[Wichteln] Geschenke-Topic

Die Erben des Wassers

Ich atmete aus.
Mein Herz raste. Wieso tat es das?
Ich atmete ein.
Ich hatte das schon tausendmal gemacht. Was war jetzt anders?
Ich atmete aus.
Mein Herz beruhigte sich ein wenig. Ich schloss kurz die Augen.
Ich atmete ein.
Und ehe ich noch weiter darüber nachdenken konnte, öffnete ich die Augen und sprang ab. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als das kühle Nass mich umschloss. Ich war viel zu lange nicht mehr ohne Ausrüstung getaucht. Die Lanturn und Lampi um mich herum glitzerten im blauen Meer. Es war so natürlich, zwischen ihnen zu schwimmen. Keines der Pokémon sah mich als einen Eindringling an. Am liebsten hätte ich laut gejubelt, aber unter Wasser musste ich mich auf strahlende Augen und das Lächeln meiner Lippen beschränken.
Ich tauchte eine ganze Weile ohne Ziel durch das klare Blau, vorbei an Korallenriffen voll von Corasonn und Seeper und war erstaunt über mich selbst. Ich hätte nicht gedacht, dass ich immer noch so lange die Luft anhalten könnte. Als ich schließlich doch wieder auftauchen musste, lagen die felsigen Klippen am Rande von Anemonia bereits ein gutes Stück hinter mir. Aber das störte mich nicht weiter. Ich war hier schon oft getaucht, die Pokémon waren friedlich und solange ich mich nicht all zu sehr den Strudelinseln näherte, musste ich auch keine unerwarteten Meeresströmungen befürchten. Und sollte doch etwas sein, hatte ich an meinem Badeanzug immer noch den Pokéball meines einzigen Pokémon hängen: Altaria. Man konnte es fast seltsam finden, dass gerade ich, „Das Wassermädchen“, wie ich früher häufig genannt wurde, kein Wasserpokémon bei mir hatte, aber ich hielt generell nicht so viel von Pokébällen. Nur Altaria bildete eine Ausnahme, seit ich es als kleines verwaistes Wablu aufgenommen hatte.
Ich blieb einige Herzschläge an der Wasseroberfläche, um genug Atem für meinen nächsten Tauchgang zu sammeln. Die Sommersonne wärmte mein Gesicht und ich war einfach nur glücklich, diesen Ausflug begonnen zu haben. Wenn ich tauchte, war ich frei.
Als das Wasser wieder meinen gesamten Körper umschloss, drang ein Geräusch an meine Ohren, das wohl der Ruf eines Pokémon gewesen sein musste. Allerdings klang es fast, als würde es meinen Namen sagen. „Elina“, flüsterte es, als wollte es mich zu ihm locken. Neugierig, welches Pokémon solche Geräusche von sich geben würde, schwamm ich in die Richtung, aus der ich den Ruf vermutete. Kurz darauf kam ich an eine Unterwasserhöhle. Man sollte nicht einfach so in unbekannte Höhlen tauchen. Man wusste nicht, wie lang sie waren und ob man auf der anderen Seite Luft holen konnte. Der logisch denkende Teil meines Kopfes sagte mir, dass es eine ganz grausame Idee war, aber ich hörte nicht auf ihn. Kein Muskel machte Anstalten, mit dem Tauchen aufzuhören. Ich musste einfach in diese Höhle schwimmen. Auch wenn ich nicht sagen konnte, warum.
Das Wasser war selbst unter der Felsendecke warm und auch wenn immer weniger Sonnenlicht das Innere erreichte, hatte ich keine Probleme damit, den Weg zu finden. Es war, als trüge mich eine Strömung durch die Tiefe, sodass ich mich kaum anstrengen musste, um voranzukommen. Unter normalen Umständen hätte ich Angst haben müssen. Aber ich hatte keine Angst. Ich fühlte mich seltsam geborgen, als wäre ich diesen Weg schon viele hundert Male getaucht.
Gerade als mir wieder einfiel, dass ich unter Wasser nicht atmen konnte und bald wieder Luft bräuchte, wurde die Höhle von matt-blauem Licht erhellt, das vor mir durch die Wasseroberfläche schien. Der Teil von mir, auf den ich beim Hineinschwimmen nicht gehört hatte, war erleichtert, der Rest von mir war nicht einmal erstaunt. Natürlich konnte ich dort auftauchen. Wieso sollte ich es nicht können?
Als ich in dem bläulichen Licht auftauchte, warf ich meine hellbraunen Haare so zurück, wie es die Meerjungfrauen in den Filmen immer taten. Es war ein befreiendes Gefühl. Meine Lungen füllten sich mit einer Luft, die so klar und rein war, wie ich sie mir niemals hätte vorstellen können, obwohl es nicht so aussah, als würde es irgendeinen anderen Zugang als den Tunnel unter Wasser geben. Was war das für ein Ort?
Ich schwamm in einer Wasserschneise, die so gerade war, dass man vermuten könnte, sie sei von Menschenhand gebaut. Allerdings strahlte diese Höhle eine Natürlichkeit aus, die nahe legte, dass kaum ein Mensch sie je betreten hatte. Rechts und Links von mir ragten felsige Wände knapp einen Meter steil hinauf, um dann einen fast perfekten rechten Winkel zu den Seiten zu machen und dort glatte, von leuchtenden, blauen Kristallen gesäumte Wege zu bilden. Was allerdings meinen Blick fesselte, war der gewaltige Wasserfall, der mir gegenüber in die Tiefe stürzte. Riesige Wassermassen fielen hinab und reflektierten das Licht, dort wo sie in die Schneise trafen, so, dass es in allen Farben des Regenbogens glitzerte. Doch entgegen jeder Vermutung erzeugte diese Naturgewalt nur ein sanftes Rauschen in der Höhle. Dieser Ort war makellos und doch so unberührt, wie ich noch nie einen Ort zuvor gesehen hatte. Es war unglaublich.
Für einen kurzen Moment war ich einfach nur eingenommen von der Schönheit des Augenblicks, bevor eine erhabene Stimme das Rauschen der Stille zerriss: „Hallo Elina. Herzlich Willkommen!“
Mein Herz begann zu rasen, ob vor Angst oder vor Aufregung konnte ich nicht sagen. Auf jeden Fall hatte ich Schwierigkeiten damit, das Zittern meiner Stimme zu unterdrücken: „Wer bist du? Zeig dich.“ Ich wollte furchtlos klingen, aber es gelang mir nicht. Der gleiche Teil, der mich in die Höhle hatte schwimmen lassen, versicherte mir zwar, dass ich auch weiterhin nichts zu befürchten hatte, doch dieses Mal konnte er mich nicht vollständig überzeugen. Aber was dann geschah, nahm mir jegliche Angst. Der gewaltige Wasserfall, die schweren Wassermassen teilten sich so leicht, als würde man einen Vorhang aufziehen. Und genau so, wie ein Solist die Bühne betrat, erschien der Wächter des Wassers.
Mein Herz setzte aus und ich merkte erst, als ich mit dem Rücken gegen die Felswand stieß, dass die Bewegungen, die mich über Wasser halten sollten, mich nach hinten getragen hatten. Hier war das Ufer nicht so steil und hoch und unbeholfen kletterte ich rückwärts aus dem Wasser. Den Blick konnte ich nicht eine Sekunde von Lugia abwenden.
Majestätisch schwebte der Vogel vor dem Wasservorhang, der sich nun wieder geräuschlos schloss. „Willkommen“, sagte er erneut. Vor Ehrfurcht blieb ich wie versteinert stehen, als mir klar wurde, dass diese Legende ausgerechnet mit mir sprach. Nun schwebte Lugia über das Wasser auf mich zu. „Es freut mich, dass du hier bist, Elina. Denn nur du fehltest noch.“ Nur ich fehlte noch? Wozu? Was hatte Lugia mit mir vor? Für eine Sekunde ergriff Panik mein Herz, aber das gute Gefühl, dass mich schon den ganzen Tag begleitete, seit ich ins Wasser gesprungen war, verdrängte die Panik schnell wieder. Lugia war schon immer das Pokémon gewesen, dass ich am meisten bewundert hatte. Und so wartete ich einfach darauf, dass es weitersprach. „Dir ist bestimmt schon aufgefallen, dass die Menschen das Meer nicht mehr achten. Sie verschmutzen es und verwirren mit ihren vielen Motorbooten die empfindlichen Sinne der Wasserpokémon. All diesen Problemen kann ich mich unmöglich alleine stellen. Und deshalb erwähle ich aus jeder Generation der Menschen diejenigen, die das Meer am meisten lieben, damit sie mich in meiner Aufgabe unterstützen.“
Ganz nah war der Wächter des Wassers mir inzwischen, so nah, dass ich nur meinen Arm auszustrecken bräuchte, um ihn zu berühren, doch dann wandte sie ihren Kopf abwechselnd zu beiden Seiten, „Tretet heraus meine Kinder!“, und von irgendwo hinter dem Wasserfall traten fünf Personen in die Höhle hinein, drei auf der linken, zwei auf der rechten Seite. Sie mussten alle zwischen sechszehn und zweiundzwanzig sein, wenn mich mein Schätzsinn nicht komplett im Stich ließ. „Es ist so weit.“
Lugia wandte sich von mir ab und schwebte zu dem Jungen, der auf der linken Seite direkt am Wasserfall stand. „Jonas“, sagte es und eine gewaltige Wasserfontäne schoss vor ihm in die Höhe, so klar und durchsichtig, wie es nur reines Wasser sein konnte. Dann ergoss sie sich über ihn, doch Jonas schien das nichts auszumachen. Mit ungerührtem Gesichtsausdruck ließ er das Wasser über sich hinweg fließen.
Als das Spektakel beendet war, war das Mädchen neben ihm an der Reihe. „Samantha.“ Auch vor ihr stieg eine Säule aus Wasser hinauf, diese hatte allerdings eine grünliche Farbe, wie ein von Algen durchzogenes Meer und als die Wassermassen auf sie trafen, schlich sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht.
So ging es weiter. Und jede Wasserfontäne hatte eine andere Farbe. Die von Lukas, der neben Samantha stand und aussah, wie der jüngste in der Höhle, war dunkel und trüb, wie ein Waldtümpel, jene von Janina, die auf der rechten Seite am Wasserfall stand, war so hellblau, wie das Meer an tropischen Sandstränden, das fast schon künstlich wirkte. Leanders Wassersäule war grau wie ein Regentag. Er zuckte kurz zusammen, als das Wasser ihn traf, aber er entspannte sich schnell wieder.
Als die letzten Tropfen die Erde berührt hatten, wandte sich Lugia wieder mir zu. „Elina?“, sagte es auffordernd, als hätte ich irgendetwas vergessen zu tun. Da fiel mir auf, dass ich noch immer gegenüber des Wasserfalls stand und die gesamte Zeremonie bewegungslos beobachtet hatte. Wenn ich aber dazu gehörte, wie Lugia es gesagt hatte, musste ich mich an meinen Platz stellen, der anscheinend neben Leander war. Schnell und mit klopfendem Herzen kletterte ich neben ihn. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben je zuvor so aufgeregt gewesen war. Ich wusste nicht genau, was hier geschah, aber es war wie ein Wunder. „Und“, sprach Lugia und nickte in meine Richtung, „Elina.“ Als die Wassersäule sich vor mir aufbaute, hielt ich instinktiv den Atem an. Sie war so blau, wie das Meer, in das ich vor gar nicht allzu langer Zeit gesprungen war. Es kam mir vor, als lägen Welten zwischen diesem Moment und jetzt gerade. Ich erwartete einen Druck, wenn das Gewicht des Wassers auf mir landen würde, aber stattdessen durchfloss mich eine ungeheure Energie. Ich schloss die Augen und atmete ein, wollte sie ihn jeder Faser meines Körpers aufnehmen. Erst da fiel mir auf, dass ich eigentlich gar nicht hätte einatmen können dürfen. Aber es trat kein Wasser in meine Lungen. Nur Energie.
Die Energiezufuhr endete so abrupt, wie sie begonnen hatte, aber sie kribbelte noch an meiner Haut. Als ich die Augen wieder öffnete, erhob Lugia gerade das Wort. „Damit seid ihr, meine Kinder, nun offiziell die nächste Generation. Ihr werde herausfinden, dass euch das Wasser nun noch mehr ein Freund ist als ohnehin schon. Ihr werdet es atmen können wie Luft und besser bändigen, als manch Pokémon es mit Psychokinese könnte. Ihr werdet für immer mit mir verbunden sein und ich werde euch helfen, wann immer ihr meine Hilfe benötigt. Auf euch lastet nun viel Verantwortung, ihr seid auserwählt, das Wasser und seine Pokémon zu beschützen. Jedoch nicht um jeden Preis. Eine Generation verstand ihre Aufgabe falsch und setzte sich daran, ein ewiges Meer zu schaffen, indem sie Kyogre aus seinem Schlaf erweckten. Denkt immer daran, Wächter arbeiten friedlich. Sie greifen nicht an, sie verteidigen nur, wenn sie oder andere in Not sind.“ Lugia hielt inne und sah jeden von uns noch einmal an. Dann drehte es sich um und schwebte auf den Wasserfall zu, der sich erneut wie ein Vorhang öffnete. Vielleicht hätte ich noch hundert Fragen stellen sollen, aber mir wollte keine einfallen. Es war, als sei ich endlich da, wo ich hingehörte, als hätte ich mein ganzes Leben lang nur auf diesen Augenblick gewartet. „Dies ist euer Schicksal“, sprach Lugia noch, als sich die Wassermassen schon hinter ihm schlossen. Seine Worte hallten in der Höhle wider. „Ihr seid die Erben des Wassers.“