Dragon Age: Der Erkunder

Ihre Füsse fühlten sich schon wund an. Seit einer Woche war sie ohne richtige Pause unterwegs. Stets hatte sie sich im Unterholz ein einigermassen geschütztes Nachtlager aufbauen müssen. Sie wachte lieber mit den Haaren voller Käfer auf, als mit leeren Taschen und ohne Eingeweide. Ihr Ziel lag nur noch ein Stückchen weiter im Osten; die Hafenstadt Amaranthine. Auf dem Weg dahin hatte sie in einer Stadt namens Highever gestoppt. Freundliche Menschen hatten da gelebt. Wenn auch etwas sorglos. Sie hatten ihr ohne grosses Hinterfragen Wein, Brot und Fleisch angeboten. Sie über Nacht in einer Herberge untergebracht und ihr den Weg nach Amaranthine erklärt. Sie war schon an vielen Orten gewesen, da hätte man sie noch erschlagen bevor sie einen Fuss in die Stadt gesetzt hätte. Fröhliche Gesänge hatten ihr Abendmahl begleitet. Im Kerzenschein und im Flackern des Feuers hatte sie Liedern von Helden aus Ferelden, von tragischen Liebesgeschichten und von dummen Taten einfältiger Bauern gelauscht. Gespielt auf Flöten, Lauten und Trommeln. Genüsslich hatte sie an jenem Abend das Brot und den köstlichen Räucherschinken verschlungen. Heute lag sie da, unbequem an einem Abhang liegend, mit einem dicken Bärenfell über sich geworfen und verträumt an Highever zurückdenkend.

Sie hatte zwei Nächte in Highever übernachtet. Am nächsten Tag waren die Couslands vom Schloss ins Dorf gekommen. Es schien als wären sie bei den Bürgerlichen beliebt.
Diese hatten gerufen und gejubelt und gesungen. Sie erkannte nur den Teyrn; Bryce Cousland. Die Namen der anderen hatte sie von den Leuten um sich aufschnappen können. Neben ihm ging seine Frau Eleanor und hinter ihnen die Kinder. Den Mann himmelten die Frauen hier anscheinend an. Mit flatternden Augen seufzten sie seinen Namen, kreischten seinen Namen; Fergus Cousland. Grinsend stellte sie fest, dass die Frau die neben ihm ging, seine Schwester, ebenfalls einen Schild und ein Schwert trug. Ungewöhnlich für eine Frau des Adels. Ihren Namen bekam sie in dem ganzen Trubel nicht mit. Auch verstand sie nicht ganz, was die Familie des Teyrn hier im gemeinen Volk suchen mochte.
Sie verlor das Interesse und wandte sich ab. In den vielen Gassen der Stadt gab es einfach viel mehr zu sehen und das war bei weitem interessanter als eine Adelsfamilie, die eine Strasse hinunterstakste. Gleich hinter der nächsten Ecke zum Beispiel, entdeckte sie einen Hund der lange einen Kistenstapel studierte, dann von einer auf die nächste sprang und schlussendlich über ihr auf dem Dach stand. Einige Kinder rannten an ihr vorbei. Sie spielten «Schlacht» mit Holzschwertern und Schilden. Ein Junge düste einem Mabari Welpen hinterher und rief ihm zu:
«Los Sabber! Pack den grossen Oger da!» Spielerisch stürzte sich der Welpe auf das Mädchen und fing an ihr Gesicht abzulecken. Sie kicherte und kreischte und schrie unverständliche Laute, einen Oger imitierend.
Das hier war es, das sie wirklich interessierte. Was sie immer fasziniert hatte. Einfach das Leben, die Leute, die Natur, die Geschichten. Andere Leute trachten nach so grossen unfassbaren Dingen. Sie wollen Legenden werden. Sie wollen in die Geschichte eingehen und in Jahrhunderten noch in Büchern erwähnt werden. Meist stürzen solche Leute früh in die Tiefe oder sehen nicht das, was vor ihnen liegt.
Ihre Mutter hatte es schwer gehabt mit ihr. «Ein leerer Kopf verschwindet gen Himmel.» hatte sie mindesten drei Mal die Woche gepredigt.
Doch das war nie geschehen. Auch wenn die anderen Kinder manchmal hinter ihrem Rücken gewispert hatten. Sie hatte es sowieso fast nie bemerkt oder ernst genommen.
Es waren oft dieselben Worte: «Als ob sie von einem besonders blöden und stumpfsinnigen Dämon besessen wäre. Kuckt doch! Immer wenn sie um sich schaut, sieht sie durch alles hindurch. Oder starrt sie einfach in die Leere?»
Eine Eule rauschte über sie in den Nachthimmel und riss sie zurück in das Jetzt. Wohin sie immer starrte? Sie beobachtete was vor ihr lag. Das hatte sie als Kind gemacht und das machte sie auch heute noch. Wie gerade jetzt. Als diese Gedanken durch ihren Kopf schwirrten, hatte sie den Blaubeerstrauch betrachtet. Eine Maus lugte darunter hervor und sammelte heruntergefallene Beeren ein. Eine Weile beobachtete sie die Maus noch, doch dann nickte auch sie endlich weg.

Am nächsten Tag, die Sonne hatte den höchsten Punkt schon passiert, zeigten sich endlich die ersten Dächer von Amaranthine. Ein kühles Lüftchen zog vorbei und trug den Geruch von Meerwasser, Fisch und etwas ranzigem mit sich. Voller Begeisterung stapfte sie die letzten paar hundert Meter den Hügel hinunter. Im Verlaufe des Morgens war die Strasse zu ihrer Freude wieder etwas belebter geworden. Söldner gingen in schnellem Schritt an ihr vorbei. Ihre Lederrüstungen waren nichts Besonderes, meist schon etwas lädiert und verschnitten aber an den Waffen hing kein Schmutz, kein Kratzer brach das Licht. Die Söldner hielten ihre Lebensretter gut in Schuss.
Das sollten sie besser auch mit ihrer Rüstung machen, hatte sie sich gedacht. Neben den Söldnern ratterten auch Händler auf ihren Karren vorbei. Man konnte gleich erkennen, welcher Händler etwas mit sich fuhr. Betroffene Männer wurden von Söldnern begleitet. Einer von ihnen trug Kleidung in den buntesten Farben. Schön bestickt und mit viel Schnickschnack. Auch seine Pferde hatten Zaumzeuge aus schön verziertem Leder und der Wagen war mit einer gefärbten Lederplane verdeckt. Ein Tuch- und Stoffhändler, so dachte sie sich. Ein anderer jedoch, hatte langweilige, braune und graue Kleider, seine Ochsen waren dreckig und alt, sein Wagen war nicht abgedeckt und grosse Kisten waren drauf geladen. Gemüse oder Früchte. Vielleicht auch Getreide in den Säcken da. Sie beobachtete jeden Händler der vorbeikam. Überlegte sich, was er voll transportierte, woher er kam und wie er sich wohl gerade fühlte. Die meisten waren, ihren Mienen nach zu urteilen, sehr schlecht gelaunt. Sie hatten wohl einen genauso langen Weg hinter sich wie sie. Nur, dass sie zu Fuss ging und die Händler gemütlich auf ihren Wägelchen hocken konnten. Je näher sie der Stadt kam, desto mehr Bewohner entdeckte sie. Frauen hasteten ihren Kindern hinterher und brüllten ihnen Drohungen nach. Männer unterhielten sich lachend und in die Hände klatschend und die wenigen Wachen kurz vor dem Stadttor lehnten sich müde und gelangweilt gegen die Mauern.

Sie passierte das Tor breit grinsend. Gleich dahinter blieb sie stehen und drehte sich um sich selbst. Sie inspizierte jeden Ecken den sie von ihrem Standort aus sehen konnte und fragte dann einen Mann gleich neben ihr nach einer netten Herberge. Er empfahl ihr «Die Krone und Löwe», welche sich gleich die Treppen rauf befand. Sie musste sich durch die Menschenmenge quetschen. Es war Markt und ein gewaltiger Lärm herrschte auf der Strasse. Sie entkam einigen jungen Männern, die sie mit verschmitzten Blicken ansahen und nach ihrem Namen fragten und floh in die Taverne. Es war erstaunlich leer drinnen. In einer Ecke spielten ein paar Männer Karten. Erleichtert endlich sitzen zu können, bestellte sie sich beim Wirt einen Krug Met und setzte sich ans Fenster. Am Tisch nebenan sass ein Zwerg. Seine dunkelbraunen Haare waren zu einem gewaltigen Zopf geflochten worden. Sein Bart jedoch hing frei und wild über seine Brust. Er bemerkte, dass sie ihn anstarrte. Sie erwartete, dass er sie anschnauzen würde, so wie es viele Zwerge vor ihm getan hatten, doch er grinste nur. Seine Augen blitzten. Dann wandte er sich wieder einem kleinen Büchlein zu. Das erstaunte sie nur noch mehr und so konnte sie einfach nicht von dem Zwergen ablassen. Sie trank ihren Met und sah ihn unmerklich an. Irgendwann reckte er sich und seufzte: «Ich fühle mich geehrt. Kommt nicht oft vor, dass Frauen wie ihr es seid mich derart anstarren.»
Sie war nicht beschämt. Sowas passierte ihr oft.
Der Zwerg wandte sich zu ihr um: «Gestatten Sie, dass ich mich zu Ihnen setze? Dann können Sie mich auch aus nächster Nähe sehen.»
Er wartete nicht auf eine Antwort, rutschte von seinem Stuhl und setzte sich ihr gegenüber. Er legte sein kleines Buch auf den Tisch.
In enger Schrift stand auf dem hölzernen Einband «Die Clans der Dalish».
Ein Buch über Elfen?
«Da ich schon hier sitze, mein Name ist Maegar Hammerstein. Ich bin hier um meinen Bruder zu begleiten. Ein Händler müsst ihr wissen. Ihr scheint etwas scheu zu sein?»
Das war sie ganz und gar nicht. Nur war sie so von dem Zwergen und seinem Verhalten fasziniert, dass sie erst gar nicht wusste was sie sagen sollte.
«Darf ich auch Ihren Namen wissen?»
«Ceridwenn Beara.»

[font='Georgia, serif']Seine Nackenhaare hatten gekribbelt und er merkte, dass irgendjemand ihn beobachtete. Aus den Augenwinkeln sah er nach rechts und dann nach links. Zu seiner Rechten sassen ein dicker Mann mit zu viel Behaarung, ein elfischer Krieger und eine Frau mit quadratischem Gesicht und kurzen roten Haaren, die Köpfe zusammengesteckt und über irgendetwas wispernd. Er sah wie der Elf unmerklich unter dem Tisch einen kleinen Dolch aus seinem Stiefel zog. Zu Maegar’s Linken sass eine Frau alleine am Tisch und nippte an einem grossen Krug Met. Sie sah ihn direkt an. Leute in einer Taverne auf diese Weise anzustarren führt nur zu Problemen. Das Mädchen war mutig. Oder einfach nur strohdumm. Als ob er ihre Blicke nicht bemerkt hätte, reckte er sich und seufzte: «Ich fühle mich geehrt. Kommt nicht oft vor, dass Frauen wie ihr es seid mich derart anstarren.»
Sie errötete nicht und senkte auch nicht ihren Blick. Nun wandte er sich zu ihr um: «Gestatten Sie, dass ich mich zu ihnen setze? Dann können Sie mich auch aus nächster Nähe sehen.» Der Gedanke, dass sie vielleicht wirklich blöd wäre, blieb in seinem Kopf hängen. Er rutschte vom Eichenholz Stuhl runter und setzte sich ihr gegenüber. Maegar legte sein Büchlein ab. Sofort huschten die Blicke der Frau auf den Einband. Dann durchbrach er die Stille noch einmal: «Da ich schon hier sitze; mein Name ist Maegar Hammerstein. Ich bin hier um meinen Vetter zu begleiten. Ein Händler müsst ihr wissen. Ihr scheint etwas scheu zu sein?»
Sie sah von seinem Buch auf. Ihre Augen waren von einer rotbraunen Farbe. Im Licht des Kaminfeuers schienen sie zu brennen.
«Darf ich auch Ihren Namen wissen?»
Die Frau sagte: «Ceridwenn Beara.» Das war das erste Mal, dass sie etwas gesagt hatte. Ihre Stimme strotzte vor Kraft und Energie. Sie war keine normale Person. Er fühlte sich sogar etwas Unwohl in ihrer Gegenwart. Als ob sie mehr wusste, als alle anderen. Als ob sie mehr sah, als alle anderen.
«Weshalb seid ihr hier in dieser Stadt? Amaranthine ist nicht gerade wunderschön, noch ist sie besonders gross.»
«Eine Stadt muss nicht gross oder schön sein um mein Interesse zu wecken.»
«Weshalb seid Ihr dann hier? Mir scheint Ihr kommt von weit her.»
Maegar’s Neugierde war nun geweckt. Was hatte es mit dieser Frau auf sich? Sie traute es sich zu, ganz alleine durchs Land zu ziehen?
«Ihr seid neugierig. Wie ich.» Ceridwenn musste lächeln.
«Tatsächlich bin ich aus Nevarra. Aus einer kleinen Siedlung in der Nähe von Hunter Fell.»
«Nevarra huh? Hab’ schon einiges von diesem Ort gehört. Allerdings nichts, das mich wirklich dazu gebracht hat, über eine Reise dahin nachzudenken. Ihr seid also eine Reisende?»
«Mehr sowas wie eine Abenteurerin. Ich möchte noch vieles sehen, bevor ich mich irgendwo niederlasse. Hier in Ferelden möchte ich noch Denerim besuchen. Und Ostagar und den Brecilianwald. Es gibt so viel zu ent­decken.»
«Von Ostagar und dem Brecilianwald würde ich Ihnen abraten. Die ­Armee König Cailan’s macht sich gerad bereit zum Kampf gegen die Dunkle Brut. Falls sie diese Bestien nicht zurückschlagen können, werden sie stetig nach Norden ziehen. Ich würde an Ihrer Stelle lieber umkehren und zurück in Ihr kleines sicheres Dorf in Nevarra gehen.»
«Ganz sicher nicht.» Sie warf Maegar’s Warnung beiseite wie ein verkommenes Stück Fleisch. Dann war es an ihr Fragen zu stellen:
«Ihr begleitet Euren Bruder sagtet Ihr. Weshalb?»
«Ich begleite ihn auf seinen Reisen hier an der Oberfläche. Aber auch nur hier oben. Er weiss nicht wie ma kämpft und auch nicht wie man sich benimmt. Darum gerät er ständig in Probleme. Sobald er wieder in den Untergrund ist, gehe ich meinen Dingen nach.»
«Sie mögen den Untergrund nicht?» Ceridwenn nahm einen gewaltigen Schluck vom Met. Der Krug war schon halb leer.
«Ganz und gar nicht. Ich bin hier oben geboren. Meine Mutter hat als Dienerin irgendeines Adligen gearbeitet. Doch als dieser verstarb ging sie mit mir zurück nach Kal’Hirol.»
Ceridwenn schien gespannt darauf noch mehr über seine Heimat herauszufinden, doch er konnte nicht viel erzählen. Schliesslich hatte er nicht lange im Untergrund gelebt. Sie sog jede kleinste Information in sich auf hackte immer weiter nach, stellte immer mehr Fragen. Die Unterhaltung der beiden dauerte so lange an, bis der Wirt das Mittagessen einiger Gäste vorbereitet. Dann bereitete er auf einmal das Abendessen vor. Irgendwann wurde Maegar so müde, dass er nicht mehr richtig reden konnte. Er verhaspelte sich und nuschelte. Der Met verschleierte seine Sicht langsam. Er wollte sich zu Bett legen. «Es wird spät Mylady. Ich sollte mich auf den Weg in meine Räume machen.»
Ceridwenn lachte, als er sie Mylady nannte. Doch auch sie wollte sich auf den Weg in ihr Zimmer machen und wünschte Maegar eine Gute Nacht, als ihm noch eine Frage durch den Kopf schoss.
«Dürfte ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen?»
«Sicher.»
«Wohin werden Sie nun gehen? Der Süden von Ferelden ist im Aufruhr. Und bald wird das auch im restlichen Land der Fall sein.»
«Ich habe nicht vor hier zu bleiben, während solche Monster hinter jeder Ecke lauern können. Ich werde noch in Denerim vorbeischauen und dann nach Orlais gehen. Das war ohnehin mein nächstes Ziel gewesen.»
«Denerim und Orlais. Das ist eine ziemlich grosse Strecke.» Maegar hatte eine urplötzliche Idee: «Würden Sie es mir erlauben, Ihnen auf dieser Reise Gesellschaft zu leisten? Mein Bruder ist mit seinen Geschäften durch. Danach habe ich kein momentanes Ziel und auch ich möchte mehr von dieser Welt sehen als von dem Loch, aus dem mein Bruder mehrmals im Jahr gekrochen kommt.»
Er konnte sehen, dass sein Angebot sie nachdenklich gemacht hatte. Doch was würde sie antworten?
«Sie wollen mich begleiten? Warum? Ich bin mir dabei nicht so sicher. Sie könnten ja ein Serienmörder sein. Oder ein Vergewaltiger oder noch schlimmer; ein begeisterter Balletttänzer?»
Etwas verdutzt über die Antwort der Frau musste er erst überlegen, was er darauf antworten sollte. Doch sie sprach weiter:
«Nun, solange Sie nichts davon sind, können Sie mir Gesellschaft leisten. Es war ein wenig ruhig geworden auf dem Weg von Highever hierher»

Einige Scherze und schlechte Wortspiele fielen noch, bevor sich die kleine Gemeinschaft auf den Weg in ihre Betten machte.
In der nächsten Stunde wurde es schnell ruhig in und um die Herberge. Eine laute, tiefe Glocke riss Maegar aus seinen wohligen Träumen. Er brauchte einige Minuten, bis er bemerkte was ihn eigentlich aufgeweckt hatte. Kurz zuvor hatte er noch auf einem grossen Drachen den Himmel durchstreift, auf der Suche nach neuen Abenteuern. Diesen Traum hatte er schon oft. Zum ersten Mal, als er noch ein Junge war und in Kal’Hirol gelebt hatte. Die Mütter der anderen Kinder lachten teilweise über seine Fantasien. Andere schienen regelrecht verängstigt bei dem Gedanken an der Oberfläche zu sein und dazu noch am Himmel zu fliegen.
Doch seit diesem Traum ging ihm der Gedanke nicht aus dem Kopf. Auf einem Drachen fliegen zu können war so gut wie unmöglich. Aber dafür wollte er von einem hohen Punkt aus die Welt sehen. Vom höchsten Punkt, der den Völkern derzeit bewusst war und er wollte ein einziges Mal richtig fliegen. Durch die Wolken, der Sonne entgegen und in den Mond hinein. Wenn er mit Ceridwenn reiste, würde er sicher noch viele Orte zu Gesicht bekommen. Sie war sicher selbst so neugierig wie er selbst.
Immer noch schlug die Glocke. Dann fiel ihm ein, was ein paar Männer am Hafen gesagt hatten. Angeblich läutete die Glocke jedesmal, wenn die grossen Fischerboote vom Meer zurückkehrten. Er setzte sich hastig auf. Etwas zu schnell. In seinem Kopf drehte sich alles und sein Blick verschwamm für ein paar Sekunden. Er zog seine Kleider an, dann die Rüstung. Einen Hartleder Wams und ein Roteisen Kettenhemd. Mit passenden Stiefeln und Handschuhen und einem grossen Lederbeutel auf dem Rücken, verliess er das Zimmer und stapfte die Holztreppe in die Taverne hinunter. Ceridwenn schlief wahrscheinlich noch. Es war sehr früh. Am Himmel hinter den Mauern Amaranthine’s schimmerte noch das rote Licht der Morgensonne.
Ob er warten sollte, bis seine neue Reisegefährtin aufwachte? Er erinnerte sich daran, wie lange seine erste Freundin immer gebraucht hatte, um sich bereit zu machen. In der Zeit wäre er locker von Kal’Hirol nach Orzammar gerannt und wieder zurück. Er entschied sich dazu, Amaranthine ein weiteres Mal zu durchforsten bevor er abreiste. Ein starker Geruch von Fisch strömte mit der Meeresluft in die Stadtmitte. Fisch. Mhh wie er den liebte. Im Untergrund hatte er mehrere Jahre darauf verzichten müssen. Es wurde nur importiert und dann war er teurer als sein Haus.

Er ging durch die Stadt hin zum Hafen. Viele Leute waren unterwegs und das schon zu dieser Stunde. Am meisten zerrten Hausfrauen ihre Männer hinter sich her. Sie wussten, dass der beste Fisch früh gekauft wird. Maegar wollte sich ebenfalls den ein oder anderen Fisch holen. Er folgte der Menge durch das Stadttor auf der Nordseite Amaranthines und schon war das Meer zu sehen.
An den Kais lagen zahllose Boote und Schiffe angetaut. Fischkutter, wo die Seefahrer gerade den Fang abluden, kleine Nussschalen, die im Tumult des Marktes fast unterzugehen schienen und sogar grosse Segelschiffe aus dem Norden. Besonders eines hatte es ihm angetan. Weit aussen am Hafen wankte es kaum merklich in den aufschäumenden Wellen. Die Flagge war aus Rivain und auf den Segeln war das Wappen einer rivaini Stadt aufgemalt. Maegar fiel gerade nicht ein welche.
Er versuchte beim nächstbesten Fischer etwas in Salz eingelegten Fisch zu ergattern. Nur ein Silberstück kostete ihm das Päckchen Sardellen. Mit seinem Frühstück in der Hand setzte er sich an einen der Kais. Von hier hatte er das Schiff aus Rivain gut im Blick. Diese Seefahrer stachen aus der Menge heraus. Tattoo’s und Piercings waren über ihre ganzen Körper verteilt. Das Gesicht eines bulligen Mannes konnte man fast gar nicht mehr erkennen, so viele Zeichnungen zierten es. Ein anderer, eher verschüchtert wirkender Matrose schrubbte alleine das Deck. Er hatte nur einen Piercing und ein winziges Tattoo auf seinem Rücken. Beides war in ihrer Heimat ein Zeichen für Macht und Stärke. Je mehr der Körper verziert ist, umso wichtiger ist die Person. Es gab gar keinen Zweifel; die Dunkle Haut machte jedem klar wer sie waren und um das noch einmal richtig in jedermanns Kopf einzuhämmern, polterten sie ein Lied aus ihrer Heimat sowie sie das Schiff putzten und aufräumten.
Die Kirchenglocke schlug eine neue Stunde. Zeit umzukehren dachte sich Maegar. Inzwischen hatte sich Ceridwenn sicher schon zur Abreise bereit gemacht. Bereit um gen Süden nach Denerim zu ziehen.

Weit entfernt konnte sie etwas hören. Kirchenglocken? Das Läuten schien eine Ewigkeit anzudauern und liess sie nicht mehr einschlafen. Langsam, ganz langsam löste sich die Dunkelheit des Schlafes von ihren Augen. Sie erkannte die winzige, von Holzwürmern durchbohrte Kommode gegenüber dem Bett, das schmutzige Fenster rechts, den kleinen Schemel auf dem ihre Kleidung lag und den unheimlichen Kleiderständer hinter der Tür dessen Haken aussahen wie glupschäugige, warzennasige Hexenköpfe. Die ganzen Möbel sahen aus, als seien sie noch aus dem vorletzten Zeitalter. Sie richtete sich auf und streckte sich genüsslich. Das Bett knarzte bei jeder Bewegung. Als sie sich vom Bett erhoben hatte, flogen Federn und Fuseln hinter ihr her. Das Bett bog sich wieder gerade. Ceridwenn verzichtete darauf das Bad am Ende des Ganges aufzusuchen. Sie hatte gesehen wer gestern spät in der Nacht noch dort hineingegangen war.Sie musste sich also mit der kleinen Schale Wasser in ihrem Zimmer zufrieden eben. Die sah zwar auch nicht unbedingt wie eine reine Quelle aus, aber was solls.
Denerim lag noch ein ganzes Stück weg, und eigentlich war es ihr Ziel gewesen, es noch vor Ende dieser Woche zu erreichen. Also zog sie sich schnell ihre Kleider über, natürlich nicht ohne sie vorher kräftig auszuschütteln, packte ihre wenigen Sachen zusammen und verliess das Zimmer. Der Zwerg befand sich in Zimmer Fünf. Genau am anderen Ende des Ganges, gegenüber der Treppe. Im Vorbeilaufen hörte sie knarzendes Holz und Stöhnen. Peinlich berührt beschleunigte sie ihre Schritte. Wahrscheinlich war jemand noch später in der Nacht gekommen um dem dortigen Reisenden einen Besuch abzustatten. Sie klopfte gegen Maegars Tür. Dann noch einmal etwas lauter. Beim dritten Mal hämmerte sie schon fast gegen das Holz. War er gar nicht da? Sie beschloss hinunter in den Schankraum zu gehen und ihr Zimmer schon mal zu bezahlen.
Der Besitzer der Herberge war noch nicht unten. Dieser schlief noch. Ungeduldig fing sie an, auf dem knarzenden Boden hin und her zulaufen. Die Zeit zog sich in die Länge.
Wieder hörte sie die Kirchenglocken. Sie schlugen halb. Und dann tauchte der Wirt endlich auf. Sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert; seine Mundwinkel hingen tief nach unten, seine Augen verschwanden fast unter den Augenbrauen. Er rümpfte die Nase, nahm Ceridwenns Zahlung entgegen und verzog sich wieder hinter die Theke. Sie hörte wie die paar Münzen in eine Kiste fielen.
Maegar tauchte auf. Ein kleines Päckchen, das stark nach Fisch roch in den Händen haltend, bezahlte auch er sein Zimmer und wandte sich ihr zu. Die Müdigkeit lag ihm immer noch ins Gesicht geschrieben. Der Schankwirt schien aus irgendeinem Grund noch einmal auf der Motivationsleiter hinunterzurutschen. Ceridwenn spürte einen Wutanfall anrücken und drängte Maegar, endlich «Die Krone und der Löwe» zu verlassen. Sie hatte schon einige Zwerge kennengelernt. Sie alle waren Morgenmuffel gewesen aber er war sogar noch früher aufgestanden als Ceridwenn. Draussen war es genau wie am Morgen zuvor. ­Voller Leute die ihren täglichen Routinen folgten. Die Sonne war nun aufgegangen und das Tor der Stadt Amaranthine wurde für den Tag geöffnet.

Über Nacht hatte es geregnet, sodass die Strasse fast nur aus Schlamm bestand. Mühsam zogen sie bei jedem Schritt ihre Stiefel aus dem Morast und jedesmal war ein schmatzendes Geräusch zu hören. Die Sonne aber stieg schnell an ihren Höhepunkt und trocknete den Schlamm zum Glück aus. Es war ein besonders warmer Sommer und die Tempereaturen waren Tag für Tag in die Höhe geschossen. Die Kinder in den kälteren Regionen des Bannorn waren sogar spät Abends noch barfuss draussen rumgerannt. «Heute scheint die Sonne wie ein Schmiedeofen und morgen regnet es als würden alle Drachen der Welt gleichzeitig pissen. Versteh einer dieses Land» meinte Maegar. Ceridwenn lachte bei dem Gedanken an die gemeinsame Erleichterung der Drachen. In der Hitze schmolz er immer, hatte er dann hinzugefügt. Bei seiner Mähne war das auch kein Wunder. Glücklicherweise war er nicht die Art von Person, die sich ständig über alles und jeden aufregte. Er wird ein angenehmer Reisegefährte sein. Viele Zwerge waren nicht sehr tolerant. Sie verstanden andere Kulturen nicht und bemühten sich nicht darum, sie kennenzulernen. Sie machten sich nicht selten sogar darüber lustig. Aber nicht dieser hier. Das einfache, arme Dorfleben aus Nevarra interessierte ihn genauso sehr wie Ceridwenn’s Reise über die Wache See, bei der sie zweimal von Piraten angegriffen wurde. Gegen den frühen Nachmittag stürmten drei Reiter an ihnen vorbei und liessen den Schlamm links und rechts in die Luft fliegen. Ceridwenn konnte sich gerade noch die Hände vor’s Gesicht schlagen. Maegar, der nicht so hochgewachsen war, wurde vollkommen mit Schlamm bespritzt. Fluchend brüllte er den Reitern nach, doch die kümmerten sich nicht um ihn und verschwanden hinter der nächsten Baumgruppe.
«Trugen sie das Wappen von König Cailan?» fragte Ceridwenn.
«Auch wenn die privatesten Teile meiner Ahnen auf deren Schilde wären, würde ich…» wild gestikulierte er mit seinen Armen, war schon dabei sein Schwert zu ziehen, doch wurde durch einen weiteren Reiter unterbrochen, der noch schneller ritt als die vorangegangenen. Diesmal erkannte Ceridwenn das Wappen; das der Familie Howe. So viele berittene Soldaten zu sehen konnte nichts Gutes verheissen. Vielleicht waren sie Boten? Dann musste etwas mit der königlichen Armee geschehen sein. War es vielleicht doch keine so gute Idee jetzt schon nach Denerim zu reisen? Aber anhalten und umkehren wollte sie nicht. Zwischen Amaranthine und Denerim lag so gut wie nichts ausser ein paar einsamen Dörfern und Farmen. Noch während sie sich mit Maegar über die Nevarrische Kultur unterhielt, überlegte sie sich eine Fluchtmöglichkeit aus Ferelden. Komisch, wieso das? Hatte sie sich innerlich schon mit dem Gedanken zufrieden gegeben, dass der König in Ostagar geschlagen wurde?
«Habt ihr denn schon einmal einen gesehen?» fragte Maegar.
«Bitte?» nun war sie doch in ihren Gedanken verloren gewesen.
«Einen Drachen! Meine Mutter liebte Geschichten über Drachen. Für sie waren es königliche Kreaturen, elegant, stark und voller Wissen. Ich bin allerdings nicht so an der Idee interessiert, demnächst einen zu treffen. Ihr müsst wissen…»
Drachen. Sie hatte welche in Büchern gesehen. Sie hatten gewaltige Ausmasse. Wenn sie flogen, würden sie die Sonne komplett verdecken, sodass im Lande unter ihnen plötzliche Nacht eintrat. Das war in den Büchern geschrieben gewesen. Schwachsinn. Ein so grosses Tier, von was sollte es sich ernähren? Bergen? Maegar schwatzte weiterhin über Drachen und Geschichten, die seiner Mutter gefallen hatten. So zog sich das ganze über Stunden hinweg, bis es dunkel wurde und sie sich entschieden eine Runde zu schlafen.
In den nächsten Tagen entdeckten sie immer wieder berittene Boten auf den Strassen. Sie waren sich nun sicher, dass es Boten waren, denn als sie an einer Farm vorbeikamen, überbrachte ein solcher den Bauern die Nachricht, dass König Cailan in Ostagar gefallen wäre, mit ihm seine ganze Armee und die Grauen Wächter. Die beiden Reisenden konnten es nicht fassen. Wie konnte so etwas nur geschehen? Was war mit Teyrn Loghain? War er tot? Ceridwenn hatte Geschichten über ihn gehört. Er war in Ferelden ein Held. Und sogar über die Grenzen des Landes hinweg, war sein Name bekannt. Doch nun hatten sie ein anderes Problem. Wenn die Armee des Königs gegen die Dunkle Brut nicht bestehen konnte, würde sie weiterhin nach Norden ziehen. Sie und Maegar mussten sich eine neue Route überlegen. Sie hatten den Tag durch nur sehr wenig miteinander gesprochen. In ihren Köpfen hämmerte es.

«Ich schlage vor; wir verlassen Ferelden.» sagte Maegar bestimmt und aus heiterem Himmel. Ceridwenn stocherte im Feuer herum, welches sie für die Nacht entzündet hatten. Dann fuhr er fort: «Welcher Route wolltest du eigentlich durch Ferelden folgen?» Seufzend wartete sie, bis das Stöckchen glühte und fuchtelte dann damit in der Luft herum. Orangene Linien zogen sich durch die dunkle Nacht.
«Eigentlich wollte ich mir genug Zeit nehmen um Denerim kennen zulernen. Diese Stadt ist riesig und es gibt sicher viel zu sehen. Von da wollte ich durch den Brecilianwald wandern, hinunter nach Ostagar, dann Lothering und den Calenhad See entlang. Aber jetzt…Ich habe auch überlegt und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir in Denerim ein bis zwei Nächte bleiben. Danach ziehen wir gleich weiter Richtung Westen. Direkt und ohne Umwege zum Calenhad See. In der Zeit, die wir für den Weg brauchen, sollte die Dunkle Brut noch nicht allzu weit in den Norden gedrungen sein.»
«Und von da aus weiter nach…mmhhh Redcliffe wäre die nächstbeste Station. Dann ist es nicht mehr weit bis zum Frostgipfel Gebirge.» stimmte der Zwerg zu. Ceridwenn war wütend. Sie hatte sich so viel Zeit genommen um ihre Reise nach Ferelden vorzubereiten und dann das. Vielen geht der Hundegeruch in den Städten und Dörfern durch den Strich. Ebenso die Kälte und Nässe die überall herrscht. Aber das Land war wunderschön. Der Weg, dem die beiden nun folgen wollten war entschieden. Jetzt konnten sie nur noch hoffen, dass diese verderbten Ungetüme nicht schneller waren als sie annahmen.

Im Eilschritt waren sie in den nächsten Tagen nach Denerim gezogen. Es war nicht mehr weit gewesen, aber ihre Lager mussten sie früher als zuvor abbrechen, länger und schneller Laufen und sich auf den Weg konzentrieren. Ceridwenns Stimmung sank mit jedem Tag. All die Dinge um sie her, die sie sich nicht einprägen konnte. So vieles, das sie durch das Tempo verpasste. Zu den berittenen Boten gesellten sich nun auch noch endlose Flüchtlinge aus dem Süden. Mit kaum mehr als einem Beutel auf ihrem Rücken und endlos trauernden Gesichtsausdrücken schlurften sie müde die Strasse entlang gen Norden. Die Meisten sahen nicht so aus, als hätten sie ein Ziel. Viel mehr drängte ihre pure Angst sie dazu weiterzulaufen. Weg von der anstürmenden dunklen Armee aus der Wildnis.
Hin und wieder spürte Ceridwenn die Blicke, die auf ihr ruhten. diese Leute mussten sich fragen weshalb zwei Reisende, kaum bewaffnet in die entgegengesetzte Richtung marschierten. Manchmal, wenn sie genug Kraft sammeln konnten, tuschelten sie untereinander. Einmal wollte ein Mädchen Ceridwenn ansprechen. Doch seine Mutter war hinterhergestürmt und hatte sie von der überraschten Reisenden weggezogen. Ceridwenn hatte Kinder mit ungesund aussehender Haut gesehen. bleich und mit hervorstechenden Venen und Adern. Ihre Augen verloren das kindliche, glückliche Glänzen und schienen Schimmel an der Hornhaut anzusetzen und je näher sie Fereldens Hauptstadt kamen, umso mehr Leute waren auf den Strassen.
Vor Denerim’s Toren traten sich die Leute schon fast auf die Füsse. Von weitem hatten Maegar und Ceridwenn die Menschenmenge gesehen, die sich gebildet hatte und wie ein Haufen wütender Ameisen herumwuselte. Sie hatten Mühe den fast geschlossenen Portalen näher zu kommen. Dazu war es stickig, stank nach alten, dreckigen Kleidern und Leuten und nach Verwesung. Am Strassenrand lag ein totes Kind. Es war wohl niedergetrampelt worden. Schnell wandte sie ihren Blick ab und kämpfte sich mit Maegar zum Tor durch. Ein halbes Dutzend breiter Soldaten stand da und hielt die Menge davon ab die Stadt zu stürmen. «Zurücktreten!» brüllten sie immer wieder. Aber die Leute hörten nicht. Sie jammerten, brabbelten und erzählten ihre Geschichten um das Mitleid der Männer zu erregen. Natürlich ohne Erfolg. Als einer von ihnen Ceridwenn und Maegar entdeckte fragte er: «Ihr da! Woher kommt Ihr?»
«Nevarra und Kal‘hirol! Wir sind Reisende auf dem Weg nach Orlais.» Sie musste schreien damit der Mann sie hören konnte. Zu ihrer Überraschung machte er Platz und liess sie eintreten. Er warnte sie jedoch, Denerim in den nächsten drei Tagen wieder zu verlassen. Wütendes Gebrüll ertönte um sie herum. Die Leute waren empört, dass ihnen beiden Eintritt gewährt wurde, waren sie doch gerade erst angekommen. Schnell passierten sie das Tor der Stadt. Es würde nicht mehr lange dauern bis ein Aufstand ausgelöst würde.
Der Platz auf dem sie sich nun befanden war voll mit Leuten. Zelte waren hastig aufgebaut und auch Haufen von Tüchern, die wohl Zelte darstellen sollten. Die Soldaten waren im Recht. Mehr Flüchtlinge konnten sie nicht mehr einlassen. Wenigstens waren sie jetzt hier. Und sie hatten Glück gehabt, dass man sie in die Stadt hineingelassen hatte.

Nachdem sie Denerim fast den ganzen Tag abgesucht hatten, fanden sie schließlich in einer abgelegenen Herberge ein einzelnes Zimmer. Maegar staunte nicht schlecht, als seine Reisegefährtin meinte, es störe sie nicht, wenn er im selben Raum schliefe. Sie drängten sich also an einem viel zu kleinen Tisch in der Taverne zusammen und assen ihr gekochtes Schwein. Es schmeckte nicht schlecht. Neben ihnen waren alle möglichen Leute. Bauern die etwas mehr Geld hatten als andere, Söldner, die das Land so schnell wie möglich verlassen wollten, einige Soldaten und Händler, die sich am Unglück der Flüchtlinge erfreuten und ihnen ihr letztes Geld für Essen aus den Taschen zogen. Jemand stiess an Maegar's Hinterkopf. Seine Nase ertrank beinahe in der Weizenbrühe und wurde knallrot vom heissen Wasser. Fluchend sah er sich um, doch es waren einfach zu viele Leute da, um ausmachen zu können wer das getan hatte. Schnell würgte er den letzten Rest seines Mahls hinunter. Ceridwenn hatte wohl mit einem solchen ­Malheur gerechnet, denn ihre Schüssel war bereits leer.
«Wie wollten wir noch einmal hinüber nach Orlais?» Versuchte sich Maegar abzulenken. Hektisch sah er um sich, während er einen Kloss hinunterschlürfte.
«Den kaiserlichen Hochweg entlang nach Lothering und dann Redcliffe.» sagte sie kurz denn hinter ihr fingen drei Männer lauthals an zu lachen. Aus welchem Grund auch immer, denn sonst war keinem besonders zum Scherzen zumute. Die Soldaten am anderen Ende des Raumes rümpften die Nase. Die lachenden Männer sahen schmutzig und zwielichtig aus. Vielleicht waren es Banditen. Als sie sich beruhigt hatten sprach Maegar wieder: «Der kaiserliche Hochweg und die Strecke bis nach Redcliffe. Das ist nicht gerade ein Katzensprung. Lass uns gleich morgen aufbrechen. Die Torwächter werden es uns sicher dankbar sein.»
Ceridwenn bestätigte mit einem genervten Kopfnicken, denn wieder johlten die Männer. Nun reichte es auch den Soldaten. Sie standen auf und durchquerten in beeindruckend wenigen Schritten den Raum. Sie stellten sich vor den Männern hinter Ceridwenn auf und befahlen ihnen, die Taverne zu verlassen. Eilig rückte sie näher zu Maegar, um nicht mitten im Geschehen zu landen. Die aufmüpfigen Männer gestikulierten wild mit ihren Armen und weigerten sich zuerst zu gehen. Doch als einer der Soldaten, ein Mann mit wahrscheinlich mehrfach gebrochener Nase, die Hand auf den Griff seines Schwertes legte, fluchten sie nur kurz in einer anderen Sprache und gingen. Die Genugtuung im Gesicht der Soldaten war nicht zu übersehen und sie kehrten zu ihrem Platz zurück. Bis auf einer. Ein jüngerer Mann, nicht viel älter als Ceridwenn, setzte sich ohne zu fragen neben Maegar hin und grinste ihn an. Maegar fühlte sich unbehaglich und vertiefte sich in seinem Metkrug.
«Reisende nehme ich an.» sagte der Mann nur und sah von einem zur andern, «Mein Name ist Aldwyn Onnington. Ich bin Teil der Stadtwache hier in Denerim. Darf ich nach Euren Namen fragen?»
«Wieso?» grunzte Maegar. Das kam etwas feindseliger von den Lippen als beabsichtigt. Aber dieser Mann hatte eine ungewöhnliche Ausstrahlung. Er war nicht irgendeiner und er hatte ein seltsames Lächeln im Gesicht. Der Soldat ging Maegar auf die Nerven. Ceridwenn erging es wohl nicht so, denn sie stellte sich und den Zwergen vor.
Der analysierende Blick, den sie aufgesetzt hatte, schien den Mann nicht zu stören und er fragte nur: «Ihr kommt nicht aus dem Süden nicht wahr? Dafür seid ihr viel zu gut ernährt. Und zu sauber. Und ihr tragt nicht diesen deprimierenden Gesichtsausdruck.»
«Wir waren in Amaranthine und auf dem Weg hierher als wir von der Niederlage des Königs hörten. Aber euch scheint dies alles nicht so sehr zu stören.» Onnington lachte. Weshalb? Und bekam er nicht irgendwann mal einen Krampf im Gesicht, wenn er ständig dieses langsam unheimliche Lächeln aufsetzt?
«Ich habe tagelang solche Leute angesehen. Und ich habe solche Leute auch vor dieser Schlacht gesehen. Man macht sich nur selbst Probleme und Stress wenn man mit jedem Mitleid hat, dem irgendetwas fehlt. Einer meiner ehemaligen Kameraden musste das auf die harte Tour lernen. Hat sich immer von den Schmerzen und Leiden der anderen mitreissen lassen und wurde dann von seinen Gefühlen erstochen. Wortwörtlich, eine Gruppe Jugendlicher haben ihm in einer Gasse aufgelauert, ihn getötet und alles Wertvolle geklaut. Und denen hatte er am Tag zuvor noch was zu Essen gegeben.» Er erzählte das so, als sei es eine Geschichte, die er mal gelesen hatte und nicht ein tatsächliches Ereignis und schreckliches Schicksal, das einen seiner Freunde ergriffen hatte. Ceridwenn war wohl derselben Meinung. ­Etwas verwirrt beäugte sie den Mann. Dann stellte sie die Frage, die Maegar die ganze Zeit auch schon gestört hatte: «Und…was wollen Sie jetzt von uns?»
«Achso!! Das habe ich noch gar nicht gesagt. Also gut. Ich bin schon eine Weile bei der Stadtwache dabei und habe davor schon einiges in Ferelden gesehen. Deshalb habe ich auch sofort erkannt, dass Sie beide Abenteurer sind. Die Sache ist die, es gibt Gerüchte oder viel mehr Behauptungen, dass Teyrn Loghain den König verraten und im Stich gelassen hat. Keine Ahnung ob das der Wahrheit entspricht, aber seltsam ist es schon.»
«Kommen Sie zum Punkt!» schnorrte Maegar dazwischen.
Ein Lächeln war die Antwort und am liebsten hätte er es gegriffen und dem Mann den Hals hinuntergedrückt.
«Es ist bekannt, dass Loghain die Orlaisianer mehr verachtet als alles andere und deshalb nicht auf deren Unterstützung warten wollte. Auch den Grauen Wächtern kam nur Misstrauen von seiner Seite zuteil. Er behauptet zwar, er hätte König Cailan nur dem Lande zu Wohle zurückgelassen, doch wer weiss was wirklich geschah. Gründe hin oder her, die Dunkle Brut rast weiterhin hierher und keine Macht in Ferelden is momentan gross genug, um sie zurückzuschlagen…»
«Um es kurz zu fassen, Sie wollen Ferelden verlassen.» Ceridwenn beendete den Vortrag des Mannes. Aldwyn Onnington nickte noch immer lächelnd.
«Sie haben also zwei Reisende in einer der zwielichtigsten Taverne Denerims entdeckt und entschliessen sich, diese einfach anzusprechen und mit ihnen das Land zu verlassen? Sie scheinen lebensmüde zu sein. Ist es den Stadtwachen überhaupt erlaubt, hinzugehen wo sie wollen?»
«Zum ersten, dies ist nicht die zwielichtigste Taverne in Denerim. Und nein natürlich ist es mir nicht erlaubt einfach zu gehen wann ich will. Aber es muss auch keiner etwas davon erfahren. Ausserdem sind Sie beide nur zu zweit. Ein Zwerg und eine Frau, die nicht einmal bewaffnet ist. Sie können weitere Gefährten gebrauchen.»

Maegar hatte überhaupt nicht schlafen können. Der Gast im nächsten Zimmer schnarchte so laut, dass die komische Dreckkruste auf dem Holz und dem Boden Risse bekam. Er versuchte den Lärm abzuwürgen, indem er seinen Kopf unter dem Kissen versteckte. Doch aus der Decke auf der er lag und aus dem Kissen stieg ein grausiger Geruch auf und schon bald liess er davon ab. Irgendwann war er wohl doch eingeschlafen, denn mühsam öffnete er seine Augens, als jemand seinen Namen flüsterte. Ceridwenn starrte ihn über die Bettkante hinweg an. Er hustete erschrocken und setzte sich auf.
«Die Sonne geht bald auf. Aldwyn Onnington wartet sicher schon auf uns» meinte sie.
«Ich bin über deine spontane Entscheidung noch immer ein wenig ­verwirrt. Traust du ihm wirklich?»
Ceridwenn gab keine Antwort. Er verliess den Raum, damit sie sich umziehen konnte, doch klopfte immer wieder an die Tür um ihr mitzuteilen, sie solle sich endlich sputen. Leicht genervt riss sie die Tür auf und folgte dem Zwerg in den Schankraum. Auch hier war der Wirt noch nicht da. Die Zeit wurde ihnen knapp, weshalb sie sich entschieden das Geld einfach hinter dem Thresen zu lassen.

Ceridwenn’s Stimmung hatte sich seit dem gestrigen Abend nicht verbessert. Als Maegar nach ihrem Wohlbefinden fragte, liess sie ihn wissen, dass sie noch immer über das frühzeitige Verlassen Denerim’s wütend war. Doch ändern konnte sie nichts. Die Verderbnis rückte an und falls sie zurückgeschlagen werden kann, würde sie nach Ferelden zurückkehren. Jetzt geht es einfach darum, dieses kleine Land zu verlassen und Orlais zu erreichen.
Es schien, dass viele über Nacht wach geblieben waren. Soldaten mit dunklen Schatten unter ihren Augen und hängenden Schultern versuchten so gut es ging eine Ausstrahlung der Obrigkeit auszustrahlen. Sie marschierten auf den Strassen und Plätzen auf und ab um für Ordnung zu sorgen. Flüchtlinge sahen immer wieder hektisch um sich. Nicht dazu in der Lage, auch nur ein Auge zu drücken zu können. Es könnte ja plötzlich jemand auf sie losstürzen und ihnen ihr allerletztes Hab und Gut stehlen. Am Tor von Denerim, hatte sich kaum etwas verändert. Noch immer voller Leute die ­eingelassen werden wollten, nur schliefen die meisten noch oder hatten sich hingesetzt. Die Wachen sahen erleichtert aus, dass sie endlich Ruhe gegeben hatten. Aldwyn Onnington stand schon da. Er hatte einen Rucksack auf dem Rücken und sprach mit seinen Kollegen. Ceridwenn und Maegar gingen an ihm vorbei. Es würde verdächtig wirken, wenn sie ihn ansprachen. Die Wachen sagten etwas, lachten und wünschten Aldwyn für irgendwas viel Glück, welcher sich nun auf machte und den anderen beiden die Strasse hinunterfolgte. Sie müssten warten, bis sie weiter von der Stadt weg waren, bevor sie sich mit ihm unterhielten.
Das tote Kind vom gestrigen Abend lag noch immer da. Ein entsetzlicher Geruch ging von ihm aus und die vielen Fliegen und Würmer liessen die Leiche wieder zum Leben erwecken. Hinter der nächsten Hügelkuppe holte Aldwyn zu ihnen auf und seufzte glücklich.
«Endlich raus! Ha! Denerim hatte in letzter Zeit einen ranzigen Geruch an sich. Die ganzen Leute machen ihren Mist da hin wo sie wollen. Wo geht es als erstes hin?» Er reckte seine Arme in die Luft und griff nach Nichts. Dann streckte er sich, gähnte und sah Ceridwenn erwartungsvoll an.
«Einfach nach Westen. Wir wollten in Lothering anhalten um…»
«Das könnt Ihr vergessen.» unterbrach er sie. «Lothering wurde bereits vor mehreren Tagen von der Verderbnis ergriffen. Was glaubt ihr, woher die ganzen Bauern kommen? Wenn ihr nach Orlais wollt, dann rate ich euch durch nach Norden zu wandern.»
«Keine Zeit.» warf ihm Maegar an den Kopf.
«K-keine Zeit?! Ihr redet Schwachsinn! Der Süden wird bald voll von der Dunklen Brut sein. Der einzige Weg ist zur Wachen See zu marschieren und sich dann dort westlich zu halten.»
Maegar wollte dem Soldaten nicht so einfach das Kommando überlassen, weshalb er nach einer Erklärung suchte: «Wir kommen gerade erst vom Norden. Und einfach durch das Bannorn zu wandern ist ebenfalls kompletter Unsinn. Wir könnten uns verlaufen. Die Dunkle Brut könnte Späher ausgesandt haben, die uns über den Weg laufen oder wir geraten in Kämpfe mit Geächteten. Ausserdem brauchen wir viel länger nach Orlais, wenn wir durch die Küstenlande reisen.» Maegar war klar, was für eine klägliche Ausrede das gewesen war und verstand Aldwyn’s ungläubigen Blick. Der Soldat schlug ihnen immer wieder vor, nach Norden und durch das Bannorn zu reisen. Die Diskussion schien kein Ende zu nehmen. Maegar verlor nach und nach die Nerven bis er den Griff seines Schwertes bereits in der Hand hielt und Aldwyn angreifen wollte.
Aber dann gab dieser nach: «Es gibt noch einen Weg. Ihr wollt unbedingt an Lothering und Redcliffe vorbei? Dann lasst uns durch das Bannorn wandern und dann nach Süd-West abbiegen. In dieser Richtung am Calenhad See gibt es einen winzigen Hafen. Wir nehmen uns eines der Boote und fahren direkt hinüber nach Redcliffe. Seid Ihr mit dieser Idee zufrieden? Die Überfahrt wird vielleicht einen ganzen Tag dauern, wenn wir Glück haben mit dem Wind. Schneller und sicherer als wenn wir zu Fuss reisen würden. Und was auch immer da in Lothering ist, es wird uns nicht sehen.»
Maegar war sich bewusst, dass er diesen Mann nicht davon abbringen konnte eine andere Route für die kleine Reisegruppe zu wählen. Ceridwenn meinte dann: «Boote. Könnt Ihr mit einem Boot fahren Ser Onnington?» Er wurde rot und murmelte etwas von wegen das könne nicht so schwer sein. Maegar hingegen wurde grün:
«Sagt, mit einem Boot meint Ihr ein Schiff? Ein Schiff auf dem Wasser?»
«Nein Maegar. Ein Schiff im Himmel. Es wird uns hoch in die Lüfte, vorbei an Drachen und Vögeln und hinüber nach Orlais tragen.» meinte Aldwyn sarkastisch. Maegar wurde noch grüner, sah in die Luft aber schwieg.
Aldywn blickte Ceridwenn in die Augen. Was war das? Genau wie am Abend zuvor schien er sie nur mit seinen Blicken überreden zu wollen. Oder besser er zwang sie, seinem Anliegen nachzugeben. Ceridwenn schien nicht zu wissen wie sie seine Argumente auf den Haufen werfen konnte.
So marschierten sie an der nächsten Strassenkreuzung durch das Bannorn nach Süd-West, in der Hoffnung, so der Dunklen Brut entkommen zu können.

Der Calenhad See lag bereits vor ihnen. In den Morgenstunden glitzerte die Wasseroberfläche geheimnisvoll. Auch die winzigen Stege des Hafens waren schon zu erkennen. Maegar wurde immer langsamer. Er hatte Ceridwenn erzählt, dass er Schiffe hasste. Sein Bruder hatte ihn mal mit nach Antiva genommen. Schrecklich war es gewesen. Ständig schaukelte das Schiff. Es war eng, es stank und er hätte lieber das Holz gefressen als das, was man ihm vorgesetzt hatte. Jeden Tag musste er sich übergeben. Er hatte sich geschworen nie wieder einen Fuss auch nur auf ein Floss zu setzen. Oh bitte, lasst etwas geschehen, dass es mir erspart bleibt dieses Boot zu betreten. Dieses eine Mal schien jemand seine Gebete zu erhören. Von weitem rochen sie etwas Verfaultes. Die Luft war auf einmal stickig und schwül, obwohl es noch früh am Morgen war.
«Das ist nicht gut.» Aldwyn blieb stehen, «Das kann nicht sein.»
Ceridwenn verstand nicht. «Was ist? Aldwyn?»
«Psscht!» zischte er zurück. Er sah sich gehetzt um, aber da war nichts. Ceridwenn wollte Maegar einen verwirrten Blick zu werfen, doch auch er sah sich aufmerksam um.
«Maegar was ist da? Und was ist das für ein schrecklicher Geruch?»
«Die Dunkle Brut, Ceridwenn. Diese stickige, nach verfaultem Fleisch stinkende Luft.» sagte er. Aldwyn kniete sich nun auf den Boden und fügte hinzu: «Sie müssen schneller gewandert sein, als wir angenommen hatten.»
«Aber dann wurde Lothering...»
«Überrannt.»
Ceridwenn schwieg entsetzt. Hatten sie nun Glück gehabt oder nicht? Aldwyn hatte sie alle dazu überredet nicht nach Lothering zu gehen. Hätten sie das getan, wären sie direkt in die Arme dieser Monster gerannt. Aber, dass sie in so kurzer Zeit von Lothering zu dieser Seite des Sees gekommen waren, erschien ihr wie ein schlechter Scherz.
«Es bringt nichts, sich hier zu verstecken.» meinte Maegar, «Lasst uns vorsichtig zu den Stegen laufen.» Leise standen sie auf und schlichen am Waldrand entlang hinunter zum See. Ceridwenn riss die Augen weit auf und starrte zwischen die Bäume. Sie konnte nichts erkennen. Ihre Gefährten hielten ihre Waffen kampfbereit in Händen. Sie mussten sich aus dem Schutz des Wäldchens herauswagen und auf der breiten Strasse weiterlaufen. Doch nirgends war etwas zu sehen. Einsam lag die Strasse da. Menschenleer und unangenehm ruhig. Die Leute mussten alle schon längst geflohen sein. Oder tot. Gerade als sie die Strasse verlassen und zum See hinunterrennen wollten, hörten sie ein fauchendes und kreischendes Geräusch hinter ihnen. Sie wirbelten herum und sahen sie: die Dunkle Brut jagte hinter ein paar Bauern her. Sie kreischten und lachten finster.
Ceridwenn stockte der Atem beim Anblick dieser Ungeheuer. Die meisten von ihnen waren klein. Etwa so gross wie Maegar. Doch ihre Haut hatte Farbtöne, die von Grün über Rot bis hin zu Braun und Violett reichten. Sie lag straff auf ihren Knochen, übersäht mit hervorstehenden Adern, Löchern und seltsamen Auswölbungen.Ihre Blicke jagten ihr Angst ein. Aus ihren tiefen Augenhöhlen starrten sie milchige Pupillen an. Nasen und Ohren hatten sie keine. Dafür aber scharfe Zähne, manchmal sogar kleine Hauer in ihren Mäulern. Die Kleinen nannte man Genlocks wusste Ceridwenn. Hurlocks waren jene, die die Grösse eines Menschen erreichten.
«Lasst uns gehen!» sagte Maegar. «Sie haben uns noch nicht gesehen, wir können noch entkommen!» Sie hatten sich schon umgedreht, um weiter den steilen Hang hinunterzurennen, doch zu spät. Ein Pfeil flog nur ganz knapp an ihnen vorbei.
«Blöde Mistviecher!» knurrte Maegar, und stürmte nun den Genlocks entgegen. Aldwyn folgte ihm. Sie warfen sich ohne Umschweife auf ihre Feinde und schlugen sie nieder. Ceridwenn indes, stand noch immer am Abhang. Sie hatte keine Waffe. Etwas hilflos sah sie um sich. Zum Glück war sie auf ihrer bisherigen Reise nie in eine Situation gekommen, wo sie kämpfen musste. Jetzt bereute sie es, sich nicht früher um die Anschaffung eines Schwertes oder sonst einer Waffe gekümmert zu haben. Die beiden Krieger hielten sich gut, aber das würde sicher nicht so bleiben. Hurlocks stürtzten aus dem Wald. Wenn es Zeit war, mussten sie so schnell es ging von hier weg. Ceridwenn fasste einen Entschluss, rannte zum See hinunter und einen der Stege entlang. Sie erkannte erst jetzt, dass die meisten Boote zu nichts mehr zu Nutze waren. Beim allerletzten hatte sie Glück. Sie blickte zurück. Aldwyn und Maegar wurden langsam aber sicher an den Abhang gedrängt.
«Komm schon!» bellte sie den Knoten an, der das Boot fest vertäute. Er liess sich nicht öffnen. Sie hörte ein schmerzerfülltes Schreien aber sah nicht nochmal zurück. Sie musste das Boot freibekommen. Dann endlich! Sie wandte sich um und wollte ihren Gefährten zurufen. Doch entdeckte sie nur Aldwyn, der noch immer mit zwei Genlocks ringte.
«Maegar?!» Wo ist er hin? Etwas regte sich am Fusse des Hangs. Der Zwerg versuchte sich aufzusetzen. Er hielt sich eine Wunde an der Brust zu. Wahrscheinlich war er mit dem Hurlock, der neben ihm lag, den Hang hinuntergefallen.
«Maegar! Geh zum Boot! Ich habe es schon losgemacht! Komm, steh auf!» sie half ihm dabei, sich auf seine Beine zu stellen und griff dann nach dem seltsam aussehenden Schwert des Hurlocks. Es hatte eine breite Schneide und schien gar nicht scharf zu sein. Die Spitze der Klinge war abgerundet. Den Griff des Schwertes fest in der Hand kletterte sie den Hang hinauf, sprang an Aldwyns Seite und schlug gleich einer der Bestien die Hand ab. Sie trat das schreiende Überbleibsel davon und stellte sich ihrem nächsten Gegner. Ein Hurlock kreischte vor Lachen und holte weit mit seinem gekrümmten, rostigen Schwert aus. Ceridwenn riss ihre Waffe empor, schwang sie in engem Bogen und köpfte den Hurlock. Sein Kopf fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden und rollte einige Meter weiter, wo er von seinen Kameraden zertrampelt wurde. Blut bedeckte den Boden und die vermeintlich stumpfe Klinge.
Schärfer als jedes Schwert das ich zuvor benutzt habe!
Gleich zwei Hurlocks griffen sie an. Aldwyn tauchte an ihrer Seite auf. Gleichzeitig surrten ihre Schwerter durch die Luft und vernichteten ihre Feinde. Von dem Punkt an nahm die Zahl ihrer Gegner immer weiter ab, bis nur noch ein knappes, halbes Dutzend vor ihnen stand. Sie keiften und sahen verwirrt hin und her. Sie waren überrascht, dass ihre Kameraden so schnell gefallen waren. Ceridwenn hingegen ergriff ein Gefühl der Erleichterung. Noch drei übrig. Noch zwei. Noch einer. Der letzte Genlock ging zu Boden. Doch sie hatten keine Zeit für eine Pause.
«Schnell, lass uns gehen bevor noch mehr von ihnen kommen.» Sie versuchte durch Schütteln das Blut von der Klinge zu kriegen. Diese Waffe war etwas besonderes. Das wusste sie. Aber woher? Das war das einzige Schwert der Dunklen Brut, das eine solche Form hatte. Es war sehr leicht.
«Oh…» kam es von Aldwyn. «Ceridwenn?»
«Mhh?» Sie drehte sich zu ihrem Gefährten um. Sie riss die Augen auf. Wie konnte sie ihn nicht bemerkt haben?! Schnaubend und knurrend stand er da mitten auf der Strasse. Ein Oger. So gross wie ein ganzes Haus, mit komisch bläulicher Haut und mächtigen Hörnern auf dem Kopf.
Langsam kam er auf sie zu. Ruhig und mit festem Blick auf die zwei winzigen Menschen gerichtet. Aldwyn machte sich bereit zum Kampf, Ceridwenn ergriff das Schwert mit beiden Händen, darauf vorbereitet, dass dieses gewaltige Ungeheuer auf sie losstürmen würde. Doch stattdessen, sprach er.
Er spricht. Er spricht. Er spricht.
«Ihr seid anders. Ihr seid stark.» Der Oger redete unglaublich langsam. Als ob er nach jedem Wort überlegen musste, wie das nächste ausgesprochen wird. Sie antworteten ihm nicht
«Meine Kämpfer, tot.» er deutete auf die Leichen seiner Artgenossen. «Ich muss andere Kämpfer rufen.» In seiner Stimme liess sich das Gefühl von Enttäuschung wahrnehmen. Er trauerte nicht um seine Lakaien, das war nicht zu übersehen. Viel mehr war er wütend darüber, dass sie tot waren und er einen Teil seiner Streitmacht verloren hatte. Aldwyn sah sie aus den Augenwinkeln an. Was sollten sie tun? Der Oger stand noch immer da und starrte auf die tote Dunkle Brut. Dann seufzte er.
Beinahe menschlich.
«Ich bin Urun. Und ich bin…wütend.» knurrte das Monstrum und machte einen Schritt auf sie zu. Dann noch einen. Dann rannte er los, senkte seinen Kopf und stürmte auf sie zu wie ein wild gewordener Stier. In allerletzter Sekunde sprangen sie aus dem Weg. Ceridwenn schlug die Klinge in den Unterschenkel des Ogers. Sie hätte ihm genauso gut ein Blatt an den Kopf werfen können. Aldwyn riss es fast von den Beinen, als der Oger Urun nach ihm schlug. Sein Schild fing den Aufschlag ab, und nur mühsam stemmte er sich gegen die Hand von Urun. Ceridwenn rannte um den Oger herum. Noch immer war seine ganze Aufmerksamkeit Aldwyn gewidmet und er reagierte erst gar nicht auf das ständige Einschlagen auf seine Achillessehne.
«PASS AUF!» schrie Aldwyn. Urun schien die Klinge an seinem Bein nun doch endlich zu spüren. Er trat nach hinten aus. Ceridwenns Schwert flog davon. Er schrie laut auf: «Das ist genug!»
Leider sprach er nicht vom Kampf. Er fng wieder an, auf AldwynsSchwert einzuhämmern. Ceridwenns Waffe war meterweit geflogen. Panisch rannte sie hinterher, denn in dieser kurzen Zeit konnte ihrem Mitstreiter alles mögliche zustossen. Ihre Hände schmerzten, als sie den Griff erneut packte. Schwielen hatten sich schon gebildet. Sie ignorierte das Stechen und Ziehen. Urun sah, wie sie wieder auf ihn losstürmte. Er liess von Aldwyn ab.
«Noch nicht genug?» Weit holte er mit seiner Faust aus. Ceridwenn war schneller und er schlug in den Boden. Im Kreis rannten sie um Urun herum. Seinen schweren Kopf hin und her schwankend versuchte dieser, seine Gegner im Auge zu behalten. Er knurrte immer lauter und tiefer. Er wurde immer wütender und schlussendlich schlug er einfach irgendwo hin. Und traf. Aldwyn schrie schmerzerfüllt. Diesen unkoordinierten Angriff hatte er nicht kommen sehen. Er flog davon und krachte mit einem schrecklichen Geräusch zu Boden, wo er liegen blieb. Jetzt war nur noch Ceridwenn übrig. Und das schien Urun sehr zu erfreuen. Sein Knurren wurde zu einem teuflischen Kichern und Lachen. Sie machte sich bereit. Es war niemand hier, der ihr helfen konnte. Niemand, der den Oger ablenken konnte. Im Zicksack rauschte sie ihm entgegen. Sie holte so kraftvoll aus wie sie nur konnte. Die Klinge riss das Fleisch unter Urun’s Knie auf. Er brüllte ohrenbetäubend und wollte mit seinem kaputten Bein seinen Peiniger davontreten. Doch Ceridwenn hatte das schon kommen sehen und war davongerannt. Weg von Aldwyn, der immer noch bewusstlos auf der Strasse lag.
Ich werde nicht mehr hinter ihn kommen können. Vielleicht kann ich ihn von oben aus angreifen. Doch wie? Gibt es hier keinen Felsen? Oder…
Sie hörte die schweren Schritte hinter sich. Urun war schon nicht mehr so schnell wie am Anfang, aber leider noch wütender. Ceridwenn ging die Kraft aus weiter zu rennen. Sie blieb stehen und wartete darauf, dass der vor Zorn kreischende Feind näher kam.
«Bleib stehen! Ich bin wütend!» rief er. «Jetzt bleib stehen!» fügte er hinzu als er endlich vor ihr stand. Er hatte wohl das Gefühl, sie würde sich einfach von ihm zerquetschen lassen. Denn in noch langsameren Tempo als zuvor holte er wieder mit seinem Arm aus.
Ceridwenn hatte auf einen erneuten Angriff gewartet. Sie rannte so schnell wie nie zuvor zwischen seinen Beinen hindurch, schlug zum x-ten Mal auf die Achillessehne ein, und kletterte einen Felsen hoch.
Urun brüllte und brüllte. Die Sehne war gerissen, als er sich zu schnell umgedreht hatte.
«Du…!» er verzichtete auf das Reden und schrie einfach nur noch herum, während er auf Ceridwenn zurannte.
Komm näher. Komm näher. Und noch näher.
Urun’s riesiges Maul war nicht einmal mehr einen Meter von ihr entfernt, als sie vom Felsen sprang, das Schwert hoch erhoben. Die abgerundete Spitze drang in Urun’s Schädeldecke ein. Blut spritzte ihr entgegen. Urun’s Stimme wurde höher und verzweifelter, bis es in einem Krächzen endete und er endlich zu Boden fiel. Die Erde bebte.
Ceridwenn stand neben der Leiche des Giganten. Sie schnappte nach Luft und wischte sich das viele Blut aus dem Gesicht. Dann kam ihr Aldwyn wieder ins Gedächtnis. Mühsam zog sie ihr neues Schwert aus dem Schädel des Ogers und rannte zurück zu der Stelle, an der er liegen geblieben war.

Mit Schmerzen im ganzen Körper öffnete Aldwyn seine Augen. Er lebte noch. Es dröhnte in seinem Kopf. Wo war er? Er konnte seinen linken Arm nicht bewegen. Ist dieser Oger tot? Er hatte Schmerzen in seinem Rücken. Wo war eigentlich Maegar geblieben? Sogar das Bewegen seiner Augen schmerzte. Er hörte Stimmen von draussen. Aldwyn setzte sich auf. Sein Oberkörper war grosszügig verbunden. Das Zimmer in welchem er sich befand war abgedunkelt, doch er konnte einen Hocker mit seinen Kleidern neben dem Bett erkennen. Seine Rüstung war nicht da. Ansonsten war hier nicht mehr drin, als ein kleiner Beistelltisch, ein schmales und bis auf zwei, drei Bücher leeres Regal an der Steinwand gegegenüber und eine Kiste. Durch das Fenster zu seiner Rechten, sah Aldwyn den langsam heller werdenden Nachthimmel. Jetzt wurde ihm doch etwas unwohl. Dass er, als er aufstehen wollte und dabei das Laken wegschlug, erkannte, dass er bis auf die Bandagen splitterfasernackt war, verbesserte dieses Gefühl nicht. Seine Kleidung war gewaschen und schön zusammengefaltet worden. Wer hatte ihm geholfen? Waren die anderen auch hier?
Hinter der Holztür, die Aldwyn knarrend öffnete war eine Küche. Und hier am Küchentisch sass Ceridwenn. Auf dem Herd stand ein Kessel. Ihm schlug der wohlige Geruch von gebratenem Fleisch entgegen.
«Sagte dir doch, dass er wegen sowas nicht zerbricht.» Maegar’s Stimme, tief und kratzig, kam aus einer Ecke des Raumes. Der braunhaarige Zwerg sass hinter der Tür in einem Ledersessel. Pfeiferauchend und mit einer amüsierten Miene.
«Ich sagte nicht zerbrechlich.» widersprach ihm Ceridwenn.
«Ihr habt um einiges länger geschlafen als ich.» fuhr Maegar dann fort: «Einen Tag und zwei Nächte im Ganzen, Ser Stadtwache-von-Denerim. Ich bin gestern Mittag scho…»
«Ich gratuliere» unterbrach ihn Aldwyn. «Wer hat uns geholfen?»
«Erinnert Ihr Euch an die Bauern, die fast von den Genlocks getötet wurden? Sie nahmen an, wir wären zu ihrer Rettung gekommen und boten mir an, uns zu helfen. Ihr erwähnt besser nicht, dass wir eigentlich sofort fliehen wollten.» Aldwyn fühlte sich deswegen nicht schlecht. Er erinnerte sich an seinen alten Kameraden. Er wäre den Bauern sofort zu Hilfe geeilt. Und dabei wahrscheinlich draufgegangen. Seine Beine fingen wieder an zu schmerzen. Er musste sich ebenfalls an den Tisch setzen. Es schien, als ob ein massiges Gewicht von seinen Beinen genommen wurde . Dann schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Durch das hitzige Kampfgeschehen, war er nicht dazu gekommen, Ceridwenn diese Frage zu stellen.
«Ich dachte, du könntest nicht kämpfen.» Maegar hustete den Pfeifenrauch aus und krächzte gleichzeitig: «Tatsächlich! Wie kommt es dazu?»
«Ich habe nie gesagt, dass ich nicht kämpfen kann. Eigentlich, habe ich gar nichts zu diesem Thema gesagt.»
«Ich…du hast keine Waffe bei dir getragen. Daher ging ich davon aus…» Aldwyn wusste nicht recht was er sagen sollte und kratzte sich am Kopf. War es nicht logisch, dass er dachte sie wäre nicht in der Kampfkunst bewandert? Obwohl, jetzt wo er so darüber nachdachte, realisierte er, wie dumm dieser Gedanke gewesen war. Ungefährlich war es nirgendwo. Jemand ohne Kampferfahrung wäre schon lange tot oder schlimmer.
«Wer hat Euch das Kämpfen gelehrt?»
Ceridwenn grinste breit: «Ich hatte Kontakte in Nevarra.» Sie endete den Satz mit einem Unterton, der Aldwyn klar machte, dass sie nichts mehr dazu hinzufügen wollte. Aber es beschäftigte ihn dennoch unheimlich. Ceridwenn hatte gewusst was sie tat, als sie in den Kampf gestürzt war. Das war schon mehr als einige seiner Kameraden in der Stadtwache wussten.
«Sollten wir hier sein?» fragte er dann.
«Junge, wir wären nicht hier, wenn du nicht so lange für deinen Schönheitsschlaf gebraucht hättest.» spottete Maegar.
«Du hast schon Recht. Das sollten wir nicht. Die dunkle Brut von vorgestern war nur ein Spähtrupp. Wir waren viel zu lange hier, wer weiss wo sich die Hauptstreitmacht nun befindet. Und auch diese Bauern sollten diesen Ort verlassen.»
«Wenn es dir beliebt, Ser Stadtwache-von-Denerim.» fügte der paffende Zwerg wieder hinzu.
«Ja, Ser Zwerg-der-seinen-Händler-Bruder-begleitete, es beliebt mir. Ich habe nicht vor, nach allem hier auf den Tod zu warten. Lasst uns sofort aufbrechen.» Aldwyn lief es kalt den Rücken runter, wenn er daran dachte wie nahe die Dunkle Brut inzwischen an sie herangekommen war. Ceridwenn schien genau dasselbe zu denken. Sie stand auf und streckte sich. Ihr Bick schweifte über Maegar, Aldwyn und den ganzen Raum.
«Dann bring schon mal diese ganzen Sachen hinunter in eines der Boote. Ich werde noch mal mit unseren Gastgebern sprechen.»
Maegar nickte und griff nach seinem Rucksack.
«Was ist denn da drin?» fragte Aldwyn und deutete auf die Kiste, die der Zwerg hoch hebte.
«Proviant. Nicht viel und vor allem nichts, das wir lange behalten können. Aber wir werden ein paar Tage davon leben können. Nimm das grosse Bündel da vorne mit, wenn du gehst.»
Aldwyn fand seine Rüstung neben der Haustür. So schnell wie es ging legte er sie an. Mit seinem Rucksack und Schild auf dem Rücken und das grosse Stoffbündel in den Armen trottete er die Strasse entlang. Sie waren gar nicht weit von den Stegen entfernt. Er konnte von hier sehen, wie Maegar eines der Boote zur Abfahrt bereit machte. Das Haus dieser Farmer war ziemlich gross und war gleich neben der Strasse gebaut worden. Ein grosses Gemüsefeld und ein paar leere Weiden waren hinter einer Scheune zu sehen.
«Hast du gesehen, was sie mit dem Oger gemacht hat?» fragte Maegar, der Aldwyn zusah, wie er sein Gepäck im Boot verstaute.
«Nein, wa…» Seine Frage musste er nicht zu Ende sprechen. Denn dort, wo der Zwerg hindeutete, konnte er einen riesigen, blauen Hügel erkennen. Ihr Kampffeld war noch vom Gefecht gezeichnet. Blut, tote Dunkle Brut und viele Fliegen. Vor allem die Abdrücke des Ogers zogen seine Blicke auf sich. Es schien als war er überall einmal hingerannt. Der Oger selbst, oder Urun, wie er sich genannt hatte, lag zwanzig oder dreissig Meter von der Strasse entfernt neben einem grossen Felsen. Sein Schädel war gespalten worden. Ein süsslich, modriger Geruch schlich sich in Aldwyns Nase.
«Bah! Hey! Ser Zwerg!»
Wann hatten wir eigentlich begonnen, uns zu duzen?

Ceridwenn fand den Farmer, seine Frau und ihre Kinder in der Nähe der Scheune. Drei der Vier Kinder waren nicht älter als zehn Jahre. Ein paar der Arbeiter standen etwas verloren und verängstigt auf dem Gemüsefeld herum.
«Ist Euer Kamerade aufgewacht?» fragte die Frau. Sie war viel zu grosszügig gewesen, hatte ihnen warmes Esssen bereitet, ihre Wunden verarztet und dann hatte sie noch darauf bestanden, dass Ceridwenn genügend Proviant und Decken für die weitere Reise mitnehmen soll. Es war eine schrecklich nette Geste, wenn sie bedachte, dass Ceridwenn und die anderen diese Familie ursprünglich als Ablenkung nutzen wollten. Aber das wusste die Frau ja nicht und wenn es ihnen schon so angeboten wurde, warum nein sagen?
«Wir könnten euch gar nicht genug Danken!» sagte sie schliesslich. «Wir werden Eure Gastfreundschaft nicht weiterhin in Anspruch nehmen und gleich weiterziehen. Auch Sie sollten schnellst möglich von hier fliehen.»
«Der Weg nach Süden ist versperrt Anna. Von da kommen diese Monster.» sagte der Bauer zu seiner Frau. Diese nickte ihm zu und überlegte kurz.
«Geht Ihr mit Euren Kameraden. Ihr habt schon viel zu viel für uns getan! Ohne Eure Hilfe könnten wir jetzt nicht mehr hierstehen.» Ceridwenn dankte dem Mann und seiner Frau ein weiteres Mal. Sie ergriff die Möglichkeit und rannte wie der Blitz die Strasse hinunter. Jede Minute zählte. Maegar und Aldwyn hatten das Boot schon bereitgemacht, sodass sie gleich ablegten, nachdem sie hineingesprungen war. Ihr Gepäck lag in der Mitte des Bootes. Das seltsame Schwert darauf. In der aufsteigenden Sonne schimmerte es auf die gleiche Weise, wie der See um sie herum. Was hatte es damit nur auf sich?

Das Ufer war nur noch ganz schwach zu sehen. Erst mal sollten sie sicher sein. Man erkannte noch den grossen Körper des Ogers, welcher von Tieren umschwirrt wurde. Ein Fuchs sprang wild im Kreis, jaulte und biss seine Artgenossen. Er schien wahnsinnig geworden zu sein. Auf seinem Rücken bildeten sich dunkle, stark pulsierende Geschwüre. Wurden sie auch von der Verderbtheit zersetzt? Ceridwenn beobachtete die Tiere noch eine Weile. Sie frassen weiterhin das verrottende Fleisch des Ogers. Dann, ohne jede Vorwarnung kamen sie zwischen den Bäumen hervor. Vierzig, fünzig Genlocks und Hurlocks. Se nahmen keine Notiz vom toten Urun oder den Tieren, die herum schlichen. Sie entdeckten den Bauernhof, in dem Ceridwenn vor weniger als einer halben Stunde noch gesessen hatte und rannten kreischend vor Freude darauf los. Aldwyn und Maegar ruderten schneller. Sie waren noch immer in Sichtweite. Ob die Familie noch da drinnen war? Es dauerte keine Minute, da hörte sie das Schreien der Frau Anna. Die Arbeiter rannten den Steilhang hinter dem Farmhaus hinunter zum See. Einer stürzte und stand nicht mehr auf. Die Brut steckte das Haus in Brand. Ceridwenn versuchte ihren Blick abzuwenden, doch es gelang ihr nicht. Sie sah zu, wie ein Hurlock die Kinder auf einer Seite versammelte und ihnen nach und nach die Arme und Beine ausriss. Sie waren nun so weit entfernt, dass Ceridwenn nur erraten konnte, was mit den Eltern geschah.
Mit den anderen sprach sie nicht viel. Der Gedanke an die Bauernfamilie bedrückte sie. Sie versuchte ihre Aufmerksamkeit dem Reisetagebuch zu widmen, welches sie schon zuhause in Nevarra angefangen hatte zu schreiben. Seit Denerim war sie kaum zum Schreiben gekommen. Jetzt würde es sie einige Zeit kosten, alles zu notieren. Sie schrieb sich genau auf, wo und wie spät es gewesen war, mit wem sie unterwegs war und was sie gemacht hatte. Sie schrieb sich auf, was sie für Eindrücke erlebt hatte. Wie sich alles in diesem Land anfühlte. Wie sich die Leute verhielten. Heute war der 72. Eintrag. Gegen Mittag assen sie etwas vom restlichen Eintopf. Er schmeckte noch gut, aber länger hätten sie ihn nicht aufbewahren können. In der Kiste befanden sich noch einige Brote, geräucherte Würste, Gemüse und Früchte. Sie waren alle froh, das sie etwas Proviant dabei hatten. Sonst müssten sie hungern oder darauf hoffen, beim Angeln etwas zu erwischen.
«Seht da!» brüllte Maegar aus dem Nichts und riss Ceridwenn am nächsten Morgen aus den Träumen. Sie sah sofort was er meinte; unzähige kleine Boote schipperten auf sie zu. Viele brannten noch lichterloh. Andere gingen nacheinander unter und verschwanden in den Tiefen des Sees. Aldwyn murmelte leise etwas vor sich hin. Kann es sein, dass die Dunkle Brut Redcliffe erreicht hat?! Es wäre weiser gewesen, den Kurs zu ändern und zum Turm der Magier zu fahren, der weit im Norden des riesigen Sees auf einer Insel stand. Doch das taten sie nicht. Schloss Redcliffe war schon am Horizont zu erkennen.
Ihre Überfahrt war schneller gegangen, als Ceridwenn erwartet hatte. Noch am selben Abend konnten sie Fuss auf einen bedürftig gebauten Steg im Dorf von Redcliffe setzen. Das Dorf war nicht gross, aber trotzdem viel zu ruhig. Ein paar Hunde stritten sich in einer Seitenstrasse um einen Knochen. Ein altes Ehepaar sass schläfrig auf einer Bank und beobachtete die drei Neuankömmlinge.Eine Haustür öffnete sich und eine zerzaust aussehende Frau erschien im Türrahmen.
«Entschuldigt bitte, wo gibt es hier ein Wirtshaus?»
«Woher kommt Ihr denn Serah? Vom See? Ich kann…da oben. Das grosse Haus da.» Die Frau war sehr aufgeregt, verhaspelte sich beim Sprechen und fuchtelte mit ihren Händen herum. Sie wollte sich wieder ins Haus verziehen, dann wollte sie sich mit den Dreien unterhalten und dann wollte sie ihnen den Weg zum Wirtshaus zeigen, bis ihr einfiel, dass sie noch etwas zu erledigen hätte. Mit sich selbst redend verzog sie sich in ein anderes Haus.
«Ehhh…ookaay…Ich denke wir ignorieren die besessene Frau mal.» meinte Ceridwenn mit gerunzelter Stirn. Jemand starrte sie zwischen den Vorhängen eben dieses Hauses an. Sie fanden die Wirtschaft auch schon bald. Schwer zu übersehen war sie ja nicht. Das grösste Gebäude im Dorf, abgesehen von der Kirche, doch ansonsten hatte sie diesselben bräunlichen Steinwände, die leichen schmutzigen Ziegel auf den Dächer und die gleichen kleinen Fenster. Aus der Kirche drang Gesang auf die Strassen. Eine Messe wurde abgehalten. Die halbe Bevölkerung dieses Dorfes musste anwesend sein, denn auf der Strasse, noch nicht mal in der Wirtschaft war auch nur eine Menschenseele zu finden. Wohl oder übel mussten sie auf das Ende der Messe warten. Sie machten es sich auf dem Platz so bequem wie nur möglich. Aldwyn sass an den Steinbrunnen angelehnt und schlief langsam mit verschränkten Armen ein. Maegar rauchte wieder eine Pfeife und ging dabei langsam auf und ab.
«Woher hast du die denn?» fragte Ceridwenn. Sie sass neben Aldwyn im Schneidersitz und beobachtete den Zwergen.
«Aus dem Bauernhaus. Woher sonst?»
«Hast du die gestohlen?»
«Nein? Ich hatte sie in der Hand, als du angefangen hast, uns in der Gegend herumzuhetzen. Da vergass ich, sie zurückzulegen.»
«Ah.» war Ceridwenn’s Antwort.
Sie schwiegen und lauschten dem Kirchengesang. Aldwyn atmete gleichmässig ein und aus. Er war in Minuten eingeschlafen. Man konnte gar nicht übersehen, wie schnell der Winter in dieses Land zog. Seit dem kaiserlichen Hochweg war es Tag für Tag kühler geworden. Mitten auf dem See hatte Ceridwenn sogar schon etwas gefroren. Anders als die anderen beiden, war sie nicht an allzu kaltes Wetter gewohnt.
«Orlais ist nicht mehr ganz so weit weg.» Maegar paffte Rauchringe aus. «Wir könnten auf dem Weg noch in Orzammar Halt machen und unsere Vorräte aufstocken.»
«Mhmhh…» stimmte sie ihm zu. Maegar sprach mit einem aufgeregten Unterton. Er war lange nicht mehr im Untergrund gewesen. Vielleicht vermisste er es doch ein wenig, auch wenn er das nicht zugeben wollte.
«Du planst schon sehr weit voraus. Wir sind gerade erst hier angekommen.»
«Man weiss ja nie. Vorausplanung ist alles, sagte meine Mutter immer. Hättest du in Amaranthine noch gedacht, dass die Dunkle Brut so schnell nach Norden ziehen würde? Oder, dass wir einen Umweg über den See nehmen müssten? Oder,dass wir unterwegs noch einen Soldaten aufgabeln?»
«Ich hatte auch nicht geplant einen Zwergen mit auf meine Reise zu nehmen.» murmelte sie zu sich selbst. Die Türen der Kirche wurden geöffnet und sie war wirklich zum bersten voll. Bis auf die letzten paar Meter sassen Leute drin. Einige mussten sogar stehen oder hatten sich auf den Boden gesetzt.
«Los! Lasst uns endlich in das Wirtshaus gehen. Aufstehen! Hey, Aldwyn!» Maegar stupste den schlaftrunkenen Soldaten mit seinem Fuss. Der Mann war wegen der plötzlichen Aufregung leicht verwirrt, doch hievte er sich vom Boden ab und schleifte seinen Rucksack nach. Im Vorbeilaufen warfen die Bürger den Neuankömmlingen erwartungsvolle Blicke zu. Ein paar grüssten das verdutzte Trio sogar. Wahrscheinlich verwechselten sie die Drei mit jemand anderem. Sie folgten dem Zwergen, der sie unaufhörlich drängte, sich schneller zu bewegen. Er wollte sich wohl wirklich nur hinlegen.

Sie hatten vom Wirt erfahren, was hier in Redcliffe geschehen war. Der Arl war schwer erkrankt und die Arlessa hatte viele der Ritter ausgesandt, um ein umstrittenes Heilmittel, die Asche der Andraste zu finden. Zeitgleich waren Dämonen aus irgendeinem Grund in diese Welt gekommen und hatten die Toten zum Leben erweckt. Die Bürger von Redcliffe mussten sich des Nachts vor den wandelnden Leichen verschanzen und ums Überleben ringen. Erst vor wenigen Tagen war eine Gruppe Reisender vorbeigekommen und konnte sie von den Toten befreien. Sie seien nun aber auch losgezogen, um die heilige Asche zu suchen. Der Anblick von Aldwyn, Maegar und Ceridwenn hatte wohl die Hoffnung geweckt, dass die anderen Abenteurer mit Neuigkeiten zurückgekehrt waren.
«Die Arlessa hat also die halbe Steitmacht von Redcliffe ausgesandt um nach einem Mythos zu suchen? Sollten sie ihr doch diesen Heiligen Dreck einschmieren, sie scheint ebenfalls krank zu sein.» brummte Maegar über seinen Teller Rindsbraten hinweg. Aldwyn grinste breit und fing sich sofort einen missbilligenden Blick von Ceridwenn ein. Er wollte vom Thema ablenken: «Sehen die Reisenden uns denn so ähnlich?»
Der Wirt hatte Maegar’s Bemerkung übergangen. Er bereitete Aldwyns Mittagessen, gekochtes Gemüse mit Schweinefleisch, vor.
«Es waren viel mehr als Ihr. Aber da war eine Frau, die Ihnen glich Serah. Und ein Mann in schwerer Rüstung. Soweit ich mich erinnere war da noch eine ältere Dame und ein Qunari. Aber ich glaube sie sind noch ein paar mehr.»
«Also gar nicht.» Maegar grunzte. Mit Mühe verkniff er sich ein Lachen.
«Es hat wenig mit dem individuellen Aussehen zu tun. Viel mehr damit, dass man Euch ansieht, dass Ihr von ausserhalb kommt. Ihr tragt Waffen bei Euch und Eure ganze Ausstrahlung sagt ihnen…»
Aldwyn schaltete ab. Der Wirt hatte ihm nun sein Essen hingestellt. Etwas warmes! Er schlürfte die Suppe, in der das Fleisch gekocht worden war. Den Kohl schmeckte man sofort heraus.
«Woher kommt Ihr eigentlich? Von Osten?»
Er machte sich nun an Ceridwenn’s Bestellung.
«Ich komme aus Nevarra. bis die Dunkle Brut auftauchte, war es eigentlich mein Plan, Ferelden zu bereisen.»
«Demnach seid auch Ihr auf der Flucht. So geht es den Meisten. Wir hatten Glück, dass sich noch keines dieser…Dinger hier hat blicken lassen. Abgesehen von der Sache mit den lebenden Toten.»
Aldwyn erinnerte sich daran, wie er das erste Mal einen Genlock gesehen hatte. Tiefschwarze Nacht war es gewesen. Er und seine Patrouille streiften um die Stadtmauern von Denerim, als sie einen Schrei aus dem Wald hörten. In dem Wald hatte er als Kind mit seinen Freunden gespielt.
«Er schweift des Öfteren einfach ab. Aldwyn? Aldwyn!»
Er schreckte auf. Tief über seinen Teller gebeugt. Er hob seinen Kopf und lächelte seinen Kameraden entgegen. Wie immer.
«Um was gehts?»
«Er hört uns wieder. Gut.» lachte Ceridwenn. Der Wirt war nicht mehr hier. Aber Ceridwenn’s Mittagessen war auch schon bereit und dampfte.
«Wir sprachen darüber, uns hier für eine Weile auszuruhen. Lothering ist weit weg, ein paar Tage Zeit hat uns der See sicherlich verschafft.»
«Ist mir Recht.» Aldwyn war froh. Er könnte sich jetzt endlich wieder ein wenig entspannen und für sich sein. Gleich nach dem Mittagessen ging jeder von ihnen seinen eigenen Sachen nach. Maegar zog sich auf sein Zimmer zurück um weiterzuschlafen, Ceridwenn wollte sich das Dorf ansehen und Aldwyn fand ein rechtes Stück den Hang hinauf ein ruhiges Plätzchen neben einer Mühle mit Blick auf Schloss Redcliffe.
Ob die Wache meine Abwesenheit bemerkt hat? Wahrscheinlich gehen sie einfach davon aus, dass ich in irgendeiner Gasse erstochen wurde und vor mich ihn vegetiere.
Er lachte vor sich hin. Jetzt fühlte er sich gerade so pudelwohl, er könnte schreien. Weit weg von Denerim, von der Stadtwache und all den Problemen, die ihm beinahe die letzten Lebensgeister ausgesogen hatten. Er legte sich auf den Boden und schloss die Augen. Die Sonne warf mit letzter Kraft etwas Wärme auf sein Gesicht. Der Winter würde bald anbrechen. Die Luft hier oben war besser als unten im Dorf. Der Wind trug den Geruch von Wald und See hierher. Bilder von früher tauchten auf vor Aldwyns Geist auf. Da war sein Bruder Aedan, der zwischen den Bäumen hin und her rannte und sich vor ihm und den anderen Kindern versteckte. Er spielte König Maric, wie er von den Orlaisianern verfolgt wurde. Aldwyn spielte immer den damaligen König von Ferelden, Meghren. Es hatte ihm nie gepasst, aber beim Armdrücken um die Rollen verlor er immer gegen seinen Bruder. Also musste er sich damit abfinden, den allseits verhassten König Mehgren zu spielen. Wenigstens durfte er hin und wieder auch eine beliebtere Person sein. Einmal durfte er als Arl Byron Howe das Wäldchen unsicher machen. Doch zum Schluss musste er wieder den Kopf hinhalten, und den Tod des Arls inszenieren. Er, sein Bruder und ihre Bande, so nannten sie sich immer, waren unter den Kindern in Denerim berühmt berüchtigt. Sogar ein paar der Elfenkinder in den Armenvierteln hatten von ihnen gehört. Einmal, das wusste er noch ganz genau und das würde er niemals vergessen können, hatten sie am späten Abend einigen zwielichtigen Männern hinterher spioniert. Bis heute wusste Aldwyn nicht, welchem Wahnsinn sie verfallen und auf solch eine Idee gekommen waren. Sie hatten die Männer bis in eine abgelegen Taverne verfolgt und sie dann weiterhin durch das Fenster beobachtet. Leider wurden sie entdeckt und zwei der Männer jagten sie durch die finsteren Strassen. Proinnsias wurde an dem Abend von einem Dolch verletzt. Er hatte lange Zeit Angst davor, sein Haus auch nur zu verlassen. Als Aldwyn das letzte Mal von ihm gehört hatte, war er nach Anderfels gezogen. Man hatte ihn als Grauen Wächter rekrutiert. Seither hatte er nie wieder etwas von ihm gehört. Seine anderen Freunde waren sonst alle in Denerim geblieben. Nur er hatte es endlich gewagt diese Stadt zu verlassen.
Eine warme, stinkende Zunge fuhr über sein Gesicht. Er fuhr mit einem Schrei auf und entdeckte vor sich einen riesigen Mabari Hund der ihn schwanzwedelnd anstarrte.
«Wer bist denn du? Machst du das immer? Einfach auf wildfremde Leute zugehen und ihre Gesichter ablecken?» Der Hund bellte glücklich. Mabari sollen vieles verstehen, was ihnen die Menschen sagen.
«Wo ist dein Herrchen? Oder hast du überhaupt einen Herren? Du bist schmutzig. Ich glaube du kommst aus irgendeinem Loch hier im Dorf nicht war?» Aufmerksam wurde er vom Hund beobachtet. Sein Blick sagte Aldwyn irgendwie, dass er ihm nicht zustimmte. Unheimlich.
«Also hast du einen Besitzer.» Jetzt bellte der Hund wieder auf, woraufhin Aldwyn lachen musste: «Wie auch immer. Du gehst jetzt besser zu deinem Herrchen zurück bevor man sich noch Sorgen um dich macht.»
Der Mabari stand auf und trottete, weiterhin mit dem Schwanzstummel wedelnd, die Strasse ins Dorf hinab und verschwand um die nächste Ecke. Aldwyn schlummerte an der Kluft und versank in tiefen Schlaf. Erst als die Mittagssonne schon langsam hinter dem höchsten Turm von Schloss ­Redcliffe verschwand, erwachte er wieder. Er sollte sich wieder in das Wirtshaus aufmachen und sehen, was die anderen beiden so trieben. Die Schatten der Abendsonne krochen schon an seinen Beinen hoch, als er die Tür zum «Roten Stein» öffnete. Es war sehr voll. Viel voller als am Tag zuvor. Dorfbewohner waren hier, Farmer und Ritter. Was sie wohl hierher geführt hatte? An einem Tisch, ziemlich in der Mitte des Raumes, saassen seine beiden Gefährten.
«Aye…! Lässt du dich auch mal wieder blicken!» rief ihm Maegar zu. Wieder rauchte er die Pfeife. «Wo hast du dich rumgetrieben?»
Müde lächelnd liess er sich auf den Stuhl neben ihm fallen und erzählte von seinem allzu guten Nickerchen.
«Schlafen…Ich versteh dich nicht. Da bist du in einem Dorf, in dem du noch nie zuvor warst, keiner jagt dich, keine Monster, die deinen Kopf ­kochen wollen und du schläfst. Redcliffe hat viele spannende Ecken du…»
«Mit der Zeit sehen die Dörfer von Ferelden alle gleich aus, Ceridwenn. Ich habe in und um Denerim so gut wie alles gesehen, es gibt hier kaum mehr Neues für mich.» unterbrach sie Aldwyn.
«Ach, und die Dunkle Brut ist nichts Neues? Und dieses Dorf sieht genau gleich aus wie jedes andere? Mit den gleichen Leuten? Persönlichkeiten, Häusern?»
Aldwyn spürte wie ihre Stimme fester wurde und sich die abenteuerlustige Frau immer mehr aufregte. Er beliess es dabei und fragte: «Was machen all die Leute hier?»
«Ich glaube sie sind noch immer dabei, das Ende der schrecklichen Tage zu feiern, die sie erlebt hatten. Sie wissen wie man feiert, kein Zweifel.» Maegar prostete einem vorbeigehenden Mann zu der vor Freude strahlte. Und vom Bier.
«Um ehrlich zu sein, finde ich lebende Toten auch um weites furchteinflössender als die Dunkle Brut. Bei denen bin ich mir wenigstens sicher, wenn sie tot sind.» meinte Aldwyn und starrte auf einen fernen Punkt hinter Ceridwenn.
«Du hast Recht. Stell dir das nur einmal vor; jedesmal wenn du an einer Leiche vorbeigehst, müsstest du befürchten, dass sie auf einmal aufspringt und wie eine verrückte Furie auf dich losgeht! Wie tötet man etwas, das bereits tot ist?»
Maegar grunzte vergnügt: «Feuer vielleicht? Oder einfach draufhauen bis es umfällt.»
«Ahhh! Der Klassiker. Die Ich-geh-mal-los-und-hau-aufs-Bein-Taktik. Hab ich als Kind mal bei einer Kuh versucht. Sie war nicht besonders begeistert, aber glücklicherweise war sie sehr gutmütig.» schwelgte Ceridwenn in Erinnerungen.
«Du bist eine komische Frau, weisst du das? Wer geht denn los und haut einer Kuh auf die Beine?» Ceridwenn prustete los und unter immer schlimmer werdenden Lachanfällen, versuchte sie sich zu erklären. Die Stimmung im Wirtshaus liess sich durch nichts beeinträchtigen. Nicht einmal als ein Mann zwei Stunden später ohnmächtig wurde und hinausgetragen werden musste. Maegar lachte all zwei Minuten laut auf, jedesmal wenn er Aldwyn ansah. Er verstand zwar nicht wieso aber es war einfach viel zu lustig, um sich darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Mitternacht zog vorbei und es schien nicht so, als ob irgendeiner sich zur Ruhe legen wollte. Hin und wieder verschwanden einige der feiernden Leute, doch spätestens eine Stunde später standen sie wieder irgendwo an der Bar oder tanzten um die Tische herum. «Meine Kollegen meinen immer, die Dorfleute wüssten nicht wie man feiert.» Aldwyn klatschte, als zwei Männer sich auf einen Tisch stellten und mit einem Schauspiel begannen. Mit betrunkenen, glucksenden Stimmen versuchten sie eine ernste Szene zu spielen.
Irgendwann wurden auch die drei Abenteurer müde. Nacheinander verzogen sie sich in ihre Betten. Aldwyn ging als letzter. Der Weg hinauf in sein Zimmer schien endlos. In seinem Kopf drehte sich alles und beim Gedanken an seine beiden Kameraden musste er immer wieder laut auflachen.

Die Mittagssonne des nächsten Tages brannte Aldwyn im Gesicht. Er wollte sich von ihr weg drehen, bekam dann aber noch schlimmere Kopfschmerzzen. Eine Ewigkeit später schaffte er es endlich aus dem Bett und in seine Kleider. Bis auf die singenden Vögel war draussen kaum etwas zu hören. Mit brummendem Kopf setzte sich Aldwyn wieder auf die Kante des Bettes, wobei er seine Augen zukniff. Ihm fiel erst jetzt auf, wie schön dieses Zimmer im Vergleich zu den Denerim Gaststätten war. Das Bett hatte Verzierungen am ganzen Rahmen, am Kopfende wurde der Sieg von König Calenhad dargestellt. Auch der wuchtige Schrank hatte Blumenmuster auf beiden Türen. Nicht ganz Aldwyn’s Geschmack aber besser als die Holzblöcke, die sie in der Hauptstadt Schrank nannten. Ein gemütlicher Ledersessel stand in einer Ecke neben dem Fenster, daneben ein Beistelltisch und ein paar Bücher. Doch das, was ihm am meisten Freude bereitete, war die Tatsache, dass sowohl die Bettlaken, Kissen, Decken und alle andere Möbel, nicht nach dem Gast von vor zwei Jahren rochen.
Er hatte genug lang geschlafen. Dennoch schien ihm bei jedem Schritt ein Hammer in den Kopf zu schlagen, doch er ging weiter. Die Stufen hinunter waren ein Albtraum. Im Schankraum sassen Maegar und Ceridwenn bereits an einem Tisch und assen Frühstück. Ich scheine immer der Letzte hier zu sein. Als Ceridwenn ihn bemerkte, fragte sie ohne Umschweife: «Weisst du etwas über die Asche der Andraste, Aldwyn? Wir hatten uns gerade darüber unterhalten und werden uns über deren Existenz nicht einig. Was meinst du?»
«Ich kenne die Geschichten, die man halt aufschnappt. Damals als die heilige Andraste verbrannt wurde, hat man ihre Asche gesammelt und versteckt. Angeblich soll sie magische Kräfte haben.»
«Humbug.» brummte Maegar. «Die Frau ist tot, ihr Körper verbrannt. Weshalb sollte die Asche, dieser Haufen Schmutz, dann noch über magische Kräfte verfügen?»
«Die Leute glauben, Maegar. Lass ihnen solche Geschichten. Ihr Zwerge glaubt ja auch komisches Zeug mit eurem Stein, euren Ahnen, Aragorn’s und Aragog’s.»
«Paragon’s! Fang jetzt nicht an, die Welten zu durchbrechen.»
«Und wo soll diese Asche versteckt liegen?» funkte Ceridwenn dazwischen.
«Da bin ich überfragt. Die könnte überall sein. Ich bezweifle, dass jemand die Asche rechtzeitig findet. Wenn überhaupt.»
«Wer weiss. Die Welt hat viele Plätze und Orte, die du noch nicht kennst. Könnte sein, dass sich die Urne irgendwo da draussen befindet.»
Maegar grinste: «Unter meiner Matratze oben im Zimmer.»
Er und Aldwyn brüllten vor Lachen los und auch Ceridwenn konnte sich ein amüsiertes Hüsteln nicht verkneifen.

Obwohl Aldwyn zu Anfang noch seine Zweifel gehabt hatte, musste er gestehen, dass es in Redcliffe nicht ganz so langweilig war wie er angenommen hatte. Tatsächlich waren die Tage, die sie in diesem Dorf verbrachten viel zu schnell vorbeigangen und es wurde langsam Zeit sich auf den Weg zu machen. Es gab zwar Gerüchte, dass die Dunkle Brut sich weiter in Richtung Norden durch das Land schlug, doch sie konnten immernoch umschwenken und das nichts ahnende Örtchen zu Schutt und Asche verarbeiten. Bis dahin, wollten Aldywn und die anderen beiden schon längst über alle Berge sein. Am fünften Tag nach ihrer Ankunft war es soweit. Mit gepacktem Rucksack, zusammengerollten Decken und ein bisschen Proviant wartete er auf die anderen beiden vor dem Wirtshaus. Maegar war noch dabei, seine Rüstung anzulegen und Ceridwenn bezahlte die Zimmer. Der Sommer in Ferelden war nun endgültig vorbei. Erste Braune Blätter bedeckten den Boden, kühle Windböen frassen sich durch die Kleider und stachen auf die nackte Haut darunter ein. Die Fereldener waren ein abgehärtetes Volk. Die Kälte machte ihnen kaum etwas aus, sie hatten sich an den harten Winter gewöhnt aber niemals hatte sich Aldwyn mit diesem Wetter anfreunden können. Ceridwenn, die aus den wärmeren Regionen Thedas stammte fluchte jeden Tag aufs Neue über das kalte Wetter. Auch heute hatte sie «beschissener Wind» als Guten Morgen Gruss verwendet.
«Sowas sollte verboten werden.» murmelte sie. Sie war wie aus dem Nichts neben Aldwyn aufgetaucht und hüpfte von einem Bein auf das andere. «Der soll sich beeilen ich will los.»
«Ceridwenn, du weisst, dass es in Orlais genau so kalt sein wird, wie hier?» Sie gab ihm keine Antwort, sondern schloss ihre Augen und schien ein Stossgebet gen Himmel zu senden.
Er hatte sich vor dem Wirtshaus auf den Boden gesetzt.
«Wie kann es sein, dass ein Zwerg mehr Zeit braucht um sich vorzubereiten, als eine Frau?»
«Er hat eine gewaltige Mähne. Und die zu bändigen kann nicht so leicht sein.» lachte Ceridwenn.
«Ich habe aber auch noch nie einen Zwergen gesehen, der sich so sehr bemüht seine Haare irgendwie schön aussehen zu lassen.»
Ceridwenn setzte sich nun auch hin. Die Morgensonne erwärmte ihre roten Wangen. Sie atmete tief die frische Luft ein. Ausgelassene Stimmen kamen vom Tor des Dorfes zu ihnen heruntergeweht und sie gehörten zu einer Gruppe merkwürdiger Leute, die den Hang hinunterstapften.
Drei Frauen waren dabei, eine mit kurzen, feuerroten Haaren und einem Bogen auf dem Rücken. Die andere war der Gruppe vorausgegangen. Ihre Haare waren lang, glatt und von dunkelbrauner Farbe. Sie hatte nur ein Schwert dabei und schien die anderen zu führen. Ein Qunari ging in grossen Schritten hinter ihnen her. Sein gewaltiges Schwert, welches er auf dem Rücken trug musste mindestens so schwer sein wie er selbst.
Es dämmerte Aldwyn; der Mann mit dem Schild auf dem Rücken und blonden Haaren, das musste derjenige sein, mit dem die Dörfler Aldwyn verwechselt hatten. Mit einem kurzen Blick zu Ceridwenn und Maegar erkannte er, dass auch sie realisiert hatten, dass dies die Abenteurer waren, die das Dorf gerettet haben sollen. Sie waren wirklich nicht schwer zu erkennen. Als auch der letzte dieser äusserst auffallenden Gruppe um die Ecke trat, stockte ihm der Atem. Ein Golem. Leuchtende Linien durchzogen seinen steinernen Körper und ein seltsames Zeichen prangte auf der Stirn. Was waren das nur für Leute?
Die Tür des Wirtshauses öffnete sich. Aldwyn dachte, dass Maegar es endlich geschafft hatte, sich fertig anzuziehen. Doch nein. Der Hund, der Aldwyn am ersten Tag begrüsst hatte, rannte bellend aus der Tür und der Gruppe entgegen. Freudestrahlend kniete sich die braunhaarige Frau, kraulte ihm die Ohren und murmelte ihm irgendwas zu. Er winselte glücklich.
«Na endlich! Ich dachte ihr würdet mich hier dahin siechen lassen. Habt ihr den Haufen heiligen Schmutz dabei?» Noch eine Frau war aus der Taverne getreten. Sie war sehr freizügig angezogen. Ihre Stimme hatte einen trägen und überlegenen Ton. Dann fing an mit der Anführerin zu diskutieren. Als der blonde Mann sich einmischte, warf sie ihm einen gehässigen Kommentar zu und ein Streit entfachte. Aldwyn zählte acht Personen, einen Hund und einen Golem.
«Ich habe noch niemals in meinem Leben eine solche…bunt…zusammengewürfelte Truppe gesehen. Sie wirken wie aus einem Kinderbuch entnommen. Ah! Maegar, na endlich.»
Maegar rauchte wieder die Pfeife, deren Mundstück schon etwas abgenutzt war und schulterte einen der Rucksäcke mit Proviant drin. Auch er starrte die diskutierende Gruppe an, die sich jetzt um den Brunnen versammelt hatte. Der Qunari und der Mabari standen etwas abseits und beobachteten ihre Kameraden bei ihrer Auseinandersetzung. Ein Zwerg redete in gehässigem Flüsterton mit einem Elfen und die alte Frau stand kopfschüttelnd daneben. Aldwyn fühlte sich etwas unbehaglich, so wie sie da standen und fremde Leute beobachteten. Also machten sie sich auf den Weg. Er rief sich noch einmal in Erinngerung, was er alles in Redcliffe erlebt hatte. Der Hund, der ihn gleich am ersten Tag begrüsst hatte, das lang andauernde Fest, welches sie an den ersten zwei Tagen gefeiert hatten, die köstlichen Mahlzeiten, jede Kleinigkeit. Ceridwenn ging vor ihm. Sie sah den Hang hinunter auf das Dorf und auf die Abenteurer, deren zwei Mitglieder sich noch immer laut stritten.
Von diesem Ort war sie besonders begeistert gewesen. Jede Stunde, die sie hier verbracht hatten, hatte sie zutiefst genossen. Aldwyn kannte sie schon gut genug, um das zu wissen und, dass sie es nicht ausstehen konnte, einfach wegzugehen ohne sich über den Golem, den Qunari, den Mabari oder die Exhibitionistin zu informieren und wenigstens eine neue Freundschaft mit einem der Reisenden zu formen. Doch dazu war keine Zeit.

Die Woche, die sie in Redcliffe verbracht hatte, hatte ihnen allen neue Energie gegeben. Voller Kraft marschierten sie die Strasse am Calenhad See entlang. Sie waren schnell vorangekommen und der Gherlen Pass war schon als feine Linie entlang des aufsteigenden Gebirges zu sehen. Endspurt. Nur noch bis dahin und sie würden genug Abstand von der dunklen Brut haben um in Ruhe weiterreisen zu können. Bisher hatte der Gedanke an die scheusslichen Fratzen keinen von ihnen wirklich schlafen lassen. Tatsächlich hatte Aldwyn in einigen Nächten, bevor sie den See erreicht hatten, gar nicht geschlafen. Ceridwenn hatte dazu noch darauf bestanden, dass sie ihr Lager erst nach Einbruch der Dunkelheit aufbauten.
«Länger marschieren, weniger schlafen. Ihr habt im Moment noch genug Kraft.» sagte sie ihnen jedesmal, wenn sie Ceridwenn darauf ansprachen. Irgendwie hatte sie auch schon recht. Sie waren so nahe an der Grenze. Unnötige oder allzu lange Pausen kamen nicht infrage.

Diese bescheuerten Steine überall!» Maegar fluchte. Schon den ganzen Tag. Sie waren gegen Mittag am Fusse des Gherlen Pass angekommen und hatten mit dem Aufstieg begonnen. Nichts hätte Maegar in diesem Moment mehr aufregen können. Immer wieder rutschte er fast auf den winzigen Steinchen auf dem Weg aus. Dann musste er über grössere Steinbrocken steigen. Sein kurzen Beine waren in diesem Terrain eindeutig im Nachteil. Seine Pfeife hatte er nun schon seit einiger Zeit nicht mehr rauchen können. Stattdessen bis er sich auf die Lippen und führte den stillen Krieg gegen die Berglandschaften dieser Welt fort. Ceridwenn ignorierte seine Bitten für eine Pause jedes Mal. Ohne mit der Wimper zu zucken stampfte sie weiter den Weg hinauf und liess Maegar dabei zurück. Darüber aufregen konnte er sich wiederrum nicht.
Am Fusse des Gebirges hatten sie bei einer winzigen Taverne Halt gemacht. Man hatte ihnen dort gesagt, dass auf dem ganzen Gherlen Pass nur zwei Aussenposten stehen, die Reisenden Unterschlupf boten. Der Erste auf der Fereldener Seite, der zweite jenseits der Grenze in Orlais. Zwischen ihnen würde der längste Weg liegen, für welchen man mehr als vier Tage Wanderung brauchte. Und irgendwo hier stolperten die Drei herum. Seit dem Aussenposten waren zwei Tage vergangen. Maegar wünschte sich er könnte nach Redcilffe zurückkehren. Es war nicht sein Traumort, aber um Längen besser als diese Folter von Wanderung.
«Seht nur! Du kannst dich freuen Maegar. Wir sind schon bald an der höchsten Stelle des Passes.» Ceridwenn deutete nach oben. Das Ende war schon in Sicht. Erleichterung durchzog Maeger’s Körper. Vor allem seine Beine. Der Gedanke an das baldige Ende dieses Albtraum, schenkte ihm einen Kraftschub, so ging er flotten Schrittes den anderen voraus. Er hörte nur noch wie sie sich die anderen über Aldwyn’s ehemalige Freundin unterhielten, wobei sich Ceridwenn darüber lustig machte, wie er es geschafft hatte sie zu verscheuchen. Dann verschwanden ihre Stimmen in der dünnen Luft, die hier oben herrschte. Die Tannen, die links und rechts den Weg säumten trugen dunkle Nadeln und ragten bedrohlich über ihm auf. Er konnte nur wenige Meter weit zwischen den dicken Baumstämmen hindurch sehen. Dann wurde alles finster. Ob es hier überhaupt irgendwelche Lebewesen gibt? Ich könnte ein saftiges Stück Hirschfleisch vertragen.
Er drehte sich um und blickte den Weg hinunter. Ceridwenn und Aldwyn waren noch weit entfernt. Waren sie die ganze Zeit schon so langsam gegangen? Ungeduldig ging er einfach weiter und bog um den nächsten Felshaufen und dann war er da. Dies war der oberste Punkt des Gherlen Passes. Orlais war noch nicht zu sehen, sie mussten erst noch auf die andere Seite der Berge gelangen. Doch, das war nicht alles was er hier vor sich sah. Maegar gefror das Blut in den Adern. Er wollte sich umdrehen und davon rennen, die anderen mit sich reissen und sich in der hintersten Ecke Orzammar’s verstecken. Wie ein Riesenhaufen Steine lag er da. Gleichmässig atmend und mit geschlossenen Augen. Einer der beiden Flügel lag ausgebreitet auf dem Boden und zuckte hin und wieder im Schlaf. Laut schwatzend erreichten auch Ceridwenn und Aldwyn die breite, leere Fläche. Leer bis auf diese furchteinflössende Kreatur vor ihnen. Leer bis auf diesen Hohen Drachen, der sich keinen schlechteren Platz für ein Nickerchen hätte aussuchen können. Maegar wirbelte herum und versuchte den anderen mitzuteilen, ihre Klappen zu halten. Doch zu spät. Ein lautes Lachen von Aldwyn, ein Schenkelklopfer und der Drache grunzte im Schlaf. Er öffnete langsam seine Augen und blinzelte verwirrt. Viel zu spät realisierten Ceridwenn und Aldwyn, dass sich vor ihnen ein schlafender Drache befunden hatte, welcher sich jetzt langsam aufrichtete. Sein Kopf stieg höher und höher in den Himmel, doch schweifte sein Blick nicht von den drei Störenfrieden ab. Was hatten sie nur falsch gemacht, dass ausgerechnet ihnen die gefährlichsten Lebewesen dieser Welt entgegen kamen?
«Maegar!» brüllte Aldwyn. Er hatte schon sein Schwert und seinen Schild bereit und stellte sich vor Ceridwenn hin, die ebenfalls ihre Waffe gezogen hatte. Der Zwerg, dessen Gedankengänge sich verlangsamt hatten, griff nach seiner Waffe, die auf seinen Rücken gespannt war. Gerade als der Drache ein lautes Aufbrüllen verhören liess, warf er sein Gepäck so weit weg wie nur möglich und stürmte drauf los. Sie hatten es mit einem Oger aufgenommen, mit der Vorhut der Dunklen Brut, sie waren in der Kälte über den Calenhad See gefahren und am schlimmsten, sie waren diesen beschissenen Berg hinaufgekraxelt. War das ihr letztes Hindernis bevor sie endlich der Verderbnis entkommen konnten? Der Drache rannte auf Aldwyn zu und holte mit einer seiner Pranken aus. Er und Ceridwenn wichen ihr aus und rannten in entgegengesetzte Richtungen davon. Maegar nutzte diese Chance.
«Maegar! Erinnerst du dich noch an klassische Taktik?» schrie ihm Ceridwenn vom anderen Ende des grossen platzes entgegen.
«Aye! Die Ich-geh-mal-los-und-hau-aufs-Bein-Taktik!» es war mehr als einfach nur ein schlechter Zeitpunkt um Witze zu reissen, doch konnten es sich beide nicht verkneifen. Der Drache war noch immer mit den anderen beiden beschäftigt, die wie Ameisen vor ihm herumrannten, also festigte er seinen Griff um die breite Axt und schlug so fest er konnte auf das linke Hinterbein ein. Es schien dem Drachen tatsächlich etwas auszumachen, er drehte seinen Kopf nach hinten, doch Maegar war schon auf und davon, sodass er sich wohl mit dem Gedanken zufrieden gab, er wäre irgendwo hineingetreten.
«Wenigstens etwas.» Aldwyn war stehen geblieben und wartete darauf, dass ihm wieder die volle Aufmerksamkeit des Hohen gewidmet wurde.
«Hat er gerade was gesagt?» fragte Ceridwenn im Vorbeirennen.
Es blieb keine Zeit sich weiter zu unterhalten, denn die Klauen ihres Gegners schlugen nur wenige Meter neben ihnen in den steinernen Boden. Diesmal nutzte Ceridwenn ihre altbewährte Taktik. Es schien dem Drachen gar nicht zu passen und er schlug mit dem Bein aus. Ein Kreischen aus dem Rachen des Tieres, denn Aldwyn tat es Ceridwenn gleich.
«Kraft!»
Jetzt war sich Maegar sicher. Der Hohe Drache hatte gesprochen. Und genau jetzt hob er vom Boden ab. Schlug mit seinen gewaltigen Flügeln durch die Luft und verzog sich gen Himmel.
«Wie kommt es, dass jeder Gegner, den wir bekämpfen, auf einmal sprechen kann?!» Aldwyn verstand die Welt nicht mehr.
«Sagt man nicht, dass die ältesten Drachen sprechen konnten?» wunderte sich Ceridwenn. Sie hatte sich vornüber gebückt und atmete schwer. Sie hörten ein lautes Donnern hinter den Wolken. Es kam blitzartig näher. Gleichzeitig schoss der Hohe Drache wie ein Pfeil zwischen den Wolken hervor und direkt auf sie drei zu. Er wurde nicht langsamer, er riss sein Maul noch weiter auf und brüllte wieder. Die drei Kämpfer stoben auseinander, gerade noch rechtzeitig, denn ihr Feind landete mit einem gewaltigen Schlag auf dem Boden. Es war, als ob die Welt zerbrechen würde. Maegar taumelte hin und her, in einer Hand den Griff seiner Axt, die andere wild umherschlenkernd um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Aldwyn hatte keine Probleme damit, aufrecht stehen zu bleiben. Wieder versuchte er, auf eines der Drachenbeine einzuschlagen. Doch der Drache hielt inne und sagte:
«Ihr störtet meinen Schlaf!» Seine Stimme war tief und rau. Die Kraft und Erfahrung sprachen aus ihr heraus.
«Ich bin Rignak der Kaiser. Der letzte der kaiserlichen Drachen aus dem Norden. Was führt euch hierher?»
«Wir sind auf der Durchreise!» Maegar starrte Ceridwenn ungläubig an. Sie stand direkt vor dem Drachen und versuchte mit ihm zu reden?
«Keine Durchreise! Ihr seid in meinem Reich. Ihr seid nicht berechtigt euch hier aufzuhalten.»
Die Verhandlungen schienen vorbei zu sein, denn Rignak schlug seine Pranke Aldwyn entgegen, der gekonnt auswich. Zeitgleich war Ceridwenn wieder dabei, die Hinterbeine von Rignak zu Brei zu verarbeiten. Es war nicht so einfach wie es sich anhörte. In diesem Moment, streifte der gehörnte Schwanz des Drachen Aldwyns Schild. Es entstand kaum direkten Kontakt, doch er wurde von den Füssen gerissen. Ceridwenn hieb weiter mit ihrem Schwert auf die Beine ein und Maegar fiel wegen dem Beben nun doch zu Boden. Es schien für ein paar Sekunden so, als ob nicht einmal mehr ein Schlag nötig wäre, um sie alle drei gleichzeitig auszuschalten. Rignak war wohl derselben Meinung und machte sich bereit für den finalen Schlag, als ihn eine eiserne Böe packte. Ein heraufbeschworener Kältekegel hinderte den perplexen Drachen daran weiterzukämpfen. Halb stehend sah er sich um. Von wem war diese Kältewelle verursacht worden? Der eisige Wind verschwand, stattdessen spürte Maegar eine gewaltige Macht, die versuchte den Drachen zu Bode zu drücken. Wie eine riesige Hand wurde er immer mehr zu Boden gedrückt. Er versuchte durch Schütteln und Schreien loszukommen, doch erfolglos. Eigentlich war es ein grauenvoller Anblick. Maegar, Ceridwenn, Aldwyn, sie alle standen da und sahen einfach nur zu wie diese unbekannte Kraft Rignak niederringte. Dann liess sie nach. Rignak rüttelte sich los, voller Zorn schrie und brüllte er, schlug dort in den Boden hinein, fegte hier mit seinen Flügeln. Blind vor Wut versuchte er alles um sich herum zu zerstören. Es war nicht schwer ihm in diesem Moment auszuweichen.
«Was war das?!» fragte Maegar. Er musste laut rufen, damit ihn seine Gefährten überhaupt hören konnten. Sie hatten hinter ein paar Felsen Deckung gesucht, darauf wartend, dass ihr Gegner sich wieder ein bisschen beruhigte.
«Die Faust des Erbauers. Ein starker Zauber, den Machtmagier nutzen! Ich habe ihn zuvor schon einmal gesehen.» rief Ceridwenn zurück.
«Also ist einer von uns plötzlich zum Magier mutiert?»
«Seid nicht albern! Das muss…»
«Das war meine Wenigkeit.» Jemand sass neben Maegar. Eine junge Frau, kaum älter als Zwanzig Jahre. Sie hatte spitze Ohren und grosse, schöne Augen. Eine Elfin.
«Wer seid Ihr? Woher kommt Ihr auf einmal?»
«Nienna Celebrindal lautet mein Name. Ich war auf dem Weg nach Orlais, als dieses betäubende Brüllen anfing. Wer hätte gedacht, dass es sich ein Drache hier mitten auf dem Weg gemütlich macht?» während sie sprach beobachtete sie weiter Rignak den Kaiser, wie er noch immer vor Wut schäumend hin und hersprang.
«Ist das der richtige Zeitpunkt um sich auszutauschen? Nienna war Euer Name? Ja? Warum helft Ihr uns nicht bei diesem wütenden Kaiser? Wir können uns danach darüber unterhalten, woher Ihr kommt und was weiss ich.» meinte Aldwyn halbwegs spassend. Sie nickte ihm zu und richtete sich auf. Ihren Stab fest in der Hand nutzte sie einen weiteren Zauber. Unter Rignak’s Füssen drehte sich der Staub langsam im Kreis. Auch er selbst wurde langsamer und schien es gar nicht zu bemerken.
«Na los! Er wird ein paar Minuten in diesem Tempo verbleiben!»
Gleich zu dritt stürmten sie auf ihren Gegner los und wieder schlugen sie wie die Verrückten auf seine Beine ein. Endlich schaffte es Aldwyn. Mit einem besonders harten Schlag knickte Rignak’s linkes Vorderbein ein und wurde unter dem massigen Körper vergraben. Nienna’s Zauber liess urplötzlich nach. Aldwyn realisierte dies zu spät und wurde hart von Rignak’s Klaue getroffen. Er stiess all die Luft aus seinem Körper aus und ging zu Boden. Nienna nutzte ihre magischen Kräfte und zog ihn aus der Gefahrenzone. Anschliessend feuerte sie einen weiteren Eiszauber auf das gebrochene Bein ab, welches am Boden fest fror. Rignak, dessen Stimme langsam verzweifelt klang, rief laut:
«Unwürdige, widerliche Kreaturen! Ich herrschte schon, bevor ihr aus euren Löchern gekrochen seid und mein Reich befleckt habt. Ihr werdet für dies bezahlen! Ihr werdet dafür bezahlen, dass ihr es gewagt habt einen Herrscher herausgefordert zu haben!»
Er schaffte es, sich wieder aufzurichten, auch wenn sein Fuss noch festgefroren war. Lange holte er Luft, ein Rasseln war aus seinem Rachen zu vernehmen und er atmete aus. Tobendes bläuliches Feuer entsprang seinem Hals. Seine Gegner hatten es noch geschafft dem lodernden Tod zu entkommen, doch das war nicht sein Ziel gewesen. Das Eis, welches ihn am Boden festgesetzt hatte, war in Sekunden geschmolzen. Rignak schien keine Schmerzen zu spüren und setzte sich Nienna zum Ziel. Sie nutzte wieder diesen mächtigen Zauber, der es sogar schaffte einen Hohen Drachen festzuhalten. Doch sie schien nicht mehr so viel Mana Vorrat wie zu Beginn zu haben, denn er konnte sich in Sekunden losreissen. Er lachte.
«Eure erbärmlichen Versuche mich zu töten. Eure Macht lässt sich nicht mit meiner vergleichen. Nein, nicht einmal mit der meiner Kinder. Zerspringt unter meiner kaiserlichen, endlosen Kraft.»
Er schrie die letzten Worte aus. Was folgte war ein Sog. Es war als ob Magie sie näher und näher an Rignak heranzog.
«Das kann nicht sein!» Nienna kreischte, sowie sie versuchte dem Sog zu entkommen. «Er nutzt einen Zauber der Machtmagier!»
«Dann stoppt ihn irgendwie!» Ceridwenn hielt sich an ihrem Schwert fest, welches sie in den felsigen Grund gestossen hatte. Es würde sie nicht mehr lange halten. Maegar hingegen konnte nichts weiter tun, als wie ein toter Fisch auf dem Boden herum- und seinem Feind entgegen zu rollen.
«So helft mir doch oder tut irgendwas!» schrie er verzweifelt, denn jetzt war er in der Reichweite der Drachenklauen.
Nienna liess einen grossen Felsklumpen auf das Gesicht von Rignak zuschiessen. Es traf seinen Unterkiefer hart, wodurch er wieder vor Schmerz aufbrüllte. Die Kraft, die sie alle immer näher zu ihm hingezogen hatte, liess nach. Eilig rappelte sich Maegar auf und spurtete auf das rechte Vorderbein zu. Er hatte gesehen, wie Nienna gleich den nächsten Zauber vorbereitete. Er konnte nur hoffen, dass es sich dabei um einen nützlichen handelte. Ceridwenn kam ihm zu Hilfe. Rignak hatte keinen Halt mehr und stürzte. Er öffnete wieder sein schrecklich deformiertes Maul und stiess einen hohen Schrei aus. Er versuchte sich mit seinen Flügeln zu stützen, was ihm müh­selig gelang.
«Niemals hatte es irgendjemand gewagt…!»
Für einen Moment wusste keiner von ihnen, was er als nächstes tun sollte. Dann aber ergriff Ceridwenn die Chance. Sie rannte direkt auf Rignak zu, hob ihr Schwert und hielt es mit beiden Händen fest. Maegar schrie. Er schrie keine Worte, aber er schrie einfach um ihr Kraft zu schicken. Sie tat es ihm gleich, nahm alles zusammen und sprang hoch. Nienna erkannte im selben Moment was sie vorhatte und stiess sie mithilfe ihrer letzten Manareserven weiter nach oben. Ceridwenn’s Schwert bohrte sich durch die dicke, schuppige Haut über der Brust von Rignak. Sein Schreien liess die Welt erzittern, liess sie alle halb taub werden, doch Ceridwenn gab nicht auf. Sie hatte keinerlei Halt unter den Füssen. Das Schwert war das einzige, an dem sie sich festhalten konnte. Es rutschte noch ein paar Zentimeter weiter in den Körper des Hohen Drachen.
«Ich bin…Rignak…Ich bin der höchste…Kaiser der…Drachen. Mein Zorn…mein Hass…währt ewig…meine Kinder…werden euch suchen. Ich bin…ein Kaiser. Ich…sterbe…niemals…»
Seine Stimme wurde zu einem heiseren Röcheln. Dann krachte der schwere Körper zu Boden. Fast wurde Ceridwenn unter ihm begraben. Fassungslos, vor Erschöpfung, schwer atmend und hustend, starrte sie den toten Kaiser an. Das Echo seiner letzten Schreie verklang in der Luft. Maegar musste sich setzen. Sie hatten einen riesigen, intelligenten Oger getötet und einen Drachenkaiser. Gab es irgendein Lebewesen auf dieser Welt, welches noch gefährlicher sein konnte?