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Vote
In diesem Thema habt ihr eine bestimmte Anzahl an Punkten zur Verfügung, die ihr den Texten im Tab "Abgaben" geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr nahezu frei wählen könnt, wie ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten.
Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf Medaillen. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zu den Wettbewerben.
Wer neben den Votes noch weitere Kritik für sein Werk erhalten möchte, aber kein eigenes Thema erstellen möchte, der kann dies gerne in unserem Feedback-Thema für fertige Texte tun!
Zitat von AufgabenstellungSuperhelden
Sie kämpfen mit ihren besonderen Kräften gegen das Böse für Gerechtigkeit und Ordnung. Im Zwielicht und unter absoluter Geheimhaltung ihrer alternativen Identität agieren sie, um den Schurken den Garaus zu machen. So mancher mag dabei eine Schwäche haben oder zu voreilig agieren, doch haben sie alle eines gemeinsam: Sie sind Superhelden und darum soll es im neuen Wettbewerb gehen. Schreibt in einer kurzen Geschichte über einen Superhelden eurer Wahl - dieser kann sowohl bereits vorhanden als auch frei erfunden sein und natürlich kann dieser auch optional aus der Pokémon-Welt stammen, wenn euch das zusagen sollte. Es können auch mehrere Superhelden vorkommen und Crossover zwischen Superhelden sind ebenfalls erlaubt. Welche Kräfte oder Ziele er hat, ist euch völlig selbst überlassen; ob Gut oder Böse entscheidet ihr in eurer Geschichte!
Ihr könnt 6 Punkte verteilen, maximal 3 an eine Abgabe
ZitatAlles anzeigenID: [DEINE USERID]
AX: X
AX: X
Beispiel:
ID: 27258
A16: 3
A1: 5
A3: 1
A7: 1
A9: 2
Wenn ihr nicht wissen solltet, wie ihr eure ID herausfindet, könnt ihr dies unter anderem hier nachlesen.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 27.09.2015, um 23:59 Uhr.
[tab=Abgaben]
The Return of the First Avenger
Remember Me ...
… 'Cause I'll remember you
Es hatte eigentlich als ganz normaler Tag angefangen. Nichts Spektakuläres, nichts Ungewöhnliches. Ich war aufgestanden, hatte etwas gefrühstückt und mich umgezogen, um mit Sam eine Runde laufen zu gehen. Eigentlich war ich sogar ganz kurz davor gewesen, die Wohnung zu verlassen, als mein Telefon klingelte. Zwar hatten nicht viele Leute meine Nummer, aber ungewöhnlich war es dennoch nicht. Wahrscheinlich – so dachte ich – war es eh nur Shield, oder Natasha. Dieser Verdacht bekräftige sich, als ich „Unbekannt“ auf dem Display las. Und um ehrlich zu sein, hatte ich gerade keine Lust, mit ihr zu reden, zumal unser letztes Gespräch nicht so glimpflich abgelaufen war.
„Es ist Wahnsinn, Steve! Davon, dass es Selbstmord ist, will ich erst gar nicht anfangen.“
„Du verstehst es einfach nicht, Natasha! Ich muss es tun.“
„Was musst du tun? Wenn du sterben willst, musst du nur fragen! Ich erschieße dich gleich hier. Dafür musst du nicht extra durch das ganze Land fahren!“
Ich könnte so tun, als wäre ich schon laufen gegangen. Immerhin hätte ich den Anruf sowieso knapp verpasst, wodurch es also keine so große Lüge wäre. Allerdings ... ich weiß nicht genau, wieso ich doch abhob.
„Hallo, hier spricht Steve.“ Zuerst war es still, nur das leise Atmen verriet mir, dass ich gerade nicht mit einem Geist telefonierte. Allerdings schien dieser Nicht-Geist nicht sehr gesprächig. Hatte sich die Person vielleicht nur verwählt? „Hallo, ist da wer?“ Immer noch keine Antwort von meinem Unbekannten. Vielleicht einfach nur ein Scherz. Ich war kurz davor das Gespräch zu beenden, als plötzlich doch eine Stimme aus dem Hörer erklang, die mich inne halten ließ, die mich erstarren ließ. „... Steve ...“ Ich schloss die Augen für einen Moment, konzentrierte mich darauf, zu atmen, langsam, Steve, langsam ein und aus. Dann schluckte ich und versuchte zu antworten. Es gelang mir nicht beim ersten Versuch, zu zittrig war meine Stimme, zu unsicher. Körper, bitte verrate mich nicht, flehte ich innerlich, bevor es mir doch gelang, ein Wort zu formulieren, einen Namen, eine Frage: „B-Bucky?!“ Ich war mir sicher, dass er es war. Unter Tausenden, gar unter Millionen würde ich seine Stimme erkennen, seine Stimme nie vergessen, nie. „Störe ich dich?“ „Nein!“, antwortete ich viel zu schnell, bevor ich mich daran erinnerte, langsam zu tun. Es war Monate her, seit ich ihn gesehen hatte, seit wir miteinander gesprochen hatten, seit das mit Shield war ... seit er mich gerettet hatte, nur um mich dort an diesem Strand zurückzulassen. Wie lange hatte ich ihn verzweifelt gesucht? Wie lange hatte er sich erfolgreich versteckt? Und jetzt?
„Verzeih, ich ... es ... woher hast du diese Nummer überhaupt?“ Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, versuchte, sie zu sortieren, doch in meinem Kopf herrschte gerade das pure Chaos und ich hatte das Gefühl, als könnte ich nicht mehr denken, als würde alles brennen und in Flammen stehen. „War nicht so schwer“, meinte er nur. Ich kannte ihn gut genug, glaubte, ihn gut genug zu kennen, um zu wissen, dass keine weiteren Erklärungen kommen würden. „Wo bist du gerade? Bist du hier in der Nähe? Können wir uns sehen?“ Ich sprang auf, nicht wissend, wann ich mich gesetzt hatte, und rannte zum Fenster. Ich wusste nicht, wieso ich mir einbildete, ihn zu sehen, doch ich tat es. Ich war überzeugt, dass er da draußen irgendwo stand, vielleicht beobachtete er mich sogar. Er sollte rauf kommen, ich würde Sam absagen, sofort, nachdem wir aufgelegt hatten. Er würde es verstehen. „Ja, ich ... ich bin in der Nähe, aber … ich denke nicht, dass wir uns treffen können.“ Ich schluckte, war ich zu schnell? Ich hatte ihn überfordert, ich musste langsamer machen, ihm Zeit geben. Bestimmt war das alles immer noch schwer für ihn. Das mit Hydra war gerade einmal ein paar Monate her. Aber wieso rief er mich dann an, wenn er mich nicht bei sich haben wollte. Ich verstand es nicht. „Hör zu, Bucky, ich weiß, dass das alles schwer für dich ist, aber … lass mich dir helfen. Wir können das schaffen, gemeinsam. Du kannst mir vertrauen, Buck-“ „Steve!“ Er schnitt mir das Wort ab, schien etwas sagen zu wollen, also schwieg ich, ließ ihn. „Steve, ich rufe an um … es …“
Auf einmal hörte ich Schüsse im Hintergrund, Stimmen, die schrien, doch ich wusste nicht, was es war, zu verzerrt, zu weit weg waren sie. „Bucky ... wo bist du?“ Es war mehr ein Flüstern, kaum Worte, doch ich wusste, dass er es verstanden hatte. „In einer Hydra Basis“, antwortete er genauso leise. Erneute Schüsse. Ich schluckte, den Hörer näher an mein Ohr drückend. „Bucky, sag mir, wo du bist! Und ich komme, hör zu, ich brauche nur einen Moment und ich –“ „Ich werde sterben.“ Es war, als hörte ich die Worte durch einen Nebel, als wäre ich nicht in meinem Wohnzimmer, als würde ich fallen, einfach nur fallen und ich musste mich sehr stark konzentrieren, um das Telefon nicht loszulassen, musste mich sehr stark konzentrieren, um etwas zu sagen, um Worte zu formen, die meiner Kehle einfach nicht entkommen wollten. Ein Kloß in meinem Hals blockierte jede Silbe, blockierte all meine Antworten und heraus kam nur ein erbärmliches Geräusch, das etwas von einem sterbenden Tier hatte, das etwas von einem Kind hatte, das versuchte, zu weinen.
„Ich habe angerufen, um mich zu verabschieden.“ „Bucky –“ „Nein, hör zu. Hör einfach zu. Bitte, hör nur zu … Ich … ich war auf dem Weg zu dir, … habe versucht, meine Erinnerungen zu ordnen, es … es waren immer nur Bruchstücke, Fragmente von Erinnerungen, von Gefühlen, … Erinnerungen von Tod, Erinnerungen von Schmerz, von Blut, und … Erinnerungen von dir ... du warst das Einzige zwischen all dem Tod, all dem Schmerz, das Sinn ergab, du warst das, was mich verfolgte, was mich nicht losließ, und ich bekam dich einfach nicht aus meinem Kopf, ich … es … ich glaube, dass du ihm … dass du mir wichtig warst ... dass du mir was bedeutet hast. Ich war also auf dem Weg ... als ich Hydra Agents über den Weg lief und … ich verfolge sie also bis zu ihrer Basis und platzierte eine Bombe. Ich war bereits auf dem Weg nach draußen, als sie mich entdeckten ... ich … ich wurde verletzt … und … ich … ich konnte mich in einen Raum retten, aber ich … ich werde es wohl nicht hinaus schaffen ... und da hatte ich das Bedürfnis, dich anzurufen, ich weiß nicht genau, wieso, es … es war einfach da.“ „Bucky, bitte sage mir, wo du bist! Ich komme, ich hole dich da raus, es wird alles wieder gut.“ Ich hörte mich gequält an, das Sprechen verursachte Schmerzen, jeder Laut war wie ein Messerstich, der mir langsam die Kraft aus den Gliedern saugte. „Es ist zu spät.“ „Nein! Es ist nicht zu spät, bitte … bitte sag mir, wo du bist.“ „Du würdest es nicht mehr schaffen, es … erzähl mir eine Geschichte.“ „Was?“ „Erzähl mir eine Geschichte, ich … ich will eine hören, von … über uns ...“ „Bucky, nein, ich ... ich … ich werde das nicht zulassen, ich werde dich nicht noch einmal verlieren, ich kann dich nicht noch einmal verlieren ... du hast keine Ahnung, wie ... was ...“ Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen, ich wusste nicht, wie ich ihn zu Ende bringen sollte. „Ich habe da so eine Erinnerung ... du sahst etwas dünner aus, es war Winter, glaube ich, und wir lagen im Bett, ich … ich glaube, du sagtest etwas von, 'Ich müsste das nicht tun' und ich entgegnete etwas wie 'Sei still, Idiot' … erzählst du mir davon ...“ Buckys Stimme klang brüchig, und erst jetzt bemerkte ich, dass sein Atem unregelmäßig ging, dass er flach war, dass … dass … er schluchzte ... „Bucky ...“ Es war das Einzige, was ich herausbrachte, während ich versuchte, mich aufzuraffen, während ich versuchte, nachzudenken, wo eine Hydra Basis in der Nähe sein könnte. Ich musste ihn suchen, ich musste ihn finden, ich musste … ich … ich musste ... „Ich … ich war krank, eigentlich war es nur eine Erkältung, aber ich … ich war echt schwach und hatte hohes Fieber, und du hast dich zu mir gelegt, um mich zu wärmen, hast mir deine Decke gebracht ... ich sagte dir, dass es mir gut ginge, doch du hast mir nicht geglaubt, wusstest es besser ... Ich glaube, du hast die ganze Nacht nicht geschlafen ... hast mich … hast ... mich … an dich gedrückt, versucht, mich zu beruhigen ...“ Ich brach ab, als ich erneut Schüsse hörte, gefolgt von Geschrei, lautem Geschrei und … und Geschluchze … „Bucky!“ „Steve, ich –“ Und dann war er weg ... und ich hörte nur noch Rauschen. Keine Schüsse mehr, keine Schreie, kein Schluchzen ... nur noch Rauschen. Und auch noch zehn Minuten später hatte ich mich nicht bewegt, den Hörer an mein Ohr pressend, während ich dem Rauschen lauschte und weinte.
Hero of War - Rise Against
„Mein Sohn, was hast du bislang von der Welt gesehen?“, fragte er mich damals.
Zu einer Zeit, in der meine heile Welt aus seinen alten Zinnsoldaten bestand, zögerte ich und sah zu ihm auf, anstatt zu antworten.
Er hob mich sanft auf seinen Schoß und deutete mit einem Arm auf die Reihe sorgsam geputzter Abzeichen und Medaillen neben den Fotografien in ihren messingfarbenen Rahmen. Jahre hatten sich auf den Bildern niedergeschlagen und die einst klaren Farben zeigten bereits einen leichten Stich ins Gelbliche. Doch noch immer trotzten Gruppen uniformierter Männer allem, was sich ihnen in den Weg stellen würde. Stolz auf seine Waffe gestützt posierte die junge Version meines Vaters vor nahöstlichen Monumenten und südländischer Fauna, reckte hier seine breite Brust frontal ins Bild, sprach dort zu seinen Kollegen oder hielt seine Ausrüstung in die Linse der Kamera. Panzer rollten von Bild zu Bild durch einige der Hintergründe. Die heiße Sonne schien hell auf die nassen, glänzenden Gesichter und ließ die Männer selbst strahlen. Vereinzelte Schatten fielen über Stirn und Augen und gaben ihnen etwas Verwegenes. Etwas, was ich zur damaligen Zeit nicht in Worte fassen konnte, doch etwas, was ich mit einem Mal aus meinem tiefsten Inneren heraus begehrte.
„Stell dir vor, du könntest das alles sehen! All die fernen Länder und Kontinente, all das exotische Essen und die hübschen Frauen. Ach die Frauen!“
Er lachte sein schelmisches Lachen, bei dem seine klaren Züge von Grübchen durchbrochen wurden.
„Für einen Mann mit einer Waffe würden die dort doch alles tun.“
Er nahm mir meinen abgegriffenen Zinnsoldaten aus der Hand und sah tief mich mit seinen dunklen Augen an. Augen, die vieles gesehen hatten und aus denen eine Stimme mir seine Geschichten in den schillerndsten Farben in meinen Kopf zeichnete.
„Du kannst das alles sehen. Und noch so viel mehr!
Sieh, als ich in deinem Alter war, wusste ich, ich wollte irgendwann ein echter Held sein. Ein Superheld ohne Superkräfte. Ein Patriot. Auch du musst all das nicht ewig nur nachspielen - irgendwann liegt es in deiner Hand, ob du im Namen unserer geliebten Nation für Recht sorgst - und für all die Ehre, die dir damit zuteil wird sogar noch bezahlt wirst.“
Seine Augen schweiften ab zu der Flagge, die patriotisch über den Auszeichnungen hing, die er für all seine Verdienste hatte sammeln können.
„Dort würden auch einmal deine Medaillen hängen. Deine Bilder, mit ihren eigenen Geschichten.“
Ich sah in das markante Gesicht meines Vaters, an der prominenten Narbe entlang, die sich über seine linke Wange zog und welche er mit einem außergewöhnlichen Stolz trug. Spätestens dies war der Moment, in dem ich meine Entscheidung endgültig fällte und mein Schicksal beschloss, ohne es gar zu bemerken. Meines und ihres.
Ein Kriegsheld wollte ich sein. Ein Kriegsheld, überschüttet mit Ehrungen und Lob. Den Stolz aller tragen, wie zuvor die vertraute Flagge meines Landes, bis zum bitteren Ende.
Der Rasierer surrte, als sie ihn mir immer wieder über mein Haupt zogen. Fest und ohne Regung starrten mich meine silbrigen Augen aus dem Spiegel an. Strähne für Strähne gab unter den scharfen Klingen nach und enthüllte meine nackte Kopfhaut. Und es fühlte sich richtig an. Schon bald würde mein fester Helm mich vor dem Feind schützen wie die robuste Uniform, die man mir bereits zurechtgelegt hatte. Glänzend präsentierten sich meine wuchtigen, schwarzen Stiefel und ich spuckte auf das glatte Leder, um letzte Makel mit meinem Ärmel abzuwischen. Unser großer Auftritt stand bevor, es gab kein Zurück mehr, doch wer wollte nun zurück? Und hätte es etwas verändert?
In perfektem Gleichschritt marschierten wir auf und sangen die Hymne unserer Nation, die wir bald bis auf den letzten Mann verteidigen würden. Und schnell schlossen wir uns zusammen. Spielkarten, Alkohol und Tabakwaren wurden brüderlich getauscht und geteilt, wie auch der ein oder andere schmuddelige Comic. Tagsüber lernten wir die Kampf- und Überlebenstechniken unter Feinden und an den Abenden zeigte sich, wer zusammenhielt und sich zusammenschloss und auf wen man sich im Ernstfall am ehesten verlassen würde. Wer irgendwann einmal den Ton angeben würde und wer den harschen Anweisungen treu folgen würde, voller Vertrauen auf den Kollegen und Anführer der Mission.
Uns gehörte die Welt, wir zählten zur Elite. Wir würden bald die Geheimnisse unseres Landes kennen und hüten wie unsere eigenen und auch im Angesicht des Todes mit unseren Waffen für Frieden und Schutz sorgen.
Kriegshelden würden wir sein. Kriegshelden, gezeichnet und bewundert von Familie und Volk. Den Stolz aller tragen, wie zuvor die vertraute Flagge unseres Landes, bis zum bitteren Ende.
Krachend zerbarst das Holz, als ich die marode Tür des schiefen Ziegelbaus eintrat. Der Geruch von Schweiß lag in meiner Nase und ich konnte längst nicht mehr sagen, ob es mein eigener war, oder der Angstschweiß der Menschen hier, die unzivilisierter hausten, als die Rinder auf unseren heruntergekommensten Farmen. Die Sonne schien unbarmherzig vom klaren Himmel und ließ unsere Augen tränen und unsere Gesichter tropfen. Unsere Uniformen klebten an unseren Körpern und erschienen plötzlich unwahrscheinlich schwer.
Ich brüllte meine Anweisungen über das Geschrei der schmutzigen Kinder in ihrer Lumpenkleidung hinweg und meine Brüder sorgten für Deckung, sodass wir uns rasch ins Innere vorarbeiteten. Viel Versteck boten die beiden unordentlichen Räume kaum und wir hatten unseren Mann schon gefunden, ehe er flüchten konnte. Unsere Mission war erfüllt. Schnell stülpten wir eine Tüte über sein Gesicht und schlugen ihn nieder, um ihn gemeinsam weg von den seinen zu unserem Stützpunkt zu schleppen, bevor man ihm zur Hilfe eilen konnte.
Dort zogen sie ihm die Kleider aus, dann pissten sie in seine flehend betenden Hände. Zuerst herrschte ich sie an, sie sollten aufhören. Doch als der Fleischklotz, der einmal das Gesicht des Mannes gewesen war, mich aus blutunterlaufenen Augen ansah, ergriff mich Abscheu und ich tat es ihnen nach. Bald schon schlugen wir wieder und wieder mit unseren Gewehren und Stöcken auf ihn ein, traten nach ihm und versuchten herauszufinden, wer ihm die gewaltigsten Schreie entlocken könnte. Blut war überall. Es breitete sich auf der Kleidung des Mannes aus und mischte sich mit dem Dreck, der an unseren Stiefeln klebte. Zusammen mit Adrenalin kochte es in unseren Adern und wir keuchten, doch wir fühlten eine eigenartige Überlegenheit, wie Verbundenheit, waren ergriffen vom Rausch unseres Kampfes für unsere Nation.
Es war genau das, was die Journalisten, die uns begleiteten, aus uns herauskitzeln wollten und was wir später präsentieren würden. Wir duschten und blickten sauber und rein in die Linsen der Kameras, schirmten unsere Augen ab, um nicht geblendet zu werden. Schatten fielen auf unsere Gesichter. Wie rein waren wir wirklich?
Ein Kriegsheld, ja, das würde ich sein. Ein Kriegsheld, wie aus den guten Geschichten. Den Stolz aller tragen, wie zuvor die vertraute Flagge meines Landes, bis zum bitteren Ende.
Mit festen Schritten ging sie durch den Dunst der Hitze und fliegenden Kugeln, die überall um sie herum einschlugen. Schreie und Kommandos gellten durch die Luft und zogen die letzten Reste unserer Wahrnehmung auf sich. Doch ihre dunklen, tief schimmernden Augen inmitten ihres ungewöhnlich zarten Gesichts hoben sich klar aus all dem Schmutz um sie hevor. Und bohrten sich tiefer in mein Inneres, als es eine Kugel je könnte.
Ich rief ihr zu, sie solle stehenbleiben, hielt meine Waffe fest in der Hand. Ich flehte nahezu, dass sie wartete. Denn für einen Mann mit einer Waffe tun sie doch alles?
Aber sie lief weiter und sah mir unvermindert entgegen, ihre großen, schönen Augen beunruhigend ruhig auf meine gerichtet. Immer weiter ging sie, schien ihre Umwelt nicht zu beachten, sondern nur mich allein und mit mir auch den tiefsten Fleck meiner Seele, bis mich eine seltsame Form des Schwindels überkam. Was wäre passiert, wenn sie nicht dem Feind angehört hätte?
Sie war eine Frau und wirkte noch so jung. Doch dies war ein Kampf, die ich ernstnehmen musste und der kein Risiko erlaubte.
Ich hob meine Waffe hoch, zielte. Ich schloss die Augen. Ich atmete. Ich hielt inne. Ich zögerte.
Ich drückte ab.
Zielgenau schlugen meine Kugeln ein, rhythmisch spürte ich den Rückschlag meines Gewehres an meiner Schulter. Spürte jeden einzelnen Rückschlag meiner Schüsse, die sie niederstreckten. Die Schalen meiner Kugeln sprangen durch den Rauch und prasselten nieder in den heißen Sand, der nun von ihrem Blut getränkt wurde.
Sie sah mich an. Fiel zu Boden und starb, ihre Flagge fest umklammert. Eine Flagge, weiß wie Schnee.
Ein Kriegsheld, das ist, was sie alle sehen. Meine Medaillen und Narben, die von meinen Taten zeugen. So wie die Flagge, die nun über meinen Auszeichnungen prangt. Eine Flagge, die mir mehr bedeutet, als alles andere. Die unter dem Staub von so viel mehr berichtet, als es das glänzende Metall darunter vermag. Die letzte Flagge, der ich vertraue. Eine Flagge, einst weiß wie Schnee.
basiert lose auf der Artus-Sage
Herbst 2014,Schottland
Am Anfang war Finsternis.
So oder so ähnlich steht es im Buch der Christen. Es gibt viele solcher Bücher. Eines haben sie gemeinsam, alle erheben Anspruch auf ihre Wahrhaftigkeit. Ich frage mich, wie viele Leute heutzutage noch religiös wären, wenn sie dabei gewesen wären, als diese Bücher geschrieben wurden.
Der Wind frischt auf, und ich hebe den Kopf. Vor mir breitet sich in einem stählernen Grau der Atlantik aus. Es ist kalt, und ich sehe vermutlich genau so aus, wie ich mich fühle. Ein fertiger Ex-Marine in seinen vierzigern. "Hättest wohl besser einen Mantel mitgebracht, du Tor.".
Ein Ziehen im Nacken, denn einen Moment lang konnte ich ihre Stimme beinah hören. Dabei ist Vivian seit über einem Jahrtausend hier begraben.Heute ist ihr Todestag. Die Menschen haben ihr später den Namen Nimue gegeben, weil Mönche die Geschichten überlieferten und Mönche sind noch größere Toren als ich, wie Vivian zu sagen pflegte. So oder so, hier liegt sie nun, auf Handa, etwa eine Autostunde nördlich von Lochinver. Dies ist meine Heimat, früher hieß das Land Fidach. Sie liebte das Meer. Und obwohl ich viele Freunde im Laufe der Jahrhunderte verlor, ging mir kaum ein Tod so nahe wie der von ihr, der Tocher Manawyddans. Sie hatte ihr halbes Leben verflucht verbracht, bis meine Kraft ihr in der Stunde ihres Todes ihren Verstand wiedergab. Denn wie die Sonne neues Leben hervorbringt, so lasse ich Krankes heilen und Wirres wieder klar werden.
"Bin immernoch tausendmal lebendiger als du."
Was der Wahrheit entspricht, dabei scheint nichtmal die Sonne. Solange ich mich erinnern kann, nimmt meine Kraft zu, wenn der Himmel blau und die Sonne stark ist. Natürlich würde mir das niemals jemand glauben, denn Menschen sind einfach gestrickt und in ihre Vorstellung passt das nicht hinein. Ich korrigiere: es passte nicht hinein. Denn neulich musste die ganze Welt sich nach über einem Jahrtausend wieder klar werden: Götter und Monster sind Realität. Ausgerechnet in Amerika wurden einige von ihnen als Avengers bekannt, und seit Iron Man und der Hulk die Staaten unsicher machen, kann ich kaum stillsitzen. Das einundzwanzigste Jahrhundert wird eindeutig riesigen Spaß machen.
Ich fühle mich beinah an damals erinnert, als ich unter dem Namen Gawain mit Arthur zusammen gegen die Sachsen gekämpft habe. Nur dass heute die bösen Jungs nicht an ihrem Volksstamm sondern ihrer Gesinnung unterschieden werden.
"Und heute sitze ich mit Sachsen, Germanen und Franken in der Bar. Das würde einen super Witz abgeben, stimmt´s?", frage ich ins Blaue. Das ist meine Tradition, einmal im Jahr komme ich Vivian besuchen und erzähle ihr das Neueste.
"Fragst du dich gar nicht, wann die Queen kommt, um dich einzukassieren?", höre ich ihren spöttischen Sopran im Wind. Der Gedanke kam mir sofort, als ich von den Avengers hörte, denn irgendjemand muss die Sache ja koordinieren. Einen Hulk kann ich mir nicht als guten Teamspieler vorstellen. Ich selbst habe mich trotz meiner Gaben in den vergangenen Jahrhunderten sehr bedeckt gehalten. Zu gut sind mir die gehässigen Christenpriester und die Inquisition in Erinnerung geblieben. Im Laufe der Zeit sind die Geschichten über mich zu Sagen und dann zu Mythen geworden. Mit dem Zustand kann ich leben.
Was mich wirklich überrascht hat, war Thors Auftauchen.Mit dem Donnerer hatte ich schon Bekanntschaft gemacht, aber ich bezweifle dass er mich heute noch erkennen würde. Dafür müsste es wirklich sonniger sein, nach all den Jahren die vergangen sind. Der Spinner dagegen hatte sich nicht im Geringsten verändert. Aber wieso in Amerika? Dort war der Odinsglaube nie stark, und heute ist er schwach wie nie zuvor. "Frag ihn selber, wenn du ihn triffst. Ihr wart doch beste Freunde."
Vivians Einwand ist berechtigt, Mit Thor konnte man Spaß haben. Er ist immer ein umgänglicher Typ gewesen, zumindest an Regentagen, als er mich im Armdrücken besiegen konnte. Ich merke, dass ich grinse. Warum nicht? In Amerika war ich noch nie.
Inzwischen hat die Dämmerung das Land im Griff. Schwarze Wolken sind aufgezogen und der Sturm, von dem im Wetterbericht die Rede war, ist im Anmarsch."Dann bis zum nächsten Mal, Vivian."
Am nächsten Tag wecken mich die Sonnenstrahlen, die durchs Küchenfenster hereinfallen. Nein, falsch, es ist Ciara, meine Mitbewohnerin. Sie reißt fröhlich die Vorhänge auf. "Dia dhuit ar maidin!", summt sie im Vorbeifliegen. Die stets gut gelaunte Studentin braucht einen Platz zum schlafen, und mein Haus ist einfach zu groß für eine Person. Ich grüße zurück. "Wieder gut geschlafen, ar rìbhinn òg?", ziehe ich sie auf. Solang sie in meinem Haus lebt, wird sie niemals Albträume haben. "Hab gestern noch gebacken, daher dieser Saustall hier."
"Crumpets!", schreit sie entzückt, und durch den Wust ihrer roten Haare sehe ich eine Bewegung draußen vor dem Fenster. Die ersten Schüsse verfehlen ihre schlanke Gestalt, und danach habe ich Ciara bereits unter den Küchentisch gezogen.
In meinem Kopf rasen die Gedanken. Wer kann das sein? Und warum? Warum jetzt? Es gibt nur eine Erklärung. Jemand hat mich gegen Mitternacht nach Hause verfolgt. Durch halb Großbritannien und Schottland noch dazu. Was bedeutet, sie wissen wonach sie suchen, aber nicht, mit wem sie es zu tun haben, sonst würde der Angriff kaum bei Tageslicht stattfinden. "Ciara, bleib unten. Wie seh ich aus?"
"Ich würde sagen, Anfang Zwanzig.", presst sie hervor. Dann kann der Spaß beginnen.
Ich flanke über die Anrichte und drehe die Umgebungstemperatur hoch. So früh am morgen kein Problem. Ein Sprung in den Flur, abrollen und mein Souvenir greifen. Ab nach draußen. Auf Anhieb sehe ich zwei große Männer mit Skimasken und Sturmgewehren.
"Das muss der Sohn dazu sein! Holt ihn euch, wir brauchen ne Geisel!", brüllt der eine los. Haben die ne Ahnung! Mindestens zwei Stimmen antworten.
Bevor ein weiteres Wort fällt, verfalle ich in den Laufschritt, mein Souvenir blitzt freudig. Eine Handbewegung, und der vordere der Gangster verliert seinen rechten Unterarm. Ein Fingerschnipsen, und die Maske des Zweiten geht in Flammen auf. Auch das funktioniert nur wenn die Sonne stark ist. Zwei kampfunfähig, zwei bleiben. Auf der Südseite des Hauses geht es leicht bergab, bis zum Wald. Ich hoffe, dass sich nicht mehr Leute zwischen den Bäumen verstecken. Als ich um die Ecke komme, laufe ich in einen fünften Mann hinein. der überrascht schnauft. Als mein Souvenir sich in seine Hüfte frisst, schnauft er erneut, danach keucht er nur noch. In einem anderen Jahrtausend hätte es ihn, seinen Lord, und seine ganze Familie das Leben gekostet, unerlaubt mein Land zu betreten. Heißt nicht, dass ich weich geworden bin, ich kann mich nur beherrschen. Ich nehme meine letzten beiden Gegner ins Visier und stürme los.
"FIDACH GU BRATH!"
Okay, ab und zu nimmt die Kampfeslust doch Überhand. Mein Atem geht schnell, die Sonne steht gleißend am Himmel, und mein Souvenir konkurriert fast mit ihr.als es seinen stählernen Todestanz aufführt. Meine Gegner schlagen sich nicht schlecht, sie benutzen ihre nutzlos verschmolzenen Gewehre als Schlagstöcke, doch der Kampf ist schnell vorbei.
Die von Ciara gerufene Polizei verschwindet zwei Stunden später, der Pathologe sichtlich enttäuscht, wurde er doch nicht benötigt.
Nun sitzen wir wieder am Küchentisch. Ich fege die Scherben herunter, wir haben uns jetzt die Crumpets redlich verdient.
Mein Souvenir liegt neben meinem Teller. Genau so strahlend, wie ich es in Erinnerung hatte. Wie es immer schon gewesen ist.
"Lahar? Ist das nun..", druckst meine Mitbewohnerin herum.
"Das Echte? Ja das ist es." Ich denke zurück an die vielen Schlachten, und die vielen Leben. Und den Jubel, den tosenden Jubel der nicht enden wollte. Ich grinse Ciara an. "Vivian hatte Recht, weiß du. Es wäre eine Verschwendung." Es war immer schon ein Instrument gewesen, welches gegen die Finsternis eingesetzt werden sollte. Und etwas sagt mir, dass diese Zeit gekommen war.
"Das ist Excalibur."
Denn am Anfang war das Licht.
Wenn ich die Augen schließe, ist wieder alles wie früher. Ich sehe meinen Vater, wie er neben mir im hohen Gras liegt. Er hält einen Speer in der Hand. Ahiga, 'Er, der kämpft', wurde er genannt. Ich höre die Bisonhufe über die Ebenen stampfen, ich höre die Trommeln meines Stamms, welche durch Wald und Wiese schallen. Ich rieche das Gras unter mir, spüre, wie die Halme meine Waden kitzeln. Ich sehe den Pfeilschaft, der die Sehne meines Bogens verlässt und in hohem Bogen durch die Luft fliegt. Damals hieß ich noch Lenmana, 'Das Mädchen, das Flöte spielt'.
Wir lebten im Einklang mit der Natur. Wir nahmen nur, was wir brauchten, und niemals mehr als das. Es war eine Zeit des Friedens.
Doch dann änderte sich alles.
„Kohana“, flüstert die Stimme eines kleinen Mädchens neben mir.
„Ich bin wach“, antworte ich ebenso leise, und öffne meine Augen. Die Bisons und die Trommeln verblassen. Stattdessen sitze ich wieder auf dem H-Querbalken des Hollywood-Schriftzugs in Los Angeles.
„Du sahst aus, als hättest du geschlafen.“ Ich wende den Blick und sehe Jane neben mir sitzen. Sie blickt mich aus ihren großen, blauen Augen an und wirkt aufgeregt. Ich kann es ihr nicht verdenken. In der Nacht ist alles anders, und gerade für Kinder sind Nächte im Freien wie ein Abenteuer, gefährlich und doch verführerisch. Viele Menschen haben Angst vor der Finsternis.
Wie recht sie haben.
„Ich habe nur nachgedacht“, erwidere ich und streiche ihr sanft über den Kopf. Jane ist acht Jahre alt und folgt mir überall hin.
„Über was?“, fragt sie, neugierig wie immer.
„Über Bisons.“
„Du bist seltsam“, befindet sie. Mir verschlägt es für einige Momente die Sprache. Kindermund tut Wahrheit kund, nehme ich an.
„Ja, das bin ich wohl“, sage ich nachdenklich. Der Mond hängt wie eine Scheibe aus Milch über Beverly Hills. Bei Nacht sieht die Stadt atemberaubend aus. Rechts schimmert das dunkle Wasser des Hollywood Reservoirs im Mondschein, links funkelt das Lichtermeer von Los Angeles. Ein paar Glühwürmchen schwirren an mir vorbei. Ich lebe gern hier, denn auch bei Nacht ist Beverly Hills mit seinen Grünflächen und Palmen einzigartig auf der Welt.
„Wunderschön.“ Jane spricht mir aus der Seele. Eine Weile lang sitzen wir einfach bloß nebeneinander und bestaunen das Bild, das sich uns bietet.
Zuerst waren die Männer friedlich. Ich verstand ihre Sprache nicht, sie klang rau und fremd. Unser Schamane war der einzige, der sich halbwegs mit ihnen verständigen konnte. Sie wollten Fleisch, und wir erlaubten ihnen, ein paar Bisons zu jagen. Danach gingen sie wieder. Ich hoffte, sie würden nicht wiederkehren. Unser Land war zwar reich an Wald und Wild, es gab mehr als genug von allem, aber ich hatte ein ungutes Gefühl bei diesen merkwürdig aussehenden Männern.
Natürlich kehrten sie doch wieder und wollten noch mehr Fleisch und sogar Häute. Außerdem brachten sie seltsame Waffen mit. Mein Vater sagte ihnen, dass sie das Gleichgewicht der Natur nicht stören sollen. Er sagte, dass sie die Geister verärgern würden und dass sie nicht zu viel jagen dürften.
Sie hörten nicht auf ihn. Kurz darauf kamen die Stürme.
„Sie kommt“, sagt Jane. Ich wende den Kopf und sehe, wie eine junge Frau in einem weißen Kleid unser H erklettert. Es ist kurz vor Mitternacht. Meine dunkle Stunde bricht gleich an, die Zeit, in der meine Kraft am größten ist. Es ist leicht, in den Kopf der Frau einzudringen und ihre Gedanken zu lesen. Ich sehe große Trauer, Enttäuschung, Verzweiflung.
Hastig rücke ich ein Stück von ihr weg. Der schwarze Nebel, der mich stets umgibt, kehrt die Finsternis im Herzen eines Menschen nach außen, und im Moment möchte ich das bei der Frau gern vermeiden. Ich schließe die Augen und forsche weiter in ihrem Kopf. Ihr Name ist Maggie, sie will Schauspielerin werden – und dies ist das vierte Mal, dass sie hier hinaufklettert. Ihr Herz weint. Diesmal macht sie Ernst.
In völliger Stille sehe ich zu, wie sie sich am linken Längsbalken festhält, während sie nach unten schaut. Der Sturz würde nicht lange dauern. 40 Meter sind nicht viel. Ich höre, wie sie leise schluchzt.
„Wirst du sie retten?“, will Jane wissen.
„Ja“, antworte ich schlicht. Ich weiß, wie weh so ein Sturz tut, und wie es sich anfühlt, wenn jeder Knochen im Leib zerbricht. Es ist meine Aufgabe, ihr das zu ersparen.
„Maggie White“, sage ich dann laut. Maggie erschrickt, sie hat mich vorher nicht gesehen. Ich erhebe mich und verschränke die Arme vor der Brust.
„W-was?“, fragt sie völlig verwirrt. Sie hatte erwartet, sich in ihrem Selbstmitleid zu ertränken und dann zu springen, wenn die Verzweiflung am größten ist. Meine Anwesenheit hat sie aus dem Konzept gebracht. Ich muss sie noch ein bisschen hinhalten, vorher kann ich mein Ass nicht ausspielen. Ihr rotes Haar ist völlig durcheinander.
„Tu das nicht.“ Ich gebe meiner Stimme einen ruhigen Klang, so als würde ich zu einem verängstigten Kaninchen sprechen. Für einen Augenblick sehe ich mich selbst durch ihre Augen, ein zierliches Indianermädchen in Lederrock und Mokassins, das schwach vom Licht der Stadt beleuchtet wird.
„Das geht dich n-nichts an! Lass mich in Ruhe.“
„Du bist viel mehr wert als du glaubst. Bleib bei mir.“
„Ich bin gar nichts mehr wert“, sagt sie mit einem traurigen Lächeln, bevor sie springt. Ich zucke zusammen.
00:00.
Mein nächster Gedanke löst ein heißes Ziehen in meinem Körper aus und verwandelt ihn in einen Schatten. Ich fühle mich so leicht wie Luft, springe ab und rase dem Mädchen hinterher. In einem Atemzug habe ich sie eingeholt. Sie schreit laut, hört aber schlagartig auf, als ich sie berühre und ebenfalls in einen Schatten verwandele. Die Kraft der Geister bindet Maggie an mich, unser Fall wird zu einem Steigflug, wir lassen den Boden unter uns zurück. Gemeinsam schweben wir zwischen zwei Ozeanen, gemalt aus Licht und Finsternis. Ich dringe in Maggies Verstand ein und sehe, wie sie alles in sich aufsaugt; Die Schönheit der Sterne und des Monds über uns, die funkelnde Stadt unter uns, den rauschenden Wind. Ich sehe ihr Herz und weiß, dass sie heute nicht springen wird. Sie hat eine ganz neue Welt gesehen.
Um die Stürme zu besänftigen, sah unser Schamane nur einen Ausweg. In einer Nacht, so finster wie keine vor ihr, vollzog er ein antikes Ritual. Als Tochter des Häuptlings meldete ich mich freiwillig, um zum Gefäß der Geister zu werden. Ich starb und wurde neu geboren. Von nun an verlieh mir der Manitu in jeder Nacht unendliche Kraft. Doch diese Macht hatte ihren Preis: Ich würde nie in den ewigen Jagdgründen meine Ruhe finden.
In den nachfolgenden Jahrhunderten musste ich zusehen, wie die fremden Männer sich überall ausbreiteten. Die Bisons verschwanden, die Wälder wurden gerodet. Mein Stamm, die stolzen Chowanok, verschwand gemeinsam mit unserer Kultur und unserer Sprache. Ich kämpfte für eine Ewigkeit, und doch verlor ich den Kampf.
Irgendwann war ich allein.
Ich halte in der Luft an, lasse uns dann wie eine Feder zu Boden sinken. Wir landen genau dort, wo wir losgeflogen sind. Ein gedachter Befehl gibt uns unsere Körper wieder. Maggie bricht in die Knie und verliert wie schon so viele vor ihr das Bewusstsein. Ich trete zurück, damit der Nebel sie nicht berührt.
„Wirst du sie erwählen?“, will Jane wissen. Ich setze mich mit überkreuzten Beinen auf den Erdboden. Jane sitzt mir gegenüber. Ein leichter Wind kommt auf und fährt in die Wipfel der Palmen.
„Ich weiß nicht.“ Ich kann einen Menschen erwählen, der gegen den schwarzen Nebel immun ist. Es ist keine Wahl, die ich leichtfertig treffe, denn sie bindet zwei Schicksale untrennbar aneinander. Ich nenne es das 'Versprechen bis in den Tod'.
„Maggie braucht Hilfe“, sagt das kleine Mädchen traurig. Im Schlaf sieht Maggie friedlich aus, und sobald sie erwacht, muss ich dafür sorgen, dass es auch so bleibt.
„Ich weiß.“ Ich stütze die Ellbogen auf meine Knie und seufze schwer.
„Du wusstest, dass dieser Moment irgendwann kommt.“
„Es tut mir so leid, Jane. Ich konnte dich nicht retten.“
„Hilf den Lebenden.“ Ihre Worte sind kaum mehr als ein Hauch. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. In ein paar Tagen wäre sie volljährig geworden.
„Du wirst immer in meinem Herzen sein“, flüstere ich mit erstickter Stimme.
„Und du in meinem. Bleib stark, Kohana.“
Ich ertrank, verhungerte, verdurstete, doch nichts konnte mich erlösen. Ironischerweise fühlte ich, wie jedes Jahrhundert, das ich in der Finsternis verbrachte, meine Liebe zum Leben nährte. Meine Existenz wurde von einem Widerspruch geprägt: Nach so vielen Kämpfen, nach so viel Tod und Leid, welches ich erlebte, verspürte ich den Wunsch, das Licht zu bringen. Die Kraft des Manitu sollte nun Leben retten, anstatt sie zu nehmen.
Ich wende mich Jane zu, deren Gestalt schon verblasst, und streichele ihr über ihre blonden Haare. Sie schenkt mir ein letztes Lächeln.
Mit feuchten Augen hole ich die kleine, aus Knochen geschnitzte Flöte aus meiner Rocktasche. Janes Abschied besteht aus ruhigen Flötentönen, welche durch die nächtliche Luft schweben und sich irgendwo in der Ferne verlieren. Sie erzählen von Sehnsucht, von längst vergangenen Jagden, und von Liebe.
„Màdjàshin, Jane.“
„Passiert jetzt vielleicht irgendwo irgendetwas?“, fragte Enigma, während er pfeilschnell durch die Luft glitt, hoch über den Häusern der Stadt.
„Nein, immer noch nichts“, kam Clarissas Antwort aus dem Kommunikationssystem seines Anzuges.
Enigma seufzte. Er mochte es wirklich sehr zu fliegen, aber auf die Dauer schlich sich da doch eine gewisse Langeweile ein. Er war, von den Flügen über die Stadt mal abgesehen, kaum außerhalb des Verstecks gewesen, seit Clarissa ihn einst schwer verletzt und orientierungslos aus einem Fluss gezogen hatte. Sie war damals noch eine recht junge Frau gewesen, wenn auch eine unfassbar kluge. Sie hatte ihn sofort als eine bis dahin unbekannte Pokémon-Art erkannt und versteckt, denn sie hatte auch gewusst, dass neu entdeckte Arten zum Teil sehr skrupellos erforscht wurden. Über die Jahre hinweg hatte sie ihn aufgezogen und ihm auch seinen bedeutungsvollen Namen gegeben, einerseits, weil er eine gewisse Beerensorte sehr mochte und andererseits, weil er und seine Herkunft nun einmal rätselhaft waren. Schließlich hatten die beiden entdeckt, dass Enigma selbst nach Pokémon-Maßstäben über besondere Kräfte verfügte, welche er für das Wohl der Menschen und Pokémon einsetzen wollte. Vielleicht, weil er so das Gefühl hatte, doch zu ihnen zu gehören, obwohl er immer von ihnen getrennt gewesen war. Clarissa hatte das Versteck ausgebaut und seinen Schutzanzug konstruiert, der zugleich eine Maskerade darstellte. Seitdem hatte Enigma Illumina City beschützt und die Verbrecher der Polizei auf dem Silbertablett serviert. Was leider auch dazu geführt hatte, dass es inzwischen kaum noch etwas für ihn zu tun gab. Zudem fragte er sich langsam, ob Clarissa durch ihn nicht auch ein wenig von den anderen isoliert worden war.
Plötzlich schreckte ein lauter Knall Enigma aus seinen Gedanken.
„Unter dir tut sich was!“, schrie Clarissa. Enigmas Anzug hatte an mehreren Stellen Kameras, die ein Bild übertrugen. Dadurch hatte Clarissa stets annähernd vollständige Rundumsicht über Enigmas Standort.
Enigma richte seinen Blick nach unten. Eine von oben geradezu winzig erscheinende Gestalt stand in der Mitte der Straße und schoss Feuer nach allen Richtungen.
„Ich zoome ran“, sagte Andrea und fügte kurz darauf hinzu: „Es ist ein Pokémon. Ein Caesurio.“
„Was?“, fragte Enigma ungläubig. „Ein Caesurio beherrscht keine Feuer-Attacken.“
„Ich habe auch keine Ahnung, wie das sein kann, aber es sieht gefährlich aus. Sei bitte vorsichtig.“
„Natürlich“, versicherte Enigma und begab sich in einen halsbrecherischen Sturzflug. Er raste mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die Straße zu, bremste schließlich abrupt ab und landete wenige Meter vor dem Caesurio. Trotz seines eigentlich ziemlich überraschenden Auftrittes konnte Enigma keine Verblüffung im Gesicht des anderen Pokémon erkennen, sondern starrte stattdessen nur in zwei kalte und absolut erbarmungslose Augen.
„Hör auf damit“, teilte Enigma dem Caesurio telepathisch mit, denn manchmal genügte das schon, um ein wild gewordenes Pokémon zu beruhigen.
Das Pokémon mit der schimmernd roten Rüstung reagierte, indem es seinen rechten Arm auf Enigma richtete, die Spitze des Arms einfach zur Seite klappte und für den Bruchteil einer Sekunde ein Rohr darin enthüllte, bevor plötzlich aus dem Arm ein gigantischer Feuerstoß schoss, dem Enigma jedoch mit einem beherzten, von Psycho-Kraft beschleunigten Sprung zur Seite ausweichen konnte.
„Caesurio ist ein Unlicht/Stahl-Typ“, hörte er Clarissas Stimme. „Das heißt, dass du mit Psycho-Attacken keine Chance hast, es sei denn, du kommst dazu, Wunderauge einzusetzen. Aber selbst dann macht es dir der Stahl-Typ noch schwer.“
„Zum Glück habe ich Alternativen“, erwiderte Enigma. Er konzentrierte sich und sofort formte sich in seiner rechten Hand eine blau leuchtende Kugel. Mit aller Kraft schleuderte er die Aurasphäre auf seinen Gegner, doch mitten in der Luft traf sie auf etwas und explodierte. Kurz sah Enigma eine dünne Schicht in der Luft, die wie die Oberfläche einer Kugel seinen Gegner umgab.
„Schutzschild“, sagte Clarissa.
„Offenkundig, aber-“ Enigma kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn plötzlich sprang das Caesurio auf ihn zu, sein linker Arm unheilvoll leuchtend. Enigma sprang zur Seite, der Nachthieb ging ins Leere, doch das Caesurio legte mit seinem anderen Arm direkt nach. Enigma duckte sich unter dem Schlag weg, rollte zur Seite und kam wieder auf die Füße.
„Es ist verdammt schnell“, dachte Enigma, „Schneller, als man es einem Caesurio zutrauen möchte.“
Mehr beschäftigte ihn allerdings die Frage, warum er das Schutzschild des Caesurio nicht hatte durchbrechen können. Es gab drei Möglichkeiten, bei denen ein Schutzschild wirkungslos war. Die erste war die Fähigkeit Schwebedurch, die er nicht hatte. Die zweite waren bestimmte Attacken, die er nicht beherrschte. Doch die dritte Möglichkeit hatte bisher immer funktioniert: Mit einem ausreichend starken Angriff konnte auch ein Schutzschild durchbrochen werden. In den Kämpfen normaler Pokémon funktionierte so etwas nicht, die Angriffe waren einfach zu schwach, aber Enigma war ja auch kein gewöhnliches Pokémon.
„Aber jetzt...“, dachte Enigma. „Andererseits kann ein Schutzschild auch nicht andauernd eingesetzt werden. Wenn ich also nur permanent angreife...“
Er formte an seinen Händen zwei neue Aurasphären und schleuderte sie nacheinander auf das Caesurio. Wieder trafen sie auf das Kraftfeld. Enigma ließ ein regelrechtes Dauerfeuer auf seinen Gegner niederprasseln, doch nichts passierte.
„Sein Schutzschild scheint absolut undurchdringlich.“ Clarissas Stimme klang verblüfft. „Flieg erst einmal hoch, dann können wir in Ruhe überlegen, was wir tun. Dort kann es dich ja nicht angreifen.“
Enigma stimmte ihr still zu, sprang in die Luft und wollte nach oben fliegen, doch plötzlich erhob sich auch das Caesurio vom Boden und stieg in die Luft auf. Ungläubig sah Enigma, wie es ihm tatsächlich hinterher flog.
„Es hat eine Art Antrieb in den Füßen“, teilte Clarissa mit. In ihr Staunen hatte sich Besorgnis gemischt.
„Ich denke, wir haben nur noch ein Option“, sagte Enigma grimmig. „Ich brauche mehr Kraft, nicht wahr?“
„Das ist viel zu gefährlich! Du...“
Enigma unterbrach sie: „Weiß ich, aber...“
Doch Clarissa ließ ihm ebenfalls keine Gelegenheit, zu Ende zu sprechen: „Es ist dir außerdem zu dicht auf den Fersen. Du hast dafür keine Zeit.“
„Ich habe seine Flugweise beobachtet. Es ist nicht ganz so wendig wie ich.“
„Du kannst das nur ohne den Anzug machen. Du wärst vollkommen ungeschützt und ich könnte dich nicht mehr hören. Und man würde dich genau sehen.“
„Das muss ich wohl in Kauf nehmen.“
„Bitte, tu es nicht.“ Clarissas Stimme klang so flehend, dass Enigma für einen Moment zögerte.
„Tut mir Leid“, sagte er dann aber. Er änderte seine Flugrichtung senkrecht nach oben. Während er aufstieg, verlangsamte er leicht sein Tempo und ließ so das Caesurio ein wenig näher kommen. Als es ganz nahe war, konzentrierte er sich und löste, ohne auf Clarissas letzte Bitten zu hören, telekinetisch seinen Anzug von seinem Körper, schleuderte ihn dem Caesurio hinter sich entgegen und machte einen sofortigen Schlenker Richtung Erdboden. Die kurze Ablenkung und der plötzliche Richtungswechsel erfüllten ihren Zweck.
„Jetzt oder nie“, dachte Enigma und fokussierte sein Inneres auf die noch in ihm schlummernde Stärke. Er spürte, wie seine eigentlich zerbrechlich aussehende Gestalt an Festigkeit gewann. Wie aus dem Nichts erschienen neue Muskelstränge, sein langer Schweif, den er im Kampf ohnehin nur selten benutzte, wurde kürzer. Und Enigma selbst wurde größer, wenn auch nur wenig.
Nach einigen Sekunden war die Mega-Entwicklung abgeschlossen. Enigma landete wieder auf der Straße. Das Caesurio ebenfalls, aber in einiger Entfernung. Enigma sammelte Kraft in seinem rechten Arm. „Mal sehen, ob dein Schutzschild auch das aushalten kann“, dachte er. Blitzschnell rannte er auf seinen Gegner zu und stieß dabei mit aller Kraft seinen Arm nach vorne. Er spürte einen leichten Widerstand, doch der Power-Punch durchbrach das Schutzschild, als wäre es aus Pappe. Als Enigma seinen Gegner mit dem Hieb traf, wurde dieser mit einem lauten Krachen gegen die Wand eines hinter ihm liegenden Hauses geschleudert. Nachdem sich der so entstandene Staub gelegt hatte, verharrte das Caesurio noch einen Moment, leicht in die Mauer gedrückt. Dann, ganz langsam, löste es sich aus der Mauer heraus, doch anstatt, wie Enigma es erwartet hatte, kampfunfähig umzufallen, blieb es stehen, die Miene nach wie vor ausdruckslos und ohne jedes Anzeichen von Furcht oder Schmerz. Im nächsten Moment schoss es wieder einen Flammenstrahl nach Enigma, welches so ein weiteres Mal gezwungen wurde, zur Seite zu springen. Als sich die Flammen verzogen hatten, war das Caesurio verschwunden. Enigma sah sich hektisch um, nutzte seine erweiterten Sinne, doch: Nichts. Abgesehen davon, dass Sirenen ertönten und Enigma zu der Überzeugung gelangen ließen, dass er ebenfalls schleunigst verschwinden sollte, selbst wenn eine Standpauke von Clarissa auf ihn wartete.
„Sie sollten mein Pokémon stärker machen und nicht die halbe Stadt damit zerlegen!“, rief der junge Mann im Anzug zornig.
„Sehen Sie es als Feldtest“, entgegnete die Frau im Laborkittel.
„Unsere Zusammenarbeit ist damit beendet!“ Die Stimme des Mannes klang endgültig. „Caesurio, wir gehen!“
Sein Pokémon rührte sich nicht.
„Die Befehlsverhältnisse haben sich ein wenig geändert“, meinte die Frau fast gelangweilt.
Fassungslos beobachtete der Mann, wie sein Pokémon auf ihn zukam, langsam und bedrohlich. Instinktiv wich er zurück und stieß gegen die Wand des Raums. Er sah panisch von seinem Pokémon zu der Frau und wieder zurück zu seinem Pokémon, doch in den Augen beider lag nichts als absolute Erbarmungslosigkeit.
Die Sonne senkt sich langsam hinter den Horizont und taucht den Himmel mit ihren letzten Strahlen in ein tiefes Rot. Kevin steht am Fenster und beobachtet dieses Schauspiel. Ist es nicht schön, wie friedlich diese Welt -- DAS KANN JETZT DOCH NICHT WAHR SEIN, ODER?!
Kevin schaut auf sein Smartphone, dessen Vibrationsalarm ihn gerade auf den Boden der Tatsachen hat zurückknallen lassen. Das Display blinkt in allen Regenbogenfarben und in großen, rosafarbenen Lettern erscheinen die Worte: "Gefahr ist im Anflug. Du wirst gebraucht." Kevin stöhnt genervt auf. Muss das gerade wirklich sein? Aber gut, was sein muss, muss wohl sein. Dann wird er eben gebraucht.
Kevin begibt sich zu seinem Geheimversteck, das sich Kleiderschrank nennt. Er sucht nach dem einen, wichtigsten Kleidungsstück. Zwischen all den Kleidern, rosafarbenen Anzügen und Bärchenkostümen ist es ganz schön schwer zu entdecken. Aber letztendlich wird er doch fündig und zieht sein Superheldenkostüm heraus. Jetzt darf er wieder das Böse bekämpfen.
Wenig später ist Kevin umgezogen. Der hautenge Anzug in allen Farben des Regenbogens sowie die niedlich grinsende Affenmaske sitzen ihm immer noch wie angegossen. Kevin rennt auf sein Dach und stellt sich in einer möglichst erhabenen Pose auf. "Ich bin der Rainbow Monkey Man! Das Böse muss erzittern, wenn ich auf den Plan trete!" Er lässt lilafarbene Flügel aus seinem Anzug wachsen und schwingt sich in die Lüfte. Das Böse soll sich irgendwo im Südosten der Stadt befinden, so stand es zumindest in der Nachricht auf seinem Smartphone. Kevin weicht gekonnt allen Hochhäusern aus und sieht sich konzentriert nach dem Feind um, den es zu bekehren gilt.
"Oh, da bist du ja!" Kevin dreht sich nach der Stimme um. Da steht der Feind, in einem schwarzen Anzug mit schwarzen Flügeln, eine schwarze Krähenmaske tragend, und kommt langsam auf ihn zu. "Ich habe mich schon gefragt, wie lange du wohl brauchen wirst, Rainbow Monkey Man. Jetzt hat dein letztes Stündlein geschlagen! Deine Stadt gehört schon bald mir!"
Kevin stürmt direkt auf ihn zu. "Ich werde dich besiegen! Mit der Macht der Liebe!", brüllt er und springt auf den schwarzen Angreifer. "Hier kommt die Kuschelattacke des Todes!" Er umarmt den Feind, kuschelt ihn, knuddelt ihn und wirft ihn schließlich zu Boden. Dann setzt er sich auf ihn und kitzelt ihn, bis der Feind vor Lachen absolut am Ende ist.
"Ich gebe auf! Ich gebe auf!", keucht dieser, sodass Kevin seine Angriffe einstellt.
"Dann wollen wir doch mal sehen, wer sich unter dieser Maske befindet", sagt Kevin und hebt die Krähenmaske an. Der Feind krallt sich daran fest, will nicht gesehen werden, will inkognito bleiben, doch Kevin lässt ihm keine Chance. Er lenkt den Feind mit einer weiteren Kitzelattacke ab, woraufhin er die Maske von dessen Gesicht heben kann. Als er dem Feind in sein echtes Gesicht blickt, schreckt er zurück. "B-Blasius? D-du?", fragt er ungläubig. "Wen hast du denn erwartet?", antwortet sein Gegenüber. "Den Heiligen Geist?" Kevin kann es nicht fassen. Da unter dieser Maske steckte sein Freund, sein Lebensgefährte, der Mann, dem er ewige Treue bis in den Tod geschworen hat. Warum tut er so etwas? Warum will er die Stadt bedrohen? Warum will er ihn bedrohen? Will er die Beziehung beenden? Will er wieder frei sein? Aber warum kann er so etwas nicht mit ihm besprechen?
Kevin sitzt am Boden und nimmt seine Affenmaske ab. "Warum, Blasius?", fragt er. "Warum?" Sein Freund erhebt sich und reicht ihm seine Hand. Kevin zögert. "Nun steh schon auf", sagt Blasius, worauf Kevin ihm tatsächlich Folge leistet. "Ich habe das getan", sagt der Mann im schwarzen Krähenkostüm, "um dir eine Lektion zu erteilen." Kevin blickt ihm traurig ins Gesicht. Wofür eine Lektion? Er will doch nur das Böse besiegen, das ist alles. "Du mit deinem bunten Kostüm und tuntenhaften Getue und deiner 'Ich-rette-die-Welt-mit-der-Macht-der-Liebe'-Einstellung machst uns Superhelden nur lächerlich. Und du bist wohl der klischeehafteste Schwule, der mir je begegnet ist." Kevin kommen die Tränen. Was ist so falsch daran, sich so zu benehmen, wie es einem gefällt und wie man sich wohlfühlt? Nur, weil die Gesellschaft sich da in irgendetwas bestätigt fühlen könnte, darf man das nicht mehr? "Kevin, nicht weinen", sagt Blasius und nimmt den Regenbogenaffen in den Arm. "Ich liebe dich so, wie du bist. Aber ich bin bestimmt nicht der Einzige, der dankbar wäre, wenn du dich etwas zurückhalten würdest." Kevin nickt. War das gerade wirklich die letzte Mission des Rainbow Monkey Man? Vielleicht. Aber Kevin ist sich nach wie vor sicher, dass er nie damit aufhören wird, das Böse zu bekämpfen. Auch, wenn er dafür in Zukunft eine andere Identität brauchen wird.
Angelehnt an den Algerien-Krieg von 1954 bis 1962, der die Auseinandersetzung der Front de Libération Nationale (Algerische Befreiungsfront, kurz FLN) und Frankreich behandelt.
Ich hole mein Feuerzeug raus und stecke mir eine Zigarre an. Der Anblick, der sich mir bietet, wenn ich den Abhang hinunter blicke, lässt sich nur mit ordentlich Nikotin im Blut ertragen. Ich blase eine Rauchwolke in die Luft, dann wandert mein Blick wieder auf die Opfer des Massakers. Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge alle reihenweise aufgestellt und erschossen. Es hätten ja algerische Rebellen sein können. Bei dieser fadenscheinigen Begründung muss ich lachen. Es mag im Angesicht zu den Opfern unpassend erscheinen, doch ich kann nicht an mich halten, bis der vom Wind aufgewirbelter Wüstensand in meine Lungen strömt und mein Lachen in ein Röcheln verwandelt.
„Nun Sorbon, wie wäre es, wenn Sie damit aufhören, melancholisch Tote zu betrachten und sich stattdessen fertig zu Abmarsch machen?“ Überrascht von der Stimme, die plötzlich die Stille durchschneidet, fahre ich herum. Hinter mir steht Lieutenant Gardy. Ich hasse diesen Kerl. Er ist gut einen Kopf kleiner als ich und generell eine sehr schmächtige Gestalt, trotzdem – oder vielleicht auch genau deswegen – ist Gardy eine vom Ehrgeiz zerfressene Person, der sich auf keinen Fall mit dem Titel eines Lieutenant begnügen wird. Kaum zu glauben, dass so jemand im Militär über „Le Gardien Blanc“, dem tollen Superhelden, der die Stadt Paris vor unzähligen Verbrechen bewahrt hat und von ihren Bewohnern schon fast verehrt wird, steht. Aber was will man machen, wenn man als Zivilperson Laurent Sorbon für den Kriegsdienst eingezogen wird?
„Jawohl, Lieutnenant“, antworte ich und nehme mit übertriebenem Elan eine stramme Haltung an, „aber darf ich mir eine Frage erlauben?“
„Ein Soldat soll eigentlich nur Befehle befolgen, doch heute habe ich einen guten Tag. Also wo drückt der Schuh, Sorbon?“
„Lieutnenant, wieso mussten wir hier so viele Zivilisten ermordet?“
Ich stelle diese Frage eigentlich nur, weil ich wieder sehen möchte, wie sich Gardy aufregt und sein Kopf eine so herrlich rote Farbe annimmt, aber der Lieutnenant bleibt ganz ruhig bei seiner Antwort: „Das, Sordon, waren keine Zivilisten. Diese Menschen haben Angehörige der FLN in Ihrem Dorf versteckt. Sie waren somit Rebellen, die unser Vaterland bedroht haben.“
„Sie haben zwei Verwundete Landsleute aufgenommen und gepflegt. Rechtfertigt das unser Vorgehen? Wir haben ihr Dorf dem Erdboden gleich gemacht und anschließend alle Dorfbewohner erschossen.“
Vielleicht frage ich nur weiter, um doch noch einen Wutanfall zu provozieren, vielleicht meldet sich mein Gerechtigkeitssinn aber zum ersten Mal wieder, nachdem er seit meiner Einziehung von Patriotismus betäubt worden ist. Gardy jedenfalls zeigt immer noch nicht die von mir erwartete Reaktion. Er antwortet weiterhin so monoton, dass es schon fast unheimlich erscheint: „Selbst wenn es keine Rebellen waren, Sorbon, dann spielt es trotzdem keine Rolle. Frankreich wird diesen Krieg ohnehin gewinnen, die FLN wird zerschlagen und Algerien bleibt ein Teil Frankreichs. Meinen Sie wirklich, dass dann noch irgendjemand noch 120 Personen fragt, die mal irgendein namenloses Dorf in der Pampa bewohnt haben? Nein mein Lieber, dann werden alle brav das Maul halten.“
Nach diesen Worten dreht Gardy sich um und lässt mich stehen. Dass er mir noch zuruft, ich solle mich jetzt gefälligst zum Abmarsch bereit machen, nehme ich nur noch unterbewusst wahr.
Ich verharre weiter mit gesenktem Kopf, den Blick erneut auf die Toten gerichtet, und denke über Gardys Worte nach. Er mag ein verachtenswerter Kerl sein, aber er hat recht – mit allem, was er gesagt hat.
Nach einiger Zeit sehe ich mich um. Außer mir ist mittlerweile kein französischer Soldat mehr zu sehen. Wahrscheinlich haben sie sich schon versammelt, um diesen Ort, an dem so viel Blut klebt, zu verlassen und alles zu verdrängen. Meine einzige Gesellschaft sind die Trümmer des Dorfes und seine toten Einwohner. Dann gehe ich los.
Ich weiß nicht in welche Richtung ich gehe, oder wie lange schon – es ist auch egal. Wozu sollte ich Menschen beschützen, die sich doch sowieso nur gegenseitig vernichten? Wir schlachten Menschen ab, die vor Jahren noch gemeinsam mit uns gegen Nazi-Deutschland in die Schlacht gezogen sind, weil sie jetzt eventuell Feinde sein könnten und kommen am Ende auch noch ungeschoren davon. Aber das Schlimmste ist, wir sind nicht die Einzigen. Irgendwo auf der Welt wird doch immer jemand erschossen, weil er irgendetwas gemacht hat oder überhaupt im Verdacht steht, etwas getan zu haben, das irgendjemandem nicht gepasst hat. Und auch ich bin eine von diesen Millionen Marionetten in diesem grausigen Theaterstück, auch ich habe getötet, weil es mir befohlen wurde, ich bin nicht besser als irgendjemand anders. Und ich nenne mich selbst einen Superheld, es ist zum heulen.
Plötzlich ertönt ein Knall, mein linkes Bein gibt unter mir nach und ich kippe nach hinten. Wäre ich auf Beton gefallen hätte es vermutlich mehr wehgetan, aber der Wüstensand ist weich und es ist schon fast angenehm, in ihm zu landen und erst recht, in ihm zu liegen. Nach kurzer Zeit umringen mich etwa ein Dutzend Männer, die von ihren schwarzen Gewändern vollständig verschleiert werden. Das einzige, was ich von ihnen sehen kann, sind ihre Augenpaare. Der Schmerz in meinem Bein könnte schlimmer sein. Ich kann immer noch meinen Kopf heben und witzeln: „Na, da hätte euer Scharfschütze aber besser zielen können.“ Es gibt keine Antwort, stattdessen tritt einer der Männer vor und richtet einen Gewehrlauf auf mich. Ich habe die Kugel gesucht und sie hat mich gefunden. „Le Gardien Blanc“ in seinem weißen Gewand hätte diese Rebellen vermutlich mit links und angeschossen besiegen können, aber diesen Superhelden gibt es nicht mehr. Hier in der Wüste bin ich nur der einsamer französischer Soldat, der sich aus irgendeinem Grund von seiner Kompanie entfernt hat. Ich bin Laurent Sorbon.
Die meisten Menschen sehen in einem solchen Moment vermutlich ihr Leben noch einmal an sich vorbeiziehen, doch ich sehe die Zukunft bildhaft vor mir: Die Bürger von Paris werden sich fragen, wo ihr so beliebter Superheld wohl ist, doch auch ihn werden sie irgendwann vergessen. Laurent Sorbon wird wahrscheinlich irgendein Ehrenkreuz nachträglich bekommen, weil er so heldenhaft bei der „Befriedung“ Algeriens mitgewirkt hat und dabei unglücklicherweise heroisch sein Leben lassen musste. Wieder muss ich lachen, doch erneut strömt vom Wind aufgewirbelter Wüstensand in meine Lunge und verwandelt mein Lachen in ein Röcheln. Dann drückt der eben vorgetretene Rebell ab und mir wird schwarz vor Augen.
Kühle Nachtluft umgab mich, als ich meinen Blick über die Häuserreihen schweifen ließ. Der Gedanke an mein warmes Zuhause ließ mich inmitten dieser bewölkten Novembernacht frösteln.
Die Menschen dort unten interessierten sich nicht für mich. Zu hoch stand ich für sie, zu sehr waren sie mit ihren eigenen Belangen beschäftigt. Wer sollte sich auch um ein siebzehnjähriges Mädchen kümmern, das sich zufällig auf dem Dach eines Hochhauses befand und die Stadt überblickte?
Natürlich niemand.
Ich stand am Rand des Daches und ließ die Eindrücke meiner Umgebung auf mich wirken. Der Lärm der Autos drang an meine Ohren, die grellen Neonleuchten vernebelten meine Sicht und ich vernahm auf merkwürdige Art und Weise den Geruch des Wassers im Hafen. Ob ich mir das womöglich nur einbildete?
Nur unwesentlich später spürte ich Kälte auf meinem Gesicht. Ich wischte mit meinem Finger über die Wange und erhaschte die erste Schneeflocke dieser Jahreszeit. In den nächsten Sekunden breitete sich die weiße Pracht immer weiter aus; von fern bis nah erschienen nun Schneeflocken vom Himmel und sie tänzelten anmutig und vom Wind getragen bis zum Boden.
Endlich war der Moment da!
Darauf bedacht, die Welt unter mir zu betrachten, trat ich an die Kante. Noch immer vermischten sich die Lichter der Stadt und boten ein wahres Schauspiel der Gefühle.
Ich schloss meine Augen; meine Sinne nahmen die Umgebung noch immer wahr.
Und ich ließ mich nach vorne fallen.
Der Fall in die Tiefe dauerte. Erst langsam, dann immer schneller. Der Wind blies um meine Ohren, das Adrenalin breitete sich in meinem Körper aus. Wie in einem Rausch gefangen ließ ich den Moment auf mich wirken und wartete. Ich öffnete die Augen wieder, breitete dabei meine Arme aus. Keiner sah mich hier, keiner sollte wissen, was ich zu tun gedachte. Nur ich und meine Umwelt existierten gerade.
Und mit einem Mal stoppte ich in der Luft.
Mit einer natürlichen Bewegung drehte ich mich normal hin und sah zu der Menschenmenge, die sich weiter unten gebildet hatte. Ein Jugendlicher von etwa fünfzehn Jahren befand sich inmitten des Kreises, einsam und verlassen. Er weinte bitterlich.
Eine Hand vor den Mund haltend stieß ich meinen Atem aus. Um den Betroffenen hatte sich ein feiner, schwarzer Nebel gebildet, der sich zunehmend verdichtete.
„Das wird wohl schwierig werden“, murmelte ich mir dabei selbst zu und seufzte.
Ich richtete meinen linken Arm senkrecht nach oben, wartete einen kleinen Moment und hieb schließlich schnell nach unten. Ein metallisch anmutendes Klirren folgte, bevor ich das Ergebnis klar und deutlich vor mir sah. Ein Riss im Raum, der langsam an Größe gewann und ebenfalls den merkwürdigen schwarzen Nebel absonderte. Mein Zutritt zu einer neuen Welt.
Ich schlüpfte hindurch, so lange die Verbindung aufrecht stand und ließ die von Schnee bedeckte Stadt hinter mir. Mich erwarteten Regentropfen, die unaufhörlich vom Himmel prasselten und jeden zu verscheuchen versuchten, der sich nach draußen wagte. Die Menschenmenge war verschwunden, als wäre sie nie hier gewesen.
Mein Blick schweifte umher. Die Umgebung fühlte sich gänzlich anders an, bildeten doch wenige zerstörte Häuser einen anderen Eindruck der Atmosphäre. Die Stadt war jedoch dieselbe. Das bestätigten mir meine Sinne und auch einige ähnliche Bauten, die ich wieder erkannte.
Plötzlich vernahm ich in einiger Entfernung ein Kreischen. Ich sah nach rechts, wo ich tatsächlich zwei verzerrte Schatten sah, die sich gegen einen Jungen stellten. Dieser sackte jedoch gleich zu Boden, als würde er den anderen klein beigeben.
Eile ist gefragt!
Ich stieß mich in der Luft ab und begab mich zum Ort des Geschehens. Die Hände klatschte ich zusammen, zog sie jedoch langsam wieder auseinander, nur um den Blick auf einen länglichen Gegenstand freizugeben, der sich materialisierte. Zu seiner vollen Größe herangewachsen, nahm ich ihn schließlich in die Hand und er flammte bläulich auf.
Mein treues Schwert, „Seelenjäger“. Auch wenn der Name nicht wörtlich zu verstehen war, so war er doch ein Teil von mir und meiner Aufgabe in dieser Welt. Die blauen Flammen, die das Schwert aussandte, waren meine Zeugen für meine Taten.
Die Schatten hatten mich noch nicht bemerkt. Ein Wunder; die letzten waren bei ihrer Sache wesentlich aufmerksamer als diese beiden Exemplare. Aber das sollte mir nur recht sein.
Mit einem gekonnten Schwerthieb teilte ich den mir nächsten Schatten in zwei. Erfolgreich, wie ich gleich danach feststellen durfte, da er laut aufschrie, während die Flammen an seiner Gestalt empor züngelten. Der zerschlissene und zerfetzte mantelähnliche Umhang wies keinerlei Gegenwehr auf und so war es dem Wesen nicht möglich, in dieser Situation noch etwas zu unternehmen. Nicht einmal der Regen konnte etwas gegen das alles zerfressende Feuer unternehmen. Mein Augenmerk sollte jedoch dem anderen gelten.
Dieser hatte mich in der Zwischenzeit natürlich ausgemacht und bereitete sich selbst mit einem beschworenen, finsteren Schwert auf ein Duell vor. Mit hohem Tempo schnellte der Schatten nun nach vorne und wollte mir sein Schwert in die Seite rammen. Jedoch konnte ich noch rechtzeitig parieren und ihn aufhalten. Verdammt, das hatte ich nicht kommen sehen!
Mit einigem Kraftaufwand stieß ich seine Klinge nach unten und machte einen Satz rückwärts. Ich musste ihn beobachten, um zu gewinnen. Scheinbar hatte er diese Aktion aber auch nicht kommen sehen, da er träge dazu überging, das Schwert wieder in die Höhe zu hieven.
Ich schluckte. Wenn ich ganz ehrlich war, machten mir diese Dinger selbst als Traumwanderin noch immer Angst. Es handelte sich hier nicht um irgendwelche Wesen, die die Träume der Menschen heimsuchten. Man nannte sie „Seelenlose“; stets auf der Suche nach einem geeigneten Gefäß für ihre verlorenen Gedanken. Je größer der Wunsch danach, desto stärker waren sie auch und genau das machte sie so unberechenbar. Ihr Äußeres gab keinen Aufschluss über ihre wahre Stärke. Der wallende, zerfetzte schwarze Mantel; dazu schwebten sie über dem Erdboden. Ganz so, als wollten sie nicht einmal verbergen, dass sie nicht an diese Welt gebunden waren.
Der Seelenlose startete einen neuen Angriff. Wieder hatte ich mit seinem Tempo zu kämpfen und konnte dem Stoß nur knapp ausweichen. Ich hingegen ließ mein Schwert auf ihn niedersausen, wobei er diesen auch rechtzeitig parierte und wieder eine Patt-Situation erzwang. Zähneknirschend erinnerte ich mich, wie träge er vorhin seine Waffe emporheben musste und wusste, dass dies wohl meine einzige Möglichkeit war. Keuchend hieb ich das dunkle Schwert erneut nach unten, machte einen Satz nach vorne und stieß meinen Seelenjäger durch ihn hindurch. Keinen Augenblick später stand mein Feind ebenfalls in Flammen und schrie verzweifelt in die Welt hinein. Nicht lange und auch seine Gestalt war vom Antlitz der Welt gebannt.
Mission erfolgreich.
Mit schnellem Atem ließ ich meinen Seelenjäger zwischen meinen Händen verschwinden und drehte mich sogleich zu dem Jungen um, der von den beiden Schatten attackiert wurde. Dieser hatte sich in der Zwischenzeit aufgerichtet und kratzte sich nachdenklich am Kopf.
„Was ist passiert ...?“, murmelte dieser leise, jedoch gerade so laut, dass ich ihn verstehen konnte. Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Ob er hier wohl durch die Seelenlosen hervorgerufen wurde?
Ich schritt auf ihn zu, wohl darauf bedacht, ihn nicht zu lange aufzuhalten.
„Du hattest einen Alptraum, aber jetzt solltest du wieder in Ordnung sein“, sagte ich.
„Ein Alptraum? Aber warum und wer bist du ei...?“
„Das“, ich schnitt ihn im Wort abrupt ab, „ist im Moment nicht wichtig. Aber wir werden uns wieder sehen.“
Der Junge wollte gerade wieder zu einem Wort ansetzen, kam jedoch nicht dazu, da ich ihm mit der flachen Hand an die Stirn stupste.
„Schlaf nun wieder ein und träum deinen wahren Traum.“
Immer diese vollen Menschenmengen! Gott, ey, wie soll man da denn endlich mal vorankommen?
Entnervt steige ich aus der U-Bahn. Dass allein zwei Stationen schon so anstrengend sein können, ist doch echt die Höhe! Mein Weg führt mich zur Rolltreppe, die sich in einiger Entfernung auftürmt und deren Zugang vollständig überfüllt ist.
Mein Smartphone vibriert. Mit geschickten Fingern hole ich es aus der Tasche, nur um gleich von jemandem angerempelt zu werden, sodass es zu Boden fällt. Na wunderbar!
Bevor ich mich jedoch danach bücken kann, hat dieses bereits ein Mädchen aufgehoben und mir wieder in die Hand gedrückt. Verdattert nehme ich das Smartphone an. Ich habe sie nicht einmal kommen sehen. Wo ist sie überhaupt so schnell hergekommen und warum ...
Auf einmal erinnere ich mich. Diese schwarzen, wallenden Haare; die markante Brille auf der Nase. Und nicht zu vergessen dieses merkwürdige Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben ...
Aber natürlich!
„I-ich habe dich im Traum gesehen!“, rufe ich ungewollt laut, was sie zu einem Kichern zwingt.
„Du erinnerst dich also? Das ist schön!“, sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht und streckt mir die Hand entgegen. „Du bist tatsächlich der Erste, dem das gelungen ist. Ich heiße Chantal, und du?“
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