Wettbewerb 20: Freie kurze Erzählung
Siegertreppchen
Auch in diesem Jahr gibt es zum Abschluss der Saison zwei freie Wettbewerbe. Nachdem die freien Gedichte bereits verfasst wurden, liegt eure Aufgabe nun darin, eine Erzählung zu einem Thema eurer Wahl zu schreiben. Lasst ihr die Voter am inneren Monolog eines reisenden Elefanten teilhaben oder erzählt ihr eine klassische Liebesgeschichte? Bei der Themenwahl sind euch keine Grenzen gesetzt! Ein Pokémonbezug ist möglich, aber nicht verpflichtend.
Platz 1
Die roten Blätter der Fächer-Ahorne leuchteten im Schein der Nachmittagssonne. Ein kurzer Windstoß fuhr durch das Laub und der ganze Wald begann zu rauschen. Von fern hörte man sanftes Gezwitscher, doch sonst herrschte Stille im Forst. Unter dem dichten Blätterdach erschien plötzlich ein helles Licht. Lautlos öffnete sich zwischen den hohen Baumstämmen ein kurzer Spalt, durch den eine Gestalt hindurch kam und im Wald erschien. Der Schein erstarb und ein kleines, grünes Wesen blickte sich um. Zwei hauchdünne Flügel schlugen auf seinem Rücken und ließen es über den Boden schweben. Aus großen, blauen Augen betrachtete es den roten Wald, durch den es nun langsam flog. Eine Spur blühender Blumen sprossen aus dem weichen Erdreich unter ihm und folgten ihm, wohin es sich auch bewegte.
Nach einer Weile erreichte das grüne Wesen schließlich den Waldrand. Mit stetig flatternden Flügeln stoppte es beim letzten Baum und legte seine kleine Hand an die Borke. Vor ihm ragte ein großer Turm in den wolkenlosen Himmel. Die Pagode saß auf einem steinernen Fundament und die Wände bestanden aus edlem, dunklen Holz. Neun Dächer bedeckt mit dunklen Ziegeln folgten aufeinander bis zur Spitze des Bauwerks, die eine hohe, goldene Säule markierte. Das grüne Wesen sah hinauf zu dem neunten Dach und erkannte einen vielfarbigen Schimmer, wie der eines Regenbogens. Es blinzelte überrascht, doch schließlich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und mit ungeahnter Geschwindigkeit flog es aus dem Schatten des Waldes direkt auf den Turm zu. Übermütig drehte es sich, bevor es kerzengerade in den blauen Himmel flog, auf die Spitze der Pagode zu. Als es sich dem letzten Dach näherte, erkannte es die goldenen Glocken, die an jeder der vier Ecken hingen.
Steinerne Vogelstatuen begrüßten das grüne Wesen, doch weder diesen noch der hohen goldenen Säule in der Mitte schenkte es seine Aufmerksamkeit. Stattdessen weiteten sich seine blauen Augen vor Freude, als es die Gestalt eines großen, bunten Vogels erkannte. Er rastete auf einer mächtigen Sitzstange und betrachtete die Stadt, die sich unter ihm ausbreitete.
„Welch angenehme Überraschung“, richtete sich eine Stimme an die kleine Gestalt. „Es ist eine ganze Weile her, dass wir uns getroffen haben, nicht wahr, Celebi?“
„Ho-Oh!“, rief das grüne Wesen freudig aus und kam näher. „Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen Augen vom Boden aus trauen konnte. Wie geht es dir? Was führt dich hierher?“
„Nun, dies ist der Glockenturm, der einzige Ort auf dieser Welt, an dem ich mich niederlassen kann“, begann Ho-Oh und in seiner tiefen Stimme lag ein verschmitzter Unterton.
„Ach, Ho-Oh! Das weiß ich doch!“, begehrte Celebi sogleich auf. „Aber du warst doch schon seit ewigen Zeiten nicht mehr hier.“
Ein unterdrücktes Lachen entkam dem gelben Schnabel des Regenbogenvogels und er wandte seinen Kopf, um sein Gegenüber aus bernsteinfarbenen Augen anzusehen.
„Du wirst mir doch sicherlich einen kleinen Scherz gönnen, oder? Ich habe nicht oft so reizende Gesellschaft.“
„Freilich!“, kicherte der Waldgeist breit grinsend und setzte sich auf den steinernen Boden. „Aber meine Fragen musst du trotzdem beantworten. Du weißt, ich lasse nicht locker!“
„Gewiss, das tust du nicht“, erwiderte Ho-Oh und bewegte kurz seine Flügel. „Um also deine erste Frage zu beantworten, ja, es geht mir gut. Ich habe unzählige Monde damit verbracht durch die Lande zu fliegen und mich zum Ausruhen in den Bergen versteckt. Trotz meiner Bemühungen wird man mich wohl gesehen haben. Und zu deiner zweiten Frage kann ich nur sagen, dass ich Heimweh hatte. Ich war müde von der langen Reise und dachte, mich hier an diesem Ort ausruhen zu können, hoffentlich ohne neugierige Besucher. Nun, letzteres ist ja leider nicht gelungen.“
„Hey!“, entgegnete Celebi gespielt beleidigt. „Wenn ich dir so unangenehm bin, dann geh ich einfach wieder!“
Der große Vogel brach in ein helles Lachen aus und das grüne Wesen konnte nicht anders, als mit einzustimmen.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich das vermisst habe“, meinte Ho-Oh schließlich und blinzelte seine Besucherin an.
„Ja, es ist wirklich schon sehr lange her.“
„Die Zeiten haben sich geändert. Das wirst du am besten beobachtet haben.“
„Bist du den Menschen immer noch böse?“, wollte der Waldgeist plötzlich wissen. Der Vogel wandte den Kopf wieder der Stadt zu und blickte eine Weile auf die Ansammlung der Häuser.
„Es ist anders als vor dem Brand und anders als kurz danach“, erwiderte er mit nachdenklicher Stimme.
„Du weißt, dass ich zurückgehen und das alles verhindern kann?“, meinte Celebi, doch Ho-Oh schüttelte nur leicht den Kopf.
„Das Unwetter wirst du nicht verhindern können.“
„Das nicht, aber ich kann etwas tun, damit niemand sterben muss!“, begehrte das grüne Wesen auf. „Ich kann verhindern, dass die Menschen so feindlich reagieren!“
Mit mildem Blick betrachtete der große Vogel seine kleine Besucherin und erwiderte: „Ich weiß, dass du alles tun würdest, aber ich bezweifle, dass es etwas bringen würde. Der Zwilling dieses Turmes hier, war ein Ort, an dem sich Pokémon ausruhten. Die drei Wesen, die wir heute unter den Namen Raikou, Entei und Suicune kennen, waren damals dort, um zu rasten. Mit Sicherheit haben sie das Unwetter gespürt und dort Schutz gesucht. Niemand konnte ahnen, dass es so enden würde.“
„Aber weißt du, was ich nicht verstehe“, begann sie verwirrt, „warum haben die Menschen so auf euch reagiert? Du hast doch etwas Gutes getan, als du ihnen das Leben zurückgegeben hast.“
„Das ist eine berechtigte Frage, meine liebe Freundin“, erwiderte Ho-Oh mit ruhiger Stimme, als er wieder auf die Häuser hinuntersah. „Ich selbst habe viele Jahre gebraucht, um diese Reaktion zu verstehen. Schließlich ist mir jedoch ein Wesenszug der Menschen klar geworden, der in ihrer Natur liegt. Sie fürchten sich vor dem, was sie nicht kontrollieren können und bekämpfen, was sie nicht verstehen. Meine Macht kannten sie nicht. Sie beurteilten Lugia und mich nach unserem Aussehen, deshalb hatten sie Respekt vor uns. Doch sie besaßen keine Vorstellung von unseren Kräften. Aus ihrer Ehrfurcht wurde Angst, als ich demonstrierte zu was ich fähig war. Vor ihren Augen hatte ich die Energie dieser drei verstorbenen Pokémon genutzt und sie mit den umliegenden Elementen zum Leben erweckt. Die Elektrizität, die noch in der Luft hing. Die heiße Asche, die vor kurzem noch Feuer war. Und das Wasser, welches alles gelöscht und beruhigt hatte. Sie sahen meine Macht und die drei Pokémon und reagierten mit Angst und Ablehnung.“
„Ich kann es trotzdem nicht verstehen“, gab Celebi zu und verschränkte ihre dünnen Arme. „Ihr hattet nie vor ihnen zu schaden.“
Ho-Oh wandte seinen Kopf wieder dem grünen Wesen zu und sagte: „Natürlich hatten wir das nicht, aber sie wussten, dass sie uns nicht kontrollieren konnten. Dass sie es niemals würden. Lugia war bereits auf den Strudelinseln. Ihr Rastplatz war zerstört worden und niemand aus der damaligen Bevölkerung machte sich die Mühe diesen wieder aufzubauen. Als ich das beobachtete, wandte ich mich schließlich ab, denn es fühlte sich nicht richtig an hier zu sein, während meine gute Freundin von den Menschen verstoßen wurde. Weil sie Angst hatten. Seitdem meiden wir beide jeden Kontakt; genauso wie Entei, Raikou und Suicune.“
„Aber das alles ist doch schon so lange her“, begann sie vorsichtig. „Meinst du nicht, dass sich die Menschen inzwischen geändert haben? Vielleicht bereuen sie die Taten ihrer Vorfahren.“
„Das könnte sein“, musste der Regenbogenvogel zugeben. „Seit ich hier gelandet bin, spüre ich eine seltsame Verbundenheit. Zuerst dachte ich, es wäre der Ort, aber nun denke ich, es könnte auch ein Mensch sein. Mein Instinkt sagt mir, dass ich nicht soweit von hier fortfliegen sollte.“
„Das ist gut, denn mir gefällt diese Zeitlinie momentan auch sehr“, erwiderte der Waldgeist breit grinsend. „Ich habe das Gefühl, dass hier bald etwas Wichtiges passieren wird.“
„Da könntest du Recht haben“, meinte Ho-Oh nachdenklich und neigte den Kopf. „Es war schön dich zu sehen, ich hoffe, wir haben in Zukunft öfter die Gelegenheit für ein Gespräch.“
„Ja, das hoffe ich auch“, entgegnete Celebi breit grinsend. Der große Vogel begann einige Male mit seinen mächtigen Flügeln zu schlagen.
„Pass gut auf dich auf, Celebi“, sagte Ho-Oh zum Abschied und warf seiner Besucherin einen sanften Blick zu.
„Das mach ich immer!“, lachte diese und erhob sich mit wild schlagenden Flügeln von dem steinernen Untergrund. Er nickte ihr kurz zu, bevor er mit einem besonders kräftigen Flügelschlag von der Stange abhob und sich im Gleitflug der Stadt näherte. Doch sogleich erhob er sich mit seinen mächtigen, bunten Schwingen immer weiter in den Himmel, eine goldene Spur mit seinen gelben Schwanzfedern zeichnend. Celebi blickte ihm nach, bis er schließlich in der azurblauen Weite verschwunden war.
„So wie Lugia im endlosen Meer verschwinden würde“, murmelte sie lächelnd. Danach wandte sie sich Richtung Süden und flog mit weit ausgebreiteten Armen durch die warme Luft. Ihr Ziel war ein sehr alter Wald, den sie in diesem Land zu ihrer Heimat auserkoren hatte. Dort wollte sie sich für einige Zeit zurückziehen und beobachten, was geschehen würde.
Platz 2
Agathe schimpfte ein wenig, als ihr eines der in buntem Weihnachtspapier eingewickelten Geschenke auf den Boden fiel. Mit einem leisen Seufzer bückte sie sich, um es aufzuheben. Endlich hatte sie es geschafft, den Schlüssel ins Schloss zu schieben. Mit heftigem Knarren öffnete sich die Wohnungstür. Sie stellte ihre Weihnachtseinkäufe auf den Dielentisch und zog ihren Mantel aus. Dabei fiel ihr Blick auf das Bild ihrer drei Enkelkinder: Die fünfjährigen Zwillinge Serena und Gary sowie der im August zwei Jahre alt gewordene Ash. Sie freute sich schon riesig auf ihren Besuch.
"In einer Woche ist Weihnachten.", sagte sie zu dem Bild. "Dann kommt ihr mich mit euren Eltern besuchen." Bis dahin hatte sie allerdings noch sehr viel vorzubereiten. Wie freuten sich die Kinder doch immer wieder auf ihre selbstgebackenen Pofflés! Der Tannenbaum war noch zu schmücken und und einige Geschenke musste sie auch noch einpacken. Bei diesem Stichwort fielen ihr die Einkäufe wieder ein. Lächelnd griff sie zu dem größten der Pakete. Behutsam öffnete sie es. Drei Plüsch-Pokémon lachten ihr entgegen: Ein Serpifeu, ein Floink und ein Ottaro. Sie rückte ihre Brille zurecht und las, was auf einem der Schilder stand. "Aha, du heißt also Ottaro.", stellte sie vergnügt fest. Fast schien es, als ob das kleine Pokémon ein wenig mit dem Kopf nickte.
"Na, dann will ich euch mal gut verstecken.", sagte sie zu dem Trio. Zielstrebig ging sie auf ihren Kleiderschrank zu und stellte die drei Starter auf ihre Hutablage. "Nein", meinte sie entschlossen, "hier im dunklen Schrank kann man eure niedlichen Augen ja gar nicht leuchten sehen. Ihr kommt auf das Sofa im Wohnzimmer. Dann bin ich auch nicht so alleine."
Und so kam es, dass die drei Pokémon zwischen Tannengrün und Kerzenschein die Tage mit Agathe im Wohnzimmer verbrachten. Dort hatten die drei es mollig warm – auch nachts, wenn sie schliefen – und schauten Agathe bei ihren Weihnachtsvorbereitungen zu. Immer, wenn sie an ihnen vorbeikam, wurden sie liebevoll gestreichelt. Sie hatten die alte Frau inzwischen richtig liebgewonnen, auch wenn sie wussten, dass ihr Aufenthalt in ihrer Wohnung begrenzt war.
"Hoffentlich sind die Kleinen nett zu uns!", bangten sie, an den bevorstehenden Abschied denkend. Sie wussten nicht genau, wann sie von den drei Kindern abgeholt werden sollten, aber jedenfalls musste Agathe vorher noch Pofflés backen. Das hatten sie neulich herausgehört, als sie es der Nachbarin erzählt hatte. "Und Kinder, die Agathes Pofflés gerne essen, sind auch bestimmt nett zu uns.", sagte Serpifeu eines Abends zu seinen beiden Kumpanen.
Zwei Tage vor Weihnachten warteten die drei Starter vergeblich darauf, dass Agathe – wie jeden Morgen – ins Wohnzimmer kam. Was war denn nur los? Sie spitzten ihre kleinen Ohren und hörten, wie Agathe zwischen Husten und Niesen mit Schwester Joy telefonierte. Kurze Zeit später kam sie und untersuchte Agathe im Wohnzimmer.
"Tja", meinte sie mit besorgtem Gesichtsausdruck, "Sie müssen sich mit ihrer Erkältung schonen. Am besten wäre Bettruhe für Sie."
Agathe erzählte Schwester Joy von ihrem bevorstehenden Besuch, und dass es noch so viel für sie zu tun gäbe, aber sie ließ nicht mit sich reden. "Wenn Sie Heiligabend wieder auf den Beinen sein wollen, müssen Sie ins Bett.", bestimmte sie mit Nachdruck. Und so kam es, dass die drei Pokémon zwei lange Tage und eine Nacht ohne Agathe auskommen mussten.
In der Nacht zum Heiligen Abend fuhr Floink erschrocken aus dem Schlaf. "Die Pofflés!", rief es plötzlich und weckte schnell seine beiden Freunde. "Wir müssen die Pofflés für Agathe backen!"
"Au ja!", rief Ottaro. "Wir machen ihr eine Freude!"
Schnell krabbelten die drei von der Couch herunter und gingen leise in die Küche. Sie holten sich einen Stuhl, stiegen hinauf, stellten sich übereinander und schlossen leise die Tür, damit Agathe nicht geweckt würde. Mit dieser Technik kamen sie auch an die Küchenschränke heran und holten sich alle Zutaten und das Backbuch. Agathe hatte schon gelbe Zettel in die entsprechenden Seiten gelegt, also war es für die drei nicht schwer, die richtigen Backrezepte zu finden. Serpifeu las vor, wie viel von den jeweiligen Zutaten gebraucht wurde, Floink knetete den Teig und Ottaro stach – noch etwas ungeschickt mit seinen kleinen Händen – den Teig aus. Vorsichtig hoben sie die Pofflés auf das Backblech und schoben es in den Ofen. Ottaro naschte dabei unentwegt vom Teig.
"Hör auf damit, sonst ist dir morgen ganz schlecht!", meinten Serpifeu und Floink und nahmen Ottaro den Teig weg. Nach langer Zeit war endlich aller Teig verbacken. Während Serpifeu schon aufräumte, verzierten die beiden anderen die Pofflés noch mit allerlei Zuckerwerk. Sie verbrachten die ganze Nacht in der Küche, sodass ihnen schon ihre Augen zufielen. Nachdem sie sich gewaschen hatten, betrachteten sie stolz ihr Werk.
"Sind das aber schöne Pofflés!", stellten sie entzückt fest. Sie freuten sich schon auf Agathes Gesicht, wenn sie das Gebäck entdecken würde. Müde von der vielen Arbeit schlichen sie – genau so leise, wie sie gekommen waren – zurück ins Wohnzimmer. Ottaro ließ seine beiden Freunde vorgehen und tapste ganz leise an den Küchentisch. Dort hatte es sich etwas von dem Teig versteckt, den würde es jetzt noch schnell vernaschen...
Am Weihnachtsmorgen wurde Agathe sehr zeitig wach. Schließlich musste sie noch die ganze Arbeit der letzten beiden Tage erledigen. Was würden wohl ihre drei Enkelkinder sagen, wenn es keine Pofflés geben würde? Als sie die Schlafzimmertür öffnete, glaubte sie zuerst, sie würde noch träumen. Hier roch es doch eindeutig nach Pofflés!
"Ich werde alt!", meinte Agathe kopfschüttelnd zu sich selber und ging in die Küche. Dort standen drei Teller voller selbstgebackener Pofflés. Langsam, ganz langsam, ging Agathe auf die drei Teller zu, so als ob sie Angst hätte, dass sich diese jeden Moment in Luft auflösen könnten. Vorsichtig nahm sie ein Pofflé und steckte es sich in den Mund. Kein Zweifel, es waren genau die Pofflés, die sie hatte backen wollen. Sie überlegte hin und her, wusste aber nicht, wie so etwas geschehen konnte. Ein leiser Hauch von geheimnisvollem Weihnachten lag auf einmal in der Luft.
Während des ganzen Tages ging Agathe die Sache mit den Pofflés nicht mehr aus dem Kopf. Gedankenverloren erledigte sie ihre Arbeit, und als sie die drei Pokémon einpackte, fiel ihr gar nicht auf, dass diese ganz müde aussahen.
Als Agathe am Abend mit ihrer Familie unter dem festlich beleuchteten Tannenbaum saß, traute sie sich nicht, von dem Vorfall zu erzählen. Sie hatte Angst, dass man sie für verrückt halten würde. Versonnen schaute sie dem zweijährigen Ash zu, wie er das kleine Ottaro an sein Herz drückte. Auf einmal entdeckte Agathe, dass es einen Teigrest an der linken Hand hatte. Sie lachte und schüttelte den Kopf. Endlich begriff sie, was es mit den Pofflés auf sich hatte. Sie wusste, dass sie jedem ihrer drei Enkelkinder ein ganz besonderes Geschenk gemacht hatte.
Platz 3
Das Laub auf dem Waldboden raschelte und knisterte unter Tims Füßen, als er seinen Weg zwischen den Bäumen hindurch suchte, ein wenig durch seinen schweren Rucksack behindert. Eigentlich gab es keinen wirklich festen Pfad zu dem Zufluchtsort, den er suchte und wo er eine Auszeit vom stressigen Alltag zu Hause verbringen und seine beiden Freunde treffen wollte.
Nach einiger Zeit erreichte er sein Ziel bereits: Es war eine Art Bunker, der sich einfach mitten hier im Wald befand. Er gehörte den Eltern von Tims Freund Philipp, auch wenn keiner so recht wusste, warum man hier im Wald überhaupt einen Bunker gebaut hatte.
Tim holte seinen Schlüssel für die Tür hervor und schloss sie auf. Es gab insgesamt vier Schlüssel. Einer davon befand sich in Tims Besitz, einen weiteren hatten Philipps Eltern für sich behalten, den dritten trug Philipp selbst bei sich und den letzten hatten sie schließlich vor einigen Jahren Laura anvertraut.
Quietschend schwang die Tür auf und Tim tastete nach dem Lichtschalter. Der Bunker wurde mit Strom versorgt, konnte aber laut Philipp auch über einen Generator betrieben werden, sofern dafür mal irgendwie Bedarf bestand, was aber nie der Fall war. Der Bunker selbst hatte keine Fenster, also war es notwendig, dass man anderweitig für Licht darin sorgen konnte.
Flackernd und mit einem hellen Geräusch flammten die alten Leuchtstoffröhren an der Decke auf und warfen ihr fahles Licht auf die Einrichtung des Raums. Über die Jahre hinweg hatten Tim, Philipp und schließlich auch Laura diesen Ort eigentlich recht wohnlich gemacht, auch wenn alles hier schäbig aussah: Spinnweben hingen an der Decke, ein kaputtes Sofa, auf dem mehrere mottenzerfressene Decken lagen, stand rechts vom Eingang an der Wand, während zwei wackelige Holzstühle und ein zerschlissener Sessel weitere Sitzgelegenheiten boten. Zwei alte und muffige Matratzen waren gegenüber dem Sofa an die Wand gelehnt. Ein kleines Heizgerät stand in der Mitte des Raumes, um in kälteren Tagen auch eine Wärmequelle zu haben. Auf einem alten Beistelltisch standen zusätzlich noch ein Röhrenfernseher sowie ein geradezu antikes Radio, das aber immer noch hin und wieder das heutige Programm empfangen konnte.
Tim ließ sich ächzend auf das Sofa fallen und stellte seinen Rucksack auf dem Boden ab, wobei ein lautes Klimpern zu hören war, denn Tim war heute für die Getränke zuständig gewesen. Er warf einen Blick auf das instabilste Einrichtungsgegenstück, das sich hier befand: Ein kaputtes Regal, dass zu einem nicht unerheblichen Teil von den vielen angefressenen, zerknitterten und eselsohrigen Büchern darin getragen wurde. Man durfte nicht zu viele davon hervorziehen, oder alles würde in sich zusammenstürzen. Und Laura hatte jedes einzelne Buch davon gelesen… Kaum vorstellbar.
Das Quietschen der Eingangstür riss Tim aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf und sah Philipp hereinkommen. Er trug eine größere Tasche bei sich, die er auf den Boden abstellte.
„Hi“, sagte er knapp, ging auf Tim zu und begrüßte ihn mit einem Handschlag. Er wirkte ein wenig kurz angebunden.
„Ist was?“, fragte Tim.
„Ach“ winkte Philipp ab, „Es hat zu Hause wieder mal Stress gegeben. Mein kleiner Bruder brauchte Hilfe bei den Hausaufgaben und… Naja, er war höchst lernunwillig, um es mal höflich auszudrücken.“
Tim nickte mitfühlend. Er hatte einmal während eines Besuches bei Philipp erlebt, wie dessen kleiner Bruder das halbe Haus zusammen geschrien hatte, während seine Mutter verzweifelt versucht hatte, ihm das kleine Einmaleins beizubringen.
„Und bei dir so?“, fragte Philipp.
„Och, normal. Das Übliche halt: ‚Mach deine Hausaufgaben – Spiel nicht so viel am Computer – Geh raus, es ist schönes Wetter – Treib dich nicht wieder mit diesem dreckigen Mädchen herum…‘
„Redet ihr von mir?“, rief eine spöttische Stimme von der Tür her.
„Oh“, sagten Philipp und Tim gleichzeitig. „Hallo, Laura.“
„Hallo“, erwiderte diese.
Laura war eine merkwürdige Erscheinung, was nicht weiter verwunderte, wenn man ihre Geschichte kannte oder vielmehr an das glaubte, was sie erzählte: Anscheinend waren ihre Eltern früh verstorben, weshalb man sie in ein Heim gesteckt hatte. Aus diesem war sie jedoch irgendwann ausgerissen und hatte sich seitdem so gut wie überall rumgetrieben, unterstützt nur vom eigenen Überlebensinstinkt und mildtätigen Erwachsenen. Letztere beäugte sie allerdings stets misstrauisch, denn obwohl man sich vielleicht Besseres vorstellen konnte, als obdachlos und arm zu sein, wollte Laura gar nichts Anderes haben und war somit sehr darauf bedacht, allen auszuweichen, die glaubten, es sei für sie das Beste, einen Teil ihrer Freiheit gegen drei geregelte Mahlzeiten und ein warmes Bett einzutauschen.
„Wobei die Mahlzeiten im Heim mies und die Betten sowieso zu hart sind“, pflegte sie gerne zu sagen.
Sie selbst sah jedenfalls ziemlich abgerissen aus, wobei sich Tim und Philipp nie ganz sicher waren, ob dahinter nicht auch ein bisschen Absicht steckte. Ihre Haare waren stets durcheinander, standen kraus vom Kopf ab und waren genau wie auch ihr Gesicht und ihre Kleidung meist sehr dreckig. Es kam nämlich recht selten vor, dass Laura sich und ihre Klamotten wusch oder auch nur die Gelegenheit dazu bekam. So trug sie ständig einen viel zu großen fleckigen Mantel, in dem sie alle möglichen Sachen verstaute und der an vielen Stellen geflickt war. Darunter war sie mal mit einem schäbigen karierten Hemd oder einem alten Pullover bekleidet, unter dem sich jeweils noch ein grünes oder rotes T-Shirt befinden konnte. Ihre alte Jeans, die sie meistens trug (manchmal ersetzte sie diese durch einen Rock), hatte mehrere Löcher, was Laura im Scherz gelegentlich als modisch bezeichnete. An ihren Füßen, die in zwei verschiedenfarbigen Socken unterschiedlicher Größe steckten, befand sich ein Paar ziemlich abgelatschter Turnschuhe.
Trotz ihrer ungewöhnlichen Erscheinung und der Tatsache, dass sie sich nicht oft wusch, musste man aber eingestehen, dass sie zumindest nicht unangenehm roch oder zumindest besser, als man es vielleicht hätte denken können. Außerdem zeigte sie ein verblüffend hohes Maß an Schulbildung und war sehr lesebegeistert.
Auch jetzt griff sie in ihren Mantel und zog ein altes zerfleddertes Buch heraus, das sie ins Regal stellte.
„Wir brauchen bald ein größeres“, meinte sie.
„Vor allem brauchen wir eins, das nicht ständig Gefahr läuft, zusammenzukrachen“, meinte Philipp.
„Ja, kann sein“, sagte Laura geistesabwesend. „Herrje, vielleicht werde ich doch noch schwach und ziehe dauerhaft hier ein.“
„Wär doch schön“, sagte Tim achselzuckend.
„Weiß nicht. Ich bleibe immer noch ungern zu lange am gleichen Ort.“
„Was einer der Gründe dafür ist, dass wir immer Probleme haben, uns hier zu verabreden“, warf Philipp ein. „Man kann dich ja auf keinem Wege erreichen, es sei denn, man trifft sich mal zufällig.“
Laura zuckte nur die Achseln. Tim sah auf seine Uhr.
„Noch eine halbe Stunde, bis das Spiel anfängt“, sagte er. „Möchtet ihr vielleicht schon was trinken?“
„Gerne“, sagten Philipp und Laura.
Tim öffnete seinen Rucksack und holte drei Flaschen Apfelschorle hervor. Sie durften zwar auch alle schon Alkohol trinken (zumindest wenn es stimmte, was Laura über ihr Alter sagte), aber da sie allesamt keinen mochten, bleiben sie lieber bei Apfelschorle.
„Wir sollten vielleicht auch schon die Pizza essen“, meinte Philipp, öffnete seine Tasche und holte drei Pizzakartons heraus. „Ich meine, sie ist ja schon relativ kalt geworden, aber immer noch ein bisschen warm. Für das Spiel habe ich noch Chips mitgebracht.“
Laura und Tim nickten und nahmen ihre Pizzen entgegen.
„Ui, mit Anchovis“, sagte Laura begeistert. „Du bist der Beste.“
„Ich weiß ja, was du magst“, erwiderte Philipp zwinkernd.
Er selbst hatte eine vegetarische Pizza mit Spinat und anderem Gemüse, während er für Tim eine mit Schinken mitgebracht hatte.
Während des Essens unterhielten sie sich noch ein wenig: „Und was gibt es bei dir Neues, Laura?“, fragte Philipp mit vollem Mund.
„Naja“, sagte Laura und schluckte ihren Bissen herunter. „Ich habe letztens eine verletzte streunende Katze gefunden und zu einem Tierarzt gebracht. Musste ziemlich weit zu Fuß laufen, da mich keiner mitnehmen wollte. Zum Glück war die Katze nicht schwer verletzt, nur eine kleine Wunde – aber wenn es etwas Größeres gewesen wäre, wäre ich vielleicht nicht rechtzeitig da gewesen. Andererseits… Man kann den Leuten wohl schlecht einen Vorwurf machen. Ich meine, seht mich an – bin nicht unbedingt eine vertrauenserweckende Erscheinung.“
„Naja“, sagte Tim. „Wenn dich die Leute näher kennen würden, sähe das sicher anders aus.“
„Lieb von dir“, sagte Laura. „Übernachten wir eigentlich heute hier?“
„Hatten wir eigentlich so geplant“, erwiderte Philipp.
„Deine Eltern wissen Bescheid, falls meine anrufen?“, fragte Tim.
„Jep. Wenn sie anrufen, sagen meine Eltern, dass du bei uns übernachtest und nicht hier im Bunker.“
„Gut. Hoffentlich wollen sie nicht auch noch, dass ich ans Telefon komme.“
„Sie wissen gar nichts von unserem kleinen Versteck hier, oder?“, fragte Laura.
„Nö, und das soll auch so bleiben“, antwortete Philipp.
„Also ich werde es ihnen ganz sicher nicht verraten“, grinste Laura. „Wobei ich es ihnen ja zurufen müsste, da sie mich nicht auf fünfzig Meter an sich herankommen lassen würden.“
Sie lachten alle kurz, ein Lachen, das von alltäglichen Sorgen befreite, aber gleichzeitig aufgrund ihrer plötzlichen Abwesenheit auch eine gewisse Leere und damit verbundene Stille hinterließ. Nach einiger Zeit schließlich erhob Laura ihre Apfelschorle: „Auf uns drei. Denn wisst ihr, es ist echt schön, euch zu kennen.“
„Hört, hört“, sagten Philipp und Tim und prosteten ihr zu.