
    „Sie sollte dich gar nicht dazu zwingen können, bei ihr zu leben“, stößt Tyler aus. Im selben Atemzug rupft er ein Büschel Gras aus dem Boden und zerpflückt es in kleinste Bestandteile. Vielleicht war es doch keine gute Idee, davon anzufangen. Vielleicht hätte ich einfach sagen sollen, dass wir uns häufig streiten. Aber dafür ist es jetzt zu spät. „Verstößt das nicht gegen irgendwelche Gesetze?“
    Ich bleibe still. Wenn ich jetzt noch etwas sage, dann mache ich es vermutlich nur noch schlimmer.
    „Was ist mit deinem Vater?“
    Ich schüttele nur den Kopf, das reicht ihm als Antwort. So habe ich es letzte Woche mit Aphrodite abgesprochen, es wäre bescheuert sich jetzt noch groß etwas auszudenken. Blöderweise macht es das natürlich auch nicht besser. Ich weiß nicht, ob es eine gute Sache ist, dass Tyler mich jetzt als vom Schicksal geplagtes Kind einer Rabenmutter sieht. Besonders gut fühle ich mich dabei jedenfalls nicht.
    „Ich bin daran gewöhnt. Sobald ich kann, gehe ich wieder zurück.“
    „Du bist sechzehn, oder? Dann sind das immer noch zwei Jahre. Das kann verdammt lang werden.“
    Ich zucke nur unbeholfen mit den Schultern. Gott, hätte ich doch bloß nicht davon angefangen! Dummes Handy! Warum musstest du ausgerechnet jetzt die SMS empfangen? Ich wollte zwar mit Tyler sprechen, aber so dringend war es dann doch nicht!
    Ich merke, wie er mich anschaut, aber ich wage nicht, zurückzuschauen. Ihn so anlügen zu müssen ist ätzend genug. Aber dass er sich tatsächlich dafür interessiert… Ich meine, ich wusste schon seit letztem Samstag, dass er kein schlechter Kerl ist. Er hat mich nach Hause gebracht, hat mich getröstet (oder es zumindest versucht), als ich am Boden war und jetzt sehe ich förmlich, wie sein Gehirn rattert, um eine Lösung für mein nicht existentes Dilemma zu finden. Und alles was ich ihm bringe ist Ärger. Das schlechte Gewissen singt in meinem Kopf lauthals „du bist scheiße!“.
    „Ganz schlecht ist die Situation auch nicht“, stoße ich irgendwann aus, als ich langsam die Befürchtung bekomme, dass bald Rauch aus Tylers Ohren herausqualmt. „Hemsfort ist gar nicht so schlecht, und würde diese verdammte Schule nicht auf einem Berg liegen, würde ich sogar ganz gerne hingehen.“
    Für einen Moment starrt er mich nur an, dann muss Tyler lachen. Ich schneide eine Grimasse.
    „Ich weiß nicht, wie ihr das aushaltet. Das ist mindestens eine Steigung von fünfzig Prozent!“
    „Quatsch! Du stellst dich bloß an.“
    „Tue ich nicht! Wer ist überhaupt auf die beschissene Idee gekommen, die Schule ausgerechnet auf einem Berg zu bauen? Das ist unmenschlich!“
    Tyler antwortet mit Gelächter und ich muss selbst etwas grinsen. Zum Glück habe ich ihn irgendwie ablenken können. Am besten lenke ich das Gespräch einfach auf ein anderes Thema.
    „Hey, das frage ich mich schon seit gestern“, fange ich an und Tyler wird schnell wieder ruhig. Er grinst zwar immer noch ein wenig, aber er hört zu. „Die ältere Dame, die bei euch war… Martha, oder? Ist sie eure Haushälterin?“
    „Fast. Sie ist meine Großmutter.“
    „Ah, verstehe.“ Seine Großmutter also. Vermutlich dann väterlicherseits, Leah hatte sie schließlich auch mit ihrem Vornamen angesprochen. „Die beiden sind echt nett. Deine Mutter und deine Großmutter, meine ich.“
    „Und sie sind ziemlich gut darin, mich zu blamieren.“ Tylers Gesichtszüge entgleiten ihm für einen Moment und er rollt mir den Augen. Ich muss etwas kichern.
    So schlimm war das jetzt auch nicht... will ich sagen, aber das wäre eine glatte Lüge. Gestern Nacht lag ich nämlich leider noch eine ganze Weile wach, weil mich mein eigener Kleiderschrank an die „Der böse Schrank“-Story erinnert hat und die Vorstellung vom panischen Klein-Tyler einfach zu gut war.
    „Ich wette, wenn ich dich nach Hause einladen würde, wäre es bei mir nicht anders. Zu meiner Tante nach Hause, meine ich“, füge ich schnell noch hinzu, als mir meine Story wieder einfällt. „Obwohl, es wäre schlimmer. Sie würde vermutlich nonstop irgendwelche Anspielungen machen.“ Tyler öffnet den Mund, aber ich schüttele nur schnell den Kopf und sage „Frag nicht, ist besser so“. Meine Mutter liebt es, Hannah und mich aufzuziehen. Kaum sprach man am Essenstisch auch nur beiläufig von einem Wesen des männlichen Geschlechts, wurde direkt DIE Frage gestellt. Weniger, weil sie es wirklich wissen wollte, sondern mehr, weil sie genau wusste, dass wir uns drüber ärgern würden. Das eine Mal, als Hannah dann tatsächlich den Fehler machte ihren Projektpartner zum Abendessen bleiben zu lassen, verfolgten Mamas schelmische Blicke jede Bewegung. Und nachdem er dann endlich weg war, ging die Party erst richtig los. Bei dem Gedanken muss ich gleichzeitig resignierend grinsen und die Augen verdrehen.
    Gerade würde ich alles dafür geben, dass Mama mich aufzieht.


    Wir sprechen noch über dies und das, über Hibiki, Leah, über meine Klassenkameraden… Über Seth dagegen verlieren wir beide kein Wort. Zumindest nicht direkt. Wenn ein Gespräch zu sehr in seine Richtung geht, würgen wir es ab und wechseln das Thema. Ich kann es ihm nicht verübeln, aber gleichzeitig ist es etwas deprimierend. Denn nichts von dem, worüber wir sprechen, bringt mich auch nur ansatzweise näher an mein Ziel. Ich habe noch immer keinen blassen Schimmer, wie ich Tyler wirklich glücklich machen kann, und das versaut mir die Laune dann doch wieder etwas.
    In der Ferne höre ich die Schulglocken läuten. Verdammt, die Pause ist vorbei. Ich rappele mich auf, strecke mich und klopfe mir dann das Gras von den Klamotten. Tyler tut das gleiche und als er langsam Richtung Tor schlendert, stoße ich einen kaum hörbaren Seufzer aus. Es stimmt schon, ich ärgere mich, dass ich heute keine Fortschritte machen konnte. Gleichzeitig würde es mich auch nicht stören, einfach so weiter mit ihm zu reden. Mit Tyler zu sprechen ist einfach, ungezwungen. Mir wird wieder einmal bewusst, dass es die richtige Entscheidung war, ihn auszuwählen.


    Wir gehen nebeneinander zurück zum Hauptgebäude. Hin und wieder werfe ich ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu. Tyler lächelt nicht, ich kann nicht einmal genau definieren, wie er schaut. Am ehesten würde wohl ‚neutral‘ passen. Auf dem Weg laufen einige andere Schüler an uns vorbei, und ich sehe immer wieder, wie einige uns kurz anstarren, dann aber weiter gehen.
    „Wie lange dauert es wohl, bis neue Gerüchte im Umlauf sind?“ Tyler dreht seinen Kopf zu mir, nickt gleichzeitig aber in Richtung zweier Oberstufler, die ihr Gesicht beinahe an die Scheibe des Klassenzimmers, an dem wir gerade vorbeigehen, gepresst haben. „Ich nehme noch Wetten an.“
    „Nicht lange.“
    „Die Mafiosi-Braut Ava Jolie, bestiehlt Fünfklässler, bedroht ihre Lehrer und verkauft auf dem schulinternen Schwarzmarkt insgeheim gefälschte Markenklamotten.“ Tylers Grinsen ist schief und hält nur für einen Moment an. Ich sehe ihm genau an, dass er auf eine Antwort wartet.
    Ich zucke nur mit den Schultern. „Mafiosi-Braut klingt gar nicht schlecht.“


    Wir trennen uns auf der zweiten Etage. Ich muss noch eine höher, er muss den Gang weiter runter. Für einen kurzen Moment stehen wir uns gegenüber und schweigen uns an.
    „Bis morgen dann.“ Es ist mehr eine Frage als eine Feststellung, also nicke ich. Er lächelt kurz. „Nicht wieder einschlafen.“ Ich verdrehe die Augen und boxe ihn gegen den Arm, was aber in etwa so viel Effekt hat wie mit einem Wattebällchen zu werfen. Tyler hebt die Hand zum Abschied und dreht sich dann um. Ich dagegen bleibe mitten im Gang stehen und starre.
    Ach, scheiße.
    „Tyler!“, rufe ich ihm hinterher, mehr aus einem merkwürdigen Impuls heraus als bewusst. Er bleibt stehen und schaut fragend, während ich zu ihm jogge. Was genau habe ich hier eigentlich vor? Ich weiß es ja selbst nicht genau. Gottverdammt Ava, denk doch einmal nach, bevor du handelst. Jetzt ist es zu spät. Irgendetwas muss ich sagen. Also, los jetzt!
    „Willst du heute Abend zum Essen vorbeikommen?“
    Tylers Augen weiten sich.
    Verdammt noch mal, ich habe doch gesagt du sollst denken! DENKEN! Das, was man mit seinem Gehirn tut! Bist du jetzt vollkommen durchgedreht? Verdammt! Komm schon, Schadensbegrenzung und zwar schnell!
    „Ich meine, irgendwie muss ich mich doch für gestern revanchieren, und da meine Mutter heute Abend nicht da ist, kann die zumindest nicht rumnerven.“ … Okay. Das könnte funktionieren. Oh bitte lass das funktionieren.
    „Du musst dich für gar nichts revanchieren“, antwortet Tyler, und langsam weicht die Überraschung aus seinem Gesicht. Ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? „Meine Mutter hat dich doch sicher genötigt, zum Essen zu bleiben.“ Stimmt. Verdammt.
    „Dann eben dafür, dass du mich letztens nach Hause geführt hast.“ Tyler schüttelt leicht den Kopf und macht schon wieder den Mund auf, aber ich rede einfach weiter. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist. Aber es muss raus. „Und als Entschuldigung. Weil es meine Schuld ist, dass ihr euch zerstritten habt.“
    Er bleibt mitten in der Bewegung stehen und fixiert mich. Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht. Ich kann sein Gesicht nicht lesen. Tylers Mund steht ein wenig offen, als wolle er etwas sagen, seine Augen sind leicht geweitet.
    War das ein Fehler? Hätte ich es nicht sagen sollen? Er hat das Thema so sehr gemieden, vielleicht hätte ich ihm mehr Zeit lassen sollen-
    „Na gut.“
    Mein Herz macht einen kleinen Sprung.
    Tyler schaut angestrengt zur Seite und ich sehe, dass seine Stirn gerunzelt ist. Vielleicht sollte ich mich nicht zu früh freuen. Sonderlich begeistert sieht er nicht aus.
    „Okay, gut“, sage ich, aber ich merke selbst, dass ich nicht ganz so zuversichtlich klinge, wie ich wahrscheinlich sollte. „So gegen 6?“
    Tyler nickt und wir verfallen wieder in Schweigen. Dieses Mal bin ich es, die sich verabschiedet und dann schnell Richtung Klasse verschwindet. Er ruft mich aber nicht zurück.


    Mathe und Chemie verlaufen recht langweilig. Ich lenke mich mit Charlie und Irene etwas ab und gebe mir große Mühe, nicht an das Gespräch von vorhin zu denken. Denn je länger ich das tue, desto bescheuerter komme ich mir vor. Wie ein quengelndes, kleines Kind, und Tyler hat nur zugesagt, um es hinter sich zu bringen. Bei der Vorstellung zerbeiße ich mir die Lippen. Viel Zeit dafür habe ich aber glücklicherweise nicht. Das Experiment vor meiner Nase verlangt meine ganze Aufmerksamkeit und dafür bin ich gerade ziemlich dankbar.


    Um halb zwei bin ich zu Hause, viel zu früh für mein eigenes Wohlbefinden. Ich schaue in den Kühlschrank und stelle sicher, dass alles da ist. Auch wenn ich nicht wirklich weiß, was „alles“ sein soll, ich habe immerhin keine Ahnung, was Tyler gerne isst. Er ist kein Vegetarier, schließlich hat er gestern Braten gegessen… Nach einigen Überlegungen entscheide ich mich dafür, erst einmal abzuwarten. Es ist zwar nicht ideal zu kochen, wenn er schon da ist, aber lieber das als wenn er nachher gar nichts isst, weil es ihm nicht schmeckt.
    Nach der kleinen Inventur mache ich zum ersten Mal in meinem neuen Leben Hausaufgaben. Nur, um mich irgendwie abzulenken. Krass, ich weiß.
    Ich schnappe mir mein Mäppchen, meine Schulsachen und verziehe mich nach draußen. In der Schule hat man es nur wenig gemerkt, hier an der Küste dagegen weht der Wind um einiges stärker. Auf der Terrasse bin ich aber halbwegs geschützt, mein Lieblingsplatz direkt an der Klippe fällt heute aber leider flach. Zwischen Trigonometrie, einem Aufsatz über Surveillance in public places und einer Zusammenfassung der Ergebnisse in Chemie schaue ich sehnsüchtig Richtung Horizont, wo das Meer und der Himmel sich begegnen. Ich bin noch gar nicht schwimmen gegangen. Und das, obwohl ich jetzt so nah am Meer wohne. Sobald wieder etwas besseres Wetter ist, lade ich Irene, Charlie, Eve und Lisa ein. Wir können schwimmen gehen und dann bestellen wir uns Pizza oder sonst irgendetwas und setzen uns auf die Wiese hinterm Garten.


    Ich tagträume eine ganze Weile, tippe munter auf meinem Handy herum und scrolle gefühlt Stunden durch Websites mit schlechten Charaktertests, deswegen dauern meine Hausaufgaben entsprechend. Um viertel nach fünf bin ich endlich fertig, und schon wieder habe ich nichts zu tun. Ich wandere etwas im Haus herum, schaue in Schubladen und Schränke und finde Zeug von dem ich nicht dachte, dass wir es im Haus hätten (Fliegenklatschen zum Beispiel, die kommen hier für gewöhnlich nämlich nicht rein, göttliche Ausstrahlung und so), und finde mich dann am Ende in meinem Zimmer wieder. Ein Blick auf meine Beine im Spiegel und die Schürfwunden, die bisher artig und still gewesen waren, melden sich wieder zu Wort. Nachdem die dann verarztet sind, ist es schon halb sechs. Nach einem Klamotten-Wechsel, raus aus Sporthosen und rein in den grobmaschigen Strickpullover, den ich mittlerweile ziemlich lieb gewonnen habe, ist es zwanzig vor. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und stöhne laut.
    Gott. Seit wann verhalte ich mich denn wie ein liebeskranker Teenager auf seinem ersten Date? Wenn das so weiter geht überlebe ich den Abend nicht.
    Als ich anfange, das Haus aufzuräumen weiß ich, dass ich komplett hinüber bin.


    Zumindest lenkt mich das lange genug ab. Ich bin gerade dabei, die Tischdecken im Wohnzimmerschrank neu zu falten- sagt nichts, ich weiß, wie bescheuert das ist-, da klingelt es an der Tür. Für einen Moment registriere ich es gar nicht richtig. Dann wird mir klar, dass die Tischdecken definitiv warten können. Ich zwinge mich dazu, möglichst ruhig Richtung Tür zu geben, sende unterwegs ein kleines Stoßgebet Richtung Himmel, dass ich es mir mit dieser Aktion nicht versaut habe, und widerstehe dem Drang, meine Frisur im Spiegel, der im Flur unter der Treppe steht, neu zu richten. Wie. Ein. Verdammter. Teenager.
    Ich öffne die Tür und mir fällt ein Stein vom Herzen, als ich das vertraute Kläffen höre. Hibiki springt sofort an meinen Beinen hoch und Tyler versucht nicht mal, ihn davon abzuhalten. Ich beuge mich herunter und verpasse ihm eine kurze, aber intensive Streicheleinheit, ehe ich mich wieder aufrichte und Tyler anschaue.
    „Hey“, stoße ich hervor, und als er mir bei der Begrüßung ein leichtes Lächeln schenkt, fällt mir gleich der zweite Stein vom Herzen. Wir stehen für einen Moment schweigend in der Tür, bis mir wieder einfällt, was Manieren sind.
    „Komm rein!“, beeile ich mich zu sagen und gehe ungeschickt einen Schritt zurück. Mir kommt fast ein Haufen Jacken entgegen, als die Tür gegen sie trifft und ich stolpere gleich darauf auch fast noch über Aphrodites verdammte High Heels, die aus irgendeinem Grund mitten im Flur stehen. Ich fluche leise, setze aber sofort wieder ein Lächeln auf in der Hoffnung, dass Tyler nichts davon mitbekommen hat. Der ist glücklicherweise aber sowieso zu sehr mit Hibiki beschäftigt, der scheinbar gerade einen Informations-Overload hat. So weit die Leine es zulässt stromert er durch den Flur, die ersten paar Stufen hoch, einige Tapser Richtung Küche, schnuppert am Schrank, an mir, am Teppich, an den Blumen und- wenn auch nur sehr kurz und mit einem merkwürdigen Winseln- an Aphrodites Schuhsammlung. Offenbar hat selbst die Göttin der Schönheit keine schweißfreien Füße. Hehe.
    „Lass ihn ruhig von der Leine“, sage ich irgendwann, als Tylers leises Ermahnen zunehmend gestresster klingt. Er schaut mich kritisch an.
    „Solange die Terrassentür zu bleibt kann er nicht abhauen.“
    „Und wenn er anfängt, die Möbel anzuknabbern?“
    „Dann brauchen wir wohl neue Möbel.“
    Er sieht nicht wirklich überzeugt aus, also nehme ich die Sache selbst in die Hand. Mit einem kurzen Griff an Hibikis Halsband ist der von seinen Fesseln befreit und schießt quer durch die Wohnung. Ich glaube ja noch immer, dass die göttlichen Pheromone ihren Teil dazu beitragen. Vielleicht ist es aber auch nur seine Neugierde, die ihn so hyperaktiv macht. Tyler schaut auf die schlaffe Leine in seiner Hand herunter und versucht sich an einem vorwurfsvollen Blick, meiner fällt aber auf die Tüte um seinen Arm.
    „Was ist da drin?“
    Mein Besucher lässt die Leine in der Tüte verschwinden und kramt dann ein wenig darin herum.
    „Futter für Hibiki. Oh, und Dessert.“ Ich sehe, dass er das Gesicht verzieht. „Meine Mutter hat darauf bestanden. ‚Du solltest zumindest etwas beisteuern!‘ Im Endeffekt hat sie sich dann aber in die Küche gestellt.“
    Ich nehme ihm die Tüte aus der Hand und nicke kurz in Richtung Küche, zu der Tyler mir dann folgt. Als ich die Tüte auf dem Tisch abstelle, höre ich das Klimpern von Glas. Vorsichtig hole ich erst einen kleinen Topf mit Hundefutter, dann eine Schüssel mit etwas, das nach Tiramisu aussieht, hervor. Und Gott, sieht das gut aus. Da fällt mir ein…
    „Ich hab noch nichts vorbereitet“, sage ich möglichst beiläufig und drehe mich zum Kühlschrank um. „Hab total vergessen, dich zu fragen, was du überhaupt essen möchtest.“
    „Mir ist alles recht“, höre ich ihn geistig leicht abwesend sagen. Ich sehe aus dem Augenwinkel, dass er halb im Wohnzimmer steht, aus dem ich Hibikis leises Gekläffe und das Tapsen von Pfoten auf Laminat höre. Ich verziehe das Gesicht. Das hilft mir echt nicht weiter.
    „Gibt es etwas, das du nicht isst?“
    Tyler dreht sich wieder zu mir um, braucht dann aber trotzdem noch einen Moment, um zu antworten. „Eh, Paprika. Ich mag keine Paprika.“
    „Gut, ich auch nicht. Das streicht also genau null komma null Rezepte von meiner Speisekarte.“
    Wir stehen unentschlossen in der Küche herum und schweigen uns an. Wäre das hier nicht so merkwürdig, würde ich es vermutlich verdammt lustig finden.
    „Okay, äh… Irgendetwas mit Reis?“
    „Damit kann ich arbeiten“, stoße ich aus, greife mir aus dem Vorratsschrank eine Box Reis und wandere dann rüber zum Kühlschrank. Ich beuge mich runter, sodass ich auf Augenhöhe mit dem Gemüsefach bin. Wir haben noch Champignons da, Frühlingszwiebeln… Wenn ich dazu noch rote Zwiebeln nehme, ein bisschen Speck und ein Ei… da könnte hinhauen.
    „Gut, dann gibt es gebratenen Reis“, verkünde ich feierlich und krame alles hervor, was ich gleich zusammenputschen will. Erst hole ich aber einen Topf heraus, fülle ihn unter dem Wasserhahn mit Wasser und stelle ihn auf die Herdplatte, die nach einem kurzen Handgriff anfängt, rot zu glühen. So, das Wasser muss kochen, dann gibt’s etwas Salz rein und dann den Reis, und sobald der gar ist-
    „Kann ich irgendwie helfen?“
    Tyler hat sich schon wieder an mich herangeschlichen, aber dieses Mal zucke ich nur kaum merkbar zusammen. Vielleicht sollte ich ihm ein Glöckchen anbinden oder so, das ist ja nicht zum Aushalten… Er steht beinahe direkt hinter mir und schaut in den Topf mit Wasser, der bisher noch nicht wirklich etwas tut.
    „Deine Mutter hat dich wirklich getrimmt, hm?“, grinse ich, während ich das Gummiband um die Frühlingszwiebeln abziehe.
    „Nein“, antwortet Tyler und ich meine einen leicht angesäuerten Tonfall herauszuhören. „Ich kann auch ohne Anweisungen von meiner Mutter höflich sein, ob du es glaubst oder nicht.“ Als ich mich aber zu ihm umdrehe sehe ich genau, dass er mehr ertappt aussieht als wütend. Ich gebe ein amüsiertes „Aha“ von mir.
    „Wenn du schon so lieb fragst, dann ernenne ich dich zum Gemüseschnippsler.“ Ich drücke ihm ein Schneidebrett mit Frühlingszwiebeln, Champignons und Zwiebeln in die Hand, sobald ich sie sauber gemacht und geschält habe. Tyler antwortet nicht, schaut aber ziemlich ahnungslos auf das Gemüse herunter und runzelt etwas die Stirn. Ich unterdrücke ein Kichern und schiebe ihn an den Küchentisch, wo ich ihm auch noch das Messer reiche, das er zuerst so greift, als wolle er jemanden erstechen. Himmel Herr Gott, jetzt habe ich doch etwas Verständnis für die Gerüchte.
    „Die Frühlingszwiebeln schneidest du in dünne Scheiben, die Champignons kannst du würfeln, und die Zwiebeln in Ringe.“
    „Okay“, stößt Tyler tonlos aus, schaut auf das Gemüse auf seinem Schneidebrett und dann auf das Messer. Der Arme hat keine Ahnung, was er zu tun hat. Ich unterdrücke mehr oder weniger erfolgreich mein Lachen, was er aber nicht mitbekommt, um zeige ihm kurz, was ich meine, danach lasse ich ihn probieren. Das Wasser kocht und der Reis muss ab und an umgerührt werden.
    „Ich bin fertig. Denke ich“, höre ich irgendwann hinter mir. Und als ich mich umdrehe, sehe ich ein Bild für die Götter. Tyler, die Ärmel seines Shirts ungeschickt hochgekrempelt, das Schneidebrett in der einen, und das Messer in der anderen Hand, auf dem Holzbrett zerschnittenes Gemüse, das sogar ziemlich gut aussieht, auch, wenn es etwas länger gedauert hat. Das Beste ist aber eindeutig sein Gesicht. Ihm laufen Tränen aus den Augen und er schnieft etwas, gleichzeitig bringt er aber ein Lächeln zu Stande, was eine merkwürdige Mischung aus Stolz und Verzweiflung ist. Er versucht krampfhaft, sich die Tränen wegzublinzeln, aber gegen Zwiebeln hat selbst Bad-Boy Tyler keine Chancen. Ich schlucke mein Grinsen herunter und reiche ihm im Austausch zum Gemüse eine Packung Taschentücher.
    „Sie gar nicht schlecht aus“, kommentiere ich seine Werk.
    „Fürs erste Mal“, gibt er zurück.
    „Du hast noch nie in deinem Leben Gemüse geschnitten?“
    Ich sehe, wie er sich gegen den Kühlschrank lehnt und beobachtet, wie ich den Reis abschütte. Das Gemüse landet in der Pfanne, zusammen mit etwas Butter, und zischt munter vor sich hin. Das Ei habe ich zwischendurch schon mit etwas Milch, Salz und Pfeffer vermischt.
    „Die Küche ist Hoheitsgebiet von meiner Großmutter. Oder von meinem Vater, wenn er zu Hause ist. Ich wollte es mal lernen, aber die beiden nehmen die Küche immer komplett ein. Ich könnte ja das Haus abfackeln“, murmelt er und verdreht die Augen.
    „Wow. Unsere Haushälterin hat uns dazu genötigt, dass wir Kochen lernen. Erst wollten wir nicht, aber nach vier Tagen Toastbrot haben wir uns geschlagen gegeben. ‚Sonst werdet ihr nie vernünftige Ehefrauen!‘ hat sie immer gesagt.“ Ich muss schief grinsen. Ich hab schon damals immer gesagt, dass von all meinen fehlenden Ehefrauen-Qualitäten das Kochen sicher das geringste Problem ist.
    „Wir sind dann wohl ziemlich verwöhnt worden, hm?“ Ich glaube nicht, dass ich diese Frage wirklich beantworten soll, also lasse ich es sein. Das Gemüse ist leicht angebraten, also gebe ich Reis, Ei und Speck dazu und packe den Deckel auf die Pfanne. Als ich mich umdrehe sehe ich, dass Tyler mich die ganze Zeit über beobachtet hat.
    „Es ist gar nicht so schwer.“ Ich halte ihm den Kochlöffel entgegen, den er nach kurzem Zögern nimmt. „Vieles braucht etwas Übung und für den Rest gibt es Google.“


    Ein paar Minuten später lotse ich Tyler, der ein Tablett mit Tellern, Besteck, Gläsern und einer großen Flasche Sprudel darauf trägt, auf die Terrasse. Im Haus ist es gerade zu stickig und riecht zu sehr nach Zwiebel, als dass man da groß essen könnte. Hibiki habe ich schnell eingefangen und angeleint, aber nachdem ich ihm einen kleinen Teller mit dem mitgebrachten Futter an die Seite vom Tisch stelle, ist sein Bedürfnis irgendwo anders hinzulaufen sowieso verschwunden. Der Wind hat etwas nachgelassen und die verwaschenen Wolken haben sich aufgelöst. Von weiter weg höre ich die Wellen leise rauschen und am Horizont verschwimmt wieder Wasser mit Himmel. Wir setzen uns gegenüber von einander und für eine Weile essen wir einfach nur stumm. Dieses Mal stört mich das gar nicht so sehr.
    „Wenn deine Mutter das nächste Mal nicht zu Hause ist sollst du zu uns kommen“, sagt Tyler dann irgendwann in die gefräßige Stille hinein. Ich hebe eine Augenbraue und kaue auf der Gabel herum, die noch in meinem Mund steckt.
    „Deine-“
    „Meine Mutter“, unterbricht Tyler mich nickend. Er sieht nicht sonderlich begeistert aus, aber eher, weil es ihm scheinbar unangenehm ist, Laufbote zu spielen.
    „Sie ist echt cool“, sage ich und muss in mich hinein grinsen. Leah würde sich sicher gut mit meiner Mutter verstehen.
    „Schon“, höre ich ihn antworten, auch wenn es nur leise ist.
    „Aber es ist keine gute Idee. Dass ich zu euch komme, meine ich“, sage ich nach kurzer Überlegung. Tyler schaut mich für einen Moment an. Er weiß ganz genau, was ich meine.
    „Es ist sein Problem, wenn er nicht damit zu recht kommt“, antwortet er dann und legt die Gabel auf seinen Teller. Tyler trinkt einen Schluck, lässt mich dabei aber nicht aus den Augen.
    „Aber ich mache es damit nicht besser“, gebe ich zurück. „Eher schlechter.“
    Wir schweigen. Endlich sprechen wir über das Thema, über das ich unbedingt reden wollte, und jetzt ist es mir selbst unangenehm.
    „Es ist nicht deine Schuld.“
    Ich weiß nicht genau, ob ich überrascht bin oder nicht, ihn das sagen zu hören. Tyler lehnt sich in seinem Stuhl zurück, streckt die Beine aus, fixiert mich dabei aber die ganze Zeit. Ich dagegen verharre mitten in der Bewegung.
    Meint er es ernst? Ich denke schon. Tyler ist niemand, der seine Worte in Watte packt. Und ich glaube auch nicht, dass er mich bei so etwas anlügen würde. So ein Mensch ist er nicht. Denke ich.
    „Doch, so ziemlich“, fange ich langsam an. „Wäre ich nicht gewesen, hätte er nicht eifersüchtig sein müssen, er hätte mich nicht bedroht, du hättest nichts davon erfahren, ihr hättet euch nicht gestritten. Eine lange Kausalkette.“
    „Eifersüchtig…“
    Dass er sich ausgerechnet daran aufhängt. Tyler starrt ein Reiskorn auf seinem Teller in Grund und Boden.
    „Das ist es doch. Oder nicht?“ Dem Gespräch auf dem Schulhof nach zu urteilen schon. Und hey, ich kann es ja auch nachvollziehen, auch, wenn ich es nicht gerne zugebe. Ich war ja selbst eifersüchtig, als Hannah plötzlich neue Freunde hatte. Es ist bescheuert, aber auch irgendwie… Menschlich.
    „Schon. Ich dachte nur nicht, dass es so offensichtlich ist.“ Also weiß er doch bescheid. Naja, zumindest habe ich jetzt die Bestätigung, dass ich doch so etwas wie Menschenkenntnis und Empathie besitze.
    „Er ist kein schlechter Mensch“, fängt Tyler plötzlich an. In seinen Augen sehe ich schon fast so etwas wie ein Bitten um Bestätigung und seine Fäuste sind geballt. Vielleicht… Vielleicht ist er sich selbst nicht mehr ganz sicher. Sein Bruder hat mich verletzt, mir gedroht. So etwas hat er ihm nicht zugetraut. Aber er ist immer noch sein Bruder.
    Ich nicke, wenn auch etwas zögerlich, und Tyler entspannt sich ein wenig.
    „Er konnte noch nie gut mit anderen Menschen. Er hat es versucht, aber er stößt immer allen vor den Kopf.“
    „Weil er nicht darüber nachdenkt, was er sagt?“, rate ich und Tyler nickt. Mir wird langsam klar, dass Seth und ich uns ähnlicher sind, als ich gedacht habe. Und ich weiß nicht, ob mir das gefällt.
    „Mittlerweile versucht er es aber gar nicht mehr. Und ich…“ Ich sehe ihm genau an, wie schwer es ihm fällt, all das zu sagen. Er redet sich gerade alles von der Seele. Und das bei jemandem, den er erst etwas über eine Woche kennt.
    Nein, das ist es nicht. Ich glaube, egal mit wem er reden würde, es würde ihm schwer fallen. Über seine Probleme zu reden gefällt ihm offenbar gar nicht. Aber auch das kann ich nachvollziehen. Und… Ich bin seltsam glücklich darüber, dass ich es bin, der er sich anvertraut. Ich möchte ihm helfen. So wie er da sitzt, zusammengesunken im Stuhl, die Arme vor seiner Brust verschränkt und mit einem finsteren Blick auf die Tischplatte, möchte ich ihn einfach nicht sehen.
    „Tyler?“ Ich bin selbst überrascht wie ruhig und geradezu sanft meine Stimme klingt. Es erinnert mich an Hannah. Immer, wenn ich mich über etwas geärgert habe, ging sie zu unserem Vorratsschrank, holte Kekse heraus und redete dann mit dieser beruhigenden Stimme auf mich ein, bis meine Wut irgendwann einfach verpufft war. Das ist eines ihrer besten Talente. Gerade wünsche ich sie neben mich, damit sie mir helfen kann. Aber dieses Mal muss ich es ganz alleine schaffen.
    Tyler schaut mit gerunzelter Stirn auf.
    „Das wird schon wieder. Wir lassen uns etwas einfallen“, fange ich an, und dann, obwohl es allem widerspricht, auf das ich bisher hingearbeitet habe: „Vielleicht sollte ich mich einfach von dir fern halten, dann hat Seth keinen Grund mehr-“
    „Nein“, antwortet er, und die Heftigkeit in seiner Stimme erleichtert mich ein wenig. Er merkt es wohl selber, denn plötzlich ist der Busch direkt neben der Terrasse sehr viel interessanter als ich. „Das… Das ist auch keine Lösung.“ Wird er etwa rot?
    Ich grinse ein wenig, bin aber verdammt erleichtert. Aphrodite würde mir vermutlich den Kopf abreißen wenn sie wüsste, was ich da gerade eben gesagt habe. Ich kapiere es ja selbst nicht ganz. Obwohl, eigentlich tue ich es doch. Ich möchte nicht auf Kosten anderer Menschen mein Ziel erreichen. Egal, wie glücklich ich Tyler am Ende mache, er und Seth würden ohne Hilfe vermutlich nie wieder eine gute Beziehung haben. Es ist ja nicht einmal sicher, dass ich die Wette überhaupt gewinne, und wenn ich es nicht schaffe, dann verschwinde ich auf nimmer Wiedersehen in der Unterwelt und lasse zwei zerstrittene Zwillinge zurück. Und selbst wenn, ich würde zwei Monate lang zusehen, wie Tyler und Seth kein Wort miteinander wechseln. Nie im Leben macht ihn das glücklich. Was, wenn ich, egal was ich anstelle, ohne eine gekittete Beziehung sein Herz gar nicht zum Leuchten bringen kann? Dann wäre am Ende ohnehin alles umsonst.
    Und auch, wenn Tyler sagt, dass es nicht meine Schuld ist… Ich habe das Gefühl, dass ich es nicht nur ihm, sondern vor allem auch Seth schulde.
    „Ich werde versuchen, mit ihm zu reden.“ Heute Morgen bei Lisa hat das auch Wunder bewirkt. Obwohl ich nicht daran glaube, dass es so einfach sein wird.
    „Und wenn er dich wieder bedroht?“ Tyler sieht nicht gerade begeistert aus.
    „Die Blicke des absoluten, schmerzhaften Todes bin ich mittlerweile gewöhnt“, sage ich möglichst locker. Das ist zwar eine glatte Lüge, aber was auch immer.
    „Vielleicht sollte ich dabei sein und-“
    „Nein, das würde es nur komplizierter machen“, unterbreche ich ihn schnell. „Ich schaffe das schon. Oder vertraust du mir nicht?“
    „Doch“, erwidert Tyler und an seinem Blick kann ich erkennen, dass er es ernst meint. Ich habe eigentlich keine Antwort erwartet, um ganz ehrlich zu sein. Deswegen erwischt mich diese gerade ein wenig auf dem falschen Fuß.
    Ich schaue vermutlich selten dämlich drein, denn Tylers Lippen verziehen sich zu einem schiefen Grinsen. Wir schauen uns für einen Moment an, dann strecke ich ihm die Zunge heraus und er bricht in schallendes Gelächter aus.


    Wir reden noch für eine Weile, aber dieses Mal über weniger wichtige Dinge. Ich glaube, für heute haben wir beide genug über die Probleme in unserem Leben nachgedacht und sind froh darüber, uns etwas ablenken zu können. Als die Sonne untergeht, wird es langsam zu kühl um noch länger draußen zu bleiben, also packen wir alles zusammen und gehen rein. Hibiki dackelt uns hinterher, jetzt wesentlich weniger aktiv als vorhin, der Arme ist sicher total erschöpft.
    „Wir haben das Tiramisu vergessen“, fällt mir auf, als ich es im Kühlschrank stehen sehe.
    „Dann ist wohl mehr für dich da“, antwortet Tyler und zuckt mit den Schultern.
    „Ich soll das alles essen?“ Die Schüssel ist für eine Person wirklich riesig… Daran esse ich bestimmt drei Tage. Mindestens.
    „So, wie du gerade eben noch reingehauen hast ist das wohl kaum ein Problem.“ Mein Gehirn braucht einen Moment um zu begreifen, was genau er da gerade gesagt hat, und als es fertig damit ist öffne und schließe ich den Mund wie ein Fisch am Land, weil mir kein gutes Comeback einfällt. Verdammt! Tyler grinst breit und schelmisch, weicht meinem Schlag- etwas Besseres fällt mir gerade nun mal nicht ein- einfach aus und schnappt sich dann Hibikis Leine um Richtung Flur zu verschwinden.
    „Na warte!“, grummele ich, mache mir aber nicht die Mühe, hinterher zu rennen. Als ich selbst in den Flur gehe hat Tyler schon die Türe geöffnet, wartet aber offenbar noch auf mich. Ich schlendere bis zum Eingang, ignoriere dann aber Tyler und beuge mich zu Hibiki herunter.
    „Du Armer hast ein echt fieses Herrchen. Das hast du gar nicht verdient!“, stoße ich laut genug aus, damit er es auf jeden Fall mitbekommt, aber er gibt keinen Kommentar dazu ab. Nach einer ausreichenden Streicheleinheit richte ich mich so würdevoll, wie ich kann, wieder auf. Tyler lächelt mich an, ein ehrliches, wenn auch leicht neckendes Lächeln. Ich verdrehe die Augen, lächele dann aber zurück.
    „Danke für die Einladung.“
    „Kein Problem“, gebe ich zurück. Unbeholfen stehen wir uns gegenüber. Keiner von uns weiß so recht, was er jetzt tun soll, also schweigen wir und warten darauf, dass etwas passiert.
    Besser macht es das aber leider auch nicht.
    Wie soll ich mich verabschieden? Soll ich ihm die Hand schütteln? Das kommt auch ziemlich blöd. Einfach Ciao sagen? Noch schlimmer. Dafür kennen wir uns jetzt eigentlich zu gut…
    Oh man, ich sage es doch. Wie ein verdammter Teenager. Also gut. Augen zu und durch.
    Bevor Tyler wirklich reagieren kann, lege ich meine Arme um seinen Oberkörper und drücke ihn leicht an mich. Es ist eine sehr, sehr lockere Umarmung, nur Tyler ist plötzlich steif wie ein Brett. Ich will mich gerade wieder lösen, da spüre ich seinen Arm um meinen Rücken. Wie verharren für einen Moment, dann treten wir gleichzeitig zurück.
    „Bis morgen dann“, sagt Tyler und lächelt. Als ich nicke, dreht er sich um geht, ohne sich noch einmal umzudrehen. Und ich stehe im Türrahmen und, genau wie heute morgen auch, starre ihm hinterher.




    @Tooru, @Nivis, @Jiang



    Nur zwei Monate seit dem letzten Update!... Juche? Ich versuche ja mich zu bessern! >__< 15 Seiten sind es dieses mal, so als random fact. K. Bye.

  • Hallo Cáith,


    nach dem Lesen verstehe ich die Bedeutung des Treibsandes im Titel noch immer nicht genau. Es sei denn, du spielst darauf an, dass Tyler sich ja langsam immer mehr zu Ava hingezogen fühlt und dementsprechend ihrem Radius kaum mehr entkommen kann. Zumindest ist ihm die Begegnung ja nur mehr als recht, wie es scheint, um sich von Seths Taten abzulenken. Ich muss zugeben, ich bekomme immer mehr das Gefühl, dass am Ende beiden geholfen werden muss und eigentlich Seth auftauen muss, um die Wette zu erfüllen. Tyler wird wohl viel daran liegen, dass ihr Verhältnis wieder ein besseres wird und angesichts der aktuellen Situation könnte das in eine Richtung laufen, die nicht gut für Ava endet. Sie muss handeln; aber ob sie beim Richtigen anfängt?


    Ich find's gut, dass du hier zuerst einmal auf die Klassenkameraden und Freundinnen eingegangen bist, weil diese bisher ja doch etwas kurz kamen, obwohl sie Ava so offen empfangen haben. Es zeigt, dass du dir auch abseits der Haupthandlung Gedanken um die Charaktere machst und sie nicht einfach naiv oder überfreundlich darstellst, sondern dass sie auch ihre eigenen Probleme haben und diese natürlich gern gelöst werden wollen. Besonders Neulinge in der Klasse haben ja immer diesen Bonus gegenüber anderen und sind die erste Zeit einfach mal interessant. Die Lösung des Problems war dabei auch einfacher als zuerst gedacht. Einfach mal auf den anderen zugehen und es ansprechen; so simpel und so effektiv. Dass sie sich recht schnell versöhnt haben, lässt drauf schließen, dass die Eifersucht eher im Affekt entstanden ist.


    Das restliche Kapitel beschäftigt sich dann mit Tyler, einer turbulenten ausgedachten Hintergrundgeschichte (na hoffentlich vergisst Ava die im späteren Verlauf der Geschichte nicht wieder, sonst hat sie ein Problem) und wie sie Tyler besser kennenlernt. Es ist schon eine Kunst, so ganz alltägliche Situationen so lebhaft und interessant darzustellen, wie du es machst; das Kochen stellte hier einen kleinen Höhepunkt dar und nicht zuletzt wegen einem weinerlichen Tyler und der Google-Suche musste ich ja schon ein paar schmunzeln. Im Großen und Ganzen hat sich aber nicht viel ergeben, außer die paar Anmerkungen, die ich weiter oben schon gemacht habe, als ich mir wegen den Zwillingen Gedanken gemacht habe. Aber das ist etwas für die Zukunft.
    Übrigens ist es bemerkenswert, dass Aphrodite nicht persönlich in diesem Kapitel vorkam. Nochmal Glück gehabt!


    Wir lesen uns!

  • Tyler Route




    Chapter 6: Closer still





    „Aber Ava-Schatz, stell es dir doch nur mal vor. Es wäre hinreißend, wir beide in Begleitung von zwei gutaussehenden, attraktiven Männern und-“
    „Zum letzten Mal!“ Ich fahre herum und starre Aphrodite in Grund und Boden. Das heißt, ich versuche es zumindest, aber wie sonst auch haben giftige Blicke auf meine Adoptivgöttin absolut keine Wirkung. Gottverdammt. „Ich gehe nicht mit dir auf ein Doppeldate!“
    Aphrodite zieht eine Schnute und sinkt tiefer in den Esszimmerstuhl, als würde mich das irgendwie zum Umdenken bewegen.
    „Abgesehen davon…“ Ich wende mich wieder der Spüle zu und fische eine salzverkrustete Schüssel aus dem schäumenden Wasser. Ich bezweifle, dass ich die nochmal sauber bekomme… „Es war kein Date.“
    „Ach wirklich?“ Ihre Stimme ist langegezogen und trieft vor lauter Unglaube. Beachte sie nicht, Ava. Lass deine Aggressionen lieber an der Schüssel aus. Bringt sehr viel mehr. „Wollen wir doch mal schauen. Ihr zwei wart alleine. Er war hier bei uns. Ihr habt zusammen gegessen, auf der Terrasse, dem romantischsten Ort in mehreren hundert Metern Umgebung. Vorher und nachher warst du zu nichts zu gebrauchen. Du hast angefangen, Tischdecken neu zu falten. In mehreren Momenten hast du schreckliches Herzklopfen gehabt. Und Himmel, wenn dich das noch nicht überzeugt: Eure Umarmung war ja mal sowas von… wie bei zwei Teenagern auf ihrem ersten Date!“
    Ich ziehe meine Schultern immer höher an und verstecke meinen Kopf zwischen ihnen. Kann man diese neugierige Ziege nicht irgendwie aus meinem Kopf aussperren? Hilft vielleicht ein Aluminiumhüttchen? Es ist mir egal, wenn ich damit bescheuert aussehe, wenn es nur den Zweck erfüllt!
    Ich höre Aphrodites gackerndes Lachen und da reicht es mir dann endgültig. Mit einem kurzen Griff ins Wasser bekomme ich den Spüllappen zu fassen und schleudere ihn in einer fließenden Bewegung in Richtung Küchentisch. Aphrodite verstummt schnell, aber dummerweise sind ihre göttlichen Reflexe zu schnell, deswegen trifft das triefende Stück Stoff nur die Wand hinter ihrem Kopf. Sie tut nicht mal so, als wäre so erschrocken, stattdessen grinst sie nur breit.
    „Sieh es ein, Schätzchen“, sagt sie süffisant. „Das, was ihr da gestern Abend hattet, war ein Date.“
    Das schlimme ist, dass sie vermutlich recht hat. Also hätte, wenn es ein Date gewesen wäre. Was es nicht war!
    Aber wenn mir jemand anderes von so einem Abend erzählen würde… Ja. Es klingt definitiv nach Date. Aber es war keines! Für mich zumindest nicht. Und für Tyler auch nicht. Denke ich. Ich habe mich nur für das Essen vorgestern revanchiert. Mehr war da gar nicht. Ja gut, ich wollte näher an ihn herankommen, aber doch nicht im romantischen Sinne! Und er wollte sicher nur diese Schuldfrage klar stellen.
    Oder?
    „Ava und Tyler sitzen auf dem Baum-“, beginnt Aphrodite in einem kindlichen Singsang.
    „Wag es ja nicht!“, drohe ich ihr, aber den Atem könnte ich mir eigentlich auch sparen.
    „Knutschen rum man glaubt es KAUM!“ Das letzte Wort schreit sie eher als dass sie singt, denn dieses Mal belasse ich es nicht bei einem Tuch, oh nein! Eine ganze Armada an triefend nassen Spüllappen regnet auf sie herab und die Göttin der Nervensägen verschwindet schneller, als ich schauen kann, unter dem Küchentisch, ehe sie während einer kurzen Feuerpause (verdammte Nachladezeiten!) den Rücktritt Richtung Wohnzimmer antritt. Ich schnaufe und lasse den letzten Lappen mit einem lauten Platschen in die Spüle fallen. Langsam glaube ich, die wahre Prüfung ist nicht diese ganze Leuchteherzeaktion, sonder das Zusammenleben mit dieser… dieser…
    Ich stoße ein lautes Stöhnen aus und wende mich wieder dem Abwasch zu. Den würde ich gerne fertig bekommen, bevor ich gleich zur Schule muss.


    Offenbar hat Aphrodite doch genug Respekt vor meinen Lappen-Werf-Künsten, denn Friedensangebot winkt mir eine Fahrt in ihrem knallroten Sportwagen bis vor die Tore der Schule. Und ich bin weiß Gott nicht kindisch genug, um dieses Angebot auszuschlagen. Oder vielleicht platziere ich mein körperliches Wohlgefühl mittlerweile auch über meinen Stolz, was etwas armselig wäre.
    Es ist sicher ersteres.


    Zum Glück habe ich heute nicht viel gegessen, denn Aphrodites Fahrkünste sind so rasant wie immer. Wäre mein Magen ein Kunstturner, würde ich gerade mit Sicherheit die olympische Goldmedaille gewinnen, aber natürlich schaut keiner zu, klasse. Ich klammere mich an Sitz und Tür fest, ziehe den Kopf ein und gebe undefinierbare Schreckenslaute von mir, wann immer Aphrodite zu schnell fährt- also während der gesamten Fahrt. Sie dagegen erzählt mir fröhlich über ihr Date von gestern Abend. (Herbert war ja so ein Schatz), zieht sich zwischendurch die Lippen nach und schlittert im ersten Gang mit Tempo vierzig um die Kurven. In der Innenstadt warten dann aber die Ampeln und diese Aussicht gibt mir etwas Hoffnung. Jetzt muss sie etwas vorsichtiger fahren!
    Oh Junge, liege ich falsch.
    So sehr, wie die Reife gerade quietschen wundert es mich, dass überhaupt noch Profil darauf ist. Bei jeder Ampel schießen wir vorwärts und ich werde ich den Sitz gepresst, nur um dann wieder Richtung Armaturenbrett geschleudert zu werden, wenn wir bremsen müssen. Der Sicherheitsgurt muss gerade Überstunden machen und bei jedem weiteren Einsatz habe ich die Befürchtung, dass er den Job wegen Burnout hinschmeißt. Ich beschränke mich darauf, die Augen zuzukneifen und meine Finger in den Polstern zu vergraben, in der Hoffnung, dass es das irgendwie besser macht (tut es nicht) und blende alles andere aus. Irgendwann spüre ich aber eine Hand, die mich an der Schulter rüttelt.
    Mit einer Mischung aus Entnervtheit, Angst um mein Leben und Erleichterung, dass wir stehen, wage ich es, die Augen wieder zu öffnen und schaue zu Aphrodite herüber. Die starrte aber auf den Bürgersteig und denkt nicht mal daran, mir eine Antwort auf mein hervorgepresstes „WAS?“ zu geben. Ich folge also ihrem Blick und…
    Ja gut. Jetzt weiß ich zumindest, warum sie so blöd grinst. Ein paar Meter hinter uns läuft nämlich Tyler, die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Blick auf die Schaufenster neben ihm gerichtet.
    „Wir haben noch einen Platz frei“, flötet Aphrodite und das Funkeln in ihren Augen gefällt mir so gar nicht. Ich starre sie entsetzt an, schaffe es aber nicht mal mehr, eine Drohung auszustoßen, da drückt sie schon auf die Hupe. Für einen kurzen Moment hoffe ich, dass Tyler es ignoriert, aber da schaut er schon mit gerunzelter Stirn auf. Ich will mich gerade wieder nach vorne drehen, da hat er mich schon erkannt. Verdammt. Ich sehe ein kurzes Lächeln auf seinen Lippen, dann schlendert er zu uns herüber. Aphrodite neben mir richtet sich unauffällig Haare, Klamotten und Dekolleté, ich dagegen schaue nur in den Spiegel um zu sehen, ob sich meine farbliche Ähnlichkeit mit einer Wiese in Grenzen hält und wende mich dann wieder Tyler zu, tapfer und möglichst locker winkend.
    „Hey!“, stoße ich wenig enthusiastisch aus.
    „Morgen“, antwortet er. Wir schauen uns für einen Moment an, dann taucht auf einmal Aphrodites Kopf neben meinem auf, ein zuckersüßes Lächeln auf den Lippen.
    „Oh, hallo!“ Oh Gott nein, dieser Tonfall… Ich erwarte fast, dass sie ihm hinterherpfeift, aber damit hält sie sich zurück. „Du bist also Tyler.“ Bitte! Nicht pfeifen!
    Ich weiß, dass du das hier hörst, also hör auf so blöd zu grinsen!
    Tylers Blick fällt auf meine Adoptivgöttin und für einen Moment befürchte ich, dass er genauso seelenlos anfängt zu grinsen wie alle männlichen (und auch weiblichen) Wesen in ihrer Umgebung. Uuuund da kommt es. Er fängt an zu lächeln. Gottverdammt.
    „Meine Tochter hat mir schon so viel von dir erzählt!“, säuselt Aphrodite und streckt ihm ihre Hand entgegen, die er beinahe sofort ergreift. Dann erreichen die Worte sein Hirn.
    „Sie sind Avas Mutter?“, fragt er. Und als sie mit einem glockenhellen Lachen bejaht, lässt Tyler ihre Hand fallen wie ein ekliges Insekt und das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. Stattdessen wird sein Blick eiskalt, genauso wie der von Seth, wann immer er mich sieht. Er starrt Aphrodite für einen Augenblick an. Aphrodite starrt zurück. Für einen Moment nur sehe ich so etwas wie Verwirrung und Wut in ihren Augen funkeln, aber dann ist der Diabetesblick wieder da. Und Tyler tut es ihr nach.
    Ich sitze dazwischen und blinzele verwirrt. Was… geht hier gerade vor?
    „Ich habe auch schon viel von Ihnen gehört“, gibt Tyler mit einem freundlichen wirkenden, aber kalten Blick zurück und ich bin mir sicher, dass seine Lächeln nicht nur auf mich falsch wirkt.
    Oh man, ja. Für ihn ist meine Mutter ja ein absoluter Drachen.
    Ich meine, das an sich ist ja eine Tatsache, so ist es nicht, aber ich habe ihm gestern ja diese Geschichte aufgetischt. Wie war das noch gleich? Arrogant, würde mich von einer Klippe stürzen, wenn es ihr einen Vorteil einbringen würde… Fiel auch das Wort „männermordend“? Bestimmt, od-
    Ich unterdrücke einen Schmerzenslaut, als Aphrodite mir ihren Ellbogen in die Seite rammt. Wie oft habe ich dir jetzt schon gesagt, du sollst nicht meine Gedanken lesen?!
    „Steig ein, Tyler-Schatz!“ Mir entgleiten meine Gesichtszüge. Jetzt legt sie es wirklich darauf an, hm? Tyler runzelt für einen Moment die Stirn und tauscht dann intensive Blicke mit mir. Ich weite die Augen und versuche ihm irgendwie mitzuteilen, dass es eine verdammt schlechte Idee ist, in dieses Höllenauto einzusteigen. Tyler blinzelt und scheint dann verstanden zu haben. Gottseidank, und ich dachte schon-
    „Gerne.“
    NEIN. Nein! Ich schüttele möglichst unauffällig den Kopf, aber Tyler öffnet schon die Tür zu den hinteren Sitzen und ich sehe im Rückspiegel, dass er auf den Sitz hinter Aphrodite rutscht, vermutlich, weil er mich damit besser im Auge hat. Ich drehe mich zurück zu ihm und deute auf den Sicherheitsgurt. Den wird er brauchen.


    Aber siehe da, Aphrodite ist gnädig. Sicher, die eine oder andere Ampel war schon dunkelgelb, aber zumindest quietschen die Reifen nur noch bei jeder dritten Anfahrt, was eine große Verbesserung ist. Mein Sicherheitsgurt und ich können den Rest der Strecke aufatmen und ich schaffe es sogar, ein wenig an der Konversation teilzuhaben. Nicht, dass ich da sonderlich glücklich drüber bin, denn die Atmosphäre in diesem Auto ist grässlich. Aphrodites Stimme trieft vor Zucker, aber ich weiß genau, dass sie es gar nicht cool findet, dass ihre Wirkung auf Tyler nonexistent ist. Und Tyler macht seinem Ruf wirklich alle Ehre. Keine Antwort ohne eine unterschwellige Beleidigung. Und ich genau dazwischen. Toll.
    „Ich freue mich so sehr, dass Ava so schnell Freunde gefunden hat“, säuselt Aphrodite und wirft mir einen gekünstelt mütterlichen Blick zu. „Sie ist eine wirkliche Schönheit, aber sie kann so anstrengend sein.“
    „Das muss in den Genen liegen“, gibt Tyler mit einem entspannten, aber überlegenem Lächeln zurück. Uff. Ich sehe wie Aphrodites Mundwinkel zuckt. Oh bitte Tyler, halt den Rand. Du hast keine Ahnung, mit wem du dich hier anlegst! Je länger sich diese Fahrt zieht, desto mehr befürchte ich, dass Aphrodite sagt: „Weißt du was? Vergessen wir die Wette. Ich schleppe einfach den hier in die Unterwelt und du darfst weiterleben.“
    „Wie alt bist du, Tyler?“ Glücklicherweise beschränkt sie sich aktuell noch auf Smalltalk.
    „17.“
    „Oh, dann hast du ja nicht mehr lange bis zum Abschluss, oder? Und, was hast du danach vor?“
    Tyler schweigt und starrt das Kopfpolster an.
    „Noch keine Pläne?“ Das süßliche Säuseln ist höllisch provokativ.
    „Ich lasse mir lieber Zeit. Schließlich bin ich noch jung.“ Die Betonung von ‚ich‘ ist eigentlich kaum merklich, aber da wir gerade allesamt penibel auf Untertöne achten, ist es schmerzhaft offensichtlich. Ich verziehe das Gesicht, denn dieses Mal zuckt in Aphrodites Gesicht alles, was zucken kann. Sogar ihre Nase, was ein komischer Anblick ist. Ihr Alter ist eine merkwürdige Angelegenheit. Immerhin ist sie als Göttin schon seit über dreitausend Jahren auf diesem Planeten, aber trotzdem reagiert sie geradezu allergisch darauf, wenn man sie etwas in der Richtung fragt. Vermutlich so ein Schönheitsgöttinnen-Ding. Dass sie keine Falten oder graue Haare bekommen kann ist ihr scheinbar nicht ganz klar.
    „Ach ja, der jugendliche Leichtsinn“, summt Aphrodite und bemüht sich möglichst ruhig zu klingen. Dass sie danach aber mit den Zähnen knirscht entgeht mir nicht. Und Tylers kurzem Grinsen nach zu urteilen ihm wohl auch nicht. „Da hast du dir ja einen wirklich interessanten“ Sie spuckt das Wort förmlich aus. „Freund geangelt, Ava. Pass nur auf, dass er nicht zu frech wird. Vielleicht kannst du ihm ja Manieren beibringen. Die scheinen in seiner bisherigen Erziehung ja zu fehlen.“
    Oh oh. Offene Konfrontation. Jetzt versucht sie nicht einmal mehr, ihre Aussage hinter schönen Worten zu verstecken. Instinktiv versinke ich tiefer in die Echtledersitze des Sportwagens.
    „Das ist nicht nötig“, fängt Tyler an und ich sehe, wie triumphierend sein Grinsen ist. „Aber Sie haben selbst ja nur wenig Erfahrung mit Erziehung, da ist es klar, dass Sie so etwas nicht beurteilen können.“
    Aphrodites Griff ums Lenkrad verstärkt sich und wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich denken, dass die fingerförmigen Dellen im Plastik davor noch nicht da waren… Aber so stark ist sie nicht. Oder? Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Tyler sich zurücklehnt und mir ein zufriedenes Lächeln zuwirft.
    Da ist es mit Aphrodites Gnade plötzlich vorbei. Im gleichen Tempo wie sonst auch rast sie den Berg zur Schule hoch, dröhnender Motor und quietschende Reifen inklusive. Ich höre mich selbst Wimmern, und neben mir ein tiefes, teuflisches Gackern.


    Glücklicherweise sind wir relativ schnell angekommen. Mit kreischenden Bremsen kommt der Sportwagen oben vor den Schultoren zum Stehen. Ich rieche angekokeltes Gummi und bin mir ziemlich sicher, dass die Reifen Aphrodite nicht so schnell vergeben werden. Die allerdings schaut selbstzufrieden in den Spiegel und richtet sich wieder die Haare.
    „Worauf wartet ihr?“, fragt sie dann irgendwann geistig nur halb anwesend. „Ihr verpasst noch den Schulstart. Oder habt ihr es euch anders überlegt? Ich kann euch gerne zum Café mitnehmen.“
    Das lassen wir uns nicht zwei Mal sagen. Ich reiße meinen Gurt beinahe aus seiner Halterung, greife nach meiner Tasche und verlasse fluchtartig den Wagen. Tyler hinter mir stolpert mehr heraus als dass er aussteigt und wir beeilen uns, möglichst schnell möglichst viel Distanz zwischen uns und dieses Höllengefährt zu bringen. Als ich mich umdrehe ist das allerdings verschwunden, vollkommen lautlos, was einem absoluten Wunder gleicht.
    Tyler und ich bleiben stehen und schauen uns für einen Moment nur stumm an. Seine Haare sind vollkommen durcheinander und ich habe in meinem Leben noch nie jemanden so blass gesehen wie ihn. Er ist komplett durch den Wind und sein Mund steht offen. Bei jedem lauten Geräusch zuckt er zusammen, als würde er befürchten, Aphrodite würde jeden Moment wieder neben ihm auftauchen und ihr teuflisches Werk zu Ende führen.
    „Jetzt“, stößt er gepresst hervor und fährt sich hektisch durch die Haare. „Jetzt verstehe ich, warum sie als der Teufel eingespeichert ist.“
    Ich nicke nur, da ich befürchte, dass statt Worten andere… Dinge ans Tageslicht dringen würden, die innen definitiv besser aufgehoben sind. Als sich die Welt nicht mehr ganz so heftig dreht, wage ich es dann doch.
    „Leg dich nicht mit ihr an.“ Tyler versucht sich an einem grimmigen Grinsen, aber ich schaue nur düster. „Ich meine das ernst. Tue es nicht.“
    „Was denn?“ Er versucht, locker zu bleiben, aber die Anspannung in seinem Körper ist klar sichtbar. „Sie wird mich schon nicht umbringen.“
    Oh doch. Das wird sie. Und noch viel schlimmere Dinge. Sehr viel schlimmere Dinge. Beim Gedanken daran macht sich der altbekannte Kloß in meinem Hals breit.
    „Beschwör es lieber nicht herauf“, sage ich stattdessen leise und fange mir einen fragenden, schon beinahe ängstlichen Blick von Tyler ein, auf den ich aber nicht weiter eingehe. Es ist besser wenn er nicht weiß, wen er da gerade verärgert hat. Ich werde heute Nachtmittag wohl einiges an Salzbergessen kochen dürfen, um das wieder geradezubiegen.


    Wir trennen uns wie gestern auf dem Flur, ständig begleitet von merkwürdigen Blicken, die gerade aber unsere letzte Sorge sind. Tyler pflückt mir auf dem Weg noch ein Blatt aus den Haaren, das während unserem Höllentrip wohl seinen Weg hineingefunden hat, und wir streichen unsere Klamotten glatt. Ein kurzer Blick in den Taschenspiegel zeigt mir, dass ich schon fast keine Ähnlichkeit mehr mit Shrek habe und beinahe gesund aussehe. Auch Tylers Gesichtsfarbe hat sich normalisiert.
    „Garten?“
    Ich nicke, dann trennen wir uns.


    Dienstage sind fürchterlich anstrengend, aber zumindest lenken sie mich von der Fahrt des Grauens ab. Ich bin sogar für das säuerliche Gesicht unserer Erdkundelehrerin dankbar, die mir im Vergleich zur Göttin der schlechten Autofahrer und Verkehrsunfälle geradezu freundlich vorkommt, selbst dann noch, als sie mich mit einem tödlichen Blick an die Tafel beordert.
    Als es zur Pause klingelt, packe ich meine Tasche zusammen.
    „Wo gehst du eigentlich ständig hin?“, fragt Charlie mich, als sie sich seitlich auf meinen Tisch setzt. Emil neben mir nimmt davon kaum Notiz, er starrt wie immer aus dem Fenster. Würde er sich nicht hin und wieder einen Millimeter bewegen, dann würde ich glatt vergessen, dass er überhaupt da ist…
    „Hast du es etwa noch nicht gehört, Charlie?“ Lisas Grinsen ist nicht vorwurfsvoll, Gottseidank. Ein wenig albern und resignierend, aber ihre Laune sinkt bei dem Thema nicht mehr in den Keller, worüber ich wirklich froh bin. „Sie trifft sich mit Tyler.“
    „Oho!“, stößt Eve aus, die mich verschmitzt angrinst. Ich verdrehe grinsend die Augen.
    „Ernsthaft?“ Ich schultere meine Tasche. „Es hat noch nicht einmal einen Tag gedauert, bis die Gerüchte starten?“
    „Also ist es wahr?“ Joshua steckt seinen Kopf in die Runde, halb erstaunt, halb ungläubig.
    „Und wenn es wahr ist?“
    Meine Freunde schauen in die Runde. Für einen Moment ist es still.
    „Also IST es wahr?“, widerholt Joshua und sein Gesicht hellt sich auf. Ich lache kurz. In dieser Schule darf man wirklich nichts tun, ohne dass es sofort jeder weiß…
    „Aber natürlich“, stoße ich etwas lauter aus. „In der Pause zocke ich Fünftklässler ab, zwischendurch erpresse ich meine Lehrer für gute Noten, und wenn dann noch Zeit ist verticke ich auf dem schulinternen Schwarzmarkt gefälschte Markenklamotten. Oh, und natürlich bin ich auch die Tochter eines Mafiosi und auf der Suche nach einem potentiellen Ehemann, der mit mir gemeinsam die Familietradition aufrecht erhält. Und wer würde da besser in Frage kommen als der charmante Schulschläger Tyler Preston?“ Ich breite die Arme aus und zucke mit den Schultern. Eve, Charlie und Lisa grinsen breit und unterdrücken ein Lachen.
    „Darf ich dich zitieren?“, fragt Joshua leicht begeistert. Gott, der Gute muss wohl wirklich Langeweile haben, hm? Ich nehme es ihm nicht übel. Lustig ist es ja schon irgendwie.
    „Darfst du“, sage ich, lehne mich nahe an ihn heran und raune ihm dann mit einem engelsgleichen Lächeln leise ins Ohr: „Aber dann muss ich dich leider umbringen.“


    Als ich im Garten ankomme ist Tyler schon da. Er winkt mir kurz und widmet sich dann wieder seinem Sandwich, das schon halb gegessen ist. Ich schlendere zu ihm herüber und setze mich ins Gras.
    „Ist Seth noch immer krank?“
    Tyler nickt und schluckt seinen Bissen herunter, ehe er antwortet.
    „Anscheinend hat es ihn schlimmer erwischt als mich. Sagt zumindest meine Mutter, ich sehe ihn nicht wirklich. Kann aber auch sein, dass er einfach nur so tut, um mir aus dem Weg zu gehen.“
    „Oder mir.“
    Tyler zuckt mit den Schultern. Nach gestern ist Seth kein Tabu-Thema mehr. Ich glaube, jetzt, wo wir die Fronten geklärt haben, macht es ihm nicht mehr so viel aus, darüber zu sprechen. Mir ist es auch nicht mehr so unangenehm, denn ich weiß jetzt, dass er mir nicht die Schuld gibt, auch wenn ich selbst das immer noch tue. Es ist, als hätten wir einen gemeinsamen Auftrag. Es geht uns beide etwas an, und deswegen ist es einfach, darüber zu reden. Aber solange Seth noch krank im Bett liegt, können wir sowieso nichts tun. Ich habe also noch etwas Gnadenfrist. Und so schnell ist mir auch noch nichts eingefallen, wie wir alles wieder geradebiegen können. Ist ja nicht mal vierundzwanzig Stunden her, seitdem…
    Ich verziehe das Gesicht. Verdammt. Ich hätte nicht darüber nachdenken sollen. Jetzt geht mir Aphrodites nervtötendes „Ava und Tyler sitzen auf dem Baum“ nicht mehr aus dem Kopf. Verdammt!
    „Was ist denn mit dir los?“
    Shit. Tylers Stimme klingt amüsiert. Ich kann ihm doch unmöglich sagen, worüber ich heute Morgen mit meiner Adoptivmutter gesprochen habe.
    „Nichts weiter“, nuschele ich und versuche so gut es geht, seinem Blick zu entkommen.
    „Du siehst aus, als wärst du in irgendetwas Ekliges getreten. Oder als hättest du gerade erfahren, dass deine Mutter dich abholen kommt.“
    Ich schneide eine Grimasse und versuche dann, möglichst neutral zu schauen. Nicht daran denken. Es geht schon irgendwann weg.
    Ava und Tyler-
    Gottverdammter Ohrwurm!
    Für einen kurzen Moment bilde ich mir ein, Aphrodites hämisches Kichern zu hören. Aber das ist sicher wirklich nur Einbildung.
    „Ist in deinem Kopf noch alles klar?“ Tyler hebt eine Augenbraue, und auch wenn er deutlich amüsiert ist, mischt sich langsam so etwas wie Unbehagen in seinen Tonfall. „Oder sind deine Sicherungen durchgebrannt?“ Ja verdammt! JA!
    „Alles okay“, stoße ich gepresst aus und dieses Mal gebe ich mir mehr Mühe, meine Gesichtsmuskulatur zu entspannen, als es eigentlich nötig sein sollte. Ich atme einmal aus und einmal ein. Tyler sieht nicht überzeugt aus, und je mehr ich versuche nicht daran zu denken, desto schlimmer wird es! Ablenkung, Ava, Ablenkung!
    „Übrigens, wir haben einen neuen Rekord aufgestellt“, fange ich an und spiele beiläufig an meinen Fingernägeln. „Scheinbar weiß schon jetzt die ganze Schule, dass wir uns hier treffen.“
    „Wirklich?“ Ich bin mir nicht sicher, wie ich das deuten soll. Er klingt wenig überrascht, aber auch nicht wirklich wütend. Ich drehe mich zu ihm um und sehe ihn halb grinsend mit den Augen rollen. „Okay, neue Wette. Wie lange wird es wohl dauern, bis wir uns hier nicht mehr nur… treffen.“
    Ich brauche einen Moment um zu begreifen, was er damit meint und dann entgleiten mir die Gesichtszüge.
    „So weit würden sie nicht gehen. Oder?“
    „Alles, um das Schulleben interessanter zu gestalten.“ Stimmt. Nach all dem, was ich schon an Gerüchten über ihn und Seth gehört habe, wundert mich gar nichts mehr. Und in den paar Sekunden, die wir schweigen, wird mir langsam klar…
    „Vielleicht… Aber auch nur vielleicht, habe ich einen Teil dazu beigetragen.“ Tylers Kopf saust in meine Richtung und ich sehe ernsthafte Überraschung. „Aber auch nur vielleicht!“, stoße ich aus.
    „Was hast du getan?“, fragt er verdächtig ruhig. Er schenkt mir einen kritischen Blick und plötzlich verschließt mir Schuldbewusstsein die Luftröhre.
    „Ehhh“, fange ich selten dämlich an und starre dann lieber aufs Gras, denn das löchert mich nicht mit ernsten Blicken. „Es war nur ein Witz. Das wird schon niemand ernst nehmen.“ Mein unsicheres Lachen bleibt mir im Hals stecken. Andererseits… Diese Leute glauben auch, dass Tyler und Seth wortwörtliche Leichen im Keller haben und Stammgast bei der Polizei sind… Oh oh. Tyler spricht mich wieder an, dieses mal eindringlicher.
    „Was hast du getan, Ava?“
    Ich traue mich noch einmal, ihm in die Augen zu schauen und bereue es sofort. Mir entgleitet das Gesicht und ich merke, wie ich drauf los plappere.
    „ Gerade eben, nach Pausenbeginn, hat man mich gefragt, wohin ich gehe. Und scheinbar wussten schon alle, dass ich mich mit dir treffe, also habe ich mich etwas darüber lustig gemacht. Und ich hab erwähnt, dass ich…“ Ich stocke, aber als er weiter Löcher mit seinen Blicken bohrt, seufze ich und zitiere mich selbst. Gott, ich und mein vorlautes Mundwerk.
    In der Pause zocke ich Fünftklässler ab, zwischendurch erpresse ich meine Lehrer, damit die mir gute Noten geben, ich verticke auf dem Schul-Schwarzmarkt gefälschte Markenklamotten. Außerdem bin ich auch die Tochter eines Mafiosi und suche nach einem potentiellen Ehemann, der mit mir gemeinsam die Familietradition aufrecht erhält. Und wer würde da besser in Frage kommen als der charmante Schulschläger Tyler Preston?“, nuschele ich vor mich hin und knete meine Finger. Für einen Moment bleibt es still.
    „Der charmante Schulschläger Tyler Preston.“ Tylers Stimme ist lang gezogen und seltsam tonlos. Ich wage es gar nicht, hochzuschauen. Gott, warum habe ich so etwas Bescheuertes überhaupt gesagt? Jetzt wo ich genauer darüber nachdenke, war es dämlich. Selten dämlich. Ist ja nicht so, als hätte Tyler schon mit genug Gerüchten zu kämpfen. Und ich mache es nur noch schlimmer. Kein Wunder, dass er nicht begeistert ist. Eher wütend. Oh man, ich bin so eine Idiotin.
    „Also gut“, fängt Tyler an. Ich kaue auf meiner Lippe herum. Das ist nicht gut. Für einen Moment herrscht trügerische Stille.
    „Wann lerne ich meinen Schwiegervater in spe denn kennen?“
    Ich runzele die Stirn und schaue hoch. Für einen kurzen Moment schafft Tyler es, vollkommen ernst zu bleiben. Dann merke ich, wie seine Unterlippe bebt und er fängt an zu prusten. Und dann lacht er. Tyler lacht und lacht und jedes Mal, wenn ich denke, dass es jetzt mal reicht und er sich einbekommt, schaut er mich kurz an und verfällt dann wieder in Hysterie. Okay, gut. Mein Gesichtsausdruck ist vermutlich auch selten lustig. Ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Ich bin peinlich berührt, überrascht, leicht genervt und erleichtert zur selben Zeit und meine Gesichtsmuskulatur versucht gerade vermutlich panisch, alledem irgendwie gerecht zu werden.
    „Vergiss das Atmen nicht“, knurre ich irgendwann, als Tylers Kopf hochrot wird und er nur noch zur Schnappatmung fähig ist. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der wirklich am Boden liegt und sich vor lauter Lachen durchs Gras kugelt. ‚Rofl‘ ist gerade erstaunlich real geworden.
    „Charmanter Schulschläger, so so!“, prustet er mit Tränen in den Augen. „Und das davor hast du ganz dreist von mir geklaut!“
    „Es war nur ein Scherz“, grummele ich und langsam überwiegen die Peinlichkeit und der Ärger. Ich werfe ihm einen bösen Blick zu, aber eigentlich weiß ich, dass ich kein Recht darauf habe, wütend zu sein. Es ist klar, dass er sich so darüber lustig macht. Eve, Charlie und Lisa fanden es genauso lustig. Ich ja auch. Aber gleichzeitig kapiere ich langsam, dass er mit Absicht so betont ruhig geblieben ist. Er wollte, dass ich denke, dass er wütend ist. Und ich bin voll darauf hereingefallen.
    „Du hättest deinen Blick sehen sollen“, lacht Tyler, aber langsam verebbt das Gelächter. Er kämpft sich wieder in eine sitzende Position, was eine Kunst für sich ist, wenn der ganze Körper vor unterdrücktem Lachen bebt. „Als würde ich dir gleich den Kopf abreißen.“
    „Das liegt daran, dass ich genau das gedacht habe“, gebe ich zu und schlage ihm mehr spielerisch als ernsthaft in die Seite, als er breit grinst.
    „Warum sollte ich wegen so etwas wütend werden?“ Langsam mischt sich echte Verwunderung in seine Stimme.
    „Du hast schon mit genug Gerüchten zu kämpfen“, murmele ich. „Solche blöden Scherze machen es sicher nicht einfacher.“
    Er schaut mich für einen Moment still und wachsam an, dann schmunzelt er, schüttelt leicht den Kopf.
    „Ich bin doch längst an sowas gewöhnt. Gerüchte machen mir schon lange nichts mehr aus.“ Ich werfe ihm einen kritischen Seitenblick zu. Wie kann man sich je daran gewöhnen, dass die Leute ständig über einen reden und dann auch noch die bescheuertsten Geschichten über einen in Umlauf bringen, einfach, weil ihnen langweilig ist? Ich würde das auf Dauer nicht aushalten. Die Blicke sind mir ja jetzt schon unangenehm, und bisher gibt es noch nichts auch nur ansatzweise so Heftiges wie über Tyler und Seth. Klar sind die Gerüchte lächerlich und klar habe ich gestern gesagt, dass es mir nichts ausmachen würde, aber gerade bin ich mir nicht mehr so sicher. Und jetzt wird mir erst richtig klar, dass Tyler schon gestern darüber nachgedacht hat. Ihm ist wesentlich mehr bewusst, wie die Gerüchteküche in einer kleinen Schule wie unserer ausufern kann. Er hat sich mehr Gedanken über diese Sache gemacht als ich selbst.
    „Alles klar?“ Tylers vorsichtige Frage reißt mich aus meinen Gedanken. Erst überlege ich, einfach ‚Ja‘ zu sagen, aber das würde nicht stimmen und ich möchte ihn nicht anlügen. Außerdem beschäftigt es mich schon seitdem ich das erste Mal mit ihnen gesprochen habe. In meinem neuen Leben, heißt das.
    „Wie haltet ihr das aus?“, frage ich einfach direkt heraus. Tyler wirkt nicht wirklich überrascht, aber er braucht eine Weile, bis er antwortet.
    „Am Anfang war es nicht so einfach“, gibt er zu. „Besonders Seth hat sich sehr darüber aufgeregt, und das hat die Gerüchte nur noch weiter angefacht. Ich dachte, dass es irgendwann schon vorüber geht, und wir uns bis dahin einfach bedeckt halten sollten.“
    „Aber das hat es nur noch schlimmer gemacht“, rate ich und Tyler nickt.
    „Irgendwann waren wir die eingeschworenen Zwillinge, die mit niemandem etwas zu tun haben wollen. Und ganz falsch lagen sie damit ja auch nicht.“
    Ja, das erwähnte er gestern schon. Seth macht es einem nicht zwingend einfach, mit ihm zu recht zu kommen. Und jetzt traut sich keiner mehr so recht, es überhaupt zu versuchen. Trotzdem ist es nicht fair, so unsinnige Lügen zu verbreiten.
    „Man gewöhnt sich irgendwann daran.“ Er zuckt mit den Schultern.
    „Das glaube ich nicht. Um damit klar zu kommen braucht man einen Haufen Selbstbewusstsein.“ Und mit einem Mal finde ich einen ganz anderen Respekt vor Tyler in mir. Dass er mit dem ganzen Unsinn, den unsere Mitschüler von sich geben, zurecht kommt, dass er ihnen nicht mal wirklich die Schuld gibt, dass er Seth verteidigt und zu ihm steht, auch, wenn der es ihm schwierig macht…
    Tyler ist so viel erwachsener als die meisten Menschen, die ich kenne. So viel empathischer, vernünftiger und besser als ich anfangs dachte. Er ist kein Schläger. Er ist kein Bad Boy. Er ist einfach… Tyler.
    Ich muss lächeln und das verwirrt ihn sichtlich, aber bevor er fragen kann, komme ich ihm zuvor.
    „Warum habt ihr letzte Woche dann eigentlich mit mir gesprochen? Warum habt ihr mich nicht einfach verscheucht?“
    „Ich weiß nicht“, gibt er zu und schaut auf den grünschimmernden Teich vor uns. „Vielleicht, weil du dich nicht hast einschüchtern lassen.“
    „Ich war sowas von eingeschüchtert“, gebe ich zurück und schneide eine Grimasse. „Ich dachte, dass ich den Trip hierher nicht überlebe.“
    „So furchteinflößend sind wir auch nicht.“
    „Du bist auch noch nie Opfer eurer Todesblicke geworden. Ihr seht aus, als wollt ihr einen aufschneiden oder häuten oder pfählen oder-“
    „Okay, ich hab‘s begriffen.“ Tylers Lächeln ist schief, halb amüsiert, halb säuerlich. „Du hast es dir jedenfalls nicht anmerken lassen. Das war… Ich weiß nicht. Ich fand es interessant. Und ich habe mich nicht getäuscht.“
    Ein kühler Wind rauscht durch den Garten und bringt die Blätter über uns zum Rascheln. Einige fallen von ihren Ästen und segeln langsam herunter. Als ein Blatt auf Tylers Schulter landet, schnippe ich es weg.
    „Ich habe nachgedacht“, fange ich irgendwann langsam an. „Glaubst du, dass Seth mich doch noch irgendwann zumindest halbwegs akzeptieren wird?“
    „Du warst doch diejenige, die gestern noch große Reden geschwungen hat, dass wir es wieder gerade biegen“, stößt Tyler zusammen mit einem trockenen Lachen aus.
    „Du kennst ihn aber besser als ich.“
    „Er ist ein verdammter Sturkopf“, seufzt er. „Aber wenn er mit jemandem zurecht kommen kann, dann mit dir.“
    Ich lächele schief. „Wir sind uns vermutlich ähnlicher, als wir beide zugeben wollen, hm?“
    Tyler grinst als Antwort und lässt sich zurück ins Gras fallen. „Ihr habt beide den gleichen, seltsamen Humor. Und ein paar Sicherungen locker.“
    „Hey!“, stoße ich gespielt empört aus, aber er lacht nur. Das vergeht ihm aber relativ schnell, als ich zu ihm herüber rutsche und mich ganz einfach auf seinen Bauch setze. Dieses Mal haut er nicht einfach ab. „Das nimmst du zurück!“
    „Kann nicht atmen!“, stößt er aus und strampelt ein wenig. „Zu schwer!“
    Mein Mundwinkel zuckt. Als ich mein Gewicht noch mehr auf ihn verlagere, höre ich, dass er kurz flucht. Ha. Verdient!


    Als die Pausenglocke klingelt, schnappen wir uns unsere Sachen und verlassen den Garten. Eigentlich will ich nicht. Ich würde so gerne länger hier bleiben und Tyler ärgern und so tun, als wäre ich wütend, wenn er zurückschlägt. Aber dummerweise ruft der Unterricht. Ein paar Fehlstunden würden mir nicht so viel ausmachen, aber ihm will ich nicht noch mehr Probleme bereiten.
    Der Biologieraum liegt auf seinem Weg, deswegen gehen wir gemeinsam hin. Ich sehe schon wieder die Blicke auf uns ruhen, und leises Getuschel, aber, und das überrascht mich selbst, es macht mir nichts aus. Wirklich nicht. Sollen sie halt reden. Sollen sie sagen, dass ich Zeit mit einem streitsüchtigen Schläger verbringe. Ich weiß es besser. Ich weiß, was für ein Mensch Tyler ist und wie gut es mir tut, mit ihm zu scherzen. Es erinnert mich an all die Abende, wo ich meinen Vater aufgezogen habe, oder meine Mutter und meine Schwester. Die Zeiten, in denen wir sorglos Witze übereinander gerissen haben, ohne dass wir wirklich wütend wurden, weil wir genau wussten, dass es nicht ernst gemeint ist.
    Ich spüre Tylers Blick auf mir, aber als ich ihm zulächle, scheint er beruhigt zu sein. Ich stoße ihm sanft meine Schulter gegen den Arm und strecke ihm die Zunge heraus, was er mit einem Augenrollen und einem Grinsen quittiert.


    Vor dem Bio-Raum warten schon die anderen. Ich sehe, wie einige die Köpfe recken, kümmere mich aber gar nicht darum. Tyler folgt mir, als ich direkt auf Charlie, Irene und Lisa zusteuere. Die schauen geradezu wachsam auf meinen Begleiter hinter mir.
    „Hey“, stoße ich aus. Irene lächelt mir zu und Lisa drückt mir ihren Zeigefinger in die Seite, formt mit den Lippen so etwas wie „Sehe ich gerade richtig?“. Nur Charlie lässt sich rein gar nicht beeindrucken.
    „Oh hey!“, stößt sie aus und setzt ihr breitestes Grinsen auf. „Wenn da nicht das glückliche Mafiosi-Paar kommt!“ Irene zischt leise Charlies Namen und Lisa prustet, während ich mir mit einer Hand vors Gesicht schlage. Dein Ernst, Charlie? Hinter mir höre ich ein leises Lachen und bevor ich mich versehe, legt Tyler seinen Arm um meine Schulter und sein Gesicht taucht direkt neben meinem auf. Fast schon vorwurfsvoll schaut er mich an.
    „Und ich dachte, das wäre unser Geheimnis.“
    Lisa stößt ein belustigtes „Oho!“ aus und grinst mich verschmitzt an während ich dem Drang wiederstehe, Tyler meinen Ellbogen in den Magen zu rammen. Stattdessen winde ich mich aus seinem Griff.
    „Ich konnte noch nie gut Geheimnisse für mich behalten. Besonders die peinlichen Sachen plaudere ich immer aus Versehen aus…“, seufze ich gekünstelt bedrückt und werfe ihm einen eindeutigen Blick zu. Es wäre doch zu schade, wenn jemand etwas über den bösen Schrank erfährt, nicht wahr? Nach einem kurzen Moment verschwindet das Grinsen von Tylers Gesicht, deutlich unsicher, ob er das riskieren möchte. Charlie dagegen lacht beherzt („Ooooh, eins zu null!“) und selbst Irene unterdrückt ein Kichern.
    „Macht weiter so und bald denken alle, dass ihr wirklich ein Mafiosi-Paar seid“, warnt uns Lisa halb amüsiert, halb ernst. „Du wusstest es vermutlich vorher nicht, Ava, aber Joshua ist die erste Anlaufstelle für alle Gerüchte. Auch wenn das vorhin ein Scherz war, es verbreitet sich schon jetzt wie ein Lauffeuer.“ Ich schaue mich um und bemerke, wie schnell und absolut unauffällig (nicht) meine Klassenkameraden sich wieder umdrehen und alles auf dieser Welt interessanter ist als unser Gespräch. Ich wusste, dass Joshua neugierig ist, er war bisher immer da gewesen, wenn es irgendetwas Neues gab und hat gelauscht. Aber vorher habe ich da nicht wirklich drüber nachgedacht. Jetzt, wo ich es tue, wird mir langsam klar, dass ich demnächst wohl etwas vorsichtiger sein sollte, was ich in seiner Nähe sage…
    Ich sehe, wie Tyler mit den Schultern zuckt.
    „Und wenn schon.“ Er legt seinen Ellbogen auf meiner Schulter ab. „Von all den Gerüchten, die so herum gehen, ist das definitiv das angenehmste.“ Er grinst noch einmal, dann umarmt er mich, länger als eigentlich nötig und ich bin mir sicher, dass er das nur tut, weil uns alle aus dem Augenwinkel beobachten. Als er sich von mir löst, zwinkert er kurz und geht dann seiner Wege. Und ich stehe da wie angewurzelt, alles um mich herum schweigt. Dafür pocht mein Herz in meiner Brust lauter als es sollte.
    „Oh wow“, stößt Charlie langegezogen aus. Lisas Mund steht offen. Irene blinzelt hektisch. Ich bin wie festgefroren und kann nicht mal richtig reagieren, als Lisa meinen Arm greift und mich wild schüttelt.



    „Er hat definitiv mit dir geflirtet!“
    „Sei nicht albern.“ Ich starre angestrengt auf mein Arbeitsblatt, das Charlie mir sofort aus den Händen reißt. Verdammt. Jetzt bleibt mir nur der Linoleumboden-
    Halt, nein, nicht mal der bleibt mir, denn jetzt fuchtelt Lisa mit den Händen direkt vor meinem Gesicht herum.
    „Jetzt lenk nicht ab“, mahnt sie mich und mit einem genervten Seufzer schaue ich auf. Sogar Irene starrt mich eindringlich an.
    „Er hat nicht geflirtet“, poche ich. „Er hat gemerkt, dass alle um uns herum zuhören und hat sie bewusst verarscht. Mehr war da nicht.“
    „Ach komm schon!“ Lisa wirft die Arme in die Luft, ich lehne mich an die Wand. Wir sitzen im Flur vor dem Biologieraum, um dort in Gruppenarbeit die Blätter zu bearbeiten, die Herr Haste uns gegeben hat. Eigenständiges Arbeiten hat er es genannt. Ich nenne es ungünstigstes Timing aller Zeiten. Nach einer Stunde hartem Biologieunterricht hätten die drei die Sache vermutlich vergessen, aber gerade gibt es natürlich kein anderes Thema.
    „Ihr seid schlimmer als meine Mutter“, murre ich und erkämpfe mir mein Arbeitsblatt zurück. Und dieses Mal meine ich sowohl meine Mutter, als auch Aphrodite. Deren nervtötendes Lied schwirrt mir nämlich schon wieder in meinem Kopf.
    „So etwas würde er doch nicht nur sagen, um die anderen zu provozieren, oder?“ Et tu, Irene? Ich werfe ihr einen eindeutigen Blick zu.
    „Er sagt auch, dass ich schwer bin oder dass ich viel esse. Und das sind auch nur Scherze“, stoße ich mit einem Schulterzucken aus. Dann, kaum hörbar: „Glaube ich.“
    „Wow, wow! Wie will er das denn bewerten können?“ Lisa riecht scheinbar Lunte. Verdammt, ich und mein großes Mundwerk.
    „Spucks aus, Schwester!“, fordert Charlie, ungewöhnlich neugierig. Ich hätte nicht erwartet, dass sie meine Beziehung zu Tyler so sehr interessiert.
    „Sollen wir nicht lieber-“, fange ich an und deute auf mein Arbeitsblatt, aber drei Stimmen sagen gleichzeitig, mal mehr, mal weniger heftig „Nein!“. Ich seufze. Wo hab ich mich hier bitte hereingeritten?
    „Ich war bei ihm zum Essen eingeladen“, beginne ich und sehe, wie sich Augen weiten. Schnell füge ich hinzu: „Von seiner Mutter!“
    „Du kennst schon seine Mutter?“ Mein Gott Lisa, mach den Mund zu.
    „Zufall“, stelle ich klar. „Ich hab sie im Café meiner Mutter getroffen. Zusammen mit Hibiki. Sie bat mich, für sie mit im Gassi zu gehen, weil der Kleine nicht auf sie hört, und als Dank hat sie mich zum Essen eingeladen.“
    Dummerweise scheint Lisas Riecher für Lunte weitaus besser ausgeprägt zu sein als ich gedacht habe. Sie starrt mich an mit einem Blick, der so viel bedeutet wie „ich weiß ganz genau, dass das noch nicht alles war, also los“. Verdammt. Ich muss wirklich an meinem Gesichtsausdruck arbeiten, wenn ich so einfach zu lesen bin. Einerseits möchte ich sie nicht anlügen. Ich kenne die drei noch nicht lange, aber ich habe versprochen, sie besser zu behandeln, und sie anzulügen fällt da mit Sicherheit nicht drunter. Andererseits bin ich nicht scharf darauf, da so eine große Sache draus zu machen. Und vielleicht macht es mir auch etwas Sorgen, wie sie die Situation einschätzen werden.
    Ich stöhne und sehe ein, dass sie sowieso nicht locker lassen werden.
    „Ich habe ihn gestern zum Essen eingeladen.“
    „Mit deiner Mutter?“ Irene beugt sich vor.
    „Nein, die ist nicht da gewesen. Er ist gekommen, wir haben gekocht, gegessen, geredet und uns dann verabschiedet.“
    Kurzes Schweigen. Ich sehe, wie die drei Blicke austauschen.
    „Ihr hattet also ein Date“, fasst Charlie zusammen und ich merke, wie ich die Schultern hochziehe.
    „Es war kein Date“, gebe ich kleinlaut zurück.
    „Das war sowas von ein Date“, widerspricht Charlie.
    „Hört sich nach klassischem Date an“, bestätigt Lisa.
    „Ein Date“, gibt dann auch noch Irene zu.
    Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Genau das wollte ich nicht hören!
    Warum nicht? Weil es nicht meine verdammte Aufgabe ist, auf Dates zu gehen. Ich habe keine Zeit für diese Art von Beziehungen. Das macht alles nur unnötig komplizierter! Alles was ich will ist Tyler glücklich zu machen. Klar muss ich ihn dazu besser kennen lernen, und Zeit mit ihm zu verbringen ist die einzige effektive Möglichkeit. Ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm ist alles was ich brauche. Und Waffenstillstand mit Seth. Dann kitte ich ihre Beziehung, gewinne die Wette und BUM, ich habe ein reines Gewissen und mein altes Leben zurück.
    „Hey, es hätte dich schlimmer treffen können. Er sieht doch ziemlich gut aus“, stößt Lisa nach einer Weile aus.
    „Es ist mir egal, wie er aussieht“, brumme ich durch meine Hände. „Ich kann gerade kein Liebesdrama gebrauchen.“
    „Es muss doch nicht unbedingt dramatisch werden.“ Ich spüre Irenes Hand auf meiner Schulter und entspanne mich ein wenig.
    „Würde es aber. Hundertprozentig. Und dafür habe ich keine Zeit.“ Ich sehe nicht, was sie in der kurzen Stille, die entsteht, tun, aber ich bin mir sicher, dass ihre Blicke zueinander gerade Bände sprechen.
    „Tja, dann…“ Charlie räuspert sich. „Dann musst du wohl dafür sorgen, dass er gar nicht weiter auf die Idee kommt, dass zwischen euch etwas passieren könnte.“
    Ich hebe den Kopf und schaue sie an. Charlie hat Recht. Aber wie soll ich das bitte anstellen?
    „Keine zweideutigen Gespräche, kein zu enger Körperkontakt, nicht einmal Andeutungen in Richtung Beziehung“, zählt Lisa auf. Ich nicke langsam. Und dann stöhne ich.
    „Also“, fängt Irene an, als das Schweigen langsam peinlich wird und winkt vorsichtig mit ihrem Arbeitsblatt. „Ist diese Erbkrankheit jetzt dominant oder rezessiv?“


    Die Woche vergeht im nu. Im Unterricht fokussiere ich mich auf den Stoff, in den kurzen Pausen dazwischen auf meine Freunde, die das Thema Tyler wohlweißlich vermeiden, und in den Mittagspausen konzentriere ich mich darauf, nichts zweideutiges zu sagen, keinen zu engen Körperkontakt zu haben und generell nicht in Richtung Beziehung zu geraten. Was wesentlich schwieriger ist, als ich gedacht habe. Ich lege jedes verdammte Wort in die Goldwaage und das macht mich fertig. Ständig muss ich mir Gedanken machen, ob das, was ich sage, richtig ist oder merkwürdig klingt, und unsere Gespräche geraten immer mehr ins Stocken. Ich sehe genau, dass es Tyler auffällt, aber er spricht mich nicht darauf an. Vielleicht weiß er es auch längst.
    Ich habe keine Ahnung und das stresst mich.
    Nachmittags versuche ich mich, so gut mein Gehirn es zulässt, an einem Skript für ein Gespräch mit Seth. Ich weiß, dass das eigentlich schwachsinnig ist. Ich kann kein Gespräch planen, wenn ich doch nicht genau weiß, was mein Gegenüber antworten wird. Und trotzdem versuche ich alle möglichen Richtungen einzuschlagen, weil ich mich damit zumindest ein bisschen produktiv fühlen kann. Auch Aphrodite sieht davon ab, über Tyler zu sprechen. Ich weiß nicht, ob sie es tut, weil sie noch immer beleidigt ist oder weil sie merkt, dass ich wenig Lust auf Konversation mit ihr habe. Ich spreche generell nur noch wenig und verbringe viel zu viel Zeit mit Grübeln. Das ist mir bewusst, aber ich komme einfach nicht davon los. Alles stagniert und meine Lösung ist Grübeln, wo doch eigentlich etwas passieren muss, damit ich vorwärts komme. Aber es passiert nichts. Tyler fragt nicht nach, ich bin zu sehr mit meiner Wortwahl beschäftigt und Seth ist noch immer nicht wieder gesund. Langsam frage ich mich, ob es nicht vielleicht doch etwas Ernsteres ist. Nachher wird er noch operiert und mein klärendes Gespräch kann nicht stattfinden, weil es sich mit einem Koma-Patienten nicht gut diskutiert.
    Und selbst wenn er kommt muss er ja auch erst einmal einwilligen, mit mir zu reden.


    Es ist Samstagmorgen und ich starre auf mein Handydisplay. Ich weiß nicht genau warum, aber aus irgendeinem Grund bin ich auf die Homepage meiner alten Schule gegangen. Es ist keine besonders schöne Webseite, voll mit hässlichen Formatierungsfehlern und die Schriftart ist Comic Sans, das sollte alles sagen, aber trotzdem scrolle ich mich jetzt schon seit gefühlten Stunden durch Artikel über unseren Chor, einen Ausflug zur Universität des Physik-Kurses, einem Austausch... Und irgendwann lande ich bei den Klassenfotos. Fast wie automatisch klicke ich auf den Link zu meiner alten Klasse, die, in die ich jetzt gehen würde, wenn ich noch bei meiner Mutter leben würde und nie weggezogen wäre. Ich sehe vertraute Gesichter und zu jedem fällt mir eine Kleinigkeit ein. Annas merkwürdiges, aber lustiges Lachen. Saschas Obsession mit Chemie-Experimenten. Jonas‘ bescheuerte Witze, über die wir aber trotzdem jedes Mal lachen mussten. Farids und Leahs On-und-Off-Beziehung und ihre Telenovela-reifen Beziehungsdramen zwischen den Stunden. Und trotzdem kamen sie am Ende doch immer wieder zusammen und schwebten dann im siebten Himmel. Yulia hat Leah immer wieder gesagt, dass sie sich doch endgültig trennen sollten, aber ich bezweifle, dass die beiden es lange ohne einander aushalten würden.
    Als ich etwas weiter herunterscrolle übersehe ich es fast. Es ist nur eine kleine Zeile Text.
    „In stillem Gedenken an Ava Hale. Wir werden dich vermissen.“
    Ich schließe den Tab. Keine Ahnung, was ich fühle. Und bevor ich mir wirklich Gedanken darüber machen kann, höre ich die Türklingel. Aphrodite schläft noch immer, schätze ich, zumindest habe ich sie heute Morgen noch nicht gesehen, also bleibt es an mir hängen, dem Postmann oder dem nervigen Vertreter aufzumachen. Ich kämpfe mich aus meinem Stuhl hoch, was mit einem eingeschlafenen Bein verdammt schwierig ist und humpele zur Tür.
    Als ich sie aufziehe erwartet mich etwas anderes, als ich erwartet habe.
    „Hey“, stößt Tyler aus, aber es geht in Hibikis lautem, fröhlichen Kläffen unter. Als der kleine Welpe so an meinen Beinen hochspringt muss ich etwas lächeln.
    „Hi“, gebe ich dann zurück. Ich weiß nicht wirklich, was ich sagen soll. Hab ja erwähnt, dass unsere Gespräche in letzter Zeit ziemlich… hilflos waren. Hatten wir uns verabredet, und ich habe es vergessen? Nein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir nichts geplant hatten.
    „Ich war gerade in der Gegend“, fängt Tyler stockend an. „Und Hibiki hat mich quasi hierher gezogen.“
    Ich muss etwas grinsen. Ich weiß nicht, ob das die Wahrheit ist oder eine Ausrede.
    „Gehst du Gassi?“, frage ich und Tyler nickt. Ein Wind fegt von draußen ins Haus herein. Er ist frisch und kühl, aber angenehm. Mir fällt auf, wie stickig es im Haus ist. Ich muss unbedingt hier raus.
    „Warte kurz“, weise ich Tyler an. „Ich ziehe mich schnell um und dann komme ich mit.“


    Ich habe keine Ahnung, wo wir langgehen, diese Strecke habe ich noch nie gesehen. Von meinem Haus aus gehen wir nicht Richtung Stadt, stattdessen folgen wir einer Randstraße an der Klippe. Ein paar hundert Meter weiter, an nur noch wenigen Gebäuden vorbei steht ein Schild, das die Grenze von Hemsfort anzeigt. Wir gehen bergab und sind schon bald auf Höhe des Strandes, während auf der anderen Straßenseite die Klippen hoch über unseren Köpfen ragen, gekrönt von dichten Büschen und Bäumen. Die salzige Brise, die vom Meer her weht tut geht und schon bald ist mein Kopf wieder frei und die Müdigkeit, die ich noch nicht einmal bemerkt hatte, wie weggewaschen.
    Den ersten Kilometer reden wir nicht wirklich. Tyler führt uns und ich folge ihm. Ab und an fährt ein Auto an uns vorbei, ansonsten hört man hier nur das Rauschen der Wellen und Hibikis Kläffen.
    Als Tyler mich zum Strand lotst, bricht er das Schweigen.
    „Alles okay?“
    Ich schaue ihm für eine Weile nur ins Gesicht, dann bleibt er stehen. Sein Blick ist wachsam, aber ich weiß, dass ich ihm nichts sagen müsste, wenn ich nicht will. Will ich? Ich weiß es nicht.
    „Keine Ahnung“, sage ich wahrheitsgemäß und damit gibt er sich erst einmal zufrieden. Ich kann nicht wirklich mit ihm darüber sprechen. Es betrifft ihn immerhin direkt. Und es könnte die Situation noch sehr viel seltsamer machen, als sie ohnehin schon ist.
    Aber mit wem kann ich denn dann sprechen?
    Lisa, Irene, Charlie? Nein. Sie verstehen nicht, warum ich mich so dagegen sträube. Ich müsste ihnen alles erzählen, damit sie mir einen guten Rat geben könnten. Aber das geht auch nicht.
    Aphrodite? Ja sicher. Zu ihr gehe ich, wenn ich einen Rat für mein Make-Up oder meine Klamotten brauche, aber doch nicht für ernsthafte Themen.
    Stück für Stück wird mir bewusst, dass es vermutlich nicht einmal diese ganze Beziehungskiste mit Tyler ist wegen der ich so schlecht drauf bin. Sie trägt sicher ihren Teil dazu bei, aber der Hauptanteil ist doch eigentlich, dass ich ganz alleine mit meinen Problemen bin. Ich habe niemanden, der weiß, worum es hier wirklich geht, und ich kann auch niemanden einweihen, denn wer würde es mir schon glauben? Als ich tief ausatme sehe ich, wie Tylers Augen zu mir herüber wandern. Ich bin dankbar, dass er sich sorgt. Aber gleichzeitig macht es das nur noch schwerer.


    Der Streifen Strand ist nur etwa zwanzig Meter breit und gesäumt mit gelblichen und grünen Gräsern, die sanft im Wind wiegen. Hibiki tollt in der Brandung herum, so weit es die Leine eben zulässt. Ich beschränke mich für eine Weile darauf, ihm beim Spielen zuzusehen, und das muntert mich etwas auf. Irgendwie muntert mich Hibiki immer auf, jetzt, wo ich darüber nachdenke. Das kleine Energiebündel steckt einfach an. Vielleicht sollte ich öfters mit ihm spazieren gehen. Das letzte Mal habe ich mich auch so gut gefühlt. Gut, das lag vielleicht auch daran, dass ich Artemis-
    Artemis!
    Ich bleibe mitten in der Bewegung stehen.
    Natürlich. Warum habe ich nicht vorher an sie gedacht? Sie weiß, worum es für mich geht. Sie weiß von der Wette. Und sie hat mir angeboten, mir zu helfen, wenn ich sie brauche.
    War das ernst gemeint? Sie hätte keinen Grund zu lügen. Aber kann ich sie wirklich um Hilfe bitten? Kann ich eine Göttin um Hilfe bitten?
    Ich weiß es nicht. Aber ich muss.
    Ich schließe die Augen und sehe ihren schlanken, aber muskulösen Körper vor mir. Das kantige Gesicht, die silbernen Augen, die wilden, blonden Locken. Ich sehe ihr freundliches Lächeln, so freundlich wie ich es jemandem mit einem so strengen Gesichtsausdruck nicht zugemutet hätte. Und ich wünsche mir, dass sie jetzt hier wäre, damit ich ihr all das erzählen kann, was nur in meinem Kopf herum spukt. Dass ich alles herauslassen kann und damit meine Gedanken ordne. Ich brauche nicht einmal wirklich einen Rat, denke ich. Nur jemanden, dem ich mich anvertrauen kann. Das ist alles, worauf ich hoffe.
    „Ava?“
    Ich öffne die Augen und das Bild von Artemis in der Schwärze verschwindet. Stattdessen sehe ich Tyler, mit seinen rot leuchtenden Augen und der Sorge auf dem Gesicht. Ich öffne den Mund, aber es kommt nichts heraus. Also schüttele ich nur den Kopf und versuche mich an einem Lächeln.
    „Du…“, fängt Tyler an, die Stirn gerunzelt. Ich spüre seine Hand auf meiner Schulter, warm und fest, aber es fühlt sich an, als würde er mich stützen. „Wenn du reden-“
    Aber weiter kommt er nicht. Aus der Ferne höre ich das Jaulen zweier Hunde, im perfekten Einklang. Hibiki am Wasser stellt die Ohren auf und antwortet mit einem Kläffen, das im Rauschen der Wellen aber schon fast untergeht. Dann versucht er, auf die Geräuschquelle zuzulaufen, aber die Leine hält ihn zurück. Tyler und ich folgen ihm mit unseren Blicken. Und als ich die große, schlanke Silhouette erkenne, die auf uns zukommt, muss ich willkürlich lächeln.
    Tyler gibt sich alle Mühe, Hibiki zurückzuhalten, doch der Welpe entwickelt geradezu Bärenkräfte. Vermutlich stachelt ihn die göttliche Aura an, die mit jedem Schritt offensichtlicher wird.
    Sie trägt die gleiche Kleidung wie schon vor einer Woche. Ein einfaches, weißes Shirt und eine kurze Sporthose, um die Hüfte schlingt sich eine Sportjacke. Der Wind zerzaust ihre blonden Locken und ich kann schon aus meterweiter Entfernung den Blick aus ihren silbernen Augen auf mir spüren.
    Ich merke nicht einmal wirklich, dass ich auf sie zugehe. Irgendwann stehen wir uns einfach gegenüber und ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Am liebsten würde ich sie umarmen, weil ich so dankbar bin, dass sie tatsächlich gekommen ist. Aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass ich nicht einfach eine Göttin umarmen sollte. Das wäre ziemlich respektlos, oder?
    Artemis nimmt mir die Entscheidung ab und streicht mir sanft mir der Hand über die Wange, ein beruhigendes Lächeln auf den schmalen Lippen. Ich merke, wie meine Augen wässrig werden und schließe sie schnell.
    Hinter mir höre ich das Knirschen von Sand. Tyler lässt sich von Hibiki näher an Artemis heranziehen und kommt dann neben mir zum stehen. Ich lasse mir nichts anmerken und beobachte für einen Moment, wie Hibiki sich zu Artemis‘ Hunden gesellt, die sich selbst aber erst dann bewegen, als die Göttin es ihnen mit einem knappen Nicken erlaubt.
    „Du bist also sein Herrchen“, spricht Artemis Tyler an und ich merke, wie er sich versteift. Er spürt wohl genauso wie ich ihre merkwürdige, göttliche Aura.
    „Ja“, antwortet er knapp, aber sein Blick gleitet zwischen mir und ihr hin und her.
    „Oh, richtig.“ Ich schüttele kurz den Kopf, um meine Gedanken zu ordnen. „Ich sollte euch wohl vorstellen. Das hier ist Tyler. Tyler, das ist…“ Ich gerate etwas ins Stocken. Ich kann sie schlecht bei ihrem echten Namen nennen, oder? Nur für den Fall, dass er in seinem Leben mal etwas von einer Artemis gehört hat.
    „Theresia“, springt Artemis mir zur Hilfe.
    „Genau“, fahre ich fort. „Ich habe sie letzten Samstag kennen gelernt. Ihre Hunde haben sich gut mit Hibiki verstanden, da haben wir sie ein wenig spielen lassen.“
    Tyler lässt ein tonloses „Oh“ hören und beobachtet dann die spielenden Tiere direkt neben Artemis. Hibiki liegt auf seinem Rücken, lässt sich von den langen Schnauzen der Jagdhunde anstubsen und bellt bei jeder Berührung in einem Tonfall, den ich nur als fröhlich bezeichnen kann.
    „Windhunde?“, fragt Tyler neben mir dann, aber ich sehe ihm an, dass ihm Artemis‘ Blick unangenehm ist.
    „Podenco Ibicenco“, bestätigt Artemis mit einem stolzen Blick auf die Tiere. Für einen Moment ruht der Blick der Tiere auf ihrer Besitzerin, als wüssten sie, dass man von ihnen spricht, dann schweifen sie zu mir. Ihre Augen leuchten in einem schönen Bernsteinton, sie gleiten zu Tyler und ich sehe, dass sich in ihrem Ausdruck etwas ändert. Sie sehen beinahe misstrauisch aus.
    Tyler hockt sich hin, Hibikis Leine noch in der Hand und wartet einfach ab. Er hat die vollkommene Aufmerksamkeit der Windhunde, die für einen Moment nur verharren. Ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Artemis die Situation beobachtet. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und auch wenn sie schwer zu lesen ist kann ich so etwas wie Interesse darin sehen. Und… ein kleines, gespanntes Lächeln? Ich bin mir nicht sicher.
    Die Jagdhunde öffnen ihr Maul und ich sehe ihre scharfen Zähne. Wenn Artemis es ihnen befehlen würde, würden sie uns komplett zerfleischen können. Der Gedanke müsste mich eigentlich nervös machen, aber ich bezweifle, dass so etwas passieren würde.
    Nach einer Weile streckt Tyler langsam seine freie Hand in Richtung der Hunde. Wieder verharren diese für einen Moment mitten in der Bewegung, aber dann ist die Neugierde wohl doch zu groß. Sie gehen den Schritt, der notwendig ist, auf den Jungen zu und senken ihre Schnauzen in Richtung seiner Hand. Für eine Weile bleibt es dabei. Dann sehe ich, wie die rauen Zungen Tylers Finger abschlecken. Auf Tylers Gesicht breitet sich ein zufriedenes Lächeln aus, und neben mir lacht Artemis bellend.
    „Ich bin beeindruckt“, stößt sie aus und schenkt Tyler ein aufrichtiges, wohlwollendes Lächeln. „Es passiert nur selten, dass Chrysos und Asimi Vertrauen zu einem Mann fassen.“
    „Wirklich?“
    „Hund sind sehr intelligente Tiere“, sagt Artemis, während sie sich zu ihren Hund herunterbeugt. Beide lassen sofort von Tyler ab und wenden sich ihrer Besitzerin zu. „Sie wissen genau, wie jemand tickt, noch bevor sie diese Person auch nur ein Wort haben reden hören und egal wie sehr sie versucht sich zu verstellen.“
    Tyler nickt, den Blick fest auf die Windhunde gerichtet. „Es sind wunderschöne Tiere.“ Ich höre Artemis bestätigend brummen.
    Es ist schon etwas seltsam, die beiden so nebeneinander zu sehen. Tyler ist sichtlich begeistert von Chrysos und Asimi, und mit einem Male macht ihm selbst Artemis göttliche Aura nichts mehr aus.
    „Darf ich…?“, fragt er irgendwann und als Artemis nickt, legt er vorsichtig die Hand auf Asimis Kopf, bedacht darauf, keine zu schnellen Bewegungen zu machen. Aber das ist gar nicht notwendig. Tyler hat den Test scheinbar längst bestanden. Der hellbraune Windhund drückt seinen Kopf gegen die Hand, die ihn streichelt und sein Schwanz wedelt fröhlich. Ich muss etwas grinsen, als ich Tylers Lächeln sehe.
    „Spiel doch ein wenig mit ihnen. Und lass Hibiki ruhig laufen, die beiden passen auf ihn auf“, schlägt Artemis vor und das lässt sich Tyler nicht zweimal sagen.


    Artemis und ich ziehen uns auf die erhöhte Böschung zurück, wo wir uns nebeneinander setzen. Für eine Weile beobachten wie Tyler, der Stock um Stock quer über den Strand wirft und sich lachend ein Tauziehen mit den Jagdhunden und dem kleinen Shiba Inu liefert, wann immer die den Stock zu ihm bringen. Er hat sichtlich viel Spaß dabei. Ich muss etwas grinsen.
    Als ich Artemis‘ Hand auf meiner Schulter spüre, drehe ich mich zu ihr um.
    „Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich kommen würdest“, gebe ich zu.
    „Ich habe es dir doch versprochen, oder?“ Sie streicht sich durch das zerzauste Haar. „Und ich breche niemals meine Versprechen. Wenn du Hilfe brauchst, musst du nur nach mir rufen.“
    Ich lächele und fahre mir durch die Haare. „Auch wenn ich nur jemanden zum Reden brauche?“
    „Besonders dann.“
    Artemis nimmt meine Hand und ich spüre, wie ihre Körperwärme mich durchströmt. Es muss ein Teil ihrer Magie sein, so beruhigend und wohlig fühle ich mich mit einem Mal. Als ich den Mund aufmache, bricht alles aus mir hervor.


    Ich weiß nicht genau, was ich ihr alles erzähle. Viel zu viel vermutlich, angefangen von meiner Sorge über Hannah und meinen Eltern, über meine Angst, die Wette zu verlieren, über meine Befürchtung, dass Seth mich zu sehr hasst, um ein Gespräch zuzulassen. Ich erzähle ihr von Aphrodite, die mir ständig auf die Nerven geht, von meinen Schulkameraden, die so sehr für mich da sein wollen, denen ich aber einfach nicht alles erzählen kann. Und irgendwann… Irgendwann fließen die Tränen einfach meine Wangen herunter. Ich kann sie nicht zurückhalten und ich will es auch gar nicht. Es tut gut, alles herauszulassen. Und ich lag richtig damit, dass ich keinen Rat brauche. Denn eigentlich weiß ich schon, was ich tun muss. Es sind keine Tränen der Sorge oder des Kummers. Eher der Erleichterung, endlich jemanden zu haben, dem ich nichts verschweigen muss und bei dem ich nicht immer vor Augen habe, dass ich ihn permanent anlüge.
    „Und dann“, schluchze ich weiter. „Dann sagten sie, dass er mit mir flirtet. Aber dafür habe ich gerade nicht die Zeit und nicht die Nerven.“ Mittlerweile hat Artemis sanft ihre Arme um mich geschlungen, drückt meinen Kopf an ihre Brust und wiegt mich im Takt eines lautlosen Liedes leicht hin und her.
    „Ich will ihn glücklich machen. Und das nicht nur wegen der Wette. Aber eine Beziehung würde alles so viel komplizierter machen und es ist schon so verdammt kompliziert. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Kopf platzt. Also gebe ich mir Mühe, ihn irgendwie auf Distanz zu halten, aber er hat es bemerkt, und ich muss ständig darüber nachdenken, wie ich was sage, und wie es bei ihm ankommt, und das bereitet mir Kopfschmerzen. Da halten auch die nicht mit, die ich immer habe, wenn ich mit Aphrodite rede!“
    Artemis Körper bebt, als sie bellend lacht, und ich muss mitlachen.
    „Bei mir darfst du leider keine Beziehungstipps erwarten“, schmunzelt sie dann irgendwann.
    „Stimmt.“ Ich wische mir die letzten Reste Tränen aus den Augen und von den Wangen. Ihr weißes Shirt ist da, wo ich mich an sie gedrückt habe, klitschnass. „Du bist die jungfräuliche Göttin, richtig?“
    Artemis nickt und schaut herüber zu Tyler, der mittlerweile auf dem sandigen Boden sitzt und versucht, allen drei Hunden gleichzeitig den Bauch zu kraulen, was mit zwei Händen faktisch unmöglich ist. Immer derjenige, der gerade nicht gekrault wird, fordert jaulend seine Streicheleinheit ein, was in etwa alle fünf Sekunden passiert. Er gibt sich zwar große Mühe, aber solange Tyler kein dritter Arm wächst, wird das wohl ewig so weitergehen.
    „Das letzte Mal, dass Chrysos und Asimi mit einem Mann so gut zurecht gekommen sind, ist schon mehrere Jahrzehnte her. Mindestens.“
    Es überrascht mich nicht wirklich, dass die beiden so viel älter sind, als sie aussehen. Aphrodite ist es auch, und Artemis genauso.
    „Die beiden haben eine hervorragende Menschenkenntnis. Dass sie so schnell so zutraulich sind beweist, dass Tyler ein guter Mensch ist.“
    „Ist er. Anfangs dachte ich, dass er ein personifizierter Bluthund ist, aber ich hätte nicht weiter daneben liegen können“, stimme ich zu und muss grinsen.
    „Du magst ihn“, stellt Artemis wenig überrascht fest. Ich schaue ihr kurz in die silbernen Augen. Es würde nichts bringen, es zu leugnen. Ich bin froh, dass ich mich für Tyler entschieden habe. Dass ich mir die Mühe gemacht habe, ihm näher zu kommen. Er ist ein Schaaf im Wolfspelz.
    „Beziehungen, egal welcher Art, machen die Dinge oft schwerer“, fängt sie dann wieder an. „Aber in all den Jahrhunderten, die ich über euch Menschen gewacht habe… Nur dann, wenn ihr euch aufeinander eingelassen habt, habt ihr Unglaubliches geschafft. Ihr seid nicht gesegnet mit allmächtigen Kräften. Eure Zeit auf diesem Planeten ist kurz, eure Möglichkeiten sind eingeschränkt. Aber selten hat uns eine Spezies so überrascht wie eure. Ihr seid zu so viel fähig. Und so ungern ich es auch sage… Wann immer Aphrodite sagt, dass die Liebe die stärkste Kraft auf diesem Planeten ist… Ich kann es niemals ganz abstreiten.“
    „Das heißt im Klartext also, dass ich mich nicht so gegen eine Beziehungskiste sträuben soll?“
    Artemis zuckt mit den Schultern. Ich sehe ihr an, dass sie selbst nicht ganz sicher ist.
    „Es macht keinen Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Wenn du einfach weitermachst wie vorher und es auf dich zukommen lässt, kann es dann so viel schwerer werden als im Moment?“
    Sie hat Recht. In den letzten drei Tagen war es schrecklich, mit Tyler zusammen zu sein. Und das, obwohl ich es doch sonst so genossen habe. Nur, weil ich mir Gedanken über ein „was ist, wenn“ gemacht habe, und das permanent. Bisher ist noch gar nichts passiert. Es steht ja nicht einmal fest, dass er mit mir geflirtet hat. Vielleicht hat Tyler wirklich nur einen Scherz gemacht.
    Und jetzt, wo ich alles, was auch schon vorher passiert ist, loswerden konnte, erscheint es mir gar nicht mehr so dramatisch. Selbst wenn er es ernst meinte… Wäre das so schlimm?
    „Ich dachte du bist nicht gut darin, Beziehungstipps zu geben“, grinse ich. Artemis lacht bellend und fährt mir durchs Haar.
    „Du schaffst das, Ava Hale. Habe Zuversicht, und dir wird alles gelingen, was du dir in den Kopf setzt.“
    „Auch Bluthunde zähmen?“
    „Nicht einschüchtern lassen und Klartext reden. Dann wird das deine leichteste Übung. Und wenn das nicht funktioniert… Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst.“
    Mein Lächeln breitet sich über mein ganzes Gesicht aus. Und dieses Mal kann ich nicht anders, als Artemis zu umarmen, die ein überraschtes Lachen ausstößt.
    „Bist du nicht enttäuscht? Dass ich doch nicht so stark bin, wie du dachtest?“, nuschele ich in ihr Shirt.
    „Im Gegenteil“, antwortet sie. „Stärke bedeutet nicht, niemals Angst zu haben oder niemals besorgt zu sein. Stärke ist, sich davon nicht unterkriegen zu lassen. Nicht den einfachen Weg zu wählen und das eigene Wohl nicht über das der anderen zu stellen, wenn es möglich ist. Zuzugeben, wenn man Hilfe braucht, statt verzweifelt zu versuchen, perfekt zu sein.“
    „Das ist verdammt guter Rat“, stelle ich mit etwas Verwunderung fest.
    „Ich habe viel Zeit mit Athena verbracht.“


    Als Artemis die gleiche Abfolge Pfeiftöne von sich gibt wie letzte Woche schon, stehen Chrysos und Asimi innerhalb weniger Augenblicke neben ihr. Tyler schaut sich zu uns um und folgt den Windhunden dann, Hibiki dackelt neben ihm her. Er strahlt förmlich, und das bringt mich etwas zum kichern.
    „Ihr scheint ja Spaß gehabt zu haben“, stößt Artemis mit einem kleinen, neckenden Unterton aus.
    „Das sind unglaubliche Hund“, antwortet Tyler. „Schnell und stark, sind sie besonders trainiert? Oder gezüchtet?“
    „Ja und ja“, gibt sie zurück und zwinkert mir kaum merklich zu. Ich grinse breit. Als Tylers Blick von Artemis zu mir herüber wandert, verschwindet sein Lächeln auf einmal. Ich wette, meine Augen sind vollkommen verquollen vom Weinen. Aber es geht mir gut. Ich fühle mich leicht, motiviert und bereit. Es tut gut zu wissen, dass ich jemanden habe, mit dem ich reden kann. Dafür bin ich dankbar. Er sucht mein Gesicht ab und in seinen Augen sehe ich stumme Fragen. Genauso stumm gebe ich einen Blick zurück, der „später“ bedeutet. Ich glaube, er versteht.
    „Ich werde unseren Spaziergang dann jetzt fortsetzen“, verkündet Artemis. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter und drückt sanft zu, dann wendet sie sich an Tyler. „Es war schön, dich kennen zu lernen.“
    „Gleichfalls“, antwortet dieser und ich merke, dass er es so meint. Die angespannte Atmosphäre von vorhin ist weg. Artemis streckt ihm sogar die Hand aus, was ich für eine ziemlich große Geste halte, wenn man bedenkt, wie wenig sie generell von Männern hält. Und Tyler ergreift sie. Bevor sich die Göttin dann endgültig umdreht, streicht sie Hibiki über den kleinen Kopf und flüstert ihm etwas zu, was ich nicht verstehe. Dann geht sie davon, Chrysos und Asimi neben ihr, die keinen Zentimeter von ihrer Seite weichen.


    Wir schauen ihnen noch für eine Weile hinterher, dann leint Tyler Hibiki wieder an. Als er sich aufrichtet, scheint er in meinem Gesicht nach etwas zu suchen. Irgendwann öffnet er dann doch den Mund.
    „Alles okay?“
    „Ja“, antworte ich.
    „Hast du…“, beginnt er, lässt den Satz aber in der Luft hängen.
    „Geweint? Ja.“ Es wäre bescheuert, es zu leugnen. „Aber jetzt ist alles okay.“
    „Sicher?“
    Ich nicke und dieses Mal fällt es mir leichter zu lächeln. Tyler wartet einen Moment. Irgendetwas ist da noch. Jetzt bin ich es, die fragend schaut.
    „Wenn du reden möchtest“, fängt er an. „Dann… Sag bescheid.“
    Für einen Moment pocht mein Herz lauter. Ich schaue Tyler an, der sich etwas unbehaglich durch die Haare fährt und offenbar nicht so recht weiß, ob er mich jetzt ansehen soll oder nicht.
    Ich wusste ja, dass er sich Sorgen macht. Das hat man ihm angesehen. Aber ihn geradeheraus sagen zu hören, dass er da ist, wenn ich reden möchte… Das ist… Ich weiß es nicht. Ich bin einfach nur dankbar.
    „Bist du dir sicher, dass du dir meine Mädchenprobleme anhören willst?“, frage ich mit einem schiefen Grinsen.
    „Du hörst dir auch meine Bruderprobleme an“, antwortet er und zuckt mit den Schultern. Als ich anfange zu lachen, wagt Tyler es wieder, mir ins Gesicht zu sehen.
    „Danke“, sage ich einfach, willkürlich lächelnd. Ein ehrliches, müheloses Lächeln, denn ich bin glücklich. Für einen Moment erstarrt Tyler einfach nur, und ich bin mir sicher, dass ich mir die geröteten Wangen nicht nur einbilde, dann lächelt er, halb verlegen, halb resignierend.


    Der Weg zurück ist angenehm, denn wir scherzen wieder genauso wie vorher auch.
    „Du sahst aus wie ein kleines Kind kurz vor der Weihnachtsbescherung“, ziehe ich Tyler auf.
    „Hast du dir diese Hunde mal angesehen?“, gibt er zurück und es ist ihm scheinbar kein bisschen peinlich.
    „Habe ich, ja“, grinse ich.
    „Ich habe in meinem Leben noch keine schnelleren Hunde gesehen…“
    „Pass auf dass du nicht zu viel schwärmst, sonst wird Hibiki noch eifersüchtig.“
    „Hibiki ist auf eine andere Art toll“, antwortet Tyler und beugt sich herunter, um den Welpen, dem langsam die Puste ausgeht, in seinen Arm zu nehmen. Als hätte er das Kompliment verstanden, schleckt der Shiba Inu über das Kinn seines Herrchens, das sich nur wenig beschwert.
    Tyler bringt mich noch bis zur Tür, die ich mit dem Schlüssel aus meiner Hosentasche aufschließe. Ich drehe mich zu ihm um und umarme ihn zum Abschied. Dieses Mal drücke ich fester als normal, passe aber auf, dass ich Hibiki zwischen uns nicht einklemme.
    „Eine Retoukutsche für Dienstag?“, fragt Tyler irgendwann mit amüsiertem Unterton.
    „Was du kannst kann ich schon lange!“, raune ich ihm ins Ohr. Dann löse ich mich von ihm.
    „Der Spaziergang hat gut getan“, sage ich. „Nimm mich mal wieder mit.“
    „Sicher.“


    Ich erwische mich selbst, wie ich vor mich hin summe. Aphrodite hat mir einen Post-It dagelassen, sie ist wie jeden Samstag in ihrem Café, ich habe das Haus also für mich. Mein Handy liegt noch immer da, wo ich es heute Mittag zurückgelassen habe, aber ich habe nicht das Bedürfnis, es groß zu benutzen. Stattdessen tue ich etwas, das ich schon lange nicht mehr getan habe. Ich backe. Es ist nichts besonderes, nur ein Apfelkuchenrezept, das ich mittlerweile in und auswendig kann, weil meine Mutter ihn so sehr mag. Ich schneide Äpfel, mische Zutaten, schichte den Belag, sogar, dass ich am Ende alles aufräumen muss stört mich kaum. Als ich fertig mit Spülen bin, füllt der süße Duft von Kuchen beinahe das gesamte Haus. Im Wohnzimmer durchstöbere ich die Bücherregale, denen ich bisher nie wirklich Beachtung geschenkt habe, und ziehe eines hervor, das interessant klingt. Ich glaube sogar, dass Irene es einmal erwähnt hat, ich muss sie Montag fragen. Die Beine an mich angezogen kuschele ich mich in den großen, weichen Sessel und fange an zu lesen. Nur, als ich den Kuchen aus dem Ofen holen muss, unterbreche ich kurz, ansonsten bin ich vollkommen versunken.


    Es tut gut, etwas zu tun, das ich auch in meinem alten Leben gerne getan habe. Es ist entspannend und zum ersten Mal seit zwei Wochen hält die kleine Stimme, die mich sonst immer an die Wette erinnert hat, die Klappe, und lässt mich einfach machen. Das Gespräch mit Artemis hat mir wirklich gut getan. Der Spaziergang mit Tyler auch. Zweiterem habe ich schon gedankt. Bei meiner liebsten Göttin (und ich bin nicht sarkastisch!) überlege ich kurz, ob ich ein Opfer darbringen soll, aber ich weiß nicht, wie ich ein offenes Feuer im Garten und den Geruch von verkokelten Steaks den Nachbarn oder der Feuerwehr erklären soll, also lasse ich das lieber bleiben. Stattdessen rufe ich mir ihr kantiges, starkes Gesicht vor Augen und denke „Danke“. Das sollte eigentlich funktionieren.
    Als sich die Haustür öffnet und Aphrodite im Wohnzimmer auftaucht, ist es schon halb zwölf. Vermutlich ist sie nach der Arbeit noch ausgegangen, es kümmert mich herzlich wenig.
    „Hi“, begrüße ich sie mit einem ziemlich freundlichen Tonfall, was nicht nur mich erstaunt. Für einen Augenblick weiten sich ihre Augen, dann erwidert sie den Gruß, wenn auch etwas irritiert.
    „Ich habe vergessen zu kochen“, fällt mir dann ein.
    „Ist nicht schlimm“, beginnt Aphrodite langsam. „Ich habe schon gegessen.“
    „Gut.“
    Mir entkommt ein Gähnen. Für heute reicht es, morgen habe ich auch noch frei, da kann ich weiter lesen.
    „Was ist mit dir?“ Verwirrt schaue ich zu meiner Adoptivgöttin herüber, die noch etwas unschlüssig im Türrahmen steht. „Hast du gegessen?“
    Ich muss tatsächlich überlegen. Ich bin nach Hause gekommen, hab mich umgezogen und dann habe ich sofort angefangen zu backen. Ich habe tatsächlich vergessen zu essen.
    Aphrodite schaut mich für einen Moment an. Ihre braunen Haare sind zu einer eleganten Hochsteckfrisur zusammengemacht, und obwohl sie nur eine klassische Bluse und schwarze Hosen trägt, strahlt sie mal wieder eine unglaubliche Eleganz aus.
    „So geht das nicht“, höre ich sie leise murmeln. Dann, etwas lauter und an mich gewandt: „Was ist mit Pizza?“
    Bevor ich mein selten intelligentes „Hä?“ ausstoßen kann, ist sie schon in der Küche verschwunden. Als ich meinen Kopf recke sehe ich, dass sie einen der Hängeschränke geöffnet hat, an dessen Türe im inneren ein Haufen Flyer angeheftet sind. Sie zieht einen davon heraus und kommt wieder ins Wohnzimmer, wo sie ihn mir in die Hand drückt.
    „Such dir eine Pizza aus“, fordert sie, als ich nur etwas überfordert auf das Stück Papier in meiner Hand starre. „Auch wenn du technisch gesehen schon tot bist, bist du aktuell wieder lebendig, und das bedeutet, dass du essen musst. Ich habe nicht einen Haufen Energie aufgewandt, um dich aus diesem Drecksloch da unten hochzuschleppen und deinen Körper wiederzubeleben, nur damit du mir gleich wieder stirbst, weil du vergisst zu essen. Nu-ah!“
    Ich lasse die Standpauke über mich ergehen und schaue Aphrodite für eine Weile einfach nur ins Gesicht. Sie wirkt genervt, aber da ist noch etwas anderes.
    „Machst du dir etwa Sorgen um mich?“
    „Ich habe es dir doch schon mal gesagt: Ich bin nicht herzlos!“ Sie macht eine Schnute und deutet dann nocheinmal auf den Flyer. „Und jetzt such dir schon etwas aus.“
    Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber hier sitze ich nun, um viertel nach zwölf im Wohnzimmer mit einem eingefalteten Karton auf meinem Schoß, Pizza Tonno mampfend und lasse mir von Aphrodite die Fußnägel in einem schönen lindgrün lackieren, während sie mir einige Stories aus ihrem Leben erzählt. Und ich habe tatsächlich Spaß dabei.
    Was ist heute eigentlich los?
    „Und dieser Kerl läuft mir hinterher, verfolgt von einem wütenden Wirt, der das Geld für die sechs Bier haben will, und einem Haufen noch wütender, betrunkener Gäste, denen er in seinem Rausch den ein oder anderen Schlag verpasst hat, und brüllt laut etwas, das sich entfernt nach ‚Berta‘ anhört. Und egal, wie viele Haken ich geschlagen habe, dieser Kerl hat mich immer wieder gefunden. Ich bin selten so viel gerannt! Seitdem bin ich nie wieder auf deutschen Volksfesten gewesen. Auch wenn die Dirndl mit dem richtigen Körper verdammt gut aussehen.“
    „Berta?“, frage ich nach zwei Bissen und verschlucke mich fast, als ich ein Lachen unterdrücke.
    „Frag mich nicht. Vielleicht sah ich für ihn nach einer Berta aus.“
    „Nennt man normalerweise nicht nur Kühe Berta?“
    Aphrodite hält für einen Moment inne und ihr Blick wird düster. „Dem werde ich wohl einen Besuch in der Unterwelt abstatten müssen.“


    Nach den Fußnägeln verlangt Aphrodite nach meinen Fingernägeln, danach nach meinen Haaren, in die sie beinahe künstlerisch merkwürdige Schaumstoffnudeln einarbeitet. Ich merke, wie ich zunehmend schläfriger werde.
    „Es scheint gut voranzugehen“, höre ich sie irgendwann sagen.
    „Es geht“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Tyler ist nicht das Problem. Eher Seth.“
    „Du hast dir das also wirklich in den Kopf gesetzt, hm? Ziel deiner Wette ist es eigentlich, nur Tyler glücklich zu machen.“
    „Ich glaube, das eine geht ohne das andere nicht. Tyler hat eine enge Beziehung zu Seth, die beiden sind immer zusammen gewesen. Er fühlt sich verantwortlich.“
    „Sinn machen würde es“, gibt Aphrodite zu. „Zwillinge hatten schon immer eine besondere Beziehung.“
    Für einen Moment herrscht Stille. Ich spüre, wie schwer meine Lider werden und unterdrücke immer öfters ein Gähnen.
    „Es ist ein gutes Zeichen, dass er dich nicht weggeschickt hat, als du es angeboten hast.“
    Ich bin überrascht. Es liegt kein Vorwurf in ihrer Stimme. Dabei war ich mir doch so sicher, dass sie mich für vollkommen bescheuert halten würde.
    „Tue ich auch. Das war ein ziemliches Risiko. Was hättest du getan, wenn er zugestimmt hätte?“
    Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich getan hätte. Hinter mir höre ich ein Seufzen.
    „Im Moment habe ich nicht alle meine Kräfte, weil ich diese menschliche Form angenommen habe. Ich kann nur noch deine Gedanken lesen, nicht die der anderen Sterblichen. Aber ich habe noch immer ein gutes Gefühl für die Beziehungen zwischen euch Menschen.“ Sie arbeitet das letzte Schaumstoffding in meine Haare ein, dann beugt sie sich vor und ich kann ihr wieder in die Augen sehen. „Und von dem, was ich in deinen Erinnerungen gesehen habe…“
    Ich schüttele den Kopf und Aphrodite verstummt, deutlich verwirrt.
    „Sag es mir nicht.“
    „Warum?“
    Keine Ahnung. Weil es ihm gegenüber nicht fair ist? Weil ich es selbst herausfinden will? Weil das Wissen mich vielleicht wieder zum Grübeln bringt? Ich weiß es nicht. Es ist nicht wichtig. Ich will es nur einfach nicht wissen. Nicht so.
    Ich spüre Aphrodites Hand auf meinem Rücken und höre sie resignierend seufzen.
    „Du bist wirklich etwas besonderes, Ava Hale. Artemis hat vollkommen recht. Und ich habe mich auch nicht getäuscht.“
    Ich schenke ihr ein müdes Lächeln. Ab dann verschwimmt alles ein wenig. Ich weiß noch, dass ich mich irgendwie hochschleppe, rauf in mein Zimmer. Ich glaube, Aphrodite hilft mir.
    Als ich ins Bett falle sehe ich ihre roséfarbenen Augen über mir und ich sehe Güte darin. Als sie mich zudeckt, höre ich sie leise „Gute Nacht“ flüstern.
    Ich weiß, dass ich heute gut schlafen werde.




    Benachrichtigung an:
    @Tooru
    @Nivis
    @Jiang
    @Anneliese
    @Sonnkernkriegerin Lu


    Re-Kommi auf der Pinnwand. Ich geh erst mal schlafen.

  • während einer kurzen Feuerpause (verdammte Nachladezeiten!)

    Deswegen ist es auch immer gut, ein möglichst großes Magazin zu haben; oder man steckt seine Skillpunkte in eine verringerte Nachladezeit. Ich mag hier aber den Seitenhieb zu Videospielen, auch wenn er womöglich nicht beabsichtigt war.


    Das ist ja wieder sehr interessant und es geht auch in eine ähnliche Richtung, wie ich es mir vorgestellt habe. Ava lernt sich langsam an ihr neues Leben zu gewöhnen und wird eigentlich nur durch Erinnerungen und beispielsweise das im Kapitel erwähnte Klassenfoto an ihr vorheriges Leben erinnert. Das hat jetzt ein paar Richtungen zur Folge: Entweder vergisst im Verlauf der Monate ihr vorhergehendes Leben und kann so nicht zurück oder sie will erst gar nicht, weil sie mit Tyler ein so viel besseres Leben haben kann als es vorher der Fall war. Dazu passend hast du natürlich auch diese Beziehungsfrage über das ganze Kapitel behandelt, ob es sich bei dem Treffen nun um ein Date gehandelt hat und ob Ava ihren Gefühlen nachgeben soll oder nicht. Eigentlich eine kaum passendere Situation, dass du auch ihre Hilflosigkeit in Bezug darauf anstimmt, dass sie ja niemandem etwas sagen kann. Und wirklich niemandem, weil es ja nicht nur ein Liebesproblem ist. An der Stelle muss ich einfach mal sagen, dass sich deine Variante einer Dating Sim so viel realer liest als die meisten anderen da draußen. Denn es geht in erster Linie gar nicht ums Zusammenkommen, sondern vielmehr um die Probleme, die sich während der Geschichte ergeben. Und das ist auf Dauer sehr interessant zu lesen und gelingt dir meisterlich.


    So. Mit Artemis als guter Freundin (auch so ein Punkt, dass die Götter eben nicht wie Götter wirken und gut rüberkommt) verabschieden sich die Parteien also. Umso interessanter, dass sich Aphrodite entgegen dem Groll am Anfang gegen Ende sogar mit Ava versöhnlich und normal unterhält. Es ist und bleibt ein Rätsel, ob sie nun etwas in der Hinterhand hat oder nicht; auf jeden Fall ist anzunehmen, dass sich über Ava mehrere Götter unterhalten haben und wer weiß, vielleicht kommt ihnen das Ergebnis am Ende auch zu Gute, ohne dass es aktuell zu erkennen ist?


    Wir lesen uns!

  • Hallo Cáithlyn!


    Gleich zu Beginn mal ein ganz großes Lob bezüglich der Geschichte an dich! Ein wirklich großartiges Werk; ich hoffe, dass du noch länger an dieser fantastischen Geschichte schreiben wirst!


    Was mir am Meisten an Blue Horizon gefällt, ist die Länge. Ich glaube, hätte ich so viel geschrieben, wäre ich schon längst fertig. Respekt, mir wären schon lange die Ideen ausgegangen, wie ich weiterschreibe!
    Dein Werk lässt sich sehr gut und flüssig lesen, aufeinanderfolgende Kapitel gehen gut ineinander über. Du beschreibst zudem das Innere von Ava sehr genau, sodass man immer weiß, wie sie sich im Moment fühlt. Auch alles, was um Ava geschieht sowie die anderen Charaktere kann man sich vorstellen.


    Zu Beginn des 6. Kapitels habe ich einen kleinen Fehler gefunden, der aber nicht wirklich schlimm ist und den Lesefluss nicht sonderlich stört:

    So sehr, wie die Reife gerade quietschen wundert es mich, dass überhaupt noch Profil darauf ist. Bei jeder Ampel schießen wir vorwärts und ich werde ich den Sitz gepresst, nur um dann wieder Richtung Armaturenbrett geschleudert zu werden, wenn wir bremsen müssen.

    ,, ... und ich werde in den Sitz gepresst..." sollte es, glaube ich, heißen :)


    Mach´ weiter so, ich liebe Blue Horizon und freue mich schon wirklich auf das nächste Kapitel!

  • Tyler Route




    Chapter 7: Patching up




    Ab diesem Tag lief es so gut, dass ich langsam aber sicher misstrauisch wurde. In meinem Leben, besonders in meinem neuen, lief nie etwas lange gut, ohne dass das Schicksal kam und mir voll einen vor den Latz knallte. Aber es geschah nichts. Sonntag entspannte ich Zuhause, las ein wenig und lernte für die Schule. Es war ein gutes Gefühl, etwas von meinem früheren Alltag zurückzuhaben, eine Routine, die dem Unterbewusstsein mitteilt „alles ist gut, wir würden das hier nicht tun, wenn irgendetwas schief laufen würde“. Aphrodite war den ganzen Tag über außer Haus und damit hatte ich es für mich alleine, es wäre mir aber auch egal gewesen, wenn meine Adoptivmutter da gewesen wäre. Seit diesem merkwürdigen Ziehtochter-Göttin der Liebe-Gespräch verstanden wir uns sogar relativ gut.
    Montag bis Mittwoch war schulischer Alltag. Ich hing mit Eve, Irene, Charlie und Lisa herum, sprach mit Dennis und Dustin, machte ein paar Scherze mit Julien und entlockte selbst Emil bei einer Partnerarbeit ein paar Worte, was das absolute Maximum an verbaler Konversation mit ihm sprengte. In den Pausen verschwand ich aus dem Klassenraum, was mir immer wieder ein paar komische Blicke und merkwürdiges, wissendes Grinsen einbrachte, aber das machte mir kaum mehr etwas aus. Seit dem Gespräch mit Artemis gehe ich die ganze Sache etwas lockerer an und das macht auch die Pausen mit Tyler wieder sehr viel angenehmer. Es ist fast so wie vorher. Aber auch nur fast, denn es ist… besser. In den vergangenen drei Tagen habe ich mich ständig dabei erwischt, wie ich die Uhr vorne neben der Tafel in Grund und Boden gestarrt habe, als würde sie das dazu bewegen, die Zeit schneller vergehen zu lassen. Ja, ich freue mich auf die Pausen. Ich freue mich darauf, das Gartentor zu öffnen, mich ins Gras fallen zu lassen und dann, wenn ich das Quietschen der Scharniere höre, hochzuschauen und ihn zu sehen, wie er mit den Händen in den Hosentaschen und einem kleinen Lächeln auf mich zu kommt. Ich freue mich auf die Scherze, die ich mit ihm mache, den Unsinn, den wir reden, die kleinen Berührungen, wenn ich ihn spaßeshalber schlage, das blöde, überlegene Grinsen, wenn ihm eine Bemerkung einfällt, die richtig sitzen wird.
    Ich fühle mich einfach wohl. So wohl, dass ich gar nicht mehr daran denke, was wir eigentlich geplant haben. Seth ist noch immer nicht wieder gesund. Er fehlt jetzt schon seit zwei Wochen, aber langsam scheint selbst Leah die Nase voll zu haben, ihn ständig zu Hause zu behalten. Und das bedeutet für mich, dass er irgendwann wieder da sein wird. Und dann werde ich mich dem stellen müssen, vor dem ich mich so fürchte. Ja, ich gebe es zu. Ich habe Angst. Zum einen, weil ich die vielleicht ein wenig irrationale Befürchtung habe, dass Seth mir etwas antut, wenn ich es versaue. Zum anderen aber, weil ich ahne, dass es am Ende nichts bringen wird. Seth hasst mich. Warum sollte er mir also zuhören? Er wird sich vermutlich umdrehen und einfach gehen, wenn er mich sieht. Da helfen auch alle imaginären Gespräche, die ich unter der Dusche führe, nicht viel weiter.
    Ich versuche, es zu verdrängen und das klappt erstaunlich gut. Sicher ist es nicht die beste Lösung, aber hey, wenn er wieder da ist, werde ich mich ihm schon stellen. Im Moment bringt es noch nichts, sich Sorgen zu machen. Also lenke ich mich lieber noch ein wenig ab.


    Heute ist Donnerstag und ich starre schon wieder die Uhr an, während unser Lehrer vorne munter vor sich hin redet. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, ein wenig besser aufzupassen, aber heute ist mir einfach nicht danach. Also malträtiere ich meinen Collegeblock und zeichne irgendwelche Muster hinein, die keinen Sinn ergeben und nicht einmal ansatzweise so kunstvoll aussehen wie in meinem Kopf. Egal. Ich bin noch nie eine gute Künstlerin gewesen und das haben mir alle meine Lehrer immer wieder gerne unter diese Nase gerieben.
    Tick. Tack.
    Urgh. Warum muss Deutsch auch so fürchterlich langweilig sein? Die Lektüre, die wir gerade besprechen, habe ich schon in meinem alten Leben durchgenommen, deswegen habe ich mir nicht mal mehr die Mühe gemacht, sie noch einmal durchzulesen, sondern mich mit einer Wikipedia-Zusammenfassung zufrieden gegeben, das reicht locker. Ich kann mich zwar nicht mal mehr an den Namen der weiblichen Hauptfigur erinnern, aber egal. So wichtig kann sie nicht gewesen sein, wenn ich vergessen habe, wie sie heißt.
    Als unser Lehrer gerade nicht hinsieht lege ich meine Stirn auf dem Pult ab und stöhne so leise wie möglich. Mir ist langweilig. Ich will nach Hause. Oder besser, erst noch in den Garten und dann nach Hause. Wenn ich daran denke, dass ich später auch noch zwei Stunden Erdkunde aushalten muss möchte ich ganz freiwillig kotzen. Vielleicht werde ich dann sogar nach Hause geschickt…
    Als die Pausenglocke klingelt fahre ich hoch und packe alle meine Sachen erschreckend schnell zusammen. Gut, viel hatte ich sowieso nicht draußen, nur einen Stift und meinen Collegeblock, aber trotzdem.
    Himmel, ich freue mich viel zu sehr auf diese Pausen.
    „Du freust dich wirklich viel zu sehr auf deine Pausendates“, spricht Lisa mich mit einem schiefen Grinsen an. Ich stöhne. Ich muss wirklich daran arbeiten, etwas weniger gut lesbar zu sein.
    „Lass sie doch“, schaltet sich Irene ein, die mir ein merkwürdiges, wissendes Lächeln schenkt. „Ist doch schön, dass jetzt wieder alles gut läuft.“
    Stimmt. Es läuft gut. Zu gut, murmelt die kleine pessimistische Stimme in meinem Hinterkopf. Schnauze, maule ich innerlich zurück. Aber sie denkt nicht daran. Blöde Kuh.
    „Wie kommt‘s?“ Charlie lehnt sich gegen meinen Tisch. Ich bin immer wieder überrascht, dass sie meine Beziehungskisten so sehr interessieren. Also… „Beziehungskisten“, denn ich glaube immer noch nicht, dass Tyler wirklich etwas von mir will. Nur, weil ich mir keine Gedanken mehr darüber machen möchte, heißt das nicht, dass ich seine angeblichen Flirtversuche auch als solche wahrnehme.
    Würde es mir etwas ausmachen, wenn sie es wären? Keine Ahnung. Mein Hauptanliegen in dieser ganzen Geschichte ist noch immer, ihn irgendwie glücklich zu machen. Und in meiner imaginären To-Do-Liste folgt daraus, dass ich das mit Seth wieder gerade biegen muss. Wenn ein anderer Unterpunkt sagen würde, dass es nicht reicht, nur mit ihm befreundet zu sein… Keine Ahnung, was ich dann tun würde. Ich glaube nicht, dass… Würde es mich stören? Ich weiß nicht, ob…
    Keine Ahnung.
    Egal.
    Darüber werde ich nicht weiter nachdenken. Konzentriert bleiben, Ava. Eins nach dem anderen. Interpretier nicht zu viel in irgendetwas herein. Es ist vermutlich sowieso besser, wenn du im Hinterkopf behältst, dass du nur noch 42 Tage Zeit hast. In spätestens 42 Tagen glüht sein Herz, du gewinnst die Wette und bekommst dein altes Leben zurück.
    Nur… Warum fühlt es sich so merkwürdig an, darüber nachzudenken?
    Warum… versuche ich den Gedanken zu verdrängen?


    „Erde an Ava?“
    Ich blinzele kurz und schüttele kaum merklich den Kopf. Reiß dich zusammen.
    „Sorry, was?“, stoße ich selten intelligent aus. Ich sehe, wie Charlie, Irene und Lisa kritische Blicke tauschen.
    „Ava im Traumland“, murmelt Lisa mit einem Augenrollen. „Und ich dachte, sowas gäbe es nur in kitschigen Liebesfilmen.“
    Ich brauche einen Moment um zu begreifen, was sie meint, schüttele dann aber leicht den Kopf.
    „Das ist es nicht.“
    „Du willst uns also weiß machen, dass du nicht vollkommen in ihn verschossen bist?“ Charlie kann sich ein breites Lächeln nicht verkneifen und obwohl ich versuche, gefasst zu bleiben, merke ich doch, wie meine Ohren warm werden. Zum Glück trage ich die Haare heute offen, sonst könnten sie das noch als Geständnis ansehen…
    „Ja, Charlie, genau das will ich euch weiß machen“, antworte ich trocken. „In meinem Leben dreht sich nicht alles um ihn, weißt du?“
    Glatte Lüge. Dieses Leben ist nahezu komplett auf ihn und sein kaputtes Leuchteherz ausgerichtet. Aber sowas kann ich echt nicht sagen. Besonders nicht in diesem Klassenraum, denn ich bin mir sicher, dass ich mir nicht nur einbilde, dass Joshua ganz unauffällig immer näher kommt.
    „Das hoffen wir doch“, antwortet Lisa und verzieht ihr Gesicht. „Obwohl ich ab und an wirklich das Gefühl habe-“ Sie bricht jäh ab als wir aus dem Augenwinkel sehen, dass Joshua an uns vorbeischlendert. Er wirft mir einen Seitenblick zu und ich schenke ihm das zuckersüßeste Lächeln, das ich aufbringen kann. Ja, Joshua. Ich hab dich erwischt. Ich weiß genau was du planst. Es wird nicht klappen. Also verzieh dich.
    Offenbar klappt diese nonverbale Konversation ziemlich gut, denn er zieht den Kopf ein und verschwindet aus dem Klassenzimmer. Ich greife mir meine Tasche.
    „Wir sehen uns dann später“, stoße ich aus und drehe mich um.
    „Total verschossen“, höre ich Charlie leise kichern.
    „Absolut“, stimmt Lisa halb amüsiert, halb genervt aus.
    Aber ich tue so, als hätte ich es nicht gehört.


    Und dabei dachte ich, mit ein wenig täglicher Routine würde es nicht so stark auffallen, wie sehr ich auf Tyler fixiert bin. Verdammt. Wenn meine Freundinnen es mitbekommen ist es nur eine Frage der Zeit, bis Joshua es hört und die Gerüchteküche mal wieder brodelt. Tyler macht sich zwar nicht viel aus dem Klatsch und Tratsch, aber wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Und ich weiß selbst am besten, dass ich meinen Tag ja wirklich nur nach ihm ausrichte. Und je länger ich darüber nachdenke, desto merkwürdiger kommt mir das vor. Zum einen, weil ich mich wie eine Stalkerin fühle, zum anderen aber auch, weil… es mir nicht wirklich etwas ausmacht.
    Gottverdammt. Wann habe ich angefangen, diesen Zustand vollkommen okay zu finden?


    Das Tor quietscht, als ich es aufdrücke. Diesmal bin ich nicht die Erste.
    Tyler sitzt direkt vor dem Teich und starrt auf die grüne Oberfläche. Erst als ich ihm ein „Hi“ zuraune, bemerkt er mich. Und so ungern ich es auch zugebe, als er mich anlächelt, da vergesse ich für einen Moment, was ich sagen wollte.
    „Du bist aber früh hier“, stoße ich aus und lasse mich mit einem Ächzen neben ihn ins Gras fallen.
    „Stimmt nicht“, antwortet er, ohne den Blick von den Algen wegzubewegen, als wäre dieses grüne Zeug das spannendste in der näheren Umgebung. „Du bist nur einfach spät.“
    Ich werfe einen kurzen Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk. Tatsächlich. Es sind schon zehn Minuten der Pause um. Ich habe mir mehr Zeit als üblich gelassen, fast so, als wollte ich betonen, dass ich es gar nicht so eilig habe, ihn zu sehen. Als wollte ich es mir selbst beweisen. Wie bescheuert.


    „Ich hasse Essays“, stoße ich aus und verziehe das Gesicht. Ich bin gerade erst dazu gekommen, mir das Arbeitsblatt anzuschauen, dass unser Deutschlehrer uns gegeben hat und das wir bis zur nächsten Stunde durcharbeiten sollen. Ein Essay über die Epoche Sturm und Drang und deren Motive in unserer Lektüre. Widerlich sowas…
    Tyler neben mir beugt sich zu mir herüber und schaut auf das Arbeitsblatt herunter, das schon leicht zerknittert ist. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie er den kleinen Infotext überfliegt und die Stirn runzelt, als er die Aufgabenstellung dazu sieht.
    „Sturm und Drang“, murmelt er und sieht ebenfalls alles andere als begeistert aus. „Lass mich raten. Kabale und Liebe?“
    „Glaub schon“, antworte ich und zucke mit den Schultern. Als er mir einen halb fragenden, halb amüsierten Blick zuwirft, verdrehe ich die Augen. „Ich hab‘s letztes Jahr schon mal gelesen, aber ich erinnere mich nicht wirklich daran, was passiert. Es ist ein Drama, also werden am Ende wohl Leute sterben.“
    „Ist bei Dramen meist so“, antwortet er nüchtern und grinst schief. „Dir ist aber bewusst, dass ihr darüber eine Klausur schreibt, oder?“
    „Und wenn schon“, nuschele ich. Nicht, dass mich das wirklich interessieren würde. Am Ende von diesen 61 Tagen wird sowieso alles zurückgesetzt, also brauche ich mir nicht wirklich Mühe geben, jetzt ordentliche Noten zu schreiben. Routine hin oder her, Lernsessions sind erst einmal abgeblasen. Ich hab genug andere Probleme, um die ich mich kümmern muss.
    Komischerweise scheint Tyler das nicht so lustig zu finden wie ich gedacht habe. Er hat die Stirn gerunzelt und schaut mich an, als wäre ich grenzdebil.
    „Was ist?“, frage ich verwirrt.
    „Egal“, antwortet er, schaut mich aber nicht an. „Ist deine Sache.“
    „Tyler?“
    „Schon gut.“
    „Was?“, frage ich jetzt gereizter, als ich eigentlich möchte. Er schaut mich aus dem Augenwinkel an und seufzt.
    „Dir ist aber klar, dass alle Noten in deine Endnote eingehen?“
    Wow. Okay. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.
    „Ausgerechnet du machst dir Sorgen um Noten?“, stöhne ich. Eigentlich sollte ich nicht so genervt sein. Er hat ja schon irgendwo recht.
    „Ja, ausgerechnet ich möchte zumindest einen guten Abschluss bekommen“, schnaubt er ärgerlich. Ich drehe mich überrascht zu ihm um. Dieses Gespräch verläuft ganz anders, als ich gedacht habe. Er macht sich tatsächlich Gedanken um seinen Abschluss? Ich… Wow. Keine Ahnung. Wir haben vorher nie wirklich über so etwas gesprochen, um ganz ehrlich zu sein. Die Zukunft ist für mich einfach nie wirklich ein Thema gewesen, denn in diesem Leben werde ich sie ohnehin nicht haben. Warum also Gedanken machen? Und Tyler redet auch nicht wirklich über so etwas. Wir sprechen über unsere Klassenkameraden, über unsere Eltern, über Seth und Hibiki und was wir im Fernsehen gesehen haben oder so und ziehen uns darüber gegenseitig auf. Und bisher war das auch immer genug.
    Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke… Ich habe keine Ahnung, was Tyler in der Zukunft so vorhat. Ich habe nie über die 61 Tage hinausgedacht. Warum auch? Für mich macht es keinen Unterschied. Für ihn aber ist das alles real. Für ihn macht es einen Unterschied.
    Und ich? Ich bemerke gerade, wie wenig ich eigentlich erst über ihn weiß.
    „Tut mir Leid“, stoße ich aus, traue mich aber kaum, ihm ins Gesicht zu sehen. Er rupft Büschel an Gras aus dem Boden neben sich und seine roten Augen blitzen gefährlich. Ich wollte ihn nicht wütend machen. Und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, warum er wütend ist.
    „Du denkst wohl auch, dass ich ein Idiot bin, hm?“, gibt er zurück und schnalzt gereizt mit der Zunge. „So wie alle anderen hier auch.“
    „Was?“, frage ich selten intelligent und setze einen genauso schlau wirkenden Gesichtsausdruck auf. Er starrt mich mit seinen blutroten Augen an und ich kann nicht anders, als meinen Kopf einzuziehen, als würde mich das irgendwie schützen.
    „Warum sollte ich sowas denken?“, versuche ich es noch einmal, aber er antwortet nicht. Wir schweigen für eine Weile und er rupft weiter ganze Zivilisationen an Grasgewächsen aus. „Tyler, ich weiß ganz genau, dass du nicht dumm bist. Ich bin nur einfach nicht davon ausgegangen, dass du dir Gedanken um die Zukunft machst.“
    „Natürlich mache ich mir Gedanken um die Zukunft“, grummelt er, aber zumindest wird sein Blick wieder etwas weicher. Die Anspannung aus meinem Körper weicht langsam. „Ich habe noch ein Jahr bis zum Abschluss. Wenn ich den versiebe, was soll ich dann machen?“
    „Was willst du denn machen?“, frage ich und es ist eine ernstgemeinte Frage. Ich interessiere mich wirklich dafür. Aber Tyler schweigt. Ich erinnere mich an letzte Woche, als Aphrodite ihn das Gleiche gefragt hat. Da hat er auch nicht antworten können. Reagiert er deswegen so empfindlich darauf? Weil er am Ende eben doch nicht weiß, was er machen möchte? Ein Jahr bis zum Abschluss… Wie oft er diese Frage wohl gestellt bekommt? Keine Antwort darauf zu wissen ist vermutlich nicht so angenehm. So viel Zeit bleibt ihm nicht mehr, ein Jahr vergeht schnell… Wie ein Countdown, der über einem schwebt und ständig deuten Leute darauf und erinnern einen daran. Wie würde ich mich wohl fühlen, wenn Aphrodite mir jeden Tag wieder sagen würde „Denk daran, nicht mehr lange bis zum Ende der Wette“? Reicht ja schon, wenn das diese kleine Stimme in meinem Kopf regelmäßig tut.
    Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter und er schaut auf, beißt sich auf die Lippe.
    „Worin bist du gut?“, frage ich und das scheint ihn ziemlich zu überraschen. Ich sehe förmlich, wie die Zahnräder in seinem Kopf rattern und befürchte, dass bald Rauch aus seinen Ohren qualmt, aber am Ende wendet Tyler den Blick wieder ab und zuckt mit den Schultern.
    „Keine Ahnung“, murmelt er. „Ich bin nicht wirklich gut in irgendetwas.“
    „Das ist nicht wahr“, antworte ich mit mehr Selbstvertrauen als ich vermutlich sollte. Er schaut mich erwartend an. Ähh… „Du bist gut darin, mich aufzuziehen. Und du bist gut im Zwiebelschneiden!“ Ich versuche mich an einem schiefen Grinsen. Für einen Moment starrt Tyler resignierend, muss dann aber doch etwas lächeln.
    „Das wird mir nur nicht viel nützen. Zum Koch bin ich sicher nicht geeignet“, antwortet er und fährt sich unwirsch durchs Haar.
    „Okay, andere Frage: Was macht dir Spaß?“ Er überlegt kurz, muss dann aber wieder die Schultern zucken. Vermutlich hat er sich dieselben Fragen schon viel zu oft selbst gestellt. Und wenn er zu keiner Antwort gekommen ist, dann hat er vermutlich schon aufgegeben. Es muss doch irgendetwas geben, für das Tyler geeignet ist. Polizist? Nein, das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Dafür mag er Regeln und Vorschriften zu wenig. Büroarbeit? Nein. Dafür ist er viel zu gerne draußen…
    „Du magst doch Hibiki, oder?“, stoße ich aus.
    „Soll ich professioneller Gassi-Geher werden?“, fragt er trocken und ich schüttele schnell den Kopf. Der Gedanke hat zwar etwas, aber ich bezweifle, dass man damit gut durchs Leben kommt.
    „Was ist mit anderen Tieren?“ Er legt den Kopf schief. Vielleicht bin ich damit ja auf der richtigen Spur. Er redet häufig von Hunden, aber auch wenn ab und an ein Vogel durch den Garten hüpft, oder ein Kaninchen durchs Gebüsch läuft, scheint er immer recht interessiert zu sein.
    „Schätze schon“, gibt er zurück, klingt aber noch nicht ganz überzeugt.
    „Okay, dann so.“ Ich setze mich etwas gerader hin und drehe mich komplett zu ihm um. „Es fällt dir schwer, Kontakte mit Menschen aufzubauen. Richtig oder Falsch?“
    „Richtig“, antwortet Tyler zögernd, aber ich sehe ihm an, wie ungern er das zugibt.
    „Mit Tieren hast du das Problem aber nicht. Arte-… Theresia hat auch gesagt, dass du ein gutes Händchen für ihre Hunde hast. Das könnte auch für alle anderen Tiere gelten.“
    Er hebt eine Augenbraue, aber zumindest denkt er ernsthaft darüber nach. Mehr kann ich eigentlich nicht verlangen. Und es ist ein Anfang.
    „Selbst wenn“, sagt er dann aber. „Was will ich damit groß anfangen?“
    „Verarschst du mich?“, frage ich schüttele ungläubig den Kopf. „Tiere sind ein riesiger Arbeitsmarkt. Pfleger, Züchter, Landwirt, Tierärzte in allen Richtungen… Es gibt sogar Hundepsychologen!“
    „Hundepsychologen“, antwortet Tyler tonlos und schaut mich an als würde er an meinem Geisteszustand zweifeln.
    „Ich hab nicht gesagt, dass du das machen sollst“, gebe ich nuschelnd zurück. „Aber wenn wir bei Tieren bleiben, gibt es einiges, was du machen könntest. Was ist denn generell mit Tierarzt?“
    An seinem Gesicht sehe ich, dass er gar nicht begeistert davon aus. Sieht aus wie eine Mischung aus Entsetzen, Abneigung und Würgen.
    „Okay, okay. Schon verstanden“, sage ich halb stöhnend, halb lachend. „Kein Tierarzt. Aber warum?“
    „Zum einen muss man dafür studieren“, antwortet er nach kurzer Überlegung.
    „Der Numerus Clausus?“, schätze ich, aber Tyler schüttelt den Kopf.
    „Ich bin wirklich nicht so dumm, wie einige hier denken“, antwortet tonlos er. „Keines meiner Zeugnisse war schlechter als 1,8.“
    Ich schlucke und gebe mir alle Mühe, nicht ganz so entsetzt dreinzuschauen, aber gelingen tut mir das nicht wirklich. Zum Glück reagiert er dieses Mal nur mit einem überlegenen Lächeln.
    „Du Streber!“, stoße ich aus und boxe ihm gegen die Schulter und er lacht. Ich erinnere mich an ein Gespräch, in dem wir über Fehlzeiten gesprochen haben und ich bin mir ziemlich sicher, dass da die Worte „136 Fehlstunden letztes Jahr“ fielen. Es ist schon krass, dass er damit überhaupt versetzt wurde, aber dass er dabei auch noch so gute Noten hat… Himmel, je mehr ich über diesen Kerl erfahre, desto mehr Respekt habe ich vor ihm.
    „Dann ist es das Studium an sich?“ Ich schüttele den Kopf und konzentriere mich wieder auf das Wesentliche.
    „Ich habe wenig Lust, noch einmal fünf Jahre in irgendwelchen Vorlesungssälen herumzuhängen und zu lernen“, antwortet Tyler schulterzuckend. „Außerdem… Ich kann Tierärzte nicht ausstehen.“ Bilde ich mir das nur ein oder unterdrückt er gerade wirklich einen Würgereiz. Na gut, keine weiteren Fragen mehr in dem Gebiet, schätze ich. Vermutlich hat er schlechte Erfahrungen gemacht. Für mich wäre so etwas auch nichts, ständig nur kranke Tiere vor einem zu haben kann sicher ziemlich deprimierend sein…
    „Also eher etwas mit Praxis“, vermute ich und runzele die Stirn. Ein Ausbildungsberuf… Ich erinnere mich vage an ein Gespräch mit Hannah. Während ich als Kind nie einen Traumberuf hatte, wechselte ihrer gefühlt alle paar Tage. Und Hannah wäre nicht Hannah gewesen, wenn sie nicht jedem davon erzählt hätte. Profischwimmer, Kindergärtnerin, Ärztin, Polizistin, sogar so ausgefallene Sachen wie Archäologin oder Regisseurin hat sie irgendwann mal aufgeschnappt. Als sie mal von einem Ausflug aus dem Zoo zurückkam, hat sie ganz stolz erzählt, dass die Tierpfleger dort sie dafür gelobt haben, wie viel sie über die Tiere weiß.
    Ich weiß nicht, warum mir das gerade wieder einfällt. Aber ich muss etwas lächeln.
    „Ava?“
    Tyler reißt mich aus meinem Tagtraum heraus und ich schüttele kurz den Kopf.
    „Was ist mit Tierpfleger? Je nachdem, wo du arbeitest, kannst du mit allen möglichen Tieren zusammenarbeiten“, argumentiere ich. „Außerdem ist es ein Ausbildungsberuf, du hast also ausreichend Praxis mit dabei.“
    Tyler schaut mir für eine Weile in die Augen, aber ich glaube, er fixiert nur wahllos einen Punkt in der Umgebung, um nachzudenken.
    „Das könnte…“, fängt er an, runzelt dann aber die Stirn. „Ich weiß nicht.“
    „Du könntest ein Praktikum machen“, schlage ich vor. „In den Ferien. Gibt es hier in der Nähe irgendwo einen Zoo?“
    „Einen ziemlich großen sogar“, meint er und nickt bedächtig. „Es ist mehr ein Tierpark. Ich war einmal da, als wir hergezogen sind. Ein riesiges Gelände und dutzende verschiedene Tierarten.“
    „Oha“, stoße ich aus. Das letzte Mal, als ich in einem Zoo war, war ich noch in der Grundschule, glaube ich. In der Stadt gab es nur einen kleinen Zoo und der wurde schon für mein achtjähriges Ich ziemlich langweilig, also hab ich mir nie wieder die Mühe gemacht, mal hinzugehen. Ich erinnere mich noch daran, dass sie ein kleines Gehege mit Eseln darin hatten, die ständig nur auf und ab liefen. Einer von denen hat mir aber mein Pausenbrot geklaut… Ich glaube, ich hab den Esel damals ziemlich beschimpft. Hups.
    „Aber ob man da mal eben ein Praktikum bekommt“, murmelt Tyler wenig überzeugt.
    „Versuchen kann man es mal“, antworte ich. „Wenn deine Bewerbung gut ist, überzeugt sie das bestimmt.“
    Tyler stößt ein langgezogenes „Hm“ aus und zermahlt einige Stängel Gras zwischen seinen Fingern.
    „Vielleicht“, sagt er.
    „Bestimmt“, antworte ich und lächele zuversichtlich. So schwer kann das schon nicht sein. Praktikanten sind immerhin kostenlose Arbeitshilfen, und die will doch jeder Arbeitgeber haben!
    Ich sehe, wie Tyler anfängt zu grinsen und entspanne mich ein wenig. Tierpfleger. Das kann ich mir schon eher vorstellen. Und den Kopf für sowas hat er auch. Und selbst wenn das doch nichts wird, dann gibt es immer noch viele andere Berufe, die er bekommen könnte. Und in den Ferien werden wir dann ja sehen, was-


    Nein. Moment.
    Das stimmt nicht. Ich werde gar nichts sehen. Bis zu den Ferien ist es noch lange hin. Länger als 42 Tage. Hat unser Gespräch gerade dann überhaupt etwas gebracht? Wenn ich die Wette gewinne, dann wird doch sowieso wieder alles zurückgesetzt, oder?
    Egal. Tyler lächelt und scheint sich etwas zu entspannen. Vielleicht hilft das dabei, sein Herz zum Leuchten zu bringen.
    Und selbst wenn nicht, ist das auch nicht weiter schlimm. Ich bin einfach froh, wenn er gut drauf ist.


    „Was ist mit dir? Machst du dir gar keine Gedanken?“, fragt er mich irgendwann.
    „Im Moment noch nicht, nein“, antworte ich wahrheitsgemäß. Ich will eigentlich gar nicht über die Zukunft nachdenken. Denn das bedeutet auch darüber nachzudenken, dass am Ende wirklich alles einfach verschwinden wird…
    Wie seltsam. Der Gedanke macht mir mehr aus, als er sollte. Vor einer Woche noch war das anders.
    „Erst einmal kümmern wir uns um dich“, stoße ich aus und schüttele kurz den Kopf, in der Hoffnung, dass ihn das etwas aufklärt. „Ich habe noch Zeit.“
    „Stimmt nicht ganz“, antwortet Tyler und deutet auf das Arbeitsblatt, das ich zwischendurch einfach achtlos ins Gras habe fallen lassen. Stimmt ja. Das bescheuerte Essay. Ich verziehe das Gesicht und spiele mit dem Gedanken, den blöden Zettel einfach im Algenteich zu versenken.
    „Ich kann dir helfen, wenn du willst“, schlägt Tyler vor, aber ich schneide nur eine alberne Grimasse.
    „Du bist vielleicht schlau, aber nicht mal du kannst dafür sorgen, dass diese Lektüre plötzlich in irgendeiner Art und Weise interessant ist“, murre ich und streiche halbherzig die Falten im Papier glatt.
    „Versuchen kann man es mal“, gibt er zurück und ich brauche einen Moment um zu begreifen, dass er mich zitiert. Ich strecke ihm die Zunge heraus, aber er lacht nur. Warum eigentlich nicht? Wenn ich diesen Blödsinn schon machen muss, doch zumindest mit jemandem, den ich gut leiden kann.
    „Deine Mutter ist heute wieder nicht da, oder?“
    Ich nicke beiläufig. Aphrodite arbeitet heute wieder länger und soweit ich mich erinnere, hat sie schon wieder jemand neues aufgegabelt. Mittlerweile mache ich mir aber nicht mehr die Mühe, mir Namen zu merken.
    „Dann komm nach der Schule zu uns“, schlägt Tyler vor und ich bin erstaunt, wie vollkommen… normal er das sagt. Das letzte Mal, als ich bei ihm aufgeschlagen bin, war er zuerst nicht wirklich begeistert, denke ich. Und das ist bisher auch das einzige Mal gewesen, dass ich bei ihm zu Hause war. Ich hätte gedacht, dass ihm der Gedanke wesentlich mehr ausmacht. Andererseits… Er war auch schon bei mir und wir haben mittlerweile so viel Zeit miteinander verbracht… Ich bin offenbar keine Fremde mehr für ihn. Das müsste ich eigentlich schon wesentlich länger wissen, aber jetzt, wo ich genauer darüber nachdenke, macht mich der Gedanke seltsam glücklich. Ich freue mich darauf, Leah und Martha wiederzusehen.
    „Klar“, sage ich und merke, wie ich lächeln muss. „Gerne.“


    Was ich dummerweise total vergessen habe ist, dass zu der Familie ja noch ein weiteres Mitglied dazu gehört. Und das kann mich absolut nicht leiden.
    Es ist halb fünf, als ich vor dem Tor der Prestons stehe und die Klingel drücke. Dieses Mal bin ich wesentlich ruhiger, denn ich bezweifle, dass Seth derjenige sein wird, der die Tür aufmacht. Er ist immerhin noch krank und soweit ich weiß nur noch in seinem Zimmer aufzufinden, was mich wieder etwas beruhigt. Ja, ich weiß, ich habe mir selbst versprochen, dass ich mich ihm stellen werde.
    Und das werde ich!
    Nur… Nicht heute. Nicht hier.
    Martha öffnet lächelnd die Tür und lässt mich herein. Ihre grauen Haare sind zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden und sie trägt eine Schürze.
    „Tyler ist noch mit Hibiki weg“, informiert sie mich, während wir zusammen in Richtung Küche gehen. Ich schaue kurz und unauffällig auf die Uhr an meinem Handgelenk, aber ich bin genau pünktlich.
    „Oh, keine Sorge“, spricht Martha mich dann wieder an. Offenbar bin ich doch nicht so unauffällig, wie ich dachte. „Leah ist heute nicht dazu gekommen, Gassi zu gehen, deswegen musste er kurzfristig einspringen. Begeistert war er davon aber nicht.“ Ich sehe das amüsierte Grinsen auf ihren Lippen und kann mir nur zu gut vorstellen, wie Leah ihn mit einem zuckersüßen Lächeln darum bittet, den Spaziergang zu übernehmen.
    „Ist denn alles okay bei ihr?“
    „Ach, sie sitzt nur an einem neuen Projekt und das beansprucht ihre volle Aufmerksamkeit“, erklärt Martha resignierend lächelnd. „Aber nett, dass du fragst, meine Liebe.“


    In der Küche sehe ich, dass sich die alte Dame wohl gerade darauf vorbereitet hat zu kochen, als ich kam. Sie will mich erst anweisen, mich einfach hinzusetzen und zu warten, aber das will ich nicht.
    „Ich helfe Ihnen“, stelle ich klar und krempele schon die Ärmel hoch, bevor sie groß protestieren kann. Ich mag es nicht, daneben zu sitzen, wenn andere arbeiten. Wenn ich schon einmal hier bin, kann ich auch helfen. Schaden kann es nicht. Martha schaut mich für einen Augenblick forschend an, aber dann zuckt sie lächelnd mit den Schultern.
    „Na gut. Du kannst das Gemüse schneiden.“


    Irgendwann ist aber alles Gemüse geschnitten und damit meine Arbeit erledigt. Ich kann nichts mehr machen, denn Martha muss nur noch alles in eine Form stapeln und dann in den Ofen schieben. Ab dann ist nur noch der verantwortlich.
    Wir stehen für eine Weile unschlüssig in der Küche und schauen durch das Glasfenster vom Ofen auf die weiße Keramikform.
    „Wie wäre es damit“, spricht Martha mich dann an. „Ich mache dir etwas zu trinken und du setzt dich ins Wohnzimmer. Wenn du möchtest, kannst du etwas fernsehen.“
    Aus Mangel an Alternativen stimme ich zu. Sie mischt mit einen Tee zusammen und führt mich dann einige Räume zurück in Richtung Eingang. Martha öffnet eine große Holztür und ich folge ihr in das wohl größte Wohnzimmer, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. An den Wänden stehen überall deckenhohe Bücherregale, prall gefüllt mit Einbänden in allen möglichen Farben. Am anderen Ende des Raumes reiht sich Glasfenster um Glasfenster nebeneinander, durch die ich den großen Garten des Hauses sehen kann. Ich entdecke in der hinteren Ecke einen Billardtisch, wenn ich mich nicht ganz irre, drei große Sofas, alle scheinbar aus weiß gefärbtem Leder, und einen riesigen Fernseher, angeschlossen an Soundboxen aus denen Stimmen plärren. Der Fernseher ist schon an, denn wir sind nicht die einzigen Personen in diesem Raum.
    Auf der mittleren Couch sitzt jemand, eingewickelt in eine schwarze, weich aussehende Decke. Der Glastisch davor ist bedeckt mit Taschentüchern und kleinen Medikamentenpackungen.
    Als Seth uns bemerkt, schaut er sich schniefend zu uns um. Für einen Moment hoffe ich, dass er mich nicht entdeckt, aber natürlich tut er das. Die Hälfte seines Gesichts ist durch die Decke verdeckt, aber ich sehe genau, wie er mich anfunkelt. So viel zum Thema „er ist sicher in seinem Zimmer, da werde ich ihn schon nicht sehen“. Großartig.
    „Wie geht es dir?“, fragt Martha, sammelt die Taschentücher auf dem Tisch ein und vollbringt das Kunstwerk, Seths giftige Blicke in meine Richtung vollkommen zu ignorieren. Er murmelt etwas, das ich nicht verstehe und die Hand seiner Großmutter gleitet zu seiner Stirn. Ich sehe, dass sie ihre runzelt und den Kopf schüttelt. Dann wendet sie sich von ihm ab und kommt etwas auf mich zu.
    „Macht es dir etwas aus, hier zu warten?“, fragt sie, wirft aber weiterhin besorgte Blicke in Seths Richtung.
    Ich nicke. Was soll ich denn groß anderes tun? Einen Aufstand machen? Zurück in die Küche gehen? Das wäre verdammt unhöflich. Und ich will nicht für Ärger sorgen. Also, nicht für mehr als ohnehin schon.
    Martha lächelt schwach und übergibt mir meine Teetasse, dann verlässt sie das Wohnzimmer. Und ich stehe weiter in der Gegend herum. Seth fokussiert sich vollkommen auf den Fernseher und ignoriert mich, was eine deutliche Verbesserung gegenüber den Todesblicken ist. Allerdings bestätigt sich gerade genau das, was ich befürchtet habe. Wenn er mich ignoriert, dann kann ich auch nicht wirklich mit ihm sprechen.
    Irgendwann wird mir das Stehen zu blöd, also gehe ich geradezu auf Zehenspitzen zu einer Couch und setze mich einfach darauf. Seths Blick gleitet einmal kurz zu mir herüber, sehe ich aus dem Augenwinkel, dann bin ich aber sofort wieder Luft. Ich schlürfe so leise es geht- als würde mir das irgendetwas bringen- an meiner übervollen Teetasse und schaue zum Fernseher. Keine Ahnung was da läuft, um ehrlich zu sein. Meine Gedanken sind viel zu voll von Worst Case Szenarios, die sich darin gerade bilden.
    Hin und wieder werfe ich möglichst unauffällige Blicke in Seths Richtung. Zumindest verstehe ich jetzt, warum er so lange gefehlt hat. Er sieht aus wie der lebende Tod, wenn ich ganz ehrlich bin. Blass wie eine Leiche, mit blutunterlaufenen Augen und geröteter Nase, ständig am Schniefen und ab und an sehe ich ihn zittern. Ich habe die Befürchtung, dass ich, sollte ich etwas näher an ihn herankommen, die Hitzewellen, die er abstrahlt, selbst zu spüren bekomme…
    Er sieht vollkommen fertig aus und ich erwische mich dabei, wie ich ihn etwas bemitleide. Armer Kerl. Ihn hat‘s wirklich total erwischt.
    „Starr nicht so“, höre ich ihn irgendwann knurren, aber durch seine verstopfte Nase klingt sein betont wütender Tonfall wesentlich weniger bedrohlich als er vermutlich will.
    „Sorry“, sage ich, aber ich tue es sofort wieder. Er starrt mich böse an, aber dieses Mal bin ich vorbereitet und dass mich seine wütenden Blicke nicht mehr zum Schlottern bringen ärgert ihn sichtlich.
    „Was machst du eigentlich schon wieder hier“, grummelt er. „Ich dachte, dass-“, fängt er an, aber dann verzieht sich sein ganzes Gesicht und er legt den Kopf in den Nacken. Für einen Moment ist alles still, dann niest er so laut, dass ich zusammenzucke.
    „Gesundheit“, sage ich mehr aus Reflex, was seinen bösen Blick gleich noch etwas böser werden lässt. Und langsam werde ich doch etwas unbehaglich.
    „Nicht mal in seinem eigenen Haus hat man Ruhe“, knurrt er und schnieft.
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ist gerade überhaupt der richtige Zeitpunkt, etwas zu sagen? Dass er krank ist, macht seine Laune vermutlich nicht gerade besser. Vielleicht sollte ich warten, bis er wieder in der Schule ist. Vielleicht erwische ich ihn irgendwann an einem guten Tag.
    Ja, und vielleicht stürmt Aphrodite gleich in den Raum und brüllt laut, dass alles nur ein Scherz ist und ich morgen wieder in meinem alten Körper aufwache.
    Ich weiß doch eigentlich schon längst, dass es wohl niemals einen guten Moment geben wird, mit Seth zu reden. Dieser Kerl hat ziemlich deutlich gemacht, dass er mich nicht ausstehen kann und ich kann ihm da immer weniger einen Vorwurf machen. Jetzt, wo ich weiß, dass wir uns doch ähnlicher sind, als ich am Anfang zugeben wollte, wäre es bescheuert, ihn für etwas zu verachten, was ich selbst doch auch getan habe. Und lange her ist das auch nicht…
    Ich hole einmal tief Luft und trinke noch einen Schluck. Es herauszuzögern bringt nichts. Ich kann es auch einfach jetzt hinter mich bringen. Oh Himmel hilf…
    „Seth“, spreche ich ihn an und merke, dass meine Stimme schrecklich wackelig ist. Er straft mich mit Nichtachtung und starrt demonstrativ auf den Fernseher. Ich stöhne leise. Wundervoll.
    „Seth!“, versuche ich es dieses Mal etwas lauter. Er knurrt, schaut mich dann aber zumindest aus dem Augenwinkel an.
    „Was ist?“, murrt er.
    „Können wir reden?“ Oh Junge. Jetzt geht’s los.
    Seine Augen verengen sich und für eine Weile versucht er, mich in Grund und Boden zu starren. Aber zum einen bin ich es mittlerweile gewöhnt, zum anderen ist jemand, der aussieht wie eine Raupe in einem schwarzen Deckenkokon und permanent schnieft, nur halb so furchteinflößend. Das bemerkt er irgendwann scheinbar auch, deswegen geht er wieder in die verbale Konversation über.
    „Ich hab keinen Bock mit dir zu sprechen“, antwortet er.
    „Ich weiß, dass du mich nicht magst“, fange ich an, breche aber ab, als er böse lacht. Ich kann nicht anders, als die Augen zu verdrehen. „Okay, okay, du hasst mich. Schon verstanden.“ Es überrascht mich nicht, als er nickt.
    Ich habe mir sowas ja schon gedacht, aber all die geplanten Gesprächsverläufe helfen mir in der richtigen Situation einfach nicht weiter. Also werde ich wohl einfach das sagen, was mir in den Kopf kommt. So falsch wird das schon nicht sein.
    Hoffe ich.
    „Du hasst mich“, sage ich wieder. „Und das ist okay, schätze ich. Darum geht es mir nicht. Mir geht es um Tyler.“
    Das scheint ihn tatsächlich etwas zu verwirren. Ich sehe ihn blinzeln. Seine Blicke sind weniger tödlich, sondern mehr forschend.
    „Könnt ihr euch nicht wieder vertragen?“
    Für einen Moment starrt Seth mich an, dann dreht er seinen Kopf demonstrativ in die andere Richtung.
    „Ihr seid doch Brüder“, stoße ich aus. „Ihr solltet miteinander klar kommen und-“
    „Ja genau, wir sind Brüder“, unterbricht Seth mich heftig. Ich sehe, wie die Decke um ihn herum bebt. „Brüder sollten zusammen halten. Und bisher hat das auch immer gut funktioniert, aber auf einmal kommt so eine dahergelaufene Schnepfe an und Tyler…“
    Ich warte. Seth ringt mit sich, das sehe ich ihm genau an. Einerseits will er mich einfach ignorieren. Aber er will mich nicht im Recht lassen. Dafür hasst er mich zu sehr.
    „Er hätte zu mir halten sollen“, stößt er aus und knirscht mit den Zähnen. „Aber stattdessen rennt er zu dir. Ich kapier es einfach nicht. Was findet er bitte an dir?“
    Ouch. Aber um ehrlich zu sein habe ich mich das auch schon gefragt... Trotzdem ist es unhöflich! Nicht, dass ich vorhabe ihm das zu sagen…
    Jetzt starrt Seth mich wieder an, aber zwischen dem Ärger sehe ich noch etwas anderes. Als erwarte er eine Antwort von mir. Ich seufze.
    „Ich glaube, er ist enttäuscht von dir“, stoße ich aus und habe die leise Befürchtung, dass ich das noch bereuen werde.
    „Enttäuscht? Von mir?! Er ist doch derjenige, der-“, blafft er laut. Großartig, jetzt habe ich ihn wütend gemacht. Toll Ava. Eine Runde Applaus für dich.
    „Er ist enttäuscht, weil du handgreiflich geworden bist“, versuche ich es weiter, aber Seth will mich nicht mal mehr ansehen. Er knirscht die ganze Zeit mit den Zähnen. „Du hast noch nie jemanden verletzt, egal, wie sehr man dich gereizt hat. Aber dieses Mal…“
    „Oh bitte“, stößt er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Das war nicht einmal ein Kratzer! Du bist doch zu ihm gelaufen und hast rumgeheult!“
    „Ich wollte ihm nicht einmal etwas davon sagen“, widerspreche ich ein wenig lauter. Wollte ich wirklich nicht! „Er hat die blauen Flecken an meinem Handgelenk gesehen und ist von selbst darauf gekommen.“
    Ich erwarte eigentlich, dass er mich weiterhin anmacht. Aber stattdessen schaut er mich zweifelnd an.
    „Blaue Flecken?“
    Ich nicke. „Es war nichts schlimmes, aber man hat es gesehen.“ Er schaut auf meine Arme, als würde die ihm sagen, ob ich lüge oder nicht, und sagt kein Wort. Ich verstehe nicht genau warum. Bereut er es etwa doch? Dabei hat Tyler doch gesagt, dass Seth meinte, er würde es immer wieder machen.
    Aber das war mitten im Streit. Da sagt man manchmal Dinge, die man nicht wirklich meint.
    „Ich wollte nicht, dass ihr euch deswegen streitet“, sage ich so ruhig wie ich kann.
    „Er hat dich mir vorgezogen“, murmelt Seth. „Wir sind Zwillinge. Niemand sollte…“
    „Ich weiß. Es war immer ihr gegen den Rest der Welt“, gebe ich zurück. „Ich verstehe das.“
    „Wie willst du das bitte verstehen?“ Seths Stimme klingt bitter, aber nicht mehr gereizt. Er sitzt zusammengesunken in seiner Decke eingewickelt und zerreißt ein unbenutztes Taschentuch in kleine Fetzen.
    Ich schaue auf meinen Ring herunter und drehe ihn zwischen meinen Fingern. Es ist nur fair, wenn ich es ihm erzähle, oder? Es nur zu behaupten wird ihn kaum überzeugen…
    Ich seufze und beiße auf meine Lippe. Oh Mann.
    „Meine kleine Schwester ist vor einigen Jahren zu meinem Vater gezogen, während ich bei meiner Mutter geblieben bin“, fange ich langsam an. Diese Geschichte kann ich erzählen, ohne, dass ich etwas verdrehen muss. Das macht es etwas einfacher. Aber nicht viel. „Wir haben beide nie wirklich Anschluss bei anderen gefunden und waren deswegen auch immer zusammen. Aber irgendwann ging es für sie einfach nicht mehr. Es gab eine Reihe Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, ihr das Leben zur Hölle zu machen, und ich konnte nicht helfen. Ihr blieb nur, das alles hinter sich zu lassen, und das ging am besten, indem sie zu unserem Vater zog.“
    Ich erinnere mich noch daran, wie oft Hannah zu dieser Zeit geweint hat. Wir haben alles versucht, haben mir den Lehrern geredet, mit den Eltern, den Mitschülern, aber nichts half. Ich weiß bis heute nicht, warum sie sich ausgerechnet Hannah ausgesucht haben. Meine kleine, süße Hannah, die niemandem etwas tun könnte. Irgendwann ist mir der Kragen geplatzt und ich wollte los, um diese verdammten Zicken zu finden und ihnen notfalls auch mit Gewalt einzutrichtern, dass das alles sofort ein Ende hat, aber Hannah hielt mich zurück. Sie war stärker als ich es bin.
    Ich schlucke.
    Na los. Weiter.
    „Erst war ich glücklich für sie. In der neuen Schule lief alles sofort besser. Sie fand schnell Anschluss und einige Freunde und sie erzählte mir immer davon, wie sie mit ihnen in die Stadt ging oder wie sie zusammen Filme sahen. Aber irgendwann rief sie mich nur noch selten an und es ging immer nur um ihre Freundinnen und wie toll das Leben bei ihr ist. Und meins? Meins war immer noch so ätzend wie vorher.“
    Es überrascht mich, aber Seth hört tatsächlich zu. Er schaut mich nicht direkt an, nur meine Hand, wo ich immer noch nervös an meinem Ring herumfingere. Ich habe nie jemandem so direkt davon erzählt. Schon gar nicht jemandem, der mich so wenig leiden kann, wie Seth. Aber jetzt habe ich einmal damit angefangen. Aufhören kann ich also nicht einfach so.
    „Sie hatte plötzlich all diese neuen Freunde, und ich blieb alleine zu Hause zurück. Vorher hatten wir zumindest einander. Und irgendwann wurde ich dann wütend. Ich fing an zu denken, dass sie egoistisch ist, mich einfach so zurückzulassen, während sie Spaß hat. Wir haben drei Monate nicht miteinander gesprochen. Immer, wenn sie anrief, habe ich nicht abgenommen. Ich war so wütend. Warum durfte sie glücklich sein und ich nicht? Ich fand es unfair. Aber eigentlich war ich nur eifersüchtig. Ich bin immer für sie da gewesen und plötzlich brauchte sie mich nicht mehr. Das war hart. Ich fühlte mich fallen gelassen.“
    Ich muss blinzeln. Ich habe all das komplett verdrängt, weil es mir im Nachhinein so kindisch und dumm vorkam. Und das war es auch. Es war dumm, so zu denken. Aber ich konnte einfach nicht anders. Ich war einsam und plötzlich war eine Person, die mir wichtig ist wie kaum eine andere, einfach verschwunden.
    „Und dann?“ Seths Stimme ist leise, als wagt er sich kaum, mich anzusprechen. Ich höre noch immer die Stimmen aus den Boxen, und die Lichter, die der Fernseher in den Raum wirft, färben alles merkwürdig blass. Ich will eigentlich nicht.
    Aber ich muss. Also öffne ich wieder den Mund.
    „Nach drei Monaten hat sie unsere Mutter angerufen und ihr gesagt, dass sie sich große Sorgen um mich macht. Also musste ich noch einmal mit ihr sprechen. Und dieses Mal war sie nicht so fröhlich wie sonst. Sie erzählte nicht von ihren Freundinnen. Sie wollte nur wissen, was mit mir ist, ob es mir gut geht, ob ich Probleme habe, ob sie irgendetwas tun könnte. Sie wollte ihre Sachen packen und zu Besuch kommen, aber es war mitten in der Schulzeit und unsere Wohnorte waren zu weit weg für einen kurzen Trip. Ich ließ sie reden, und irgendwann… Irgendwann brach dann alles aus mir heraus. Dass ich sie vermisse. Dass ich bei ihr sein möchte. Dass ich einsam bin. Aber ich sagte mit keinem Wort, dass sie zurück kommen soll, weil ich ganz genau wusste, dass die einzige egoistische Person ich war. Ich gönnte ihr das Glück nicht, oder zumindest wollte ich nicht, dass sie glücklich ist, wenn ich es nicht bin. Ich fühlte mich grässlich, dass ich das auch nur für einen Moment gedacht habe. Ich sagte ihr, dass sie bei Dad bleiben soll und dass sie sich keine Sorgen machen muss. Bei uns ging es ihr einfach nicht gut, das wusste ich längst. Ich wollte, dass sie glücklich ist. Und das ging nur, wenn ich etwas zurücksteckte. Also habe ich mich zusammen gerissen.“
    „Obwohl es dir dabei beschissen ging?“
    Ich nicke langsam. „Es war nicht wirklich einfach, aber ich glaube, es war das Richtige.“
    Wir schweigen für eine Weile.
    „Du sagst also, dass ich das Gleiche tun soll“, sagt er wieder in dieser bitteren Stimme. Er vergräbt sein Gesicht in seinen Händen und fährt sich dann unwirsch durch die Haare.
    „Nein.“ Als ich antworte, schaut er überrascht auf. „Eure Situation ist etwas anders als meine, Seth. Ihr könnt euch immer vertragen. Tyler möchte sich nicht mit dir streiten.“
    „Woher willst du das wissen?“, fragt er und gibt sich Mühe, böse zu schauen, scheitert dabei aber kolossal. Also gibt er auf.
    „Weil wir immer wieder darüber reden, wie wir das hier wieder hinbekomme“, gebe ich zurück. Seths Augen weiten sich kaum merklich. „Du bist sein Bruder und er hat dich immer verteidigt. Er hat nie etwas Schlechtes über dich gesagt. Wenn ihr miteinander redet, dann-“
    „Du bist ihm aber scheinbar wichtiger als ich.“
    „Das hier ist doch kein Wettkampf, Seth“, antworte ich etwas ungehaltener, als ich eigentlich vorhabe. „Ist es denn so schlimm, wenn er mit mir redet? Ich nehme ihn dir doch nicht weg!“
    Er schweigt, aber ich kann sein Gesicht nicht deuten, überwiegend, weil es bis über die Nase überdeckt ist.
    „Wenn es nach mir ginge, dann würde ich auch gerne mit dir befreundet sein“, höre ich mich selbst sagen. Seths Kopf fährt hoch und sein Blick wird geradezu misstrauisch, aber ich will es nicht zurücknehmen. Es ist vielleicht etwas direkt, aber es stimmt. Am liebsten wäre es mir, wenn wir gut miteinander auskommen würden. Es würde alles einfacher machen. „Aber ich weiß, dass du mich nicht ausstehen kannst. Vielleicht…Vielleicht können wir uns aber auf einen Waffenstillstand einigen. Was hältst du davon?“
    Er antwortet nicht. Eine quälend lange Zeit starrte er einfach auf den Glastisch vor sich, die Decke halb über seinem Gesicht. Ich weiß nicht, was er denkt. Ich habe keine Ahnung, nicht einmal eine Vermutung. Aber ich habe versucht, was ich kann. Alles andere hängt von ihm ab.
    „Ich…“, fängt er an, bricht dann aber an. Auch nach einer gefühlten Ewigkeit redet er nicht weiter.
    „Okay, schon verstanden“, sage ich dann. „Aber versuch zumindest, mit Tyler zu reden. Okay?“
    Er nickt langsam. Na also. Zumindest ein kleiner Erfolg. Mehr kann ich eigentlich nicht erwarten. Und mehr schaffe ich heute auch nicht, denke ich. Mit einem tiefen Ein- und Ausatmen stehe ich auf und nehme die Tasse vom Tisch wieder an mich.
    Ich drehe mich um und gehe zur Tür. Als ich sie öffne, schaue ich noch einmal zu Seth, der noch immer an der gleichen Stelle sitzt, leichenblass und kränklich.
    „Gute Besserung“, sage ich, aber er antwortet nicht. Ich schlüpfe durch die Tür, schließe sie und lehne mich dagegen. Ich habe es kaum bemerkt, aber meine Hand zittert ein wenig. Als mein Herz sich etwas beruhigt, stoße ich mich ab und gehe den Flur herunter.


    Tyler kommt fünf Minuten später zurück und offenbar wittert mich Hibiki sofort. Der kleine, schwarz weiße Fellball jagt auf mich zu und ich verpasse ihm eine ordentliche Streicheleinheit. Das helle Bellen und die offensichtliche Freude des kleinen Welpen lenkt mich für einen Moment ab. Als Tyler in die Küche einbiegt, steuert er sofort auf mich zu.
    „Sorry“, sagt er, ein wenig außer Atem. „Meine Mum…“
    „Schon gut“, antworte ich und versuche mich an einem Lächeln. „Ich weiß Bescheid.“
    Martha kommt hinter ihm in die Küche und schaut in den Ofen, aus dem ein verführerischer Duft strömt. Ich freue mich wahnsinnig auf das Abendessen und mir fällt jetzt erst so richtig auf, wie verdammt hungrig ich bin.
    „Eine Viertelstunde haben wir mindestens noch“, murmelt Martha eher zu sich selbst. Erst als ich wieder zu ihm schaue merke ich, wie Tyler mich mustert. Ich gebe mir keine Mühe, es zu verstecken. Das Gespräch mit Seth beschäftigt mich immer noch.
    Tyler legt mir seine Hand auf die Schulter und deutet auf die gläserne Tür zum Garten. Ich nicke. Etwas frische Luft tut mir sicher gut.


    Ich steuere sofort auf die Hollywood-Schaukel zu und lasse mich in die Polster fallen. Es wird langsam etwas kälter und ein angenehmer Wind weht durch den ganzen Garten.
    „Was ist passiert?“, fragt Tyler und setzt sich neben mich.
    „Ich habe mit Seth gesprochen.“
    Sein Mund steht offen und ich muss etwas grinsen. Als er mich drängend ansieht, lege ich den Kopf in den Nacken und atmete laut aus.
    „Er hat gesagt, dass er mit dir reden würde“, fange ich an. Eigentlich erwarte ich etwas Freude, aber stattdessen bleibt Tyler still. Offenbar merkt er, dass da noch mehr ist.
    „Ich… Ich hoffe einfach, dass es geklappt hat“, stoße ich gepresst aus und sinke tiefer in die Polster. Meine Finger bearbeiten schon wieder den goldenen Ring an meiner Hand.
    „Dann ist es doch gut“, erwidert Tyler.
    „Was, wenn es nicht reicht?“, frage ich, obwohl ich weiß, dass er auch keine Antwort darauf hat. Zumindest keine, die mir helfen wird. „Wenn ich es nur noch schlimmer gemacht habe?“
    „Wenn er zugestimmt hat, mit mir zu reden, dann hast du alles richtig gemacht.“ Als Tyler eine Hand auf meinen Arm legt, drehe ich mich zu ihm um. Er lächelt mich an, ein ehrliches, freundliches Lächeln, das das Herz in meiner Brust etwas schneller schlagen lässt.
    „Du hast mehr getan, als du müsstest“, sagt er. Ich schüttele leicht den Kopf. Nein, das ist nicht wahr. Aber er ist zu nett, um so etwas zu sagen.
    Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und ziehe die Beine auf den Sitz, drücke sie an meinen Oberkörper und schlinge die Arme darum. Als ich meine Stirn gegen meine Knie lege, seufze ich. Er hat recht. Ich habe es versucht. Und ich glaube, ich hätte nichts besseres sagen können. Ob er mir glaubt oder nicht, ob er mir eine Chance gibt… Das hängt jetzt alles von Seth ab.
    Für mich bleibt nur zu hoffen, dass es gut geht.
    „Ava?“, spricht Tyler mich an und als er meine Hände in seine nimmt, schaue ich auf.
    „Danke“, sagt er und lächelt halb erleichtert, halb… Ich kann es nicht deuten. Ich kann nur zurücklächeln.
    „Kein Problem“, antworte ich und als ich meine Finger in seinen verschränke, der Wind mir die trüben Gedanken einfach wegweht und das Herz in meiner Brust laut pocht, da wünsche ich mir, dass ich niemals wieder loslassen muss.





    Benachrichtigungen gehen raus an:


    @Tooru
    @Nivis
    @Jiang
    @Anneliese
    @Sonnkernkriegerin Lu


    Ich entschuldige mich im Voraus schon einmal, hab das Gefühl, dass das Niveau dieses Kapitels irgendwie... Richtung Boden verläuft.

  • Tyler Route


    Chapter 8:How to tame a bloodhound




    „Hörst du jetzt bitte mal damit auf?“, stöhnt Lisa und starrt gereizt auf den Kugelschreiber in meiner Hand. Mein Daumen bearbeitet ihn im Sekundentakt und jedes Mal, wenn ich den Knopf herein drücke, antwortet er mit einem penetranten Klacken. „Du machst mich noch wahnsinnig!“
    Ich atme langsam und kontrolliert aus und starre den Stift böse an, als wäre er an dem Krach schuld und nicht ich. Ist er ja auch. Ich mache schließlich keine Klackgeräusche. Zumindest nicht direkt.
    „Sorry“, murmele ich dann aber doch und lege den Kugelschreiber auf mein Buch. Lisa schaut mich etwas säuerlich an, verdreht aber nur die Augen und ringt sich dann zu einem wissenden Grinsen durch. Charlie versucht, ihr schadenfrohes Gackern zu unterdrücken und Irene lächelt resignierend. Und ich versuche so gut es geht, ihren Blicken zu entkommen und mein Gesicht in meinen Händen zu vergraben.


    Es ist Freitagmorgen und wir sitzen in der zweiten Stunde Biologie. Dummerweise kann ich mich nicht auf Herr Hastes Ausführung über m-RNA und Proteinbiosynthese konzentrieren. Zum einen, weil Lisa mich alle zehn Sekunden anstößt und mir drängende Blicke zuwirft, zum anderen aber auch, weil ich tödlich müde bin. Oh. Und natürlich ist da auch noch mein kleines Pausendate, das ganz schön lange auf sich warten lässt. Ich könnte schwören, dass die Uhr über der Tafel gerade eben schon fünf Minuten weiter war…
    Als Herr Haste eine Frage stellt und seinen Blick durch den Raum schweifen lässt, wende ich meinen schnell wieder der Tischplatte zu. Heute habe ich einfach keinen Kopf für Aminosäuren. Jetzt, wo der Kugelschreiber offiziell zum Staatsfeind erklärt wurde, bleibt meinen Fingern nur noch übrig, sich gegenseitig zu bearbeiten. Ich starre düster auf sie herunter. Himmel Herr Gott. Ich kann nicht mehr. Ich will zurück ins Bett. Nein, eigentlich will ich das nicht, aber was ich will, das kann ich wirklich unmöglich… Mit einem frustrierten Grunzen schließe ich die Augen. Neben mir fängt Charlie an zu prusten. Vielen Dank für die Solidarität, du blöde Kuh!
    Es hat keinen Zweck. Ich muss mich irgendwie ablenken. Meine Stifte sind mir ausgegangen. Habe ich noch ein Lineal? Verdammt, nein, das ist in der erste Stunde übergebrochen. So wie mein Bleistift und mein Radierer und mein Kulli hat seine Feder verloren… Und eine Packung Taschentücher habe ich auch schon in staubkorngroße Partikel verwandelt. Gottverdammt.
    Ganz ruhig Ava. Das wird schon.
    Als ich meine Augen öffne und in die Runde sehe, starren meine Freundinnen auf meinen Tisch. Als ich ihrem Blick folge, zuckt meine gesamte rechte Gesichtshälfte. Wann genau habe ich meine Finger ineinander verschränkt?
    Mit einem Stöhnen lasse ich meinen Kopf auf die Tischplatte fallen und der laute Knall von Vakuum hinter Stirnknochen auf Holz schallt durch den Raum. Für einen Moment ist alles totenstill, dann höre ich Herr Hastes Stimme.
    „Ava?“, fragt er zögerlich. „Ist… Bei dir alle okay?“
    Natürlich. Mir geht es blendend. Mit meinem Kopf eine Delle in den Tisch zu hauen ist nur so ein Hobby von mir, Sherlock. Hilft angeblich beim Denken.
    Ich strecke meinen Arm in die Luft und forme mit meinen Fingern das universelle Zeichen für „Alles gut“. Meine Stirn bleibt aber auf der Tischplatte kleben. Ich höre leises Kichern von den anderen und wie Herr Haste langsam und fragend „Okay“, ausstößt. Ich erwarte eigentlich, dass er mich weiter anspricht, aber offenbar gebe ich ein so jämmerliches Bild ab, dass für ihn Hopfen und Malz verloren scheint, denn er räuspert sich und nimmt ein wenig stockend seine Ausführung wieder auf. Ich spüre Irenes Hand auf meiner Schulter und Lisas Fuß im Sekundentakt gegen mein Schienbein, aber ich reagiere gar nicht darauf. Es war ein Fehler ihnen auch nur ein Wort über den Abend gestern zu erzählen. Blöde Tratschtanten!


    Ich drehe meinen Kopf ein wenig und sehe meine rechte Hand neben meinem Gesicht liegen. Der goldene Ring daran glänzt matt. Aber der interessiert mich nicht. Mich interessiert, wen diese Hand gestern berührt hat.
    …Da wünsche ich mir, dass ich niemals wieder loslassen muss.
    Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt.
    Gott. Ich kann es nicht glauben. Habe ich sowas wirklich gedacht? Nie im Leben! Nie im Leben habe ich so etwas Kitschiges gedacht! Das geht einfach nicht. Ich, Ava Hale, die sich sonst über alle Romance-Filme aufregt, weil sie so realitätsfern und bescheuert sind, denkt etwas, das perfekt in genau so einen kitschigen Scheißdreck herein passt. UND DAS VOLLKOMMEN UNIRONISCH!
    Bestimmt werde ich krank. Ganz sicher habe ich Fieber. Seth hat mich angesteckt. Das ist es. Alles Seths Schuld!
    Der Gedanke an Seth macht das alles aber nur noch schlimmer. Ich spinkse zur Uhr herüber. Noch eine ganze Stunde bis zur Pause.
    „Irene“, stöhne ich leise. „Bring mich um. Schnell. Bevor es sich ausbreitet!“
    Halb lächelnd, halb verwirrt schaut Irene mich an, macht aber keine Anstalten, mir den Fineliner in ihrer Hand zwischen die Rippen zu jagen. Verdammt.
    „Jetzt krieg dich ein. Ihr habt Händchen gehalten. Na und?“ Charlie verdreht die Augen aber ich sehe an ihren zuckenden Mundwinkeln, dass sie einen Heidenspaß daran hat, mich leiden zu sehen. Ich lasse sie niemals wieder meine Hausaufgaben abschreiben…
    Das schlimme ist, dass sie ja vollkommen recht hat. Mehr ist gestern Abend ja auch gar nicht passiert.


    Wir saßen noch etwa zehn Minuten auf der Hollywood-Schaukel, ich mit angezogenen Knien, er eingesunken in den Kissen und in den Himmel starrend, wo der blassblaue Himmel sich langsam orange färbte. Ich hatte keine Anstalten gemacht, seine Hand loszulassen, er genauso wenig. Wir saßen einfach im Garten, hingen unseren eigenen Gedanken nach und schwiegen, bis Martha die Terrassentür öffnete und nach uns rief. Erst da haben wir beinahe gleichzeitig losgelassen und sind rein gegangen, ohne etwas dazu zu sagen. Und das einzige, was ich denken konnte war, dass das Essen ruhig noch etwas hätte warten können.
    Ich habe keine Ahnung, wie ich Tyler heute gegenüber treten soll. Ich bezweifle, dass ich dazu fähig bin, ihn darauf anzusprechen. Wir haben beide kein Wort darüber verloren, als er mich nach dem Essen noch zur Tür gebracht hat. Und auch während dem Essen war alles ganz normal. Ich unterhielt mich mit Leah und Martha, über die Schule, über meine Heimatstadt, über meine Kochfähigkeiten und mein herrisches Kindermädchen, schaufelte das mit Abstand köstlichste Lachsfilet in mich herein, dass ich je gegessen habe und sandte innerlich Dankesgebete an den Gott, der dafür verantwortlich war, dass Seth nicht mit am Tisch saß. Als Martha ihn nämlich holen wollte, war er scheinbar in seinem Kokon eingeschlafen- mit ein bisschen Glück bleibt er noch etwas länger da drin und verwandelt sich dann in einen schönen und freundlichen Schmetterling. Was? Man wird doch wohl noch hoffen dürfen!-, auch wenn ich die kleine Ahnung hatte, dass er nur so getan hatte, um mich nicht noch länger ertragen zu müssen. Um ehrlich zu sein war meine Seth-Quote für den Tag aber auch erfüllt gewesen, übel nehmen konnte ich es ihm also nicht. Tyler dagegen beteiligte sich nur wenig an dem Gespräch, er war ziemlich in Gedanken versunken und starrte Löcher in seine Bandnudeln, aber auch ihm konnte ich es nicht übel nehmen.


    Zugegeben, die Händchen-halten-Geschichte nimmt mich mehr mit als sie sollte- okay, ich gebe es zu, ich benehme mich wieder wie ein Teenager mit dreifacher, beinahe tödlicher Dosis Hormone- aber das ist nicht der Hauptgrund, weswegen ich nervös bin. Denke ich. Viel wichtiger ist, was passiert ist, nachdem ich gegangen bin. Beziehungsweise, ob überhaupt etwas passiert ist. Ich könnte zwar schwören, dass ich durch den schmalen Türschlitz zum Wohnzimmer zwei stechend rote Augen habe sehen können, aber vielleicht werde ich auch einfach paranoid.
    Ich hoffe, dass Seth sich an sein Versprechen gehalten hat und er und Tyler sich ausgesprochen haben. Nicht nur um Tylers Willen, sondern auch, weil die ganze Sache Seth sehr viel mehr mitgenommen hat, als ich dachte. Eifersucht ist die eine Sache, aber so zusammengesunken und niedergeschlagen, wie der Bluthund gestern auf der Couch saß, hat er mich mehr an einen traurigen Berner Sennen Hund erinnert, der von seinem Herrchen ausgesetzt wurde. Mir ist erst da so wirklich bewusst geworden, dass ich genau weiß, wie er sich fühlt. Er hat die gleichen Gründe wie ich damals bei Hannah. Und alleine deswegen kann ich nicht wütend auf ihn sein. Ich kann nicht mal mehr wirklich Angst vor ihm haben.


    Das Läuten der Schulglocke bekomme ich erst mit, als Charlie und Lisa mich jeweils an einem Arm greifen und aus dem Bio-Raum ziehen. Eine Schulstunde noch, dann weiß ich bescheid.
    … Okay, die Zeit kann doch gerne etwas langsamer vergehen. Es macht mir gar nichts aus, zu warten. Wirklich nicht!
    Meine Freundinnen schleifen mich quasi hinter sich her und ich leiste nur wenig Widerstand. Ich höre Lisa und Charlie leise miteinander flüstern und sehe, wie sie mir Blicke zuwerfen, die ich nicht ganz deuten kann. Obwohl, doch. Eine seltsame Mischung aus Anstrengung und diabolischer Vorfreude. Ich will ihnen gerade sagen, dass sie sich das blöde Grinsen sparen können, da taucht auf einmal Joshuas Gesicht in meinem Sichtfeld auf. Er läuft betont lässig neben mir her und mustert mich von oben bis unten. Sein Gesichtsausdruck ist dann wieder verdammt einfach zu lesen.
    „Alles klar bei dir?“, fragt er mit einem verschmitzten Grinsen und starrt auf den roten Fleck auf meiner Stirn.
    Ich nicke kurz und knapp und wende mich dann wieder von ihm ab, aber Joshua hat offenbar noch nicht vor, einfach so aufzugeben. Gottverdammt. Das kann ich gerade echt nicht gebrauchen.
    „Alsooo…“, stößt er gedehnt aus und schaut von mir erst zu Irene, die so freundlich ist, meine Tasche zu tragen, rüber zu Lisa und Charlie, die sich die größte Mühe geben, so unbeteiligt drein zu schauen wie nur möglich. „Wie geht die Planung der Mafiosi-Hochzeit denn so voran?“
    Oh wow. Er gibt sich nicht mal Mühe seine wahren Ziele zu verstecken. Läuft einfach mit dem Kopf durch die Wand. Aber an dieser Wand kann er sich dieses Mal schön die Nase brechen und die Zähne ausschlagen…
    Ich stemme meine Beine in den Boden, Lisa und Charlie bleiben stehen und lassen meine Arme los. Für einen Moment schaue ich Joshua nur in die Augen, möglichst neutral und hoffentlich unergründlich. Joshua blinzelt und sein Grinsen wird etwas wackelig. Ha. Hat das Neutral-Schauen-Training vor dem Spiegel also tatsächlich funktioniert! Niemals wieder wird jemand genau wissen, was ich gerade denke! …Von Irene abgesehen.
    „Ach komm schon“, redet er weiter und gibt sich größte Mühe, meinem Blick stand zu halten, was aber gar nicht so einfach ist, weil ich ihm Löcher ins Gesichts starre- eine Technik, die ich mir bei Seth abgeschaut habe. Für irgendetwas müssen die Todesängste, die ich durchgestanden habe, ja gut sein. „Die aus der Zwölf schließen schon Wetten ab, wann ihr es endlich öffentlich macht.“
    Ich antworte nicht, baue mich aber zu meiner vollen Körpergröße auf, stemme die Hände in die Hüften und hebe eine Augenbraue. Joshua dagegen scheint immer kleiner zu werden und das letzte bisschen Lächeln verschwindet.
    „Ava“, stößt er beinahe flehentlich aus. „Es ist doch nur ein Witz.“
    „Aha“, antworte ich, die Augen zu Schlitzen verengt, aus denen hoffentlich die gleichen bösartigen Blitze austreten, wie bei Seth. Charlie unterdrückt angestrengt ein schadenfrohes Lachen und Lisa rollt kopfschüttelnd mit den Augen. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie die vorbeilaufenden Schüler uns mit Blicken löchern, aber niemand wagt es, stehen zu bleiben. Einige machen tatsächlich einen großen Bogen um uns. Nett.
    „War es das dann?“, frage ich nach einer Weile, weil Joshua sich offenbar nicht mehr traut irgendetwas zu sagen. Er verzieht das Gesicht und zieht kaum merklich die Schultern an, bleibt aber stumm. „Immer eine Freude mit dir zu sprechen.“
    Ich klopfe ihm etwas fester als nötig auf die Schulter und lächele ihn so zuckersüß an, dass Aphrodite vor Stolz anfangen würde zu weinen, drehe mich dann um und lasse ihn mitten auf dem Gang stehen.


    Die ganze Sache hatte zumindest etwas Gutes. Nach dem kleinen Gespräch mit Joshua war ich mit einem Male ein ganzes Stück entspannter. Der Aufstieg in die fünfte Etage mit niemals enden wollenden Stufen gab mir dazu noch eine Ausrede, nicht weiter über das Thema sprechen zu müssen, denn ich brauchte allen Atem, den ich bekommen konnte und deswegen ließen mich Lisa und Charlie in Ruhe. Die beiden waren sowieso viel zu sehr damit beschäftigt, Joshuas entgeistertes Gesicht nachzumachen. Musik empfing uns dann auch noch mit Tonleitern und Beethovens Fünfter aus gigantischen Boxen, dass denen, die direkt davor saßen, die Zähne klapperten. Selbst wenn ich gewollt hätte, bei der Lautstärke hätte ich nicht mal meine eigenen Gedanken hören können.
    Mit einem Hörsturz schleiche ich die Stufen herunter und kämpfe mich vorbei an Massen an jüngeren Schülern, die nichts besseres zu tun haben, als immer und immer wieder beinahe in mich hereinzurennen, was eine geniale Gelegenheit ist, meinen bösen Blick weiter zu üben. Ohne es wirklich gemerkt zu haben, habe ich den längeren Weg eingeschlagen, der mich erst ins Nebengebäude führt. Ich bin immer noch nervös, aber gerade äußert sich das im genauen Gegenteil von vorhin. Einerseits will ich wissen, was passiert ist. Das heißt, wenn überhaupt etwas passiert ist, denn ob ich ein Versprechen von Seth wirklich für bare Münze nehmen kann ist auch so eine Sache. Und genau darin liegt mein Dilemma. Wenn er sich weiterhin weigert, mit Tyler zu sprechen, dann bedeutet das für mich ein ziemliches Ende der Fahnenstange. Denn je länger ich darüber nachgedacht habe, desto klarer wurde es, dass Mission Leuchteherz ohne eine erfolgreiche Paartherapie eine so gute Erfolgschance hat wie Aphrodite auf den Titel „Mutter des Jahres“.
    Abgesehen davon müsste mein Gewissen dann gleich noch ein paar Tonnen mehr stemmen. Ich will einfach nicht, dass es so ausgeht.


    Vor dem Gartentor bleibe ich stehen. Es ist nur angelehnt, also ist Tyler wohl schon drin. Ich schaue zurück auf den Pausenhof, auf dem die Schüler die Sonne genießen. Langsam wird es Herbst und das Wetter wird zunehmend kühler und nasser. Heute ist aber noch ein schöner Tag, einige flauschig aussehende Wolken stehen am Himmel und bewegen sich nicht vom Fleck. Kein Wind weht. Alles ist ruhig, fast schon trügerisch. Oder vielleicht werde ich auch einfach paranoid.
    Gottverdammt. Es hat ja keinen Zweck. Ich greife nach dem Tor und als ich es aufdrücke, quietscht es leise.


    Tyler ist wirklich schon da. Er liegt auf der Wiese vor dem Tümpel, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen. Gehört hat er mich scheinbar noch nicht, denn er liegt ganz still da, fast, als würde er schlafen.
    Ich weiß nicht genau warum, aber ich schleiche mich zu ihm herüber und gebe keinen Laut von mir. Ich möchte ihn nicht stören. Am liebsten würde ich mich einfach wieder umdrehen und gehen, aber jetzt einen Rückzieher zu machen wäre ganz schön jämmerlich. Ich atme lautlos aus und gehe auch noch das letzte kleine Stück, bis ich direkt neben ihm stehe. Wenn er mich gehört hat, dann zeigt er es nicht.
    Es ist seltsam, ihn einfach nur da liegen zu sehen. Er atmet leise und regelmäßig, den Mund leicht geöffnet. Seine Haare hängen ihm im Gesicht und sein Shirt ist ihm ein wenig hochgerutscht. Tyler wirkt tiefenentspannt. Ich glaube, er schläft tatsächlich. Fast schon niedlich. Aber auch nur fast.
    Ein kleines, schelmisches Lächeln schleicht sich in mein Gesicht. Ich will mich gerade vorbeugen, ihn an den Schultern packen und mit ein wenig Gebrüll aufwecken- so ein Hand-Gong wäre jetzt echt cool- da fliegen seine Augen auf und er schaut mich direkt an.
    „Mach doch ein Foto, das hält länger“, raunt er und sein Mundwinkel zuckt, genau wie meine Augenbraue.
    „So hübsch anzusehen bist du jetzt auch nicht“, entgegne ich inständig hoffend, nicht zu ertappt auszusehen und lasse meine Tasche neben ihn auf den Boden fallen. Er streckte seine Arme nach oben und gähnt ausgiebig. Ich setze mich ins Gras und merke erst jetzt, dass es noch ein wenig feucht ist. Vermutlich ist den ganzen Tag über noch kein Sonnenstrahl durch das Blätterdach gekommen. Im Moment ist es noch relativ dicht, aber als ich mich umsehe, bemerke ich einige abgefallene Blätter zwischen den grünen Halmen. Bald werden auch die Büsche um uns herum kahl werden, und dann ist es mit der Privatsphäre vorbei.
    Tyler kommt aus dem Gähnen gar nicht mehr heraus. Er schüttelt für einen Moment den Kopf und richtet sich dann stöhnend auf.
    „So müde?“, frage ich und kann mir einen neckenden Unterton nicht verkneifen.
    „Wenn man die halbe Nacht wach ist und diskutiert, dann passiert sowas“, antwortet er, ohne mich anzusehen. Mein Herz bleibt für einen kurzen Moment stehen und ich merke, dass sich mein Körper von ganz alleine anspannt.
    „Ihr habt also geredet?“, höre ich mich selbst zögerlich und seltsam hohl fragen. Tylers rote Augen mustern mich aus dem Augenwinkel, aber ich habe keine Ahnung was er denkt. Dieser Kerl ist für mich manchmal immer noch ein Buch mit sieben Siegeln und ich hasse es.
    „Naja“, fängt er lang gezogen an und fährt sich durch die Strähnen, die ihm noch auf der Stirn kleben. „Wir haben weniger geredet und mehr geschrien.“
    Ich verziehe das Gesicht und stöhne.
    „Sag mir bitte, dass ihr euch zumindest nicht geprügelt habt“, murmele ich und vergrabe mein Gesicht für einen Moment in meinen Händen.
    „Haben wir nicht“, fängt Tyler an aber an seinem Ton höre ich, dass da noch mehr kommt. „Zumindest nicht wirklich.“
    „Uuuuurgh“, stoße ich lauter aus als gewollt und schlage mir die Hand vor die Stirn. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Und jetzt? Was soll ich jetzt machen? Wie soll ich-
    „Vertragen haben wir uns übrigens auch.“
    „Hä?“, stoße ich selten intelligent aus. Ich schaue ihn so stirnrunzelnd an, dass selbst meine Falten Falten bekommen und versuche herauszufinden, ob ich mich gerade verhört habe. Muss ich ja. Ich muss mich verhört haben.
    Tyler versucht einen Moment lang, ernst zu bleiben, aber dann muss er doch unterdrückt lachen und weicht meinem Blick aus.
    „Wir haben uns vertragen“, wiederholt er mit einem breiten Grinsen.
    „Warte, warte“, stoße ich aus und setze einen verwirrten, vermutlich ziemlich dämlich aussehenden Gesichtsausdruck auf. „Ihr habt euch angeschrien. Ihr habt ich geprügelt-“
    „Nicht wirklich“, unterbricht er mich.
    „Ihr habt euch nicht wirklich geprügelt. Und ihr habt euch vertragen“, fasse ich zusammen. Tyler nickt, das Lachen unterdrückt. Ich starre ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
    „Wenn das ein Scherz ist, kann ich da nicht drüber lachen“, sage ich langsam.
    „Ist es nicht“, gibt er zurück, aber gerade, als ich mich entspannen will: „Zumindest nicht wirklich.“
    „Tyler!“, stoße ich heftiger aus als ich will und werfe ihm tödliche Blicke zu. Er bleibt cool. Na wundervoll. Da denkt man, man hat die hohe Kunst der tödlichen Blicke gemeistert und dann sowas! Statt sich zurück in den Bauch seiner Mutter zu wünschen, bricht Tyler nämlich nur in Gelächter aus. Arsch.
    Noch mit bebenden Schultern setzt er zu einer Erklärung an, als er meinen säuerlichen Blick sieht, dreht er sich aber wieder weg und drückt sich die Hand auf seinen Mund, als würde das die Sache besser machen. Ich hole aus und schlage ihm gegen die Schulter, nur macht ihm das auch nicht wirklich etwas aus.
    „Jetzt sag schon!“, dränge ich und komme mir vor wie ein quengelndes Kind, das nach einem Lolli fragt. Ist mir nur gerade total egal. Ich will jetzt endlich wissen, was passiert ist! Er kann sich sein blödes Lachen sonst wo hinstecken! Ich schlage nochmal zu. Und nochmal. Und nochmal, aller guten Dinge sind drei. Oder in meinem Fall auch zehn.
    „Okay, okay, lass meine Schulter in Ruhe“, stößt er irgendwann aus und reibt sich mit verzogenem Gesicht über die Stelle, an der meine Fäuste hoffentlich einen Splitterbruch verursacht haben. Vermutlich nicht. Ich kann schon froh sein, wenn überhaupt ein blauer Fleck entsteht… Tyler dreht sich wieder zu mir um, die Augen vom Lachen noch leicht feucht.
    „Wir haben alles geklärt“, sagt er dann und mir fällt ein Stein vom Herzen. „Er ist nicht mehr wütend und ich auch nicht.“
    „Obwohl ihr euch angeschrien habt?“
    „Gerade deswegen.“ Tyler zupft einen Halm Gras aus dem Boden und dreht ihn zwischen den Fingern. Er lächelt leicht resignierend. „Manchmal muss man sich einfach mal anschreien, damit man sich wieder vertragen kann.“
    Mir entgleitet mein Gesicht. Ist das sein Ernst? Ich könnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, Hannah anzuschreien. Alleine die Vorstellung ist ätzend. Andererseits haben wir uns auch nie wirklich gestritten. Nur diese kleinen Kabbeleien unter Schwestern, wer jetzt mit der Puppe spielen darf und wer dran ist mit Geschirr-Ausräumen... Wir hatten für wirklichen Streit immer eine viel zu gute Beziehung.
    Andererseits… Ich schätze, wenn man sich richtig zofft, ist es besser, einfach alles herauszuschreien.
    „Er war wirklich einfach nur eifersüchtig“, murmelt Tyler weiter. „Er dachte, er wäre mir egal.“
    Ich antworte nicht, hefte meinen Blick auf den Boden und spiele an meiner Strickjacke herum. Das weiß ich längst. Ich weiß, worum es ihm ging. Er hat mir gestern Abend alles gesagt, auch wenn ich davon ausgehe, dass er es gar nicht wollte. Seth musste alles irgendwie los werden. Vielleicht hat ihm das etwas geholfen.
    Ich seufze und muss ein wenig lächeln.
    „Dann ist ja alles gut.“
    „Besser.“
    Ich schaue auf und sehe, dass Tyler mich ansieht. Er lächelt wie jemand, der noch etwas mehr weiß. Nicht überlegen. Mehr… gespannt. Ich blinzele und lege den Kopf leicht schief.
    „Er hat versprochen, dass er versucht, mit dir zu Recht zu kommen. Und wenn das nicht klappt, will er dich zumindest nicht mehr mit Blicken töten.“
    Erinnert ihr euch an den Stein, der mir vom Herzen gefallen ist? Gerade hat sich sein großer Bruder, der Berg, ebenfalls verabschiedet.
    „Ist das dein Ernst?“, frage ich und Tyler nickt. „…Wirklich?“
    „Ja doch“, lacht er offenbar ziemlich amüsiert auch wenn ich das Gefühl habe, dass er ein Augenrollen unterdrücken muss.
    Für einen kurzen Moment bleibe ich still und starr, denn die Information muss erst in mein Gehirn sickern und das dauert eine Weile. Als sie dann aber endlich angekommen ist, kann ich nicht anders. Ich springe auf, laufe drei Schritte nach rechts, dann drei nach links, vergrabe meine Hände in meinen Haaren und rufe mit theatralisch in die Luft gestreckten Händen „Oh Götter, danke!“.
    Keine tödlichen Blicke mehr! Vielleicht sogar Waffenstillstand! Hat unser Gespräch von gestern vielleicht doch ein wenig geholfen? Mission Leuchteherz ist wieder auf Spur! Fuck yes!
    „Du tust ja gerade so, als hättest du im Lotto gewonnen“, schmunzelt Tyler und dieses Mal verdreht er wirklich die Augen. Wenn du wüsstest! Ist mir egal. Sowas von egal! Ich lasse mich direkt neben ihm wieder ins Gras fallen und gestikuliere wie eine Blöde.
    „Keine tödlichen Blicke mehr, Tyler!“, stoße ich viel zu begeistert aus. „Das ist mehr als ich erwartet habe!“
    „Was hast du erwartet?“ Er zieht eine Augenbraue hoch und schüttelt leicht grinsend den Kopf. Er nimmt das alles so viel lockerer als ich, dass ich mir langsam doch etwas kindisch vorkomme. Andererseits… Nein. Ich finde, diese fünf Minuten kindisch sein habe ich mir redlich verdient!
    „Was weiß ich“, antworte ich, ziehe die Schultern an und schaue nach oben. Was habe ich erwartet? Nichts gutes, schätze ich.
    Entweder sie oder ich“, sagt Tyler und imitiert dabei perfekt den zerknirschten, leicht aggressiven Tonfall seines Bruders. Ich grinse schief.
    „Schon, ja“, gebe ich nach einem kurzen Moment Stille zu. Genau deswegen habe ich letzte Nacht auch nicht gut schlafen können. Nur, weil ich Seth dazu bekommen habe, mit seinem Bruder zu sprechen, heißt das ja noch lange nicht, dass sich an der Ausgangssituation groß etwas ändert. Wenn er Tyler wirklich vor die Wahl gestellt hätte…
    Ich möchte nicht darüber nachdenken. Das habe ich gestern schon viel zu lange. Ich bin einfach froh, dass es nicht dazu gekommen ist. Ab jetzt geht es aufwärts.
    Tyler gähnt und schließt für einen Moment die Augen. Ich sage nichts. Für ihn ist das sicher auch alles wenig spaßig gewesen. Jetzt, wo ich genauer hinsehe, hat er dunkle Schatten unter den Augen. Er wirkt müde und erschöpft. Aber zumindest glücklich. Und das macht mich auch… seltsam glücklich. Über unseren Köpfen hüpft ein Vogel von Ast zu Ast. Ich beobachte ihn für einen kurzen Moment, sehe, wie die Zweige sich unter seinem Gewicht leicht durchbiegen. Ich glaube, es ist eine Amsel. Schwarzes Gefieder und orangener Schnabel. Vielleicht ist er-
    Ich spüre etwas auf meiner Schulter. Als ich nach unten sehe, lehnt Tylers Stirn gegen mein Schlüsselbein, seine Haare kitzeln an meinem Hals. Ich spüre seinen warmen Atem auf meiner Haut. Er hat die Augen geschlossen, spielt aber am Saum seiner Shirts herum. Ich wage es nicht, mich zu bewegen. Er sieht so müde aus… Bevor ich so richtig registriere, was ich tue, liegt meine Hand auf seinem Kopf und streicht vorsichtig die langen Haare darauf glatt. Er wehrt sich nicht.
    Es ist seltsam. Eigentlich müsste ich beinahe durchdrehen. So nah, wie er ist… Mein Herz müsste laut pochen. Aber ich bin ganz ruhig. Es macht mir nichts aus. Es ist okay. Es ist… ein gutes Gefühl.
    „Wenn er das wirklich gesagt hätte… Wenn er wirklich verlangt hätte, dass ich mich entscheide…“, murmelt Tyler mit geschlossenen Augen. Seine Stimme klingt träge und weit weg. Ich spüre, wie ich die Luft anhalte. Möchte ich das wirklich wissen? Wenn er das sagt, vor dem ich so Angst habe… Ich sollte ihn unterbrechen. Er soll es nicht sagen. Denn wenn er es tut, dann weiß ich nicht, ob ich-
    „Ich hätte mich nicht entscheiden können. Nicht zwischen euch.“
    Und da macht mein Herz dann doch einen kleinen Satz.
    Ich spüre seine Hand auf meiner. Und bevor ich darüber nachdenken kann, verschränke ich meine Finger mit seinen.


    Wir verpassen die vierte Stunde. Erst das Läuten zur fünften bekomme ich wieder mit und obwohl ich so tue, als ob ich sie nicht hören würde, Tyler ignorierte sie nicht. Er gähnt ein letztes Mal, nimmt seinen Kopf von meiner Schulter, streckt sich, bis alle seine Gelenke knacken und zieht mich dann auf die Beine. Am Gartentor trennen wir uns. Er muss ins Nebengebäude, ich in mein Klassenzimmer. Tyler zieht mich an sich, etwas fester als sonst, und ich drücke mein Gesicht gegen seine Brust. Dann lassen wir einander los, und als er mich anlächelt muss ich einfach zurücklächeln.


    Den Rest des Tages fühle ich mich wie auf Wolken. Sehr, sehr rosanen, weichen Wolken. Was natürlich alles andere als unbemerkt bleibt.
    Als ich den Klassenraum betrete, wesentlich entspannter als jemand sein sollte, der gerade eine Stunde Deutsch geschwänzt hat, kommen sowohl Eve als auch Irene auf mich zu, bereit mir eine ordentliche Standpauke zu halten. Sie setzen auch schon dazu an, als sie aber bemerken, dass es ins eine Ohr rein und zum anderen wieder herauskommt, brechen sie mitten im Satz ab und starren mich an, als wäre ich ein Alien.
    „Alles klar mit dir?“, fragt Eve mit zusammengekniffenen Augen.
    „Bestens“, antworte ich und lächele sie selig an.
    „Du grinst, als hättest du ein Kilo Gras intus.“ Sie mustert mich von oben bis unten. Dann, etwas leiser und deutlich misstrauisch. „Hast du nicht, oder?“
    „Natürlich nicht“, gebe ich zurück und grinse schief.
    „Keine Sorge, Eve“, höre ich Lisa hinter mir lachen. Sie legt einen Arm um meine Schulter und grinst mich wissend und deutlich amüsiert an. „Sind nur die Hormone.“
    Und wisst ihr was? Es war mir egal. Sie könnte sich heute so sehr über mich lustig machen, wie sie will. Ist mir egal. Ich bin glücklich. Und das kann mir keiner nehmen!


    Konnte wirklich keiner. Der unangekündigte Mathetest war mir egal. Dass ich eine komplizierte Gleichung an der Tafel lösen sollte und dabei hoffnungslos versagte war mir egal. Dass Joshua mich die ganze Zeit über anstierte, als würde er dadurch die Kraft bekommen, meine Gedanken zu lesen, war mir egal. Es war mir auch egal, dass Philosophie heute ausfiel und wir Vertretung mit Herr Weiz bekamen, aka Herr „Meine Aussprache ist so feucht, dass ihr alle eine Dusche bekommt“. Alles egal.
    Lisa versuchte, den Rest des Tages etwas aus mir herauszubekommen, aber ich hielt dicht. Ich hatte keinen von ihnen von meinem Seth-Problemen erzählt, weil ich immer noch der Meinung bin, dass das etwas zwischen mir und den Zwillingen ist, deswegen wollte ich ihnen auch nicht allzu viel von meinem Pausendate erzählen. Immerhin war der Hauptgrund meines beinahe unerträglichen und grenzdebilen Verhaltens, dass Mission Leuchteherz einen unerwarteten Aufschwung bekommen hatte.
    Okay. Das ist eine Lüge. Ich gebe es zu. Und es ist mir nicht peinlich.
    Nicht wirklich, zumindest.


    Und die Rosa-Wolken-Stimmung hält tatsächlich bis Sonntagmorgen an.
    Ich liege in meinem Bett, die ersten Sonnenstrahlen kämpfen sich ihren Weg durch die dicken Vorhänge vor meinem Fenster und einige Möwen haben es sich scheinbar auf dem Dach bequem gemacht und krächzen sich ein ziemlich hässliches Liedchen zusammen. Es ist schon zehn, aber da ich heute nicht wirklich etwas vorhabe und Aphrodite den Spaß an ihrem Hand-Gong verloren hat, habe ich keine Lust darauf, schon aus dem Bett zu kriechen. Also lasse ich es bleiben und starre stattdessen Löcher in die Holzdecke.
    Jetzt, wo die Euphorie etwas nachgelassen hat, verfalle ich wieder in den Zustand von Freitagmorgen. Namentlich die Erkenntnis, dass ich mich verhalten habe wie ein liebeskranker Teenager und vermutlich allen in einem Radius von fünfhundert Metern tierisch auf die Nerven gegangen bin. Den einen, weil ich fürchterlich freundlich und nett und gut drauf war, den anderen, weil ich partout nicht mit der Sprache herausrücken wollte. Beweis für letzteres sind die zehn Sprachnachrichten, in denen Lisa mich immer und immer wieder dazu auffordert, endlich mit der Sprache herauszurücken. Die frustrierten Beschimpfungen und Drohungen, dass sie nie wieder ein Wort mit mir spricht, erspare ich euch an dieser Stelle mal.
    Wie war das noch gleich mit „Eine Beziehung würde alles verkomplizieren“?
    Jep. Offenbar haben sich meine Prinzipien selbst über Bord geworfen. Und keiner hat’s gemerkt. Ich hoffe nur, dass mein Leben sich nicht gerade in eine Reihe Eisberge herein manövriert. Auf der Titanic kam auch erst das Vergnügen und dann das eiskalte- ha, ha, ha- Erwachen. Glaube ich. Ich bin immer spätestens nach einer Dreiviertelstunde Laufzeit eingeschlafen.


    Tja. Zu spät, schätze ich. Ich gebe es ja zu. Ich bin verknallt.


    Und für diese Erkenntnis brauchte ich nicht einmal Aphrodite, die mich gestern Morgen am Frühstückstisch mit kaum verhohlener Belustigung beobachtet und leise „Ava und Tyler sitzen auf dem Baum“ vor sich hin sang. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, habe ich mitgesummt. Aber auch nur vielleicht.
    Ich stöhne und ziehe mir die Decke über den Kopf.
    Einerseits bin ich glücklich und so, wie es sich für jemanden, der verliebt ist, halt gehört. Andererseits möchte ich mir am liebsten einen Kopfschuss verpassen. Es ist echt seltsam. Ich habe nie geglaubt, dass diese bescheuerte, kitschige Beschreibung von Verliebtheit auch nur einen Funken Wahrheit enthält. Dass man sich fühlt, als würde man schweben, dass man ständig nur an die Person denkt, die man mag, dass man singt und tanzt und dauernd lächelt.
    Und jetzt bin ich ein klischeehafter Präzedenzfall von Verliebtheit. Und ich hasse es. Und mag es gleichzeitig. Urgh.
    Der eine Teil von mir findet es vollkommen okay, an Freitag zurück zu denken und Tylers Hand halten zu wollen. Der andere möchte ersterem den Kopf einschlagen und ihn daran erinnern, dass es so etwas wie Vernunft und rationales Denken gibt, das man gerne auch benutzen kann, wenn man es schon besitzt. Der gewinnt gerade auch die Überhand.
    Als ich unter der Decke hervorluge, fällt mein Blick auf den Kalender über meinem Schreibtisch. Wir haben mittlerweile Anfang November. Heute ist der 22. Tag. 39 bleiben mir noch. Ein Drittel habe ich also schon hinter mir. Und dieses Drittel habe ich damit verbracht, Tyler erst noch unglücklicher zu machen als ohnehin schon und dann alles wieder auf den Status Quo zurückzusetzen. Saubere Leistung Ava.
    In 39 Tagen muss Tyler glücklich sein und sein Herz muss leuchten. Nur dann gewinne ich diese blöde Wette.
    Dann bekomme ich mein altes Leben zurück. Ich werde wieder Ava Hale sein. Und die letzten drei Wochen werden nicht geschehen sein.


    Ich richte mich im Bett auf und trete die Decke von meinem Körper herunter auf den Boden, wo sie als unordentlicher Haufen liegen bleibt. Meine Hände reiben über mein ganzes Gesicht und ich hole ein, zwei Mal tief Luft.
    Ich werde ihn glücklich machen. Nicht für die Wette. Für ihn.


    In eine knielange, flauschige und knallrote Strickjacke gehüllt gehe ich die Treppe herunter in die Küche. Ein kleines Post-It am Kühlschrank mit drei, vier Herzen darauf verkündet, dass Aphrodite schon weg ist. Ich will ihn gerade abhängen, da fällt mir das Kleingeschriebene am Ende des Zettels auf.
    PS: Deine Träume sind ziemlich unterhaltsam. Tyler sah als Dornrösschen wirklich niedlich aus! ♥
    Mir entgleiten die Gesichtszüge. Das habe ich nicht wirklich geträumt, oder?
    ... Oder?
    Oh Gott. Nein, Schluss! Aus, Fantasie! Ich will dieses Bild nicht in meinem Kopf haben!
    Ich schüttele ihn wild, als würde das meine Vorstellungskraft wieder zur Vernunft bringen und versuche krampfhaft, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Die Kalorienangaben auf dem Müsli sind wirklich sehr interessant. Ich hätte nicht gedacht, dass da so viel Zucker drin ist.
    Ein Kleid mit Spitze würde ihm vermutlich am besten stehen. Rüschen sind zu mädchenhaft.
    Die Milch kommt vom anderen Ende des Landes? Naja, zumindest ist sie Bio. Der lange Transport wird aber eine ganz schöne Belastung für die Umwelt sein…
    Und er liegt inmitten von Kissen und Rosen auf seinem Bett, die Hände über der Brust gefaltet, wartet nur darauf, dass ihn jemand weckt und-
    UND MEIN GOTT, DIE NUDELN HABEN ECHT ZIEMLICH VIELE KOHLENHYDRATE, ZU VIEL DARF ICH DAVON ECHT NICHT ESSEN.
    Ich beuge mich langsam zu ihm herunter, lege meine Hand auf seine Wange. Ich muss ihn nur küssen, dann wacht er auf. Langsam, ganz vorsichtig. Ich komme seinen Lippen immer näher. Spüren seinen Atem auf meinen. Nur noch einige Millimeter… Wie es sich wohl anfühlen wird? Das Herz in meiner Brust pocht. Tu es. Trau dich. Du willst es doch auch!
    SHIT. GOTTVERDAMMT. NEIN. SCHLUSS.
    Ich stöhne laut und schlage mir die Hände vors Gesicht, schüttele wild meinen Kopf. Und ich höre nicht auf, bis dieser blöde Gedanke sich freiwillig aus meinem Kopf verzieht! Hörst du das? Hau ab! Geh weg!
    Ich merke, wie meine Wangen heiß werden. Der Teil von mir, der sich selbst einen Kopfschuss verpassen will, zieht schon die Pistole hervor.
    Schluss damit. Ich muss den Kopf frei bekommen. Ich hab keine Zeit für so ein peinliches, stupides, kindisches, lächerliches Kopfkino!
    Frustriert schnaubend kippe ich mir Müsli in eine Schüssel und schütte Milch darüber, dann verlasse ich fluchtartig die Küche, werfe der Müslipackung, dem Milchkarton und den Nudeln aber noch einen vernichtenden Blick zu. Alles eure Schuld!


    Es war eine beschissene Idee nach draußen auf die Terrasse zu gehen. Eine verdammt beschissene Idee, denn es ist schweinekalt und ich trage nur mein Schlafklamotten, ein dünnes Top und eine schrecklich kurzen Blumenmuster-Hose- Aphrodite lebt offenbar ganz nach dem Motto „weniger ist mehr“, wenn es um Klamotten geht…- und die rote Strickjacke. Aber ich gehe ganz sicher nicht jetzt schon zurück, sonst vergesse ich diese blöden Bilder nie!
    Stattdessen sitz ich also in viel zu dünnen Klamotten, die Strickjacke beinahe Kokonartig um mich gewickelt, im Gras auf der Klippe hinterm Haus und schaue Müsli mampfend aufs Meer heraus. Heute ist das Wetter schon sehr viel herbstlicher. Es geht ein stetiger Wind, der sich nicht entscheiden kann, in welche Richtung er will und mir deswegen immer wieder meine Haare um meinen Kopf wickelt und in den Mund treibt, am Himmel steht eine dichte Decke aus grauen, dicken Wolken und das Meer unter mir rauscht und zischt, wenn die Wellen auf den Felsen treffen. Die Zeit zum Baden im Meer habe ich jetzt also offiziell verpasst. Verdammt.
    Ich setze die Schüssel beiseite, ziehe den Kopf ein und schließe die Augen. Der salzige Geruch vom Wasser klärt zusammen mit der Kälte meinen Kopf. Oder vielleicht friert er auch nur ein und mein Gehirn wird langsam aber sicher nicht mehr mit genug Blut versorgt. Ich sollte reingehen. Aber ich will noch nicht. Hier oben ist es schön ruhig. Nur ich, der Wind und der Geruch von Salz.
    Denkste. Gerade, als ich diesen herrlich pseudopoetischen Gedanken abgeschlossen habe, höre ich ein leises, weit entferntes Kläffen, das ich nur allzugut kenne.
    Vorsichtig drehe ich mich um, darauf bedacht, dass mein Strickjacken-Kokon weiter luftdicht bleibt. Erst höre ich nur ein weiteres Bellen. Dann sehe ich, dass jemand ums Haus herumkommt.
    Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. Mittlerweile erkenne ich Tyler schon von weit weg. Er hat die Leine in der Hand und die Kapuze seiner Jacke über den Kopf und versucht geradezu verzweifelt, Hibiki davon abzuhalten, ihn weiterzuziehen.
    Und dann macht mein Herz noch einen Hüpfer.
    Aber dieses Mal ist es kein Freuden-Hüpfer.
    Hinter Tyler taucht noch eine zweite Person auf. Für einen kurzen Moment denke ich, dass mein Gehirn schon so tiefgefroren ist, dass ich doppelt sehe, aber die Idee verzieht sich ziemlich schnell und macht Platz für einen Kloß, der sofort in Richtung Hals wandert.
    Seth. Hinter Tyler schleicht Seth über die Wiese direkt auf mich zu. Seine untere Gesichtshälfte ich komplett von einem dicken Schal überdeckt, nur seine Augen kann ich erkennen. Und die fixieren mich. Urks.
    „Hey!“, stößt Tyler aus und lächelt mich an.
    „Hey“, erwidere ich langsam, kann mich aber nicht wirklich entscheiden, ob ich jetzt ihn oder seinen Bruder ansehen soll, der mich noch immer stumm anstarrt. Ich versinke etwas tiefer in meiner Strickjacke.
    „Wir haben geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht“, höre ich Tyler sagen. Er hat Mühe, Hibiki ein kleines Stück von mir entfernt zu halten, denn der kleine Welpe bringt alle seine Kraft auf, um sich auf mich zu stürzen. Er jault traurig, aber das bekomme ich kaum mit.
    „Äh, ja“, antworte ich noch einer kurzen, unangenehmen Pause und beschränke meinen Blick auf Tyler. „Meine Mum ist nicht zu Hause. Und ich… sitze hier draußen. Ja.“
    Wir verfallen in Schweigen. Hibiki jault. Seth schnieft. Meine Zähne klappern.
    Gott, ist das unangenehm.
    „Wir gehen spazieren“, ringt sich Tyler dann schließlich durch, nachdem er von mir zur Seth und wieder zurück gesehen hat. „Willst du… mitkommen?“
    „Ja“, stoße ich aus. „Ich… äh… muss mich nur kurz umziehen.“
    Ich brauche einen Moment, um mich wieder auf meinem Kokon zu befreien, schaffe es aber, dass man meine Schlafklamotten darunter nicht sieht. Das wäre doch etwas peinlich.
    „Wartet einfach hier. Oder auf der Terrasse. Oder kommt rein. Es ist kalt“, stelle ich mit klappernden Zähnen und zitternd fest. Als ich mit nackten Füßen Richtung Haus laufe, warte ich nicht darauf, ob sie nun folgen oder nicht.


    Ich jage die Treppe hoch, durchquere den Flur und betrete mein Zimmer. Als ich die Tür schließe, hat sie etwas zu viel Schwung und knallt zu.
    Oh Scheiße.
    Darauf war ich nicht vorbereitet.
    Fuck. Was soll ich jetzt tun?
    Seine Blicke sind zwar weniger tödlich, aber ich fühle mich noch immer wie eine Ratte auf dem Labortisch.
    Ich hab keine Wahl. Ich hab immerhin zugesagt.
    Schneller als notwendig schlüpfe ich aus meinen Schlafklamotten in Unterwäsche, eine ordentliche Hose, Top und Sweatshirt und lege mir dazu noch einen Schal um. Um ganz sicher zu sein nehme ich sogar noch ein paar schwarze Handschuhe und stecke sie in meine Hosentaschen. Ich laufe in meinem Zimmer hin und her, ohne wirklich zu wissen warum. Mein Handy nehme ich mit und meine Schlüssel auch. Sonst noch etwas? Ich glaube nicht. Ich sollte nach unten gehen. Oh Gott. Warum habe ich noch gleich zugesagt? Ah. Richtig. Tyler.
    Ich versuche krampfhaft den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Das wird schon, Ava. Er hat versprochen, dir noch eine Chance zu geben. Außerdem ist Tyler mit dabei. Und Hibiki. Im Notfall beschäftige ich mich einfach nur mit dem Welpen und ignoriere alles andere.
    Ich atme ein. Und aus. Und ein. Und aus. Und ein. Und-
    Okay! Ich geh ja schon…


    Die beiden warten im Flur auf mich. Ich laufe die Treppe herunter, betont lässig und so, als würde ich Seths bohrende Blicke gar nicht bemerken, ziehe ein paar Sneacker aus unserem Schuhschrank hervor und ziehe einen Parka über.
    „Wir haben Herbst, Ava“, grinst Tyler und zieht an dem Fellkragen der Kapuze.
    „Mir ist aber kalt“, gebe ich zurück und verstaue Handy und Schlüssel in meiner Jackentasche.
    „Kein Wunder, wenn man nur in Unterwäsche draußen rum hockt“, murmelt Seth, aber als ich ihn geschockt ansehe, ist er derjenige, der mich beinahe krampfhaft wegschaut.
    Verdammt. Ich dachte, man würde es nicht sehen.
    Tyler rammt seinem Bruder mit einem gezischten „Hey“ seinen Ellbogen in die Rippen, wagt es aber auch nicht, mir in die Augen zu schauen.
    Warte. Läuft er gerade wirklich rot an, oder bilde ich mir das nur ein?
    „Das war keine Unterwäsche“, höre ich mich nüchtern sagen. „Nur mein Pyjama.“
    Stille.
    „Aha.“
    Wieder Stille.
    Ja. Tylers Ohren werden tatsächlich rot.
    Und nicht nur seine. Seth sieht auch nicht besser aus.
    Von mir mal ganz zu schweigen.
    „Können wir dann?“, frage ich und ich hoffe, dass die Verzweiflung in meiner Stimme nicht ganz so offensichtlich ist, wie ich denke.


    Ich danke dem Himmel für Hibiki. Dieser Welpe ist immer da, wenn man ihn mal braucht. Mein persönlicher, flauschiger, bellender Superheld.
    Egal wie peinlich eine Situation ist, wenn ein Welpe sich von der Leine losreißt und ausbüxt, dann vergisst man alles um sich herum und schiebt Panik. Ganz besonders, wenn besagter Welpe sich einen Spaß daraus macht, sehr nah an den Wellen herumzutollen.
    „Hibiki!“, ruft Tyler ihn jetzt schon zum gefühlt tausendsten Mal und jagt hinter ihm her. Dummerweise ist er so sehr auf seinen Hund fixiert, dass er gar nicht mitbekommt, wie sich eine gigantische Welle von hinten anschleicht. Also so sehr, wie sich eine Welle eben anschleichen kann.
    „Tyler, pass au-“, setze ich an, aber da ist es schon zu spät. Das Salzwasser steht ihm bis zu den Waden und ich höre ihn laut fluchen, während er sich irgendwie an den trockenen Teil des Strandes rettet.
    „Hibiki“, versuche ich es weiter und nähere mich langsam und vorsichtig. Ich gehe gebückt und halte ihm meine Hand entgegen, in der Hoffnung, dass Streicheleinheiten attraktiver sind als Freiheit. Dem Shiba-Inu Welpen hängt die Zunge aus dem Maul und er legt fragend den Kopf schief.
    Awwwwww…
    HALT. Vorsicht! Reiß dich zusammen, Ava. Jetzt bloß keine falsche Bewegung, sonst-
    „Hatschi!“, tönt es hinter mir. Hibikis Ohren zucken und er prescht davon. Shit.
    „Gesundheit“, murmele ich mit einem Blick über meine Schulter. Seth schnieft laut, die Augen nur halb offen und so viel Gesicht wie möglich unter seinem Schal versteckt.
    „Danke“, antwortet er und kramt verzweifelt nach einem Taschentuch. Ich seufze. Hibiki ist schon wieder an die hundert Meter entfernt und Tyler ist näher an ihm dran, also mache ich mir nicht die Mühe, hinterher zu joggen. Die letzten fünf Male hat das nämlich auch nicht funktioniert und Aphrodite hat leider vergessen mir mit dem überirdisch guten Aussehen auch noch überirdisch gute Fitness zu verleihen.
    „Immer noch ziemlich krank, hm?“, spreche ich Seth an. Ich habe mich irgendwann damit abgefunden, dass ich früher oder später zumindest versuchen muss, ein normales Gespräch mit ihm zu führen. In zu ignorieren wäre definitiv nicht die beste Idee um eine halbwegs gute Beziehung zu Seth aufzubauen. Auch wenn es wesentlich einfacher und stressfreier wäre.
    Seth nickt langsam und rückt seinen Schal zurecht. Seine roten Augen sind blutunterlaufen, aber zumindest hat er etwas Farbe im Gesicht. Also dem Teil, den ich sehen kann.
    „Wenn ich noch länger zu Hause bleibe, drehe ich durch“, antwortet er und schaut herüber zu seinem Zwillingsbruder, der mittlerweile selbst aussieht wie ein begossener Pudel. Wer hätte gedacht, dass ein Shiba-Inu Welpe so wendig und schwer einzufangen ist?
    Ich überlege, ob ich antworten soll, aber mir fällt nichts ein. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Gespräche mit Seth immer so sein werden. Welch Freude.
    „Hey.“
    Überrascht drehe ich mich um. Für einen kurzen Moment schaut Seth mir in die Augen, dann weicht er meinem Blick aus. Ich sehe, dass er von einem Fuß auf den anderen tritt. Seine Stirn ist gerunzelt. Dann wagt er es doch wieder, mich anzusehen.
    „Sorry.“
    Hä?... Moment
    … Hä?
    „Wofür?“, frage ich irgendwann, nachdem es mir zu blöd wurde einen Fisch mit Schnappatmung nachzumachen.
    Jetzt wird er richtig unruhig. Dreht sich halb herum, fummelt an seinem Schal herum, macht den Mund auf, dann wieder zu. Ich brauche einen Moment um zu erkennen, dass er nicht einen seiner Todesblicke aufgesetzt hat, sondern eher verzweifelt aussieht. Irgendwann stöhnt er leise und hebt einfach seine Hand.
    Ah. Meine gleitet ans Gelenk, wo er mich damals gepackt hat. Die blauen Flecken sind längst verschwunden.
    „Tyler sagte, dass es ziemlich übel ausgesehen hat“, murmelt er und starrt auf mein Handgelenk, als würde er einen offenen Bruch erwarten.
    „So schlimm war es nicht.“ Ich versuche, möglichst locker zu klingen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es mir gelingt.
    „Ich wollte das nicht.“
    „Ist schon okay.“
    „Nein, ist es nicht“, stößt er etwas ungehalten aus. Seth wagt es endlich, mir wieder in die Augen zu sehen. Und dieses Mal sehe ich keine Abneigung darin, sondern… Reue. Was passiert hier gerade eigentlich?
    „Seth“, fange ich an, aber er schüttelt den Kopf.
    „Ich habe Scheiße gebaut.“
    „…Stimmt.“
    Jetzt wird sein Blick wieder etwas genervter, aber genauso wie am Donnerstag kann ich das mit einer permanent laufenden Nase und seiner zumindest halbwegs schuldbewussten Miene irgendwie nicht ernst nehmen. Ich muss etwas grinsen. Er stöhnt gereizt.
    Von weiter weg höre ich Tyler nach Hibiki rufen und wie der Welpe mit einem amüsierten Bellen antwortet. Ich drehe mich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Tyler im nassen Sand ausrutscht und auf allen vieren landet. Der saftige Fluch dahinter ist alles andere als jugendfrei.
    „Mein Angebot steht noch“, wende ich mich dann wieder an Seth. Er schaut mich verwirrt an, also strecke ich meine Hand aus und lächele. „Waffenstillstand?“
    Seine roten Augen blitzen zwischen meiner Hand und meinem Gesicht hin und her. Ich gebe mir größte Mühe, nicht zu angespannt auszusehen.
    Eine gefühlte Unendlichkeit höre ich nur das Rauschen der Wellen und den Wind, der mir um die Ohren pfeift. Seth murmelt etwas, das ich nicht verstehe, aber bevor ich nachfragen kann, zieht er seine Hand aus seiner Jackentasche und ergreift meine. Sie ist ein wenig schwitzig, aber warm.
    Für einen kurzen Moment schaut er mir in die Augen, danach ist der Sand unter unseren Füßen wesentlich interessanter.
    Ich will noch etwas sagen, aber da dringt Tylers Schrei des Triumphes zu uns durch. Er hält Hibiki in beiden Händen über seinem Kopf und sein Blick wirkt schon fast etwas irre.
    Goddammit Ava. Reiß dich zusammen. Sing jetzt nicht König der Löwen! Ruiniere nicht diesen Moment!
    „Schade“, murmelt Seth leise, während Tyler, Hibiki wieder an die Leine legt hat und langsam auf uns zu joggt. „Ich wollte gerade anfangen zu filmen.“
    Für einen Moment schaue ich Seth aus dem Augenwinkel an. Als er meinen Blick bemerkt, erwidert er ihn. Stille.
    „Wenn ich Hibikis Leine nehme, weiß ich wirklich nicht, ob ich ihn lange festhalten kann“, flöte ich leise und unschuldig. Seths Augenbraue zuckt für einen Moment in die Höhe.
    „Du bist ein Monster“, antwortet er tonlos. Wir starren einander in die Augen. Dann schleicht sich nur für den Bruchteil einer Sekunde ein boshaftes Lächeln auf seine Lippen und er zieht sein Handy aus der Jackentasche.
    „Und ich bin das Monster“, raune ich und unterdrücke ein Grinsen, denn Tyler kommt immer näher.
    „Ich hab noch etwas gut“, antwortet Seth und starrt auf sein Display. „Er hat einmal mehr zugeschlagen als ich.“
    „Endlich!“, stöhnt Tyler und kommt atemlos vor uns zu stehen. Seine Hosenbeine sind noch immer klitschnass und an seinen Knien klebt nasser Sand. Die Leine hat er fest in der Hand.
    „Hast ja auch lange genug gebraucht“, murmelt Seth, ist aber zu beschäftigt damit, wild auf seinem Handy herumzutippen.
    „Es wäre schneller gegangen, wenn ihr nicht nur herumgestanden hättet“, erwidert sein Bruder, hat aber scheinbar nicht mehr die Kraft, sonderlich wütend zu sein. Ich bewege mich auf ihn zu und beuge mich zu Hibiki herunter. Der Kleine hechelt und springt von einer Stelle zur nächsten. Dieser Welpe hat scheinbar mehr Energie als wir drei zusammen… Es wäre doch wirklich nicht fair, wenn er die nicht verbrauchen könnte.
    „Was habt ihr überhaupt getan? Löcher in die Luft gestarrt?“, fragt Tyler schwer atmend.
    „Gefroren“, gebe ich zurück.
    „Versucht, nicht an Unterkühlung zu sterben“, ergänzt Seth. Tyler verdreht die Augen, lächelt mir aber zu. Oh man. Es tut mir Leid, Tyler.
    Obwohl. Nein. Tut es nicht. Ich habe noch sehr viel mehr gut, bei den ganzen fiesen Sprüchen, die er mir immer reindrückt.
    „Lass mich Hibiki nehmen“, flöte ich und klimpere ein wenig mit den Augen. „Du bist doch bestimmt erschöpft.“
    Tyler schaut zwischen Seth und mir hin und her, die Stirn leicht gerunzelt. Dann streckt er die Hand mit Hibikis Leine aus. Der kleine Welpe wird noch unruhiger, fast, als würde er ahnen, was gleich passiert. Ich sehe, wie Seth mich aus dem Augenwinkel ansieht und kaum merklich nickt.
    Als er mir das Ende der Leine in die Hand legt, schaut Tyler mir ins Gesicht. Für einen Moment lächelt er.
    Und dann bemerkt er mein Grinsen und sein Lächeln löst sich in Luft auf.


    Tja. Wie sich herausstellte, konnte ich Hibiki wirklich nicht lange halten.
    Hups.





    Benachrichtigungen gehen raus an:


    @Tooru
    @Nivis
    @Jiang
    @Anneliese
    @Sonnkernkriegerin Lu


    Ich bin langsam. Und unzuverlässig.
    Hups.
    Dafür sind es 14 Seiten.
    Hups.

  • Tyler Route


    Chapter 9: The cat in the bag




    „Bist du dir ganz sicher? Es leuchtet wirklich nicht?“
    Aphrodites rosane Augen sind zusammengekniffen. Sie starrt das Hologramm auf unserem Küchentisch an, den Mund angestrengt gespitzt und mit einer unschönen Falte zwischen ihren Brauen. Meine Adoptivgöttin sieht mehr so aus, als würde sie gerade eine Hirn-OP durchführen, statt ihren magischen Spiegel zu befragen.
    „Kein Leuchten.“
    „Kein bisschen? Nicht einmal ein wenig? So… ‚sterbende-Batterie-Level‘-Helligkeit?“
    Sie beugt sich etwas näher an das schwebende Lichtspektakel heran. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber die Adern in ihrem Gehirn sind vermutlich noch näher daran zu platzen als bei ihren ständigen Yoga-Mani- und Pediküren. Und glaubt mir, das hat etwas zu bedeuten.
    „Naja, vielleicht schon. Ein kleines bisschen. Denke ich“, murmelt sie vor sich hin.
    Mir entgleiten allen Gesichtszüge und ich lege meinen Kopf auf die Tischplatte. Wundervoll. All diese Mühe und Nichts ist dabei herausgekommen.
    „Das ist nicht wahr. Du hast doch Fortschritte gemacht. Seth hasst dich immerhin nicht mehr, und zwischen dir und Tyler läuft es ziemlich gut“, höre ich Aphrodite sagen. „Ich meine, klar, körperlich ist nicht mehr viel passiert, aber die Blicke, die er dir zuwirft…“
    Ich schaue gerade noch rechtzeitig auf um zu sehen, wie sie theatralisch die Hand an die Stirn hält und sich mit der anderen Luft zu fächert.
    „Nur nützt mir das rein gar nicht“, grummele ich und fahre mir durch die ungekämmten Haare. „Sein Herz leuchtet nicht. Und ich habe keine Ahnung warum.“
    Für einen kurzen Moment verzieht Aphrodite ihr hübsches Gesicht, dann setzt sie ein geradezu motiviertes Lächeln auf und legt mir ihre perfekt manikürte Hand auf den Arm, den ich dazu benutze, mein Kinn darauf zu stützen. Holztische werden auf Dauer nämlich ziemlich unbequem.
    „Dann tu etwas dagegen!“, stößt sie aus und schlägt ihre freie Hand auf die Tischplatte, so fest, dass mir kurz die Zähne klappern. „Du kannst nicht immer darauf warten, dass etwas passiert. Eigeninitiative, Schätzchen! Greif ihn dir, wenn er nicht von alleine kommt! Selbst ist die Frau!“
    Bevor sie noch weiter abgedroschene Parolen von sich geben kann, halte ich mir lieber die Ohren zu.
    Heute ist Tag 41. Ja. Ich habe soeben beinahe zwanzig Tage in diesem kleinen, imaginären Tagebuch übersprungen. Denn in diesen zwanzig Tagen ist so gut wie nichts geschehen. Und langsam aber sicher werde ich ein wenig nervös.
    Okay, okay. Ich stehe am Abgrund absoluter Panik.
    Die ersten zwanzig Tage meiner Wettzeit habe ich erst alles nur noch schlimmer gemacht und dann wieder auf den Anfangszustand zurückgesetzt. Die nächsten zwanzig habe ich mir größte Mühe gegeben, irgendetwas hinzubekommen, aber nichts ist passiert. Alles stagniert. Ich fühle mich wie auf einer dieser blöden Baby-Achterbahnen, deren einzige Spannung ein Hügel von zwanzig Zentimeter Höhe ist. Die ganze Zeit über bleibst du fest am Boden, und dann, wenn du denkst „Hey, es geht aufwärts, vielleicht wird das hier doch noch etwas spannend!“ holt dich die Realität und die Gravitation wieder ein und du fragst dich, welcher Vollidiot so einen Mist konstruiert hat.
    Und jetzt bleiben mir noch einmal zwanzig, um endlich das auf die Reihe zu bekommen, für das ich eigentlich hier bin. Tyler glücklich machen.
    Als ich Aphrodites warme Hände auf meinen Schultern spüre, nehme ich meine von den Ohren und verrenke mir den Kopf, um zu sehen, was die Göttin der Mode und Fingernägel da hinter meinem Rücken treibt.
    „Das wird schon“, raunt sie mir zu und fährt mir sanft über den Nacken. Ich massiere mir die Schläfen. Ich hoffe es. Ich hoffe einfach, dass es wird. Ich muss ihn doch glücklich machen.
    „Denk einfach an deinen Wunsch.“
    … Richtig.
    Richtig. Mein Wunsch.
    Zurück in mein altes Leben. Zurück zu Hannah und Dad.
    Ich… Ich habe es nicht vergessen. Habe ich nicht. Richtig? Natürlich nicht. Das könnte ich nie vergessen. Alles was ich tue, tue ich doch für Hannah.
    Oder?
    Meine Zähne malträtieren meine Lippen.
    Aphrodite streicht mir übers Haar, ich lehne mich gegen den Stuhlrücken und lege den Kopf in den Nacken. Wir schauen einander in die Augen, eine ganze Weile lang, ohne ein Wort zu sagen. Ich kann ihren Blick nicht deuten, aber das habe ich ohnehin längst aufgegeben. Immer wenn ich dachte, ich wüsste endlich, wie dieses Weib tickt, findet sie eine neue Art, fürchterlich nervig und ätzend zu sein.
    Ein kleines, schelmisches Lächeln schleicht sich auf ihr Elfengesicht, als sie mich wieder an den Schultern packt, dieses Mal etwas fester, und energisch schüttelt, bis ich das Gefühl habe, mein Kopf bricht gleich ab.
    „Keine Zeit für Trübsalblasen, Hun!“, flötet sie mit ihrer vor Zucker triefenden Stimme. „Du musst mir immerhin noch Frühstück machen!“
    Und mit diesen Worten lässt sie mich los, streicht mir noch einmal über den Scheitel und verlässt ein fürchterlich schiefes Liedchen trällernd die Küche in Richtung Wohnzimmer. Für einen kleinen Moment schaue ich ihr hinterher, seufze dann entnervt und mache mich an die Arbeit. Ich schätze, selbst an die nervigste Mitbewohnerin aller Zeiten gewöhnt man sich irgendwann.


    Es ist schon seltsam, wie schnell der Körper sich mit sportlichen Aktivitäten arrangieren kann. Das tägliche Bergsteigen hoch zur Schule zum Beispiel bringt mich nur noch zum japsen und meine Beine wollen sich auch nur noch in sechzig Prozent der Fälle vom Rest des Körper ablösen, vor einigen Wochen bin ich alleine bei dem Gedanken, hier hochzukraxeln, schon kollabiert und das ist, meiner bescheidenen Meinung nach, doch eine ziemliche Verbesserung. Allgemein habe ich mich schnell an das Leben hier gewöhnt. Sicher, es ist ganz anders als in der Großstadt, aber es gibt einige Dinge, die ich durchaus wertschätzen kann. Keine betrunkenen Vollidioten, die nachts Krawall machen. Statt grauer Straßen und Müll an jeder Ecke gibt es hier Bäume und selbst zwischen den Häusern kleine Wiesen. Kein Abgasmief mehr, stattdessen nur noch der Geruch von Salz, der mir manchmal in der Nase prickelt. Mittlerweile kann ich kaum verstehen, warum ich es hier so gehasst habe, als ich angekommen bin. Vielleicht, weil ich Hemsfort selbst damals gar nicht wirklich wahr genommen habe.
    Ha. Damals. Als wäre es schon Jahre her.
    Aber so fühlt es sich an. Fürchterlich weit weg.
    Ein Windstoß treibt mir die Haare aus dem Gesicht und die Gedanken aus dem Kopf. Laub segelt von den Bäumen am Straßenrand herunter auf uns Schüler, die wir den Mount School erklimmen. Ich bin viel zu früh dran, aber ich konnte nicht länger einfach nur zu Hause herumsitzen und warten, konnte ich noch nie. Ich musste irgendetwas tun, um mich abzulenken.
    Ich weiß ja, dass Aphrodite Recht hat. Wenn es von alleine nicht weitergeht, muss ich selbst in Aktion treten. Aber das würde ich niemals in ihrer Gegenwart zugeben, denn dann verlangt sie noch, dass ich für ihren kleinen Rat bezahle, und das sehe ich nicht ein. Sie hat mich schließlich in diesen ganzen Unsinn rein manövriert!
    Dummerweise ist das alles einfacher als gesagt. Seit der tränenreichen Paartherapie der Zwillinge hat Seth tatsächlich keine Todesblicke mehr für mich übrig. Er ist immer noch mürrisch, aber im Vergleich zu vorher geradezu handzahm. In den letzten drei Wochen habe ich Stück für Stück gelernt, mit ihm umzugehen. Ich musste einfach locker bleiben, genauso wie mit Tyler. Nur ich selbst sein. Aber auch das ist einfacher als gesagt. Und am Ende nützt es mir gar nichts, Fortschritte mit Seth zu machen. Sein Herz ist vermutlich genau so hell wie meine Zukunft, aber darauf kommt es nun einmal leider nicht an.
    Wichtig ist nur Tyler. Und es ist verdammt schwer, ein ordentliches, offenes Gespräch mit ihm zu führen, wenn sein Zwilling permanent sarkastische Kommentare loslässt…


    Ich muss es also irgendwie hinbekommen, mal alleine mit Tyler zu sein.
    Aber allein der Gedanke lässt sämtliches Blut aus meinem Gesicht weichen.
    Denn ich bin dummerweise noch immer in diesen Kerl verliebt und das ist etwas, mit dem ich scheinbar partout nicht umgehen kann. Da überlebt man Todesblicke, griechische Göttinnen mit Hand-Gongs und den eigenen Tod, aber der Schwarm sorgt für Totalausfälle im Hirn. Ich stöhne und lasse meine Hände in den Jackentaschen verschwinden. Es ist mittlerweile Ende November und der Sommer hat endgültig gegen den Herbst verloren. Die ersten Schauer und Gewitter suchen die Küste heim, die Temperaturen sinken immer weiter und langsam aber sicher stirbt scheinbar alles Lebende in meiner Umgebung ab. Als wollte die Natur mich daran erinnern, dass ich auch bald so weit bin. Vielen Dank auch.
    Die erste Verliebtheit ist verschwunden. Denke ich. Und obwohl ich echt gerne mehr Zeit mit Tyler- und nur ihm- verbringen würde, macht mich der Gedanke dann doch wieder nervös. Wir haben kein Wort darüber gesprochen, dass wir uns an diesem Freitag vor drei Wochen doch ziemlich nah gekommen sind. Und seit Seth wieder wie ein Schatten an seinem Bruder hängt, hält mich irgendetwas davon ab, mich Tyler auch nur ansatzweise auf weniger als einen Meter zu nähern. Nicht, dass er sich da anders verhält. Und das hat die kleine Stimme in meinem Kopf dazu veranlasst mir eindringlich zuzuflüstern, dass er zu dem Zeitpunkt einfach jemanden zum Reden brauchte, wo er und Seth noch damit beschäftigt waren, einen auf rivalisierende Kriegsherren zu machen. Ich wollte die Stimme in viel zu lauter Musik ertränken, aber scheinbar kann sie lauter schreien als mein Smartphone an Lautstärke zu bieten hat und der Plan ging nicht ganz auf. Dafür werde ich jetzt aber wahrscheinlich fünf Jahre eher taub. Bravo für Ava.


    Es ist etwas seltsam, zur Schule zu gehen, wenn man genau weiß, dass man in zwanzig Tagen in der Unterwelt landen wird. Es ist diese trügerische Gewohnheit, die einem vorgaukelt, dass alles ganz normal ist. Aber nichts ist normal. Rein gar nichts.
    „M-RNA ist quasi das Rezept für ein Protein. Du hast den Anfang des Rezepts, den Mittelteil mit all seinen Zutaten, zusammengestellt aus Dreierpärchen, und das Ende des Rezepts, das durch ein Stop-Codon signalisiert wird“, stoße ich aus und zeichne eine unordentliche Reihe von kleinen, missratenen Boxen auf ein Blatt Papier, als würde das irgendwie helfen, meine Erklärung verständlicher zu machen. Lisa starrt finster auf meine Zeichnung und beißt sich auf der Lippe herum. Bald stehen wieder Klausuren an und die Arme schiebt ziemliche Panik.
    „Aber woher weiß man denn, welches Protein hergestellt werden muss?“, fragt sie und die Verzweiflung in ihrer Stimme bringt mich ein wenig zum Grinsen.
    „Jede Basensequenz, also jeweils drei Basen, codiert eine bestimmte Aminosäure. Stell es dir wie ein Cocktailrezept vor: Drei Zutaten in einer bestimmten Reihenfolge ergeben einen Cocktail. Reihst du viele Cocktails aneinander…“
    „Werde ich betrunken“, grummelt Lisa zurück und mir entkommt ein trockenes Lachen.
    „Das auch, ja.“
    „Ich bräuchte jetzt wirklich einen Drink.“
    „Du bist nicht mal volljährig“, gibt Irene resignierend zu bedenken, die auf Lisas anderer Seite über meinem modernen Kunstwerk hängt.
    „Wenn ich alt genug für so einen Mist bin, bin ich auch alt genug für Alkohol.“
    Dieses Mal muss selbst Irene lachen. Ich lasse mich in meinen Stuhl zurückfallen und strecke alle Glieder von mir. Lisa will gerade zu einer weiteren Frage ansetzen, da läutet die Schulglocke, Herr Haste verabschiedet sich von uns und verschwindet aus dem Klassenzimmer.
    Und genau das meine ich. Schon wieder zwei Stunden rum, in denen ich ganz gewöhnlichen Teenager-Kram mache. Tick Tack, Tick Tack. Langsam verstehe ich, wieso das weiße Kaninchen so eine Panik davor hatte, zu spät zu kommen.
    Wir packen unsere Sachen zusammen und Lisa steckt das Schmierblatt von vorhin ein, für den Fall der Fälle. Charlie wechselt noch ein paar Worte mit Dennis, ich grinse Eve an, die einen fragenden Blick in Lisas Richtung wirft und halte mir zwei Finger an den Kopf, als wolle ich mich erschießen. Irene hält derweil Motivationsreden, um Lisa davon abzuhalten, aus dem Fenster zu springen oder ihre Sorgen in Alkohol zu ertränken. Oder beides. Ein ganz normaler Schultag also.
    Musik steht wieder an, also erklimmen wir die Stufen in die fünfte Etage und ich versuche, dabei nicht ganz so sehr zu hyperventilieren. Charlie und Lisa gehen wie immer voran. Irene ist, wie immer direkt neben mir.
    Ich atme einmal tief ein und dann wieder aus.
    „Hey, kann ich euch etwas fragen?“
    Wir bleiben mitten auf den Stufen stehen, was bei den anderen Schülern für absolute Empörung sorgt, aber ehrlich gesagt kümmert mich das gerade wenig. Ich muss allen Mut, den ich habe, zusammennehmen und mich auf die blöden Scherze vorbereiten, die mit Sicherheit kommen werden.
    „Hau raus“, antwortet Charlie und stemmt breit grinsend ihre Hände in die Hüfte. Lisa Augenbrauen zucken für einen Moment in die Höhe, dann ändert sich ihr gesamter Gesichtsausdruck in den einer sehr, sehr neugierigen Raubkatze. Nur Irene scheint kaum überrascht. Oder vielleicht lässt sie es sich auch einfach nicht anmerken. Wer weiß das schon.
    „Wegen…“, fange ich an, aber paranoid wie ich bin, schaue ich mich erst einmal um, nur für den Fall, dass Zwilling eins und sein lebendig gewordener Schatten plötzlich hinter mir stehen. „Wegen Tyler“, fahre ich dann leise fort.
    Lisas Augen funkeln auf eine Art und Weise, die ich ganz und gar nicht mag. Sie tauscht einen Blick mit Irene und Charlie, packt mich dann am Handgelenk und schleift mich die Treppen hoch. Ich versuche erst gar nicht, großartig zu protestieren.


    „Okay Schwester“, raunt Lisa mir zu, nachdem sie mich in eine etwas abgeschiedenere Ecke des Flures buchsiert hat. „Was gibt’s?“
    „Wenn du mal bei Bio so begeistert wärst“, witzele ich, ernte aber sofort einen tödlichen Blick und belasse es deswegen dabei. Irene, Lisa und Charlie formen einen schönen Halbkreis um mich, sodass ich mir ein wenig vorkomme, als würde man mich verhören. Wer guter und wer böser Cop ist, ist dabei wohl ziemlich klar.
    Oh man, ob das wirklich eine so gute Idee war…
    „Es geht um Seth. Also indirekt“, gebe ich zögerlich zu. Hat ja keinen Zweck. Augen zu und durch. „Die beiden hängen immer zusammen, deswegen habe ich keine Zeit, mal alleine mit Tyler zu reden.“
    Stille. Ihre Augen weiten sich perfekt synchron. Ich würde klatschen, aber das würde das hier noch seltsamer machen, als es ohnehin schon ist.
    „Sag jetzt nicht, dass du Tyler deine unsterbliche Liebe gestehen willst“, gibt Charlie tonlos von sich.
    „Was?“ Ich schüttele verwirrt den Kopf. „Nein, natürlich nicht!“
    „Und ob du das willst“, antwortet Lisa mit einer Mischung aus Aufregung und diabolischer Vorfreude.
    „Nein, verdammt, will ich nicht“, beharre ich. „Ich möchte nur mit ihm reden. Es gibt da etwas, das wir klären müssen, aber es redet sich eben nicht gut, wenn Seth einen auf ausgebrannten, vom Leben enttäuschten Slap-Stick-Comedian macht.“
    Blicke werden getauscht und ich würde mich wirklich nicht wundern, wenn die Köpfe der drei anfangen würden zu rattern und qualmen. Zum Glück bleibt das aus. Ich bezweifle, dass es einfach wäre, den Feuerwehrleuten den Ursprung von all dem Qualm zu erklären.
    „Wie habt ihr das denn bisher gemacht?“, fragt Irene, vernünftig und ruhig wie immer. „Die Zwillinge waren doch immer zusammen. Oder?“
    Ich zögere. Ich kann ihnen jetzt nicht alles erzählen. Das ist immer noch eine Sache zwischen Tyler, Seth und mir und das soll es auch bleiben. Davon abgesehen ist die Fünf-Minuten-Pause viel zu kurz um dieses Telenovela-Drama zu erklären.
    „Es sind… Dinge passiert, dann wurde Seth krank und Tyler und ich waren für eine ganze Weile alleine. Aber jetzt ist er wieder gesund, es sind andere Dinge passiert und- BUM- Peter Pan hat seinen Schatten zurück.“
    „Dinge?“, fragt Charlie genauso langgezogen wie ihr Grinsen breit ist.
    „Dinge“, bestätige ich.
    Und dann kehrt erst einmal Stille ein und das Rattern wird wieder lauter. Ich lehne mich an die Wand und seufze lautlos.
    „Wenn du ihn abfängst?“, versucht Irene es, aber Charlie schüttelt den Kopf.
    „Die gehen doch sogar zu zweit aufs Klo. Einen von denen alleine zu erwischen grenzt an ein Wunder.“
    Leider wahr. Ihre Beziehungskrise hat dieses seltsame Zwillingsband zwischen ihnen nur noch stärker gemacht. Eigentlich würde mich das freuen. Wenn es für mich nur nicht so verdammt umständlich wäre.
    „In dem Fall bleibt dir eigentlich nur eins“, stößt Lisa aus und schaut mir geradezu beängstigend ernst in die Augen. „Du musst ihn einfach bitten, dich alleine zu treffen.“
    „Ja sicher. Einfach“, lache ich trocken.
    „Ja. Einfach“, bestätigt Lisa und Charlie nickt langsam, als hätte sie Erfahrung in solchen Dingen.
    „Du gehst zu ihm hin“, stößt der rothaarige Lockenkopf aus, lehnt sich lässig neben mich gegen die Wand und hebt mit einem süffisanten Lächeln eine Augenbraue. „Und sagst: Hey, Tyler, es gibt da eine Kleinigkeit, die ich dir sagen muss. Aber nur dir. Wir zwei, ganz… allein.“
    Mir entgleiten die Gesichtszüge.
    „Soll ich dazu auch gleich noch Reizwäsche drunter tragen und ihm mit einem Kondom unter der Nase herumwedeln? Wir zwei, ganz allein… Ernsthaft Charlie, manchmal mache ich mir wirklich Sorgen, was in deinem Kopf vorgeht“, murre ich und schlage mir die Hände vors Gesicht. Charlie bricht in schallendes Gelächter aus und spätestens da weiß ich, dass sie einen Heiden-Spaß mit dieser Sache hat.
    „Aber ganz Unrecht haben sie nicht“, spricht Irene mich an. Als ich ihr einen fassungslosen, enttäuschten Blick zuwerfe, läuft sie etwas rot an und schüttelt schnell den Kopf. „So sollst du natürlich nicht fragen. Aber wenn du ihn nicht darum bittest, dich alleine zu treffen, dann weiß er doch gar nicht, dass du das willst.“
    Stimmt auch wieder.
    Gott, ich hasse es, wenn Irene recht hat.
    „Augen zu und durch, Ava“, ermutigt Lisa mich. Wäre sie dazu fähig, ihre schadenfrohe Vorfreude versteckt zu halten, wäre ich vielleicht tatsächlich ein wenig ermutigt.
    „Wir planen derweil schon einmal eure Flitterwochen“, grinst Charlie und legt mir den Arm um den Hals. Ich werfe ihr einen eindeutig gereizten Blick zu, aber natürlich werde ich nicht ernst genommen. So wie immer.
    Gottverdammt.

    Ich bin vor den Zwillingen im Garten und lasse mich aufs nasse Gras fallen. Zum Glück ich meine Jacke so lang, dass mein Hintern trocken bleibt.
    Überall um mich herum liegt Laub verstreut, rot und gelb und braun, die Äste über mir werden zunehmend kahler und Wind fegt durchs Gebüsch. Langsam aber sicher wird es zu kalt, um hier draußen herumzusitzen.
    „Och ne, nicht die schon wieder“, höre ich vom Tor und muss beinahe automatisch mit den Augen rollen.
    Tyler und Seth kommen zu mir herüber. Mittlerweile hat es sich so eingebürgert, dass die beiden mich flankieren. Bei Tyler kann ich es noch verstehen, aber warum Seth sich nicht neben seinen Bruder setzt ist mir immer noch schleierhaft. Fragen will ich ehrlich gesagt aber auch nicht.
    „Wie immer eine Freude, dich zu sehen“, antworte ich und meine Stimme trieft vor Sarkasmus. Ich höre Seth schnauben und Tyler schmunzelt ein wenig. Wir schauen uns für einen Moment in die Augen, aber das war‘s auch schon. Der christliche Abstand von einem guten halben Meter zwischen uns bleibt. Selbst Seth rückt mir näher auf die Pelle. Ich unterdrücke ein resignierendes Stöhnen.


    „Was, etwa Angst vor ein bisschen Kälte?“, stößt Seth aus und mustert mich überlegen. „Pussy.“
    „Ich will ja nur nicht, dass du erkältest und wieder einen auf Wenn ich groß bin werde ich ein Schmetterling machst“, gebe ich betont gleichgültig zurück. Seth sieht deutlich ertappt aus und ich grinse triumphierend.
    „Seth wäre sicher ein niedlicher, kleiner Schmetterling“, pflichtet Tyler in einem Tonfall bei, als würde er mit einem Baby sprechen.
    „Aber ziemlich sicher giftig“, stoße ich aus.
    „Definitiv giftig.“
    „Verdammt, könntet ihr mal aufhören, euch ständig gegen mich zu verbünden?“, grummelt Seth, aber wie er es sagt macht klar, dass er es nicht wirklich so meint. Zumindest nicht in einem „Ich werde sonst wieder eifersüchtig und erkläre Avaland den Krieg“-Sinne.
    „Wir könnten in den Oberstufenraum gehen“, lenkt Tyler das Thema dann wieder zurück auf die Spur. „Da sind im Normalfall nicht so viele Leute.“
    „Und selbst wenn, wir drohen ihnen einfach mit Folter, dann hauen die schon ab.“ Seth zuckt mit einem fiesen Grinsen die Schultern.
    „Gute Idee“, antworte ich trocken. „Ich bring die Bohrmaschine und die Zange mit.“
    „Wir wollen ihnen nur drohen, Ava.“
    „Schon klar, aber wir müssen schon irgendwie überzeugend wirken.“
    Die Zwillinge tauschen einen kurzen Blick und grinsen dann breit.
    „Ich weiß, wen ich niemals aus den Augen lassen werde“, schmunzelt Tyler.
    „Wie sind wir an diesen Psycho geraten?“, fragt Seth kopfschüttelnd.
    Ich hebe eine Augenbraue und lächele schief. „Wer im Glashaus sitzt…“
    Danach verfallen wir erst einmal in Schweigen. Ich weiß, eigentlich ist das hier genau das, was ich nicht wollte. Ich hatte mir fest vorgenommen, aktiv zu werden und etwas zu tun. Aber am Ende habe ich mich einfach wieder in ein Gespräch verwickeln lassen. Ich kann nichts dagegen tun.
    Und… Es macht einfach Spaß, hier zu sitzen und mir Wortduelle mit Seth und Tyler zu liefern. Manchmal schließen sich die Zwillinge gegen mich zusammen, manchmal ärgern Seth und ich Tyler, aber meist sind Tyler und ich es, die den pensionierten Bluthund auf den Arm nehmen.
    Es ist seltsam entspannend, nicht groß darauf achten zu müssen, was ich sage, einfach das zu tun, was ich will. Hätte ich das mit meinen alten Klassenkameraden gemacht… Ich glaube, die hätten mich schon zehn Mal in die Klapse einliefern lassen. Ich fühle mich wohl. Und das ist etwas, was ich nach all den Problemen in letzter Zeit niemals erwartet hätte.
    Ich schätze, für heute reicht mir das. Am Montag werde ich mein Glück versuchen. Heute möchte ich einfach nur Seth aufziehen und mich beleidigen lassen, so seltsam das auch klingen mag.
    „Ah“, stößt Tyler irgendwann in die Stille aus. Als ich mich zu ihm herumdrehe, kramt er konzentriert in seiner Tasche. Ich schaue fragend zu Seth herüber, aber der tut so, als würde er mich gar nicht bemerken. „Fast vergessen. Da ist es.“
    Tyler zieht einen Umschlag zwischen seinen Büchern hervor und streckt ihn mir entgegen. Verwirrt schaue ich zwischen dem weißen Rechteck in seiner Hand und seinem Gesicht hin und her, das seltsam gespannt aussieht.
    „Tyler, Liebesbriefe sind sowas von 18. Jahrhundert“, näsele ich gespielt arrogant, aber er reagiert gar nicht darauf. Seltsam. Normalerweise würde er mir jetzt eine fiese Antwort reindrücken, ich würde vergeblich versuchen, ihn mit bösen Blicken zum Schlottern zu bringen und dann auf Schläge ausweichen, die sich für ihn vermutlich anfühlen wie Wattebällchen.
    Ich nehme den Umschlag an mich und ziehe ein gefaltetes Blatt Papier heraus, das schon leichte Falten hat.


    Sehr geehrter Herr Preston,


    wir danken Ihnen vielmals für Ihr Interesse an einer Praktikumsstelle in unserem Betrieb. Gerne würden wir Sie zu einem Gespräch einladen, um Sie besser kennen zu lernen und-
    Blah blah blah blah.
    Bitte kontaktieren Sie mich unter folgender Telefonnummer, um einen Termin mit mir zu vereinbaren.
    Blah blah blah.
    Fasel Fasel Fasel.
    Terra Nova Tier-Park Callburry



    Moment.
    „Ist das, was ich denke, was es ist?“, höre ich mich selbst fragen und lese den Brief sicherheitshalber gleich noch einmal durch.
    Ein breites Grinsen schleicht sich auf Tylers Gesicht und mit einem Male sieht er so stolz aus, als hätte er gerade erfolgreich Gemüse geschnitten.
    „Du hast dich wirklich beworben?“, frage ich und kann nicht anders, als selbst etwas aufgeregt zu werden. Tyler nickt triumphierend.
    „Morgen ist das Gespräch mit dem leitenden Tierpfleger. Scheint ein ziemlich cooler Kerl zu sein.“
    „Krass“, stoße ich aus und lächele so breit wie schon lange nicht mehr. „Das ist ja super! Ich drücke dir die Daumen!“ Und das meine ich ernst. Wir sind nie wieder auf das Thema zu sprechen gekommen, deswegen bin ich davon ausgegangen, dass er die Idee mit dem Praktikum einfach verworfen hat. Aber dass er tatsächlich auf mich gehört hat… Ich weiß, dass es ziemlich idiotisch ist, aber gerade werde ich selbst etwas stolz auf ihn. Und wenn ich ihn so grinsen sehe…
    Ach verdammt.
    Ich beuge mich zu Tyler herüber und umarme ihn. Für einen Moment bleibt er steif wie ein Brett, dann legt er seine Arme um meinen Rücken. Ich spüre sein Herz klopfen und seine Körperwärme…
    Aber selbst jetzt merke ich genau, dass… Ich weiß es nicht. Es fühlt sich einfach seltsam an. Ganz anders als die Umarmung vor drei Wochen. Irgendwie… steif und förmlich.
    Als ich mich von ihm löse, verfallen wir wieder in Schweigen. Er grinst immer noch, aber sein Blick liegt dabei nur auf dem Brief in seiner Hand, den er vorsichtig wieder in den Umschlag packt und ihn dann zurück in seine Tasche steckt, als wäre es ein antikes, atlantisches Artefakt und keine Zusage zu einem Vorstellungsgespräch.
    „Hast du nicht noch was vergessen?“, höre ich Seth dann irgendwann hinter mir sagen, aber als ich über meine Schulter schaue, ist das vertrocknete Blatt, dass er in kleine Bestandteile zerzupft das Interessanteste im Umkreis von zweihundert Metern. Für einen kleinen Augenblick schaut Tyler seinen Bruder geradezu verwirrt an, dann trifft ihn die Erleuchtung und er wendet sich wieder mir zu.
    „Richtig. Hast du morgen schon was vor?“ So wie er es sagt, klingt es beinahe beiläufig. Als wäre es nicht wirklich wichtig.
    „Nicht wirklich, nein“, antworte ich.
    „Gut, willst du dann mitkommen?“
    „Hä?“, stoße ich selten intelligent aus. Seth stöhnt genervt.
    „Was mein Bruder sagen will ist folgendes: Mum hat aus dem Vorstellungsgespräch morgen direkt einen ganzen Tag im Tierpark gemacht, weil es ja eine so tolle Gelegenheit ist, noch einmal etwas Zeit mit ihren geliebten Söhnen zu verbringen, und weil sie einen Narren an dir gefressen hat und der Meinung ist, dass du das beste bist, was uns je geschehen konnte, will sich dich auch direkt mit dabei haben.“
    „Äh…Okay“, höre ich mich tonlos antworten, denn ich brauche einen Moment, bis mein glorreiches Gehirn den Sarkasmus herausgefiltert hat und nur die wichtigsten Informationen übrig bleiben.
    „Sag einfach ja“, stößt Seth aus und fährt sich mit deutlich geschlagenem Blick durch die Haare. „Wenn sich Mum etwas in den Kopf gesetzt hat, dann gibt es kein Entkommen.“
    „Okay“, wiederhole ich noch immer etwas verwirrt. „Sicher. Klar. Gerne.“
    Denke ich.


    Und so, liebe Kinder, trug es sich zu, dass ich, Ava Hale, Untote und vorrübergehende Adoptivtochter der Göttin der Liebe, zusammen mit meinem Schwarm, seinem Raupen-Bluthund-Zwillingsbruder und deren Mutter zu einem Tierpark fahre.
    Seltsam? Definitiv.
    Hilfreich? Ähm…
    „Das ist nicht wirklich meine Definition von einem perfekten ersten Date, aber…“ Aphrodite lässt den Rest des Satzes in der Luft hängen, gibt sich aber größte Mühe, ihr Lachen irgendwie zu unterdrücken. „Es ist ein Anfang, schätze ich?“
    Ich werfe ihr einen eindeutig frustrierten Blick zu und das bricht bei ihr scheinbar den Damm der eisernen Zurückhaltung. Ihre Gabel landet scheppernd auf ihrem Teller, auf dem sich Teigtaschen im Salzmantel türmen und sie lacht schallend.
    Nicht hilfreich. Definitiv nicht hilfreich.
    Ich stöhne und lasse die Pfanne ins Spülbecken fallen. Wundervoll. Mir ist erst im Laufe des Tages klar geworden, wie bescheuert die Situation morgen sein wird. Zwischen mir und Tyler herrscht auf romantischer Ebene absolute Funkstille und sein Interesse an mir scheint in etwa meinem an lokalen Bingoturnieren gleich zu kommen. Ich kann mir morgen nicht einmal Wortduelle mit Seth liefern, weil Leah mit dabei ist, die ihre Jungs immer sofort scharf ermahnt, wenn sie auch nur etwas fieses denken, und einseitig macht sowas einfach keinen Spaß. Das wird einfach eine absolute Null-Nummer, ich weiß es jetzt schon.
    „Hey, du weißt doch noch gar nicht, was passiert. Vielleicht wird es doch besser, als du denkst“, versucht Aphrodite es, aber das krampfhaft unterdrückte Kichern hilft nicht wirklich, sie auch nur ansatzweise überzeugend klingen zu lassen.
    „Alles geht den Bach runter“, murre ich.
    „Na, na“, stößt meine Adoptivgöttin aus. „Nicht alles. Deine Kochkünste zum Beispiel werden von Tag zu Tag besser.“
    Nicht. Hilfreich.
    Sie lässt ein undamenhaftes Grunzen hören und vergräbt sich dann zurück in ihr Abendessen.
    Gottverdammt.
    Zumindest kann ich mich mit Leah unterhalten. Und ich war schon seit Jahren nicht mehr im Zoo, also kann ich mich immerhin darauf freuen?
    Woop-di-fucking-do.


    Am Samstag-Morgen gebe ich dann tatsächlich einige meiner hart erarbeiteten Punkte aus, damit Aphrodite mir das perfekte Outfit fürs merkwürdigste erste Date zusammenstellt und ihren Götterfreunden sagt, dass heute bitte die Sonne scheint und es gutes Wetter sein wird. Keine Ahnung, wie genau sich das mit den Wettervorhersagen der örtlichen Meteorologen vereinbaren lässt, aber ich habe wirklich keine Lust darauf, im Regen durch einen Tierpark zu laufen. Sollen sie es halt unter Wunder verbuchen, interessiert mich nicht.
    „Strick ist diesen Herbst sehr angesagt“, murmelt Aphrodite vor sich hin und zieht immer mehr Kleidungsstücke aus meinem Schrank von denen ich mit Sicherheit weiß, dass die vorher noch nicht drin gewesen sind. „Mit einem netten Rock und… Ja, das sollte gehen. Ha! Ich bin ein Genie!“
    Kein Kommentar.
    „Willst du, dass Tyler und alle Kerle im Umkreis von einem Kilometer dir verfallen, oder nicht?“, fragte Aphrodite mich und rümpft die Nase.
    „Jaaaaa“, stoße ich langgezogen, aber nicht ganz ohne Widerwillen aus.
    „Dann hör auf zu jammern und zieh das hier an!“
    Ich muss leider zugeben, dass meine Adoptivgöttin einen ziemlich guten Riecher für Mode hat. Vielleicht sollten sie ihren Posten im Liebes-Department räumen und stattdessen ins Fashion-Department überwechseln, das liegt ihr mehr.
    Sie hatte mich in eine weiße Bluse mit perlenbesetzten Peter-Pan-Kragen gesteckt, einen High-Waist-Faltenrock in einer Farbe, die sie als Burgunderrot bezeichnete, schwarze Nylonstrumpfhosen und darüber schwarze Kniestrümpfe, was wesentlich besser aussieht, als es klingt, Ankleboots mit leichtem Absatz und eine weite, grob gestrickte Jacke in Olivegrün, die so lange Ärmel hatte, dass ich meine Hände darin verstecken konnte, was ich immer begrüße, weil man damit so gut einen auf T-Rex machen kann. Ich zitiere hier nur, fragt mich also nicht nach weiteren Details, ich hab keine Ahnung.
    Jedenfalls sah ich ziemlich gut aus, würde ich mal behaupten, allerdings könnte man in diesem Körper vermutlich auch einen Kartoffelsack tragen und keinen würde es stören.
    Ob ich dieses Aussehen behalten kann, wenn ich in mein altes Leben zurückkehre? So als kleine Entschädigung für den ganzen Bullshit, den ich hier ertragen muss?
    „Bring erst mal dieses kleine Familien-Date hinter dir, dann reden wir weiter“, raunt Aphrodite mir ins Ohr, während sie mir eine fürchterlich komplizierte Flechtfrisur auf den Kopf zaubert. Im Spiegel sehe ich, wie diabolisch sie grinst.
    Memo an mich selbst: Niemals in eine WG ziehen.


    Pünktlich um halb elf klingelt es an der Tür. Ich packe meine Tasche und einen Beutel mit einer Tupperdose voll Sandwiches und Muffins, die ich mehr gemacht habe, um mich von meinem Leid abzulenken, als aus Rücksicht und Freundlichkeit, schmeiße der grinsenden Aphrodite innerlich noch ein paar letzte, nicht jugendfreie Schimpfwörter an den Kopf und öffne dann die Eingangstür. Komischerweise stehen weder Tyler noch Seth davor, sondern Leah, die karamellfarbenen Haare in einem unordentlichen Dutt zusammengesteckt, der jeden Moment implodieren könnte, aber so freundlich und ehrlich lächelnd, dass meine Frustration verfliegt. Zumindest zu einem Großteil.
    „Ava!“, stößt Leah aus und bevor ich mich versehe, zieht sich mich in eine herzliche Umarmung.
    Okay gut. In ihrer Gegenwart kann ich wirklich nicht schlecht drauf sein.
    „Guten Morgen“, antworte ich und lasse mich etwas peinlich berührt lächelnd von oben bis unten begutachten.
    „Schick, schick! Du siehst ja fast so aus, als wolltest du jemanden beeindrucken“, stößt sie aus und zwinkert mir wissend zu. Ich lächele schief und versuche mit bloßer Willenskraft zu verhindern, dass ich rot anlaufe. Mit mäßigem Erfolg.
    Ich schließe die Türe hinter mir und folge Leah zu einem recht massiven, schwarzen Wagen, den ich ihr so echt nicht zugetraut hätte. Sie deutet auf den Beifahrersitz, öffnet die Fahrertür und muss regelrecht auf den Sitz klettern, was mich doch etwas zum kichern bringt. Die Scheiben der Rücksitze sind dunkel gefärbt, deswegen kann ich nicht durchsehen, also tue ich einfach wie mir geheißen und gehe herüber zur Beifahrertür. Als ich sie öffne, sehe ich Tyler und Seth auf den Rücksitzen, ersterer trägt ein dunkelblaues Hemd und schwarze Jeans und ist tief versunken in einem Hefter, in den er beinahe Löcher herein brennt, so angestrengt starrt er ihn an. Ich hebe eine Augenbraue und werfe einen fragenden Blick zu Seth herüber, der mit den Augen rollt und abwinkt.
    „Er tut so, als würde er einen Vortrag vor dem europäischen Sicherheitsrat halten, der entscheidet ob die Welt untergeht oder nicht“, schnaubt der Bluthund, während ich mich auf den Beifahrersitz kämpfe. Warum zur Hölle gibt es so große Autos? Denkt denn niemand an uns kleine Menschen? Ein Skandal, sage ich euch!
    Leah beobachtet Tyler für einen Moment mit zusammengekniffenen Augen über den Rückspiegel, dann wendet sie sich wieder mir zu und lächelt mich entschuldigend an.
    „Offenbar hat mein Sohn zusammen mit seiner Zunge auch seine Manieren verschluckt. Entschuldige, Ava.“
    Oha. Ich glaube, selbst Aphrodite wäre von einem so scharfen Unterton ziemlich beeindruckt.
    Tyler wohl nicht. Der bekommt nämlich absolut nichts mit.
    Wundervolles Vorzeichen für den Tag. Jippieh.
    Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Seth seinem Bruder einen ordentlichen Schlag gegen den Arm versetzt, was der erst Mal mit einem saftigen Fluch quittiert. Dann erschließt sich ihm offenbar, dass irgendetwas in diesem Auto anders ist. In Gedanken zähle ich die Sekunden.
    Vier. Fünf. Sechs. Sie-
    „Ah, guten Morgen, Ava.“
    „Dir auch einen guten Morgen, Tyler“, stoße ich süßlich aus, sehe es aber gar nicht ein, mich umzudrehen. Strafe muss sein. Das macht man sich extra schick, und er tauscht geradezu liebevolle Blicke mit ein paar Blättern Papier. Skandal, sage ich, Skandal!


    Die Fahrt wird zumindest nicht langweilig. Klar, Tyler beteiligt sich rein gar nicht an unserem Gespräch, denn er liebäugelt immer noch die Unterlagen für sein Bewerbungsgespräch, aber Seth ist erstaunlich gesprächig und sogar relativ freundlich, was vielleicht auch an seiner Mutter liegen mag, die jedes Wort mithört, immer bereit die verbale Peitsche herauszuholen.
    „Du siehst wirklich toll aus, Ava“, versichert mir Leah jetzt schon zum dritten Mal und zum dritten Mal bedanke ich mich artig und versuche nicht ganz so unbehaglich drein zu schauen. In der Zwischenzeit blättere ich durch einen Flyer, den Seth seinem Bruder abgeluchst und mir gegeben hatte. Der Terra Nova Tierpark ist etwa zwanzig Minuten von Hemsfort entfernt und etwas außerhalb der Nachbarstadt Callburry. Dazu ist das Ding gigantisch und beherbergt Tierarten, von denen ich noch nie etwas gehört habe, was vielleicht auch keine große Kunst ist, immerhin hatte der Zoo in meiner alten Stadt die Größe von einem Einkaufscenter und wirklich nur das nötigste an Tieren. Und auch nur den nötigsten Platz für diese, was auch der Grund ist, warum ich dort nie gerne hingegangen bin. Denn mir anzuschauen, wie zehn Esel auf der Fläche eines Volleyballfeldes graues Heu mampfen gehörte wirklich nicht zu meinen liebsten Hobbies.
    Der Flyer vom Tierpark dagegen verspricht eine regelrechte Safari. Riesige Vogelgehege, eine eigene, kleine Insel für diese niedlichen kleinen Äffchen, die einem alles aus den Taschen ziehen was nicht festgemacht ist, wenn man gerade nicht hinsieht, Löwen, Giraffen, selbst Pandas… Ich gebe es ja nur ungern zu, aber je mehr ich in diesem Flyer lese, desto mehr freue ich mich auf diesen kleinen Ausflug. Aphrodites Götterfreunde haben auch Wort gehalten, die Sonne steht hoch am Himmel und kein Wind rührt sich, die Anzeige im Bordcomputer –ist eine ziemliche Luxuskarre, dieser halbe Geländewagen- verspricht schnuckelige 15 Grad Celsius, und die Sonne hilft kräftig mit. Ein wenig erinnert mich diese ganze Sache hier an einen schönen Familienausflug. So einen habe ich auch schon Jahre lang nicht mehr gemacht…


    Und Junge, oh Junge, dieser Park ist echt eine ganz andere Nummer als der Mikrobenzoo in meiner Heimatstadt. Nachdem wir unsere Eintrittskarten bezahlt haben- Leah bestand darauf, mich einzuladen und drohte mir sogar, mich ins Auto einzusperren, wenn ich ablehnte- folgen wir jetzt einem ziemlich langen Weg, der so noch gar nicht nach Tierpark aussieht. Ich laufe neben der junggeblieben Mutter her, hinter uns gehen Tyler und Seth, wobei letzterer seinen Zwilling am Arm gepackt hält und durch die Gegend führt, weil ersterer scheinbar noch immer Hochzeit mit seinen Dokumenten plant.
    Der Weg ist gesäumt von Palmengewächsen, Büschen und kleinen Blumen, ein Bach fließt erst neben uns her, dann unter einer Brücke hindurch in ein Loch im kleinen Berg links von uns. Irgendwann öffnet sich das Gestein dann und wir folgen dem Weg in den Tunnel hinein. Die Felswände glitzern vor Feuchtigkeit und bunte Strahler projizieren Schemen an die Wände. Von der Decke hängen tropfende Stalaktiten und jeder Schritt hallt wieder. Ich höre Tyler murren, dass er in dieser blöden Dunkelheit nichts entziffern kann, gefolgt von einem kleinen Fluch, als Seth ihn genervt weiterzieht und muss etwas grinsen. Leah neben mir lächelt selig, wenn auch etwas resignierend.
    Das hier erinnert mich tatsächlich an einen Ausflug, den ich mit meiner Familie gemacht habe, als ich sechs war, vielleicht auch sieben, kurz, bevor meine Eltern sich scheiden ließen. Dad trug Hannah auf seinen Schultern und ich lief neben meiner Mutter her, umklammerte ihre Hand, weil wir durch einen stockfinsteren Verbindungstunnel mussten, um zum anderen Teil des Parks zu kommen. Dad machte bescheuerte Knurrgeräusche, um uns zu erschrecken, aber Hannah kicherte nur wie eine Blöde, während ich mir beinahe in die Hose machte. Als Mum mich dann von hinten packte, hatte ich beinahe einen Herzinfarkt und dachte, dass ich jetzt endgültig das Zeitliche segnen würde. Heulend wie ein kleines Kind, das ich technisch gesehen damals ja auch noch war, weigerte ich mich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Erst, als Hannah mich lachend umarmte strauchelten wir dann Arm in Arm aus dem Tunnel heraus. „Eine mutige, kleine Schwester hast du, Ava“, sagte Dad, daran erinnere ich mich noch.
    Ja, Hannah ist schon immer mutiger gewesen als ich.


    Viel Zeit, um uns die Tiere anzuschauen, blieb uns zuerst nicht. Tyler musste zu einem Büro quer am anderen Ende des Parks und wollte auf gar keinen Fall zu spät kommen, also trieb er uns vorbei an den Nilpferden, die träge im grünlichen Wasser herumtrieben und uns beobachteten als wir vorbeikamen, vorbei an dem gigantischen Vogelkäfig, in dem sich einige Menschen die Fütterung ansahen, und vorbei an einem Gehege mit den wohl gigantischsten und flauschigsten Hasen, die ich in meinem Leben je gesehen hatte. Von all den anderen Tieren, die wir durch ihn verpassten, mal ganz abgesehen.
    Eine Viertelstunde vor dem Termin kamen wir an der Verwaltung an. Tyler sprach kurz mit jemandem am Eingang, sagte uns dann, dass wir schon mal vorgehen sollen und er anrufen würde, sobald er fertig war und verschwand dann spurlos. Leah, Seth und ich standen für einen Moment planlos in der Gegend herum, dann zuckte die Mutter ihre Schultern und sagte: „Okay, dann schauen wir uns doch mal um, was?“

    „Gott, sind die niedlich!“, stößt Leah aus und drückt ihr Gesicht förmlich gegen die Scheibe zum Gehege der roten Pandas. Nicht, dass ich es ihr verübeln könnte. Ich würde das gleiche machen, wenn Seth nicht neben uns stehen und die Augen rollen würde. Das könnte ich mir sonst nämlich auf ewig anhören.
    Aber Gott, diese Tiere sind wirklich schrecklich niedlich. Einer von ihnen sitzt halb zusammengerollt in einer Astgabelung und beobachtet uns genauso neugierig wie wir ihn. Ich weiß zwar nicht genau, warum diese Tiere Panda in ihrem Namen haben, aber gut. Für mich sehen sie eher wie eine Mischung aus Fuchs, Welpe und Teddybär aus
    „Ja, ja, niedlich und so. Können wir jetzt endlich zu den Reptilien? Wir stehen hier schon seit Stunden“, murrt Seth. Leah verzieht das Gesicht.
    „Ich werde nie verstehen, was manche Menschen an Reptilien so interessant finden“, raunt sie mir zu und schüttelt sich schon fast vor Ekel.
    „Musst ja nicht mitkommen“, sagt ihr Sohn und zuckt mit den Schultern.
    „Oh Gott, danke. Geht ihr ruhig. Ich warte hier.“ Und mit diesen Worten wendet sie sich wieder den Pandas zu und lächelt selig.


    Das Reptilienhaus ist nur einen Katzensprung entfernt. Seth geht zwei Schritte voraus, zieht die Tür auf und bedeutet mir, reinzugehen.
    „Oha“, stoße ich beinahe geschockt aus. „Machst du heute einen auf Gentleman?“
    „Geh einfach rein“, grummelt er, aber ich sehe genau, wie seine Ohren leicht rot anlaufen. Ich mache einen übertriebenen Knicks und schlüpfe durch die Tür.
    Innen muss ich erst einmal tief einatmen, denn die Wärme in diesem Gebäude ist im ersten Moment ziemlich erdrückend. An den Wänden reihen sich Terrarien um Terrarien, an den großen Glasscheiben tummeln sich andere Besucher. Seth verzieht das Gesicht, als er hinter sich die Tür schließt.
    „Warm“, stößt er grunzend aus.
    „Und feucht“, ergänze ich genauso begeistert. Aber so sind Reptilienhäuser nun einmal.
    Der erste Kasten ist voll mit leuchtend grünen Pflanzen und Blättern, kleinen Blumen und Stöcken und der Boden ist bedeckt mit Wasser. Das Schild über der Glasscheibe zeigt drei verschiedene, bunte Frösche, aber zumindest auf den ersten Blick kann ich im Terrarium nichts sehen.
    „Ist das Ding leer?“, fragt Seth und runzelt die Stirn.
    „Glaube ich nicht. Die sind vermutlich nur gut getarnt.“
    Seth stößt ein langgezogenes Hm aus und kommt der Glasscheibe jetzt beinahe so nah wie seine Mutter. Ich lehne mich neben ihn, aber das scheint er kaum zu bemerken. Fast schon systematisch arbeite ich mich von oben nach unten durch, aber egal, wie angestrengt ich schaue, ich kann einfach keinen-
    „Unter dem Blatt!“, stößt Seth aus und deutet auf die linke Ecke des Terrariums. Ich kneife die Augen zusammen, aber irgendwie hat dieses Blatt für mich ziemlich wenig Ähnlichkeit mit einem Frosch. Vielleicht, wenn ich aus einem anderen Blickwinkel schaue?
    Aha. Tatsächlich. Ich weiß nicht, wie dieser Frosch dieses kleine Kunstwerk vollbringt, aber er hängt tatsächlich kopfüber an der Unterseite des Blattes und spuckt der Gravitation wortwörtlich ins Gesicht.
    „Wie hält der sich bitte daran fest?“, stoße ich grinsend aus. Frogman, Frogman, tut was immer ein Frogman tut.
    „Keine Ahnung. Saugnäpfe?“, schlägt Seth vor, sieht aber auch nicht wirklich überzeugt aus. Von meinem Blickwinkel aus kann ich seine Beine nicht wirklich sehen. Wenn ich noch ein Stück näher-
    Als eine Strähne meines Haares seine Wange streift, springt Seth förmlich einen Meter in die Luft, was mich wiederrum so erschreckt, dass ich mit der Frau hinter mir zusammenstoße. Ich entschuldige mich schnell und schaue dann wieder zu Seth herüber, der aussieht, als hätte ihm gerade jemand einen Schlag ins Gesicht verpasst.
    „So schlimm bin ich auch nicht, danke“, grummele ich, aber er reagiert gar nicht darauf. Seth begnügt sich damit, mich anzuschauen wie eine besonders interessante, wenn auch ziemlich eklige Spinne. Wenn ich nicht sehen würde, wie knallrot er anläuft, wäre ich wirklich beleidigt. So weiß ich sofort, dass nur seine Teenagerhormone außer Kontrolle sind, und das macht es etwas erträglicher.
    „Pass auf, dir platzt gleich der Schädel“, sage ich betont gleichgültig, muss mich dann aber umdrehen, bevor ich mein breites Grinsen nicht mehr unterdrücken kann. Tyler und Seth sind sich in manchen Aspekten wohl doch ähnlicher, als ich dachte.
    Ohne auf Seth zu warten, schlendere ich auf die andere Seite des Raumes, rüber zum größten Terrarium. Das Schild über der beinahe deckenhohen Glasscheibe zeigt ein Bild einer Schlange, aber dieses Mal fällt es mir nicht sonderlich schwer, das Tier zu finden. Und Gott, was bin ich froh, dass wir diese Glasscheibe zwischen uns haben.
    Versteht mich nicht falsch, ich habe an sich nicht gegen Schlangen. Die Viecher sind verdammt interessant. Aber eine Anakonda von der Größe muss ich wirklich nicht in direkter Nähe haben. Ihr Kopf liegt auf einem kleinen Baumstamm am rechten Ende des Terrariums, der Körper schlängelt sich einmal rund um den Stamm herum, versinkt dann in dem Wasserbecken, das in der Mitte eingelassen ist, bildet da eine kleine Spirale und kommt am linken Beckenrand wieder heraus, wo sie zwischen Blättern und Ästen verschwindet. Ich bin eine miserable Schätzerin, aber drei Meter ist dieses Ding mit Sicherheit lang.
    „Krass“, höre ich mich selbst raunen.
    „Angst?“ Ich weiß nicht genau, wann Seth zu mir gestoßen ist, aber seine Gesichtsfarbe ist wieder etwas gesünder und er starrt geradezu hypnotisiert zum Kopf der Anakonda herüber, die vollkommen still in ihrem Gehege liegt. Vermutlich findet sie es genauso interessant, die komischen Wesen vor ihrer Scheibe zu beobachten, die ihre Nasen daran pressen, wie wir sie.
    „Nicht direkt“, gebe ich zurück. „Schlangen an sich sind cool, aber so eine müsste ich nicht unbedingt auf dem Arm halten.“
    Ich höre Seth trocken lachen.
    „Würde ich dir auch nicht empfehlen. Die zerquetscht dich, bevor du Boa sagen kannst.“ Er verschränkt seine Arme vor der Brust und spielt dabei an den Knöpfen seiner Jacke herum, aber sein Blick haftet immer noch so fest auf der Schlange wie die Füße des Frosches an seinem Blatt.
    „Immer noch eine bessere Liebesgeschichte als Twilight“, stoße ich breit grinsend aus, während Seth nur mit den Augen rollt.
    „Mich wundert es immer noch, dass du dich überhaupt hier reintraust“, gibt er irgendwann zurück. „Bin fest davon ausgegangen, dass unser kleines Prinzesschen schreiend wegrennt.“
    Ich werfe ihm einen eindeutigen Blick zu, eine Mischung aus „Dein Ernst?“ und „Ne, ist klar“, mit einer Prise gespieltem Ärger, aber er ist unbeeindruckt. So wie immer. Ich muss wirklich an meinen Blicken arbeiten…
    „Ich habe letztes Jahr in Biologie einen Fisch seziert“, antworte ich. „Mich kann nichts mehr schocken.“
    Seth rote Augen weiten sich ein wenig und er dreht sich zu mir um.
    „Einen Fisch?“
    „Einen Fisch.“
    „Krass.“ Dass er leicht grinst, so als würde ihm die Vorstellung gefallen, selbst mal einen Lachs zu filetieren, entgeht mir nicht. Keine Ahnung, ob ich das gut finden soll oder nicht. Jedenfalls werde ich ihn sicher nicht mehr aus den Augen lassen, wenn dieser Kerl ein Messer in die Hand nimmt. Nur um ganz sicher zu sein.
    „Mir hat‘s nicht so viel ausgemacht. Anfangs ist der Gestank bestialisch, aber man gewöhnt sich daran. War aber scheinbar eine der wenigen, die Spaß bei der Sache hatte, wenn ich bedenke, wie viele aus dem Raum gelaufen sind.“ Bei der Erinnerung von Farids knallgrünem Gesicht, das ein enges Verwandtschaftsverhältnis zu Shrek nahe legte, muss ich etwas grinsen. Viktoria hatte auch wimmernd das Weite gesucht, sobald Oliver die Oberseite zurückgeklappt hatte und sie die Innereien in ihrer vollen, blutigen Pracht sehen konnte. Ich dagegen hatte ziemlich viel Spaß, mit der Linse aus dem Fischauge zu spielen.
    Was? Das Ding ist eine durchsichtige Murmel. Ich konnte mich einfach nicht zügeln.
    Ruhe in Frieden, mein Fisch. Du bist für eine gute Sache gestorben. Oder auch nicht.
    „Du bist wirklich ein Psycho“, raunt Seth mit einem halb amüsierten, halb fiesen Grinsen. Als ich ihm die Zunge herausstrecke, bricht er in bellendes Gelächter aus und ich stimme mit ein.


    Wir spielen noch eine Weile „Wo ist Phyllobates terribilis?“, aber irgendwann gehen uns die Terrarien aus und langsam aber sicher fühlt sich Leah sicher einsam an ihrem Pandagehege, also schlüpfen wir aus dem stickigen Reptilienhaus. Draußen empfängt mich erst einmal Kälte und ein leichter Windhauch, aber auch angenehme Sonne. Nebeneinander folgen wir dem mit beinahe kahlen Bäumen gesäumten Weg zurück. Schon von weitem sehe ich Leah auf einer Bank neben dem Gehege sitzen, wo sie auf ihr Handy schaut und wie wild darauf herumtippt. Deswegen bemerkt sie uns auch erst, als wir und neben sie auf die Bank setzen.
    „Tyler ist scheinbar fertig, ich hab ihm gesagt, dass wir hier auf ihn warten“, klärt sie und mit einem Nicken in Richtung ihres Smartphones auf.
    „Und?“, fragt Seth und wirkt tatsächlich etwas angespannt. Seine Mutter schüttelt aber nur den Kopf und beißt sich auf die Lippe.
    „Keine Ahnung, mehr hat er nicht geschrieben.“
    „Das macht der Idiot mit Absicht“, raunt Seth mir leise ins Ohr, sodass Leah ihn nicht hören kann. Ich schaue kurz auf meine Uhr. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass Tyler schon beinahe eine ganze Stunde weg ist… Das ist ein gutes Zeichen, oder?
    Fünf Minuten später zischt der Bluthund neben mir ein leises „endlich“. Ich folge seinem Blick den Weg entlang, und tatsächlich, beinahe quälend langsam bahnt sich Tyler seinen Weg in unsere Richtung. Er hat die Hände in seinen Jackentaschen versteckt und es braucht eine Weile, bis ich sein Gesicht erkennen kann, aber das hätte ich mir auch sparen können, denn er trägt wieder diesen ätzenden, unergründlichen Gesichtsausdruck, den ich partout nicht deuten kann. Als Leah ihren Sohn bemerkt, springt sie förmlich auf und läuft ihm entgegen. Seth und ich schauen uns belustigt schnaubend an, folgen ihr dann aber schließlich.
    Fünf Meter von ihnen entfernt sehe ich, wie Leah ihren Sohn strahlend an sich zieht. Ich erwarte fast, dass sie auf und ab hüpft, aber bevor sie dazu kommen kann, drückt Tyler sie sanft von sich weg, breit grinsend und deutlich erleichtert. Ich höre Seth etwas murmeln, dann legt er einen kleinen Sprint ein und schlingt seinem Bruder seinen Arm um den Hals. Beide lachen.


    Ich bleibe stehen.
    Keine Ahnung, warum. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich… nicht weiter gehen sollte.
    Es ist seltsam, die drei so zu sehen. Sicher haben Tyler und Seth auch schon früher mal gelacht. Aber nie so gelöst. Nie so… fröhlich. Und wie sehr Leah sich freut. Wenn sie jetzt in Freudentränen ausbricht, würde mich das nicht einmal überraschen.
    Und trotzdem ist Tyler nicht glücklich. Zumindest nicht komplett. Sein Herz leuchtet nicht, und das bedeutet, dass es etwas gibt, ein Problem, das ich bisher nicht lösen konnte. Verdammt, ich habe ja nicht einmal einen Ansatz einer Ahnung, was es sein könnte. Wie kann jemand so breit und strahlend lächeln, wenn er nicht vollends glücklich ist?
    Ich verstehe es einfach nicht. Und das frustriert mich gerade fürchterlich.


    Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass Tyler mich direkt ansieht. Ich versuche mich an einem kleinen Lächeln, aber irgendetwas hindert mich daran, weiterzugehen. Diese Distanz, die wir die letzten zwanzig Tage hatten, wird mir mit einem Male wieder schmerzhaft bewusst. Ich freue mich, dass er sich freut. Dass er das geschafft hat, was er wollte. Dass er endlich einen Plan für die Zukunft hat, etwas, vor dem er sich so sehr gefürchtet hat.
    Aber das Gefühl, dass ich kein Teil davon bin und niemals sein kann, ist… schwer zu verdauen.
    Ich verstecke meine Hände in den Taschen meine Strickjacke und tue so, als würde ich etwas Interessantes im Gebüsch neben mir beobachten. Aber da ist nichts. Nur Äste, ein paar Dornen und verrottendes Laub.
    Erst als er direkt neben mir steht, bemerke ich Tyler. Mehr aus Reflex als bewusst drehe ich mich zu ihm um. Er lächelt immer noch, aber jetzt ist da noch etwas anderes in seinem Blick. Und wieder bleibt er ein Buch mit sieben Siegeln für mich.
    Ich sage nichts. Mein Kopf ist ein ziemliches Vakuum, da ist es wohl besser, einfach zu schweigen. Vielleicht sollte ich ihm gratulieren. Ihm sagen, dass ich wusste, dass er es schafft. Aber als ich meinen Mund öffne, kommt nichts heraus. Also schließe ich ihn wieder und-
    Bevor ich reagieren kann schlingt Tyler seine Arme um meine Hüften und zieht mich eng an sich heran. Für einen kurzen Moment drückt er sein Gesicht in meine Haare.
    „Ich hab den Platz“, raunt er mir zu. Dann wird der Griff etwas stärker und mit einem Male merke ich, wie ich den Boden unter den Füßen verliere. Tyler hebt mich hoch, so, dass ich auf Augenhöhe mit ihm bin. Aus seinem Lächeln wird ein breites Grinsen und bevor ich so richtig verarbeiten kann, was passiert, dreht er sich mit mir im Kreis.
    „Ich hab den Platz, Ava!“, stößt er lachend aus und ohne es zu wollen, obwohl mir doch eher nach Heulen zu Mute ist, muss ich lächeln. Ich spüre, wie das Herz in meiner Brust pocht, die Wärme, die er ausstrahlt, sogar seinen Atem auf meiner Haut, so nah ist er mir. Und das Vakuum füllt sich mit einem Male mit dem Gedanken „Das hier ist genug. Das hier ist schön“.
    Wir drehen uns zwei, drei Runden lang im Kreis, dann lässt er mich endlich wieder auf meinen eigenen Füßen stehen, aber seine Arme bleiben weiter auf meiner Taille liegen und ganz lässt er mich nicht gehen. Obwohl wir die letzten drei Wochen beinahe penibel darauf geachtet haben, uns bloß nicht zu nahe zu kommen, scheint er gerade alle Prinzipien über Bord zu werfen.
    Aber so einfach mache ich es ihm nicht.
    Ich winde mich aus seinen Armen, stolpere einen Schritt zurück und verschränke die Arme vor der Brust. Mein Gesicht wirkt hoffentlich vollkommen neutral und ausdruckslos, zumindest gebe ich mir die größte Mühe, weder zu lächeln, auch wenn es schwer ist, noch zu weinen, was mindestens genau so viel Kraft kostet.
    „Aha“, stoße ich aus und stelle zufrieden fest, wie Tylers Lächeln ins Wanken gerät. „Tyler erkennt meine Existenz also endlich wieder an. Gepriesen sei der Herr!“
    Peinliche Stille. Mir egal.
    Okay, es ist mir nicht egal, aber… Wenn er sich einbildet, dass er mit einer Umarmung und einem herzerweichenden Lächeln alles wieder gut machen kann, dann hat er nicht ganz Unrecht, aber das reibe ich ihm sicher nicht unter die Nase.
    Tyler braucht eine Weile, aber dann ändert sich der Ausdruck auf seinem Gesicht deutlich zu zerknirscht und schuldbewusst und das gibt mir doch einiges an Befriedigung.
    Er folgt mir den Schritt und greift nach mir, lässt die Hand dann aber wieder sinken. So ganz wagt er es nicht, mir in die Augen zu schauen. Ich frage mich, was er darin sieht? Merkt er den leichten Ärger? Die Angst, dass es vielleicht doch nur einseitig ist? Die Enttäuschung? All diese kleinen, blöden Emotionen, die mich so sehr aus der Bahn geworfen haben? Ich war immerhin noch nie besonders gut darin, diese Dinge zu verstecken.
    „Es tut mir Leid“, murmelt er und zwingt sich dann dazu, mich wieder anzusehen. „Ich war nur so nervös, und…“
    „Seit drei Wochen?“, höre ich mich selbst sagen, bevor ich so richtig darüber nachdenken kann. Meine Stimme ist so viel wackeliger, als ich hoffe. Aber das ist mir gerade egal. Tyler wirkt nicht einmal wirklich überrascht. Für einen Moment herrscht Stille zwischen uns, seine roten Augen huschen zwischen meinen hin und her, als versuche er herauszufinden, was ich ihn sagen hören möchte. Der geschlagene Blick bedeutet vermutlich, dass er dabei grandios versagt. Kein Wunder. Ich weiß ja selbst nicht, was ich von ihm hören will.
    „Ava“, fängt er an, und die Art wie er meinen Namen ausspricht bringt mein Herz zum Pochen. Schon wieder so ein dummes Liebesfilm-Klischee. Er muss nur meinen Namen nennen und das reicht schon. Es ist fürchterlich. Ich hasse es. Und ich mag es gleichzeitig.
    Aber gerade, als er einmal geseufzt hat und dann wieder dazu ansetzt, etwas zu sagen, steht Seth mit einem Mal neben ihm und boxt ihn in die Seite. Sein Zwilling schaut zwischen ihm und mir hin und her und für einen kleinen Moment blitzt es in seinen roten Augen, aber dann ist der Moment vorbei und er setzt die mit Abstand gelangweilteste Miene auf, die ich jemals gesehen habe.
    „Habt ihr’s dann? Die Krokodilfütterung fängt bald an und das will ich sehen.“
    „Natürlich willst du das“, raunt Tyler und der scharfe Unterton entgeht mir nicht. Die Zwillinge schauen sich in die Augen und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie gerade diese seltsame Telepathie-Sache abziehen, die sonst nur Zwillingspärchen in 08/15-Hollywood-Filmen können. Vermutlich tauschen sie ganze Romane aus, während ich einfach nur daneben stehe und darauf warte, dass etwas passiert. Nach ganzen zehn Sekunden Löcher ins Gesicht des jeweils anderen brennen und Zwillings-Klischees validieren wird es mir dann aber doch zu blöd. Ich rolle mit den Augen, marschiere Schnurstraks an beiden vorbei auf Leah zu, die seltsam belustigt und zugleich enttäuscht aussieht.
    „Jungs“, murmelt sie vor sich hin und schüttelt resignierend den Kopf, während sie mir mütterlich die Schulter tätschelt. „Das haben sie von ihrem Vater.“
    Ich lasse mich einfach von ihr weiterziehen, während ich versuche herauszufinden, was DAS ist.
    Etwas Gutes kann es jedenfalls nicht sein.


    Jetzt, wo Tyler nicht mehr nur das Bewerbungsgespräch im Kopf hat und die Scheidung von seinen Papieren eingereicht hat, wird der kleine Zoo-Trip sogar ziemlich unterhaltsam. Mir brennen nach vier Stunden konstantem Laufen zwar ordentlich die Beine und ich habe vermutlich die Hälfte aller Tiere, die ich heute gesehen habe, schon wieder vergessen, aber ansonsten fühle ich mich pudelwohl. Tyler macht einen auf Tour Guide, weil er diesen Park scheinbar besser kennt als alle Mitarbeiter gemeinsam, Seth gibt seine sarkastischen Kommentare dazu ab und Leah und ich laufen, die Arme in einander verhakt, einfach hinterher. Im riesigen Vogelgehege, das für die Besucher begehbar ist, landet ein gelber Kanarienvogel direkt auf Seth‘ Kopf und macht es sich dort erst einmal bequem, was dutzende andere als die ideale Gelegenheit für einen lustigen Schnappschuss sehen. Sein säuerlicher Gesichtsausdruck ist dabei so lustig anzusehen, dass ich selbst schnell einen knipse. Möglichst unauffällig, versteht sich, sonst könnte etwas passieren, dass mein Handy demnächst im Teich landet. Ganz ausversehen natürlich.
    Die Löwen haben Junge, die Leah direkt zu begeistertem Quietschen bringen, die Krokodile zerfleischen bei der Fütterung Tellergroße Steaks, was wiederum Seth zu begeistertem Quietschen bringt. Wir besuchen die kleinen Äffchen und schaffen es wieder heraus, ohne, dass unsere Tascheninhalte auf mysteriöse Art und Weise verschwinden und beobachten die Leoparden, die dösend auf einigen Felsen liegen. Immer wieder versucht Tyler, Augenkontakt zu mir aufzubauen. Ich sehe ihm an, dass er noch nicht vergessen hat, dass ich… Keine Ahnung, was ich bin. Ich bin nicht wirklich wütend, auch nicht wirklich traurig. Vermutlich hat er eine bessere Vorstellung davon, was mit mir los ist, als ich selbst. Aber während wir von einem Gehege zum nächsten gehen, gibt es einfach keinen guten Zeitpunkt, mit mir zu sprechen. Und ihm geht das ganz deutlich zunehmend auf die Nerven.


    Gegen fünf Uhr zieht es sich zu. Offenbar haben die Wettergötter die Geduld verloren oder Aphrodite sind einfach die Gefallen ausgegangen, die sie ihr schulden. Jedenfalls verzieht sich die Sonne und damit kühlt es sich auch um einiges ab.
    Wir sind im letzten Teil des Parks und allesamt deutlich erschöpft. Als ich die Ansichtskarte gesehen habe bin ich davon ausgegangen, dass der Park gigantisch ist, aber das Original übertrifft das ganze noch einmal um ein paar Stufen. Ich glaube, so viel gelaufen bin ich in meinem Leben noch nie und Leah scheint langsam aber sicher zu bereuen, diesen Familientag einberufen zu haben.
    „Beim Hirsch-Gehege gibt es einige Tische, da können wir etwas essen“, schlägt Tyler vor und unsere gemurrte Zustimmung fällt nur deswegen nicht enthusiastischer aus, weil wir alle im radikalen Energiesparmodus sind.
    Bald darauf lassen wir uns an einen knallrot gestrichenen Picknicktisch nieder. Ich stemme meine Tüte mit Fressalien auf die Tischplatte und gebe einen zufriedenen Seufzer von mir, als ich endlich meine Beine ausstrecken kann.
    „Du hättest dir nicht so eine Mühe machen brauchen, Ava“, stößt Leah aus, lächelt mich aber dankbar an. Seth wartet gar nicht erst, bis wir alle bereit sind, und schnappt sich sofort zwei Sandwiches. Seine Mutter quittiert das mit einer kraftlosen Ermahnung, aber scheinbar schaltet sich Seth‘ Gehör ab, wenn er erschöpft ist, also gibt sie es auf.


    Eine kurze Weile später brennen meine Beine nur noch wie nach einer Verbrennung zweiten Grades statt wie nach einem schönen, kleinen Säurebad, und alle Sandwiches und Muffins sind restlos eliminiert, was ich einfach mal als gutes Zeichen sehe. Seth liegt mit dem Gesicht auf der Tischplatte und gibt nur noch Grunzlaute von sich, wenn man ihn anspricht, Leah telefoniert mit Martha, um ihr zu sagen, dass wir bald nach Hause kommen und dass sie bitte für mich mit decken soll, worüber ich natürlich kein Stimmrecht habe, aber daran gewöhne ich mich erstaunlich schnell.
    Ich bin gerade dabei, mir Krümel von meinem Rock zu wischen, da tippt Tyler mich an und nickt in Richtung Hirsch-Gehege. Ich bin zu müde um zu begreifen, was genau er will, also füge ich mich einfach, kämpfe mich hoch und folge ihm dann.
    Das Hirsch-Gehege ist mehr eine riesige, verzweigte Einbuchtung im Boden, als ein Gehege mit Zäunen darum. Drei Meter unter uns staksen die Tiere in der Gegend herum und knabbern an hochgewachsenem dunkelgrünem Gras. Tyler führt mich vorbei an einem Shop, der neben Getränken und Essen auch kleine Plüschtiere und solche Sachen verkauft, bis wir an einem Zaun direkt über dem Gehege stehen. Als ich kurz zurückschaue sehe ich, dass die kleine Hütte diesen Platz komplett verdeckt.
    Ich lehne mich gegen das Geländer und schaue in die Grube unter mir. Hier, etwas abgeschiedener von den anderen Besuchern, tummeln sich in einem schattigen Plätzchen fünf, nein, sechs Hirsche, drei von ihnen sind Junge, die strauchelnd durch die Gegend torkeln. Ich muss etwas grinsen, so habe ich bisher nur Leute mit einer Promille im Blut torkeln sehen.
    Diesen selten lustigen Spruch will ich unbedingt Tyler mitteilen, aber gerade, als ich mich nach ihm umdrehen möchte, greifen zwei Hände von hinten rüber zum Geländer und ich bin zwischen zwei Armen gefangen. Aus dem Augenwinkel sehe ich sein Gesicht, das direkt neben meinem schwebt, aber sein Blick ist auf die kleine Ansammlung Paarhufer- keine Ahnung, warum ich ausgerechnet das in meinem halben Koma-Zustand noch weiß- gerichtet.
    Mein Körper kann sich nicht so richtig entscheiden, ob ich jetzt aufgeregt oder tiefenentspannt sein soll, was es etwas schwer macht, einen klaren Gedanken zu fassen. Von sinnvollen Worten mal ganz abgesehen. Stattdessen konzentriere ich mich einfach auch auf die Hirsche und hoffe, dass mein Gehirn noch ordentlich arbeiten wird, wenn Tyler sich dann endlich mal dazu entschließt, das loszuwerden, was er sagen wird. Vielleicht kommt er sogar noch in diesem Jahrhundert dazu, Wunder gibt es immerhin immer wieder.
    Offenbar ist mein Kontingent an Wundern allerdings schon aufgebraucht, denn auch nach etwas, dass sich wie Stunden anfühlt, schweigt Tyler mich weiterhin an, macht aber auch keine Anstalten, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Und langsam bemerkt selbst mein Hirn, das unter massiver Müdigkeit leidet, dass es so nicht weitergehen kann.
    Mein Gott. Kaum zu glauben, dass ich ausgerechnet in so einem Moment auf Aphrodite und meine Freundinnen hören muss.
    Ich drehe mich um, lehne mich mit dem Rücken gegen das Geländer und bemerke erst jetzt, wie verdammt nah Tyler hinter mir gestanden hat, denn ich hätte ihm bei dieser kleinen Aktion beinahe eine Kopfnuss verpasst. Zumindest bin ich jetzt wieder interessanter als die Hirsche hinter mir, das verbuche ich einfach mal als Erfolg.
    „Also?“, frage ich, aber Tyler runzelt nur die Stirn, als hätte er nicht den blassesten Schimmer, was ich von ihm will. Dabei bin ich hier doch diejenige, die keine Ahnung hat, was genau er gerade bezweckt. Ich deute von ihm zu mir, hebe die Augenbrauen und zucke mit den Schultern, in der Hoffnung, dass ihm das vielleicht einen kleinen Schubs in die richtige Richtung gibt.
    Und tatsächlich. Er braucht ein paar Sekunden, aber dann scheint ihn die Erkenntnis zu treffen. Und plötzlich sind die Hirsche dann doch wieder interessanter als ich. Ich schnaube und verschränke die Arme vor der Brust.
    „Das hier wird langsam echt unbequem, weißt du“, grummele ich vor mich hin.
    Tyler lässt mit einer Hand der Gelände los und vergräbt sie in seinen Haaren wie immer, wenn er sich nicht sicher ist, was er tun oder sagen soll.
    „Ich, äh“, fängt er an, traut sich kurz, mir ins Gesicht zu sehen und sieht dann offenbar eine Wolke in Form von Jesus oder so, jedenfalls muss am Himmel schon etwas ziemlich cooles sein, denn er stiert ihn geradezu an. „Ich… Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
    Na zumindest ist er ehrlich.
    „Wäre ich jetzt nicht drauf gekommen.“
    Tyler verzieht gequält das Gesicht und seufzt lang gezogen, als würde ihm das bei mir irgendwelche Sympathiepunkte einbringen.
    „Du machst es mir auch echt nicht einfach“, wirft er mir vor und spielt dabei an der Knopfleiste seines Hemdes. Es dauert einen Moment, dann baut er Blickkontakt auf, auch wenn der einen ziemlichen Wackelkontakt hat.
    „Du hast es mir in letzter Zeit auch nicht gerade einfach gemacht“, feuere ich zurück. Keine Ahnung, warum mein Gehirn denkt, das hier wäre ein guter Zeitpunkt um einen auf Diva und beleidigte Leberwurst zu machen, obwohl ich mir doch eigentlich nur wünsche, dass er endlich ausspuckt, was er auf dem Herzen hat, denn wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege...
    Oh Junge. Bitte lass mich richtig liegen.
    „Tut mir Leid“, gibt er leise von sich und schaut mich dabei mit einem Blick an, den er sich definitiv bei einem gewissen, kleinen Welpen abgeschaut hat. Und Gottverdammt, der ist gut.
    Aus irgendeinem merkwürdigen Grund fällt meinem Gehirn genau in diesem Moment auf, dass sein Kragen seltsam sitzt, und ohne groß nachzudenken, wandern meine Hände zu seinem Hals und richten ihn.
    „Vergiss es, das klappt nur bei Hibiki“, kommentiere ich betont gleichgültig. Eine glatte Lüge, aber das muss er ja nicht wissen. „Versuch’s nochmal.“
    „Ernsthaft?“, er stöhnt, hält aber still, weil ich noch immer mit seinem Kragen beschäftigt bin. Sowas zu richten ist echt nicht einfach, wenn einem das Herz bis zum Hals schlägt.
    Als er seine freie Hand auf meine Taille legt und mir noch ein Stück näher kommt, verhindere ich mit bloßer Willenskraft den drohenden Herzinfarkt.
    „Tu doch nicht so, als wüsstest du nicht, was Sache ist“, murmelt er mit einer seltsamen Mischung aus Resignation, Anspannung und Belustigung, letzteres vermutlich, weil ich das Blinzeln vollkommen eingestellt habe. Ich starre ihm nur noch in die leuchtend roten Augen und besinne mich darauf, dass ich atmen muss, wegen Sauerstoff und so. Nicht, dass mein Gehirn den aktuell sonderlich effizient benutzt.
    „Ich habe eine Ahnung.“ Gottseidank habe ich nicht Hoffnung gesagt, das wäre ziemlich peinlich gewesen. „Aber woher soll ich wissen, ob die richtig ist, wenn du es nicht endlich ausspuckst?“
    „Als ob es so einfach wäre.“
    „Ist es.“
    Tyler lacht trocken und schaut wieder zu Wolkenjesus hoch, als hätte der die Antwort auf alle seine Fragen. Dann holt er einmal tief Luft und stößt ein kaum hörbares „Oh man“ aus. Ich will ihm schon wieder einen Spruch reindrücken, aber er kommt mir zuvor.
    Bevor aus meinem offenen Mund mehr als ein „Huch“ kommen kann, zieht er mich eng an sich, und mit eng meine ich „Da passt kein Blatt Papier mehr zwischen“, eng. Sein rechter Arm ist um meine Taille geschlungen, mit der anderen spielt er an einer Strähne meines Haares herum. Er schaut mir tief in die Augen, betont lässig und mit einem süffisanten Lächeln, aber ich spüre ganz genau, dass sein Herz mindestens genauso heftig pocht wie meins, und das beruhigt mich dann doch etwas. Zumindest bin ich hier nicht die einzige, die halbe Herzanfälle bekommt.
    „Ava“, säuselt er dann und mit einem Male klingt dieser fürchterlich schmalzige Tonfall gar nicht mehr so schlimm. „Seit ich dich das erste Mal sah…“
    „Tyler“, stoße ich warnend aus, denn ich habe eine Vorahnung, was jetzt kommt.
    „…Habe ich mein Herz an dich verloren, denn du strahlst heller als tausend Sonnen und deswegen habe ich mich unsterblich in dich verliebt.“
    Ich werfe ihm einen eindeutigen Blick zu und stöhne genervt.
    „Na toll“, stoße ich aus. „Jetzt hast du’s ruiniert.“
    Seine Schultern beben, als er versucht, ein Lachen zu unterdrücken. Mit Mühe und Not gelingt es mir, ihm in den Bauch zu boxen, aber er bemerkt es nicht einmal. Er grinst von Backe zu Backe und ich muss mir größte Mühe geben, meinen genervten Gesichtsausdruck beizubehalten.
    „Du bist ein Arsch“, behaupte ich, weiß aber ganz genau, dass ich alles andere als überzeugend klinge. „Diesen Moment so zu ruinieren. Gottverdammt, Tyler!“
    „Ach komm“, lacht er. Er drückt mich immer noch sanft an sich, aber langsam wandern seine Finger von der Strähne rüber zu meiner Wange. „Ich fand’s lustig.“
    „Und genau das ist das Problem“, murre ich. „Wie soll ich sowas denn bitte ernst nehmen?“
    „Du machst es mir wirklich nicht einfach.“
    Payback, Bitch. Keine Minute mit dir war auch nur ansatzweise einfach, pah!
    „Na gut.“
    Ich merke, wie seine Finger zu meinem Kinn wandern und mein Gesicht sanft anheben, so, dass ich nicht anders kann, als ihm in die Augen zu sehen. Er kommt immer näher, mit diesem blöden, überlegenen Lächeln auf dem Gesicht.
    „Ich bin fest davon ausgegangen, dass es niemanden gibt, mit dem ich gut auskomme. Und… wir haben es dir wirklich nicht einfach gemacht. Aber als ich dachte, dass das mit Seth nie wieder funktionieren wird…“ Den Rest des Satzes lässt er in der Luft hängen. Nur noch ein paar Zentimeter. Mein Herz explodiert fast. Ich höre ihn kurz leise lachen, ein wenig ungläubig, als würde er nicht ganz verstehen, was hier gerade vor sich geht. Da wären wir zumindest schon zwei. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte, Ava. Ich weiß es einfach nicht. Und ich will es auch gar nicht wissen. Und ich schätze, dass… Naja.“
    Die Überlegenheit weicht aus seinem Gesicht. Ich sehe ihn nur noch lächeln. Ein ehrliches, freundliches Lächeln. Eines, das ich einfach erwidern muss.
    „Ich hab mich in dich verliebt.“
    Zwei Zentimeter noch.
    „Na also. War das jetzt so schwer?“, höre ich mich fragen, aber bevor er eine Antwort geben kann, überbrücke ich diese letzten zwei Zentimeter und lege meine Lippen auf seine. Wie von automatisch schlinge ich meine Arme um seinen Hals.
    Ich habe keine Ahnung, wie lange wir uns küssen, denn mein Kopf ist komplett leergefegt. Erst, als wir ein wenig, aber auch wirklich nur ein klein wenig Distanz zwischen uns bringen, formt mein Gehirn einen zusammenhängenden Gedanken:
    „Ist das gerade wirklich passiert? Bitte sag mir, dass das wirklich passiert ist.“
    Für eine Weile kleben wir einfach aneinander und starren uns an und an Tylers Blick kann ich erkennen, dass er genauso unsicher ist. Glücklich, aber ein wenig neben der Spur.
    „Also…“, fängt er dann irgendwann an und grinst verschmitzt. „Bekomme ich dann auch noch eine Antwort?“
    Ich lege den Kopf schief, als wüsste ich nicht, wovon er redet, dann grinse ich genauso diabolisch wie er, wenn ihm mal wieder ein fieser Spruch eingefallen ist und flöte unschuldig: „Jetzt tu mal nicht so, als wüsstest du nicht, was Sache ist.“
    Er verzieht das Gesicht und stöhnt gespielt frustriert.
    „Wirklich, Ava“, raunt er mir ins Ohr. „Manchmal kannst du wirklich fies sein.“
    „Nur manchmal?“
    Ich muss etwas kichern, aber Tyler unterbricht den drohenden Lachanfall und küsst mich.
    Daran könnte ich mich wirklich gewöhnen.





    Benachrichtigungen gehen raus an:


    @Tooru
    @Nivis
    @Jiang
    @Anneliese
    @Sonnkernkriegerin Lu


    Progress guys. Progress auf zwanzig Seiten ich sterbe aaaah.
    Mit diesem Kapitel hat Blue Horizon übrigens die 100000 Wörter geknackt. Hurray!