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In diesem Thema habt ihr eine bestimmte Anzahl an Punkten zur Verfügung, die ihr den Texten im nächsten Beitrag geben könnt. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl ausreichend begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten.
Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf Medaillen. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zu den Wettbewerben.
Zitat von AufgabenstellungAuch in diesem Jahr gibt es zum Abschluss der Saison zwei freie Wettbewerbe. Nachdem die freien Gedichte bereits verfasst wurden, liegt eure Aufgabe nun darin, eine Erzählung zu einem Thema eurer Wahl zu schreiben. Lasst ihr die Voter am inneren Monolog eines reisenden Elefanten teilhaben oder erzählt ihr eine klassische Liebesgeschichte? Bei der Themenwahl sind euch keine Grenzen gesetzt! Ein Pokémonbezug ist möglich, aber nicht verpflichtend.
Ihr könnt 9 Punkte verteilen, maximal 5 an eine Abgabe.
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Achtet dabei darauf, bei der Schablone zwischen Doppelpunkt und ID/Punktzahl ein Leerzeichen zu machen, damit die Auswertung über den Voterechner ohne Probleme erfolgen kann. Wenn ihr nicht wissen solltet, wie ihr eure ID herausfindet, könnt ihr dies unter anderem hier nachlesen.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 30.10.2016, um 23:59 Uhr.
Agathe schimpfte ein wenig, als ihr eines der in buntem Weihnachtspapier eingewickelten Geschenke auf den Boden fiel. Mit einem leisen Seufzer bückte sie sich, um es aufzuheben. Endlich hatte sie es geschafft, den Schlüssel ins Schloss zu schieben. Mit heftigem Knarren öffnete sich die Wohnungstür. Sie stellte ihre Weihnachtseinkäufe auf den Dielentisch und zog ihren Mantel aus. Dabei fiel ihr Blick auf das Bild ihrer drei Enkelkinder: Die fünfjährigen Zwillinge Serena und Gary sowie der im August zwei Jahre alt gewordene Ash. Sie freute sich schon riesig auf ihren Besuch.
"In einer Woche ist Weihnachten.", sagte sie zu dem Bild. "Dann kommt ihr mich mit euren Eltern besuchen." Bis dahin hatte sie allerdings noch sehr viel vorzubereiten. Wie freuten sich die Kinder doch immer wieder auf ihre selbstgebackenen Pofflés! Der Tannenbaum war noch zu schmücken und und einige Geschenke musste sie auch noch einpacken. Bei diesem Stichwort fielen ihr die Einkäufe wieder ein. Lächelnd griff sie zu dem größten der Pakete. Behutsam öffnete sie es. Drei Plüsch-Pokémon lachten ihr entgegen: Ein Serpifeu, ein Floink und ein Ottaro. Sie rückte ihre Brille zurecht und las, was auf einem der Schilder stand. "Aha, du heißt also Ottaro.", stellte sie vergnügt fest. Fast schien es, als ob das kleine Pokémon ein wenig mit dem Kopf nickte.
"Na, dann will ich euch mal gut verstecken.", sagte sie zu dem Trio. Zielstrebig ging sie auf ihren Kleiderschrank zu und stellte die drei Starter auf ihre Hutablage. "Nein", meinte sie entschlossen, "hier im dunklen Schrank kann man eure niedlichen Augen ja gar nicht leuchten sehen. Ihr kommt auf das Sofa im Wohnzimmer. Dann bin ich auch nicht so alleine."
Und so kam es, dass die drei Pokémon zwischen Tannengrün und Kerzenschein die Tage mit Agathe im Wohnzimmer verbrachten. Dort hatten die drei es mollig warm – auch nachts, wenn sie schliefen – und schauten Agathe bei ihren Weihnachtsvorbereitungen zu. Immer, wenn sie an ihnen vorbeikam, wurden sie liebevoll gestreichelt. Sie hatten die alte Frau inzwischen richtig liebgewonnen, auch wenn sie wussten, dass ihr Aufenthalt in ihrer Wohnung begrenzt war.
"Hoffentlich sind die Kleinen nett zu uns!", bangten sie, an den bevorstehenden Abschied denkend. Sie wussten nicht genau, wann sie von den drei Kindern abgeholt werden sollten, aber jedenfalls musste Agathe vorher noch Pofflés backen. Das hatten sie neulich herausgehört, als sie es der Nachbarin erzählt hatte. "Und Kinder, die Agathes Pofflés gerne essen, sind auch bestimmt nett zu uns.", sagte Serpifeu eines Abends zu seinen beiden Kumpanen.
Zwei Tage vor Weihnachten warteten die drei Starter vergeblich darauf, dass Agathe – wie jeden Morgen – ins Wohnzimmer kam. Was war denn nur los? Sie spitzten ihre kleinen Ohren und hörten, wie Agathe zwischen Husten und Niesen mit Schwester Joy telefonierte. Kurze Zeit später kam sie und untersuchte Agathe im Wohnzimmer.
"Tja", meinte sie mit besorgtem Gesichtsausdruck, "Sie müssen sich mit ihrer Erkältung schonen. Am besten wäre Bettruhe für Sie."
Agathe erzählte Schwester Joy von ihrem bevorstehenden Besuch, und dass es noch so viel für sie zu tun gäbe, aber sie ließ nicht mit sich reden. "Wenn Sie Heiligabend wieder auf den Beinen sein wollen, müssen Sie ins Bett.", bestimmte sie mit Nachdruck. Und so kam es, dass die drei Pokémon zwei lange Tage und eine Nacht ohne Agathe auskommen mussten.
In der Nacht zum Heiligen Abend fuhr Floink erschrocken aus dem Schlaf. "Die Pofflés!", rief es plötzlich und weckte schnell seine beiden Freunde. "Wir müssen die Pofflés für Agathe backen!"
"Au ja!", rief Ottaro. "Wir machen ihr eine Freude!"
Schnell krabbelten die drei von der Couch herunter und gingen leise in die Küche. Sie holten sich einen Stuhl, stiegen hinauf, stellten sich übereinander und schlossen leise die Tür, damit Agathe nicht geweckt würde. Mit dieser Technik kamen sie auch an die Küchenschränke heran und holten sich alle Zutaten und das Backbuch. Agathe hatte schon gelbe Zettel in die entsprechenden Seiten gelegt, also war es für die drei nicht schwer, die richtigen Backrezepte zu finden. Serpifeu las vor, wie viel von den jeweiligen Zutaten gebraucht wurde, Floink knetete den Teig und Ottaro stach – noch etwas ungeschickt mit seinen kleinen Händen – den Teig aus. Vorsichtig hoben sie die Pofflés auf das Backblech und schoben es in den Ofen. Ottaro naschte dabei unentwegt vom Teig.
"Hör auf damit, sonst ist dir morgen ganz schlecht!", meinten Serpifeu und Floink und nahmen Ottaro den Teig weg. Nach langer Zeit war endlich aller Teig verbacken. Während Serpifeu schon aufräumte, verzierten die beiden anderen die Pofflés noch mit allerlei Zuckerwerk. Sie verbrachten die ganze Nacht in der Küche, sodass ihnen schon ihre Augen zufielen. Nachdem sie sich gewaschen hatten, betrachteten sie stolz ihr Werk.
"Sind das aber schöne Pofflés!", stellten sie entzückt fest. Sie freuten sich schon auf Agathes Gesicht, wenn sie das Gebäck entdecken würde. Müde von der vielen Arbeit schlichen sie – genau so leise, wie sie gekommen waren – zurück ins Wohnzimmer. Ottaro ließ seine beiden Freunde vorgehen und tapste ganz leise an den Küchentisch. Dort hatte es sich etwas von dem Teig versteckt, den würde es jetzt noch schnell vernaschen...
Am Weihnachtsmorgen wurde Agathe sehr zeitig wach. Schließlich musste sie noch die ganze Arbeit der letzten beiden Tage erledigen. Was würden wohl ihre drei Enkelkinder sagen, wenn es keine Pofflés geben würde? Als sie die Schlafzimmertür öffnete, glaubte sie zuerst, sie würde noch träumen. Hier roch es doch eindeutig nach Pofflés!
"Ich werde alt!", meinte Agathe kopfschüttelnd zu sich selber und ging in die Küche. Dort standen drei Teller voller selbstgebackener Pofflés. Langsam, ganz langsam, ging Agathe auf die drei Teller zu, so als ob sie Angst hätte, dass sich diese jeden Moment in Luft auflösen könnten. Vorsichtig nahm sie ein Pofflé und steckte es sich in den Mund. Kein Zweifel, es waren genau die Pofflés, die sie hatte backen wollen. Sie überlegte hin und her, wusste aber nicht, wie so etwas geschehen konnte. Ein leiser Hauch von geheimnisvollem Weihnachten lag auf einmal in der Luft.
Während des ganzen Tages ging Agathe die Sache mit den Pofflés nicht mehr aus dem Kopf. Gedankenverloren erledigte sie ihre Arbeit, und als sie die drei Pokémon einpackte, fiel ihr gar nicht auf, dass diese ganz müde aussahen.
Als Agathe am Abend mit ihrer Familie unter dem festlich beleuchteten Tannenbaum saß, traute sie sich nicht, von dem Vorfall zu erzählen. Sie hatte Angst, dass man sie für verrückt halten würde. Versonnen schaute sie dem zweijährigen Ash zu, wie er das kleine Ottaro an sein Herz drückte. Auf einmal entdeckte Agathe, dass es einen Teigrest an der linken Hand hatte. Sie lachte und schüttelte den Kopf. Endlich begriff sie, was es mit den Pofflés auf sich hatte. Sie wusste, dass sie jedem ihrer drei Enkelkinder ein ganz besonderes Geschenk gemacht hatte.
Ich hatte schon immer Angst vor Clowns und konnte mir niemals erklären, warum sie bei dem Großteil der Bevölkerung so gut ankamen. Ich ging auch nie wirklich gerne in den Zirkus, weil ich eben wusste, dass sie dort als 'Belustigung' in den Pausen eingesetzt wurden. Das war recht schade, denn im Gegensatz zu den Schminkunfällen mochte ich Tiere aus fernen Ländern und die Kunst der Akrobatik ganz gerne. Aber dafür gab es ja noch den städtischen Zoo. Clowns waren doch schon immer völlig verrückt mit ihren dummen Tricks, die jeder normale Mensch sofort durchschaute. Deswegen entwickelte ich im Laufe der Zeit eine Coulrophobie, also eine Angst vor den geschmickten Psychos. Stephen King beschrieb es uns doch schon so schön in seinem Roman 'Es' und erklärte mit dem Kinderschreck 'Pennywise', wie grausam sie in Wirklichkeit waren. Aber nein, niemand hörte auf mich, bis es am jenen Tag zu eine Begegnung kam, die alles veränderte.
Es war ein ruhiger Oktoberabend. Halloween war bereits in den Startlöchern und alle Nachbarn hatten bereits ihre Häuse mehr oder weniger gruselig gestaltet. (Ich war überhaupt nicht der Typ für dieses Fest. Das Einzige, was ich daran mochte, waren die Süßigkeiten, die ich bekam. Aber ich hatte mich nie wirklich verkleidet, das wir mir alles zu kindisch. Ein Clownkostüm hätte bestimmt das perfekte Outfit dargestellt.) Ich schaute wie jeden Tag die Abendnachrichten auf Channel 1. (Ich fand die Wetterfee Tatjana James hübsch und wollte unbedingt ein Date mit ihr. Lacht ruhig! Für mich war und ist sie die hübscheste Frau der ganzen amerikanischen Geschichte!) Dann kamen die Breaking News: 'Horror-Clown terrorisiert das Halloweenfest in Miami!' Meine Augen wurden groß beim Anblicken dieser Schlagzeile. Weiter stand dort, dass man zum derzeitigen Zeitpunkt noch keinen Täter gefasst hatte. Sofort sprang ich auf und flehte meine Mom an, dieses Jahr nicht nach draußen zu gehen. Doch ich hatte richtiges Pech: Ich war bereits auf die Halloweenparty des Sohnes vom Chef meiner Eltern (sie arbeiteten am selben Betrieb, was manchmal für Streit sorgte) eingeladen und sie empfand es als sehr unhöflich, nicht hinzugehen. (Natürlich wollte sie nur ihr Image pflegen!) Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen.
Am nächsten Tag ging ich gegen halb acht zur Schule. (Es gab keinen Schulbus und mein Fahrrad war mir mitterlerweile zu klein geworden.) Ich war sehr nervös und schaute jede Sekunde hinter mich, um sicher zu gehen, dass mich keiner verfolgte. Schließlich kam ich unverletzt (zumindest ohne körperlichen Schaden, der geistige wurde nach dieser Erfahrung größer) am großen Schultor an. Ich war gerettet. Doch dann wurde ich auf ein Neues enttäuscht: Ich dachte, ich träumte noch, als ich in den Klassenraum eintrat, denn außer mir saß niemand drinnen. (Ich war kurz davor, meine Brille abzunehmen und sie zu putzen, aber dann erinnerte ich mich, dass ich überhaupt keine trug. Noch nie!) Mein Lehrer öffnete die Tür und war ebenso überrascht. Er blickte mir in die Augen und spekulierte eine Weile, bis die Schulkrankenschwester vorbeikam und sagte, dass mehr als siebzig Prozent der Schüler nicht kamen. Eine Grippewelle machte viele von jetzt auf gleich krank (Durchfall und Erbrechen, halt das ekelhafteste Zeug, was man so machte, wenn man krank war), sodass die Schule sich entschied, den Unterricht ausfallen zu lassen. Toller Mist! Jetzt durfte ich den langen Heimweg nochmals antreten.
Als ich Zuhause war, waren meine Eltern bereits auf Arbeit. Ich war allein. Nochmals toller Mist! Der Horror-Clown lief auf freien Fuß und ich war allein in einem großen Einfamilienhaus, wo sich nebenbei noch viel Schmuck und Wertgegenstände befanden. Außerdem hatten wir dieserzeit noch keine richtige Alarmanlage. Mein Dad war in dieser Hinsicht sehr geizig und baute eine Alarmanlage aus Pappe (Ganz genau, Pappe! Das war kein Witz!) an die große Hauswand an. Jeder durchschaute diesen billigen Trick.
Ich schaltete den Fernseher ein, um mich abzulenken. Channel 1, Morgennachrichten: 'Weiterer Übergriff des Horror-Clowns! Trittbrettfahrer unterwegs!' Wieso ausgerechnet jetzt!? Ich war doch schon von einem einzigen Horror-Clown eingeschüchtert genug. Ich wollte umschalten, doch dann wurde ich neugierig und legte die Fernbedienung beiseite. Der Nachrichtensprecher meinte, dass der Clown erneut auf Hochtour und einem Kind auf dem Schulweg (Meine Angst war also nicht unbegründet!) nachgelaufen war. Meine Stirn wurde vom austretenden Angstschweiß feucht. Nach dieser Meldung kam die Neuigkeit, dass viele Schulen heute geschlossen hatten, weil eine Grippewelle über die Stadt wütete. Wieso teilten sie es nicht eine Stunde früher im Radio mit!? Aber das war schon auf dem Papier verewigt und ich konnte wenig machen, um meinen Frust abzubauen. Mein Blick fiel auf das Telefon, welches auf dem Sofatisch neben mir lag. Ich wollte meine Mom benachrichten, dass ich schon wieder Zuhause war und nahm es in meine Hände und wählte ihre Nummer. Sie meinte, dass sie sich heute beeilen würde und dann gegen Mittag Zuhause wäre, um mir Mittag mitzubringen. Solange war ich also noch mutterseelenallein in einem Haus in der Stadt, wo ein Schreckgespenst (oder besser gesagt viele) Kindern nachlief.
Ich ging in mein Zimmer und wollte mich wieder hinlegen. Das tat ich dann auch. Doch dann wurde ich von einem Schatten (so klang es mysteriöser.) geweckt. Er war vor meinem Fenster, schaute hinein und klopfte. Meine Hände zitterten wild herum. Was auch immer es war, es war groß - und direkt vor meinem Zimmer. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging zum Fenster rüber. Es war alles normal. Bestimmt bildete ich mir alles nur ein, dachte ich zumindest in diesem Augenblick. Doch dann hörte ich ein Klingeln. Ich ging zur Tür und öffnete sie. Die Post war da und hatte ein Paket für meinen Dad im Gepäck. Ich nahm es an und lag mich dann wieder hin. Ich schlief ein.
Als ich nochmals einen Schatten am Fenster sah, fiel ich aus allen Wolken. Hatte der Postbote etwas vergessen? Etwas Wuscheliges wedelte davor hin und her und er war auch kleiner als der von vorhin. Genervt stand ich wieder auf und schaute hinaus. (Ich fragte mich, wieso ich es nicht einfach ignorieren konnte.)
Auch dieses Mal war nichts zu sehen. Doch dann sah ich genauer hin und erkannte ein Messer (ein echt scharfes Messer) auf dem Fensterbrett vor mir. Ich fiel um, aber stützte mich recht schnell wieder auf. War immer noch nicht klar im Sinne und konnte es nicht glauben. (Wer mich gut kannte, wusste, dass ich meist so reagiere, wenn etwas urplötzlich geschehen war!) Wer hatte es dahin gelegt? (Und ein weiteres wurde ich neugierig. Manchmal hasste ich mich dafür.)
Es klopfte an der Tür. Ich fragte mich, wer klopfte, denn wir hatten schließlich eine elektronische Klinge. Ich ging zögernd und mit vorsichtigen Schritten nach vorne. Niemand war zu sehen, sodass ich schnell die Tür öffnete. Davor lag nichts. Es war alles so, wie vorher. Ich trat einen Schritt nach vorne und schaute an die Hauswand. Daran klebte ein schmutziger roter Fleck. Ich erschauderte.
Ein lautes Knallen schallte bis in den Vorgarten. Es kam von hinten. Die Hintertür. Sie wurde geöffnet. Ich hatte Angst. Ich rannte nach oben in das Schlafzimmer meiner Eltern und versteckte mich in ihren großen Kleiderschrank. Zitternd kauerte ich darin. Ich wartete.
Ein Quietschen dröhnte durch das Haus, als jemand die Treppe nahm, um in den zweiten Stock zu kommen. Irgendjemand war im Haus. Leise öffnete die Person die Schlafzimmertür und legte sich auf das Ehebett. (Ich hatte ein Glück, dass ich nicht ohnmächtig umgefallen war. Aber das hatte ich ja bereits hinter mich gebracht und war deswegen nicht so leicht anfällig dafür.)
Die Person lachte vor sich hin. (Es war eine tiefe Stimmlange, deswegen schließte ich auf einen Mann.) Es hörte sich so an, als ob er die Kommode nach etwas durchsuchte. Es war ein Einbrecher, da war ich mir ziemlich sicher. Doch wieso hatte er eben einen Lachkrampf? Ein komisches Geräusch war zu hören. Was das wohl war? (Insgeheim wollte ich es gar nicht wisssen.)
Es war ein Quietschen-ähnliches Geräusch. Man könnte es leicht mit einer Tröte verwechseln; einer Tröte, welche Clowns benutzen. Clowns. Clowns. Clowns. Der Name verlief auf meine Zunge wie eine heiße Schokolade. Ich holte tief Luft und riskierte einen kleinen Blick nach draußen, als ich die Schranktür vorsichtig einen Spalt öffnete. Und, Überraschung, ein Clown stand vor mir. Zwar schnell aber noch immer vorsichtig genug schloß ich die Tür wieder und hoffte, dass er mich nicht sah.
Doch dann trampelte er vor sich hin. Direkt vor den Schrank. (Und ich war immer noch geschockt, dass es ein Clown war.) Ich bekam kaum Luft. Er öffnete die Schranktür und sah mich tief in meine Augen. Er lachte. Ich tat nichts, ich war geschockt. Er holte sein Messer hervor. Und wedelte damit wild vor mich hin. Ich schrie laut auf.
Plötzlich höre ich ein lautes Geräusch. Mein Wecker klingelte und ich lag neben meinen Nachtschrank in meinen Bett. (Zum Glück!) Es war alles nur ein Albtraum! Doch ich war immer noch von meiner Fantasie traumatisiert, dass ich mich entschloss, meine Angst zu überwinden, indem ich eine Therapie anfing. (Und es konnte mir tatsächlich helfen, besser damit klar zu kommen!)
Ihr war kalt. Selten hatte Naomi so gefroren wie es jetzt der Fall war. Aber vielleicht war dies üblich zu dieser Jahreszeit. Sie war sich sogar recht sicher, dass es zu dieser Jahreszeit so üblich war. Ganz genau sagen konnte sie es jedoch nicht. Die Welt veränderte sich so schnell, wie konnte man sich da schon sicher sein?
Naomi öffnete die Augen. Würde es bald wieder schneien? Sie sah hinauf in den von Wolken verhangenen, grauen Himmel, der ruhig und gespenstisch über der Stadt lag. Sie fröstelte. Sie fröstelte immer, bevor es anfing zu schneien. Die Wolken versprachen tatsächlich einen feinen, pudrigen Schnee, auch wenn er noch nicht zu sehen war. Nur die grauen Wolken. Naomi atmete tief durch. Die Luft roch muffig, als würde sie schon seit Jahrzehnten stehen. Einst hatte sie beim bevorstehenden Schneefall immer frisch und voller Hoffnung geduftet. Naomi nahm an, dass diese Zeit vorbei war.
Das Mädchen trug eine rote Pudelmütze, die ihr beinahe über die Augen fiel. Ihre Haut war blass. Sie trug einen besonders warmen Mantel, trotz dem sie frösteln musste. Es musste daran liegen, dass sie bereits viel zu lange in dieser einsamen Stadt gefangen war. Doch war sie wirklich gefangen? Konnte man es so nennen? Naomi dachte darüber nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Sie würde zur Stadtmitte gehen, da war schließlich immer etwas los. Mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen stapfte sie in ihren gelben Stiefeln den steinigen Weg ins Zentrum der Stadt entlang. Sie mochte das Geräusch, welches auf den Steinen widerhallte.
Kurze Zeit später hatte sie den Ort erreicht, an dem sie sich am meisten aufhielt. Die Stadt war nicht groß, aber sie war schön. Der Platz war gepflastert mit noch mehr der kreisrunden Steine. Auf dem Platz stand eine hölzerne Bühne, auf welcher wiederum eine kleine Gruppe Männer stand. Die Gruppe würde immer dann spielen, wenn es zu schneien begann. Niemals sonst. Doch das Mädchen war zu begeistert von der immer währenden Schönheit der Stadt, um das komisch zu finden.
Die Stadtmitte war umsäumt von den tiefgrünen Kiefern, die Naomi so mochte. Sie dufteten herrlich, obwohl sie doch bestimmt genauso alt waren wie die Stadt selbst. Es wurde kälter. Es war windstill.
Naomi sah sich um. Viel mehr gab es in ihrer Heimatstadt nicht zu sehen. Doch plötzlich zog sich ihre Stirn in Falten. Sie starrte angestrengt auf einen Punkt hinter den Tannen. Sie war noch niemals woanders gewesen als in ihrer Wohnung und auf dem Stadtplatz. Niemand hatte ihr je gesagt, was außerhalb lag. Und auch, wenn es noch nie ein ausgesprochenes Verbot gegeben hatte, so war Naomi bewusst, dass eine unheilvolle Bedrohung von dem Gedanken ausging, was sich wohl hinter den Tannen verbergen würde. Das kleine Mädchen setzte ihre Mütze noch fester auf seinen kleinen Kopf und fasste sich ein Herz. Sie würde herausfinden, was hinter den Bäumen lag. Merkwürdig, dass sie sich dazu bis jetzt noch niemals Gedanken gemacht hatte.
Je näher sie den Tannen kam, desto kälter schien es zu werden. Und desto stärker schienen die Bäume zu riechen. Wo Naomi den Tannendurft zuvor noch als angenehm empfunden hatte, kam er ihr jetzt penetrant und beinahe stechend vor. Sie rümpfte die Nase. Dann hatte sie fast die erste Tanne erreicht. Der Geruch veränderte sich, nun wirkte er...beinahe künstlich? Naomi konnte den Duft nicht einordnen. So viel gab es in ihrer Stadt einfach nicht zu riechen, als dass sie fremde Düfte hätte einordnen können.
Das Mädchen streckte zögerlich ihre in einen Handschuh gehüllte Hand aus. Sie würde den Zweig, der sich vor ihr befand, einfach zur Seite schieben und schauen, was da war. Es konnte wohl kaum etwas bedrohliches sein. Sie berührte den Tannenzweig. Und dann ging alles ganz schnell.
Naomi konnte nur einen kurzen Blick erhaschen auf das, was hinter der Tanne lag. Und doch reichte dieser kurze Blick, um ihr einen spitzen Schrei zu entlocken. Hatte sie doch sich selbst, unscharf aber doch ganz klar, gesehen. Dann jedoch verlor sie den Halt unter den Füßen. Sie fiel zu Boden und die Erde wackelte bedrohlich. Es kam ihr bekannt vor. Es würde schneien. So wie es immer schneite, wenn die Erde grollte und Naomi den Halt verlor. Aus der Ferne hörte sie die Männer in der Stadtmitte ihre Melodien spielen. Es klang wie Glockengeläut.
Und sogleich kam der Schnee. Er verteilte sich auf dem Boden ebenso schnell, wie er vom Himmel glitt. Sanft und wunderschön streifte er Naomis Wangen, verfing sich in ihren Wimpern. Das Beben der Erde war sogleich vergessen. Naomi gab sich vollends der Schönheit des Schnees hin, die sie über alles liebt. Und so ging sie wieder zur Stadtmitte, während der Schnee sich auf sie niedersenkte. Sie fühlte Freude in ihrem Inneren. Wie immer, wenn es zu schneien begann. Denn das war ihr größtes Glück. Und auch zugleich ihr größter Fluch.
Linda stellte die Schneekugel ab. Das Strahlen ihres Lächelns spiegelte sich in ihren Augen wider. Sie liebte Schneekugeln über alles. Und besonders jene, die sie letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hat. In ihr befand sich ein kleines, maschinell betriebenes Mädchen, welches sie spaßeshalber Naomi genannt hatte. Linda ließ es jede Stunde schneien. Und jede Stunde schien es ihr, als würde das kleine Mädchen in der Kugel ob des Schnees lebendig werden.
„Alexa, komm doch nochmal mit zum Tanzen!“
Stöhnend stand ich auf. Eigentlich hatte ich wirklich keine Lust mehr.
„Können wir nicht bald mal heim?“, fragte ich genervt, als mich meine Freundin Selina auf die Tanzfläche schleppte.
„Na gut, in zehn Minuten.“
„Keine Minute länger!“
„Keine Minute länger.“ Sie griff nun auch meine andere Hand und zog meinen Körper ganz nah an ihren. „Versprochen.“ Das Wort wandelte sich zu einem Kuss.
„Danke“, sagte ich lächelnd. Einen Moment lang blieben wir so stehen und erfreuten uns nur am verschwitzten, im Discolicht bunt leuchtenden Anblick der jeweils anderen.
„Kannst du überhaupt noch fahren?“, scherzte Selina, als wir in mein Auto einstiegen.
„Natürlich“, antwortete ich gespielt entrüstet. „Der einzige Alkohol, den ich heute zu mir genommen habe, war der aus deinen Küssen.“
„Das könnte schon zu viel sein.“ Sie küsste mich kurz auf die Wange. Ich lächelte sie an.
„Ich liebe dich, du toller Mensch.“
„Ich liebe dich noch viel mehr, du noch viel tollerer Mensch. Jetzt fahr schon, du willst doch keine schlafende Beifahrerin.“
„Hey, du warst die, die so lange bleiben wollte, schieb das nicht auf mich!“
Wir lachten und ich fuhr los.
„Hä, was sind das für Menschen, die mich auf einmal auf Facebook adden wollen, nur, weil sie mich einmal gesehen haben? Bestimmt lauter notgeile Heteros“, redete meine Freundin vor sich hin.
„Das sind bestimmt genau diese Machos, die denken, wir tun nur so, als wären wir Lesben, damit uns die Kerle hinterher laufen. Und genau wegen diesem Gedankengang laufen sie uns jetzt hinterher“, führte ich aus.
„Ja, das klingt absolut logisch“, stimmte sie zu. „Dabei sind wir doch gar keine Simulesben. Wir sind die lesbischsten Lesben, die die je gesehen haben.“
„Natürlich. Aber aus irgendeinem Grund sieht man uns das wohl nicht an.“
„Oh mein Gott! Ist denn das zu fassen!“
Meine Ohren klingelten. Manchmal war ihr Sprechorgan mir schon fast zu laut.
„Erschrick mich nicht! Was ist denn los?“, fragte ich und sah kurz zur Seite, wie sie wütend auf ihr Handy starrte.
„Dieser eine Kerl! Der ekelhafte Typ da, der mir einfach an den Arsch gefasst hat! Der will mich auch adden!“
„Nimmst du an?“
„Spinnst du?!“ Ihre Stimme klang fast hysterisch. Meine kleine Selina war einfach zu süß. „Schau dir das an, Alexa! Schon auf seinem Profilbild sieht er aus wie so ein Ekel-Macho!“ Sie streckte mir ihr Handy hin.
„Ich kann nicht. Ich fahre.“
„Nur ganz kurz!“
Ich seufzte. „Na gut, zeig her.“ Für einen kurzen Moment schaute ich auf das grell leuchtende Display ihres Smartphones. Sie hatte recht. Er sah wirklich eklig aus.
„Whoa, Alexa, pass auf!“
„Was?“
Ich sah auf.
Zwei Lichter.
Ausweichversuch.
Dunkelheit.
Meine Augenlider waren schwer wie Blei. Ein gleichmäßiges Piepen drang an meine Ohren. Es war nervig. Sehr nervig. Einen Spalt weit öffnete ich die Augen. Viel zu grelles Licht blendete mich. Um mich herum war alles weiß. Nur sehr langsam schaffte ich es, mich daran zu gewöhnen. Ich sah eine weiße Decke über mir. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Infusionen, die an mich angeschlossen waren, piepende Herzschlagmessmaschinen, eine dieser ekligen Atemmasken auf meinem Gesicht … Ich war im Krankenhaus. Doch warum? Was war geschehen? Ich erinnerte mich nicht. Und ich war zu müde, um nachzudenken. Ich schloss meine Augen wieder. Erstmal schlafen.
Ich blinzelte und öffnete langsam meine Augen. Es war mir hier immer noch viel zu hell.
„Oh, Alexandra, du kommst zu dir!“ Ich senkte meinen Blick zur Seite meines Bettes.
„Mama“, hauchte ich, kaum imstande, einen Ton hervorzubringen. „Mama, was … ist passiert?“
Meine Mutter sah zum Boden und ich glaubte, Tränen in ihren Augen zu sehen.
„Du und Selina, ihr hattet einen Autounfall.“
Ein Autounfall … Ein Autounfall! Plötzlich fiel es mir wieder ein. Die Disco. Das Handy. Das andere Auto. Selina …
„Wo ist Selina?“, keuchte ich.
Meine Mutter antwortete nicht. Sie sah zur Seite, ihre Wangen von Tränen überströmt.
„Mama, wo ist meine Freundin?“ In mir zog sich alles zusammen. Sie konnte doch nicht …
„Sie …“ Langsam drehte sie ihr Gesicht zu mir. „Sie hatte leider nicht so viel Glück wie du.“ Sie hielt meine Hand. „Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun.“
„Nein … Nein!“ Meine Augen liefen über vor Tränen. „Du lügst, Mama!“ Ich musste husten. Tausend Nadeln stachen in meinen Brustkorb.
„Es tut mir leid, mein Schatz.“
Ich hatte das Gefühl, als drehten sich meine Eingeweide um, ich hatte das Gefühl, ich müsste kotzen. Das konnte nicht sein …
Und das nur, weil ich zu genau diesem Zeitpunkt gehen wollte. Nur, weil ich zu genau diesem Zeitpunkt unaufmerksam war. Wären wir länger geblieben, wie sie gewollt hatte, hätte ich auf die Straße gesehen, dann könnte ich jetzt in ihre strahlenden Augen sehen. Dann könnte ich sie umarmen, dann könnte ich sie küssen, dann könnte ich mein Leben mit ihr verbringen, so, wie wir es geplant hatten. Doch so … So musste sie mit dem Leben bezahlen für den Fehler, den ich beging.
Warum musste sie sterben? Warum nicht ich? Sie hatte es nicht verdient. Sie war die perfekteste Person auf diesem Planeten. Warum musste sie für meinen Fehler bezahlen? Das war nicht fair.
Und da sprach meine Mutter von „Glück“? Wo war dieses Glück? Mein größtes Glück war tot. Wegen mir. Warum sie? Ohne sie … Wie sollte ich ohne sie leben? Wie sollte ich ohne sie leben, in dem Wissen, dass es meine Schuld war? Ein Leben ohne sie war nicht mehr lebenswert.
Sie war mein Ein und Alles, mein Engel, mein Knuddelbärchen.
Sie war die Liebe meines Lebens.
Sie war die Liebe meines Lebens, und ich … Ich hatte sie getötet.
Ohne sie ergab mein Leben keinen Sinn mehr.
Ohne sie wollte ich nicht mehr leben.
Warum musste sie sterben? Warum nicht ich?
Warum nicht ich?
Sie war die Liebe meines Lebens …
Und ich ihr Mörder.
Ich denke zurück an die Tage meiner Kindheit, als ich noch mehr Zeit zum Lesen hatte.
Das Blättern in den Büchern und das Versinken zwischen den Zeilen war jahrelang mein gesamter Lebensinhalt. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte mich durch die Buchstaben hindurchzwängen wie durch einen Zaun, um schließlich selbst in der Geschichte zu landen. In meiner kleinen Stadt gab es einen Bücherbus, ein in bunten Farben bemaltes Gefährt, das jeden Tag auf der grünen Wiese hinter der Schule Halt machte, um den Kindern die Gelegenheit zu geben, nach Herzenslust darin zu stöbern. Die nach Abenteuern duftende Luft und das Sonnenlicht, das durch das Fenster zwischen den Regalen fiel, die ungeordneten Hefte und Bücher, die das Innere des klapprigen Wagens füllten – das alles war wie ein kleines Paradies für mich.
Es dauerte kein ganzes Jahr, da hatte ich alles gelesen, was der Bus zu bieten hatte. Das realisierte ich, als ich an einem windigen Dezembermorgen durch die schneebedeckte Wiese stapfte, mit freudiger Erwartung die Tür zum Bus aufschwang und mich erfolglos auf die Suche nach der nächsten Geschichte machte. Ich erinnere mich lebhaft an die Hilflosigkeit, die über mich schwappte wie eine hässliche, braune Welle. Ein kleines Mädchen so aus ihrer Routine zu reißen zu müssen, schien der alte Besitzer des Lesebusses wohl sehr zu bedauern. So legte er mir, die ich immer noch fassungslos die Regale anstarrte, eine große, faltige Hand auf die Schulter und gab mir ein stummes Versprechen. Und fortan erwartete mich der Alte jeden Sonntag mit neuen Büchern, die er für mich zurücklegte. Erst viel später sollte ich erfahren, dass er für mich seine eigenen Bücherregale geleert hatte.
Menschen wie der alte Mann vom Bücherbus bleiben mir in allen Einzelheiten in Erinnerung. Schließe ich heute die Augen, dann kann ich mich zurückdenken zu den Stunden, die ich zwischen den alten und neuen Büchern verbrachte. Damals dachte ich das Leben in alter Ferne, ich war keine vierzehn Jahre alt und wusste nicht von der Welt und den Menschen. Selbst als ich dreißig wurde verschwendete ich keinen Gedanken an das Alter, schließlich hatte sich in mir längst die Gewissheit verankert, noch mindestens zweimal dreißig weitere Jahre zu verleben.
Mittlerweile bin ich Anfang fünfzig und das Leben hat mich eingeholt. Statistisch gesehen habe ich noch dreiunddreißig Jahre zu leben, neue Fortschritte in der Medizin werden mittlerweile fast täglich gemacht. Aber in der Realität musste ich in den letzten Monaten zwei gute Freunde beerdigen, beide noch etwas jünger als ich selbst. Ich sehe mich selbst an den Särgen stehen, mit Tränen in den Augen lächelnd an die gemeinsame Zeit denkend. Und in mir wächst langsam aber sicher eine hässliche schwarze Pflanze der Angst vor meiner eigenen Vergänglichkeit. Der letzte Lebensabschnitt beginnt für jeden, auch mein Verstand wird schwächer werden, mein Körper wird zerfallen. Ich realisiere meine eigene Furcht und denke zurück.
Ich denke zurück an einen Tag, der mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt. Im warmen Licht der langsam untergehenden Spätsommersonne stehe ich barfuß im Garten und wässere die Blumen mit einem Schlauch. Der laute Trubel des Tages liegt weit hinter mir, ist längst im Haus verschwunden und eine klare Stille umgibt mich. Nur ich, der Schlauch und die Blumen, als mich ein Gefühl überkommt. Es jagt durch Gärten und Hecken, durchbricht Zäune und Mauern, windet und zieht sich, bis es schließlich über mich hineinbricht. In diesem Moment im Garten, mit den letzten Strahlen des Tages noch tastend auf meinem Gesicht, bin ich bereit zu sterben. Die Erklärung fällt mir bis heute schwer, ein innerer Frieden, eine abfallende Last, eine schwere Decke der Erkenntnis. Das warme Gefühl der Vollkommenheit überkommt mich und zieht sich nach Momenten des süßen Glücks wieder von mir zurück.
Seit dem Moment, da mir meine Vergänglichkeit so schmerzlich bewusst gemacht worden war, jage ich diesem Gefühl aus meiner Vergangenheit hinterher. Ich spüre Teile davon in der Erinnerung an den alten Bus, ich sehe es in meinen Söhnen und ihren wundervollen Frauen, ich höre es aus den Stimmen von Senioren, mit denen ich mich unterhalte und doch bin ich weit weg von dem erlösenden Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit, wie es mich damals ergriff. Meine Furcht vor dem Tod selbst weicht der Angst, nicht in Frieden scheiden zu können. Ich verfluche die geliebte Erinnerung an den Abend im Garten, hasse die wundervolle Empfindung von damals, stürze mich wutentbrannt leidenschaftlich in die Suche danach.
Durch sonnendurchflutetes Gras, nass vom Morgentau, gehe ich langsam über die Wiese, in dessen Zentrum der Bus auf mich wartet. Mühsam und mit zittriger Hand öffne ich die Tür und trete ein. An einem kleinen Holztisch, dessen blaue Lackierung schon fast vollständig abgeblättert ist, sitzt der alte Busfahrer und schenkt mir ein warmes Lächeln. Er streckt mir eine faltige, große Hand zur Begrüßung hin und schiebt mit der anderen einen kleinen Stapel Bücher zu mir hinüber. Auch ich muss lächeln und reiche ihm meine Hand, ebenso faltig wie die seine.
"Willkommen zurück", sagt er.
"Ich habe diesen Ort vermisst", antworte ich mich brüchiger Stimme.
"Und er dich, ich habe lange darauf gewartet, dass du zurückkehrst." Es ist kein Vorwurf.
"Ich war lange nicht bereit dazu", gebe ich zu und ernte einen verständnisvollen Blick.
Der Bus fährt los und ich habe alle Zeit der Unendlichkeit, um wieder zu lesen.
Das Laub auf dem Waldboden raschelte und knisterte unter Tims Füßen, als er seinen Weg zwischen den Bäumen hindurch suchte, ein wenig durch seinen schweren Rucksack behindert. Eigentlich gab es keinen wirklich festen Pfad zu dem Zufluchtsort, den er suchte und wo er eine Auszeit vom stressigen Alltag zu Hause verbringen und seine beiden Freunde treffen wollte.
Nach einiger Zeit erreichte er sein Ziel bereits: Es war eine Art Bunker, der sich einfach mitten hier im Wald befand. Er gehörte den Eltern von Tims Freund Philipp, auch wenn keiner so recht wusste, warum man hier im Wald überhaupt einen Bunker gebaut hatte.
Tim holte seinen Schlüssel für die Tür hervor und schloss sie auf. Es gab insgesamt vier Schlüssel. Einer davon befand sich in Tims Besitz, einen weiteren hatten Philipps Eltern für sich behalten, den dritten trug Philipp selbst bei sich und den letzten hatten sie schließlich vor einigen Jahren Laura anvertraut.
Quietschend schwang die Tür auf und Tim tastete nach dem Lichtschalter. Der Bunker wurde mit Strom versorgt, konnte aber laut Philipp auch über einen Generator betrieben werden, sofern dafür mal irgendwie Bedarf bestand, was aber nie der Fall war. Der Bunker selbst hatte keine Fenster, also war es notwendig, dass man anderweitig für Licht darin sorgen konnte.
Flackernd und mit einem hellen Geräusch flammten die alten Leuchtstoffröhren an der Decke auf und warfen ihr fahles Licht auf die Einrichtung des Raums. Über die Jahre hinweg hatten Tim, Philipp und schließlich auch Laura diesen Ort eigentlich recht wohnlich gemacht, auch wenn alles hier schäbig aussah: Spinnweben hingen an der Decke, ein kaputtes Sofa, auf dem mehrere mottenzerfressene Decken lagen, stand rechts vom Eingang an der Wand, während zwei wackelige Holzstühle und ein zerschlissener Sessel weitere Sitzgelegenheiten boten. Zwei alte und muffige Matratzen waren gegenüber dem Sofa an die Wand gelehnt. Ein kleines Heizgerät stand in der Mitte des Raumes, um in kälteren Tagen auch eine Wärmequelle zu haben. Auf einem alten Beistelltisch standen zusätzlich noch ein Röhrenfernseher sowie ein geradezu antikes Radio, das aber immer noch hin und wieder das heutige Programm empfangen konnte.
Tim ließ sich ächzend auf das Sofa fallen und stellte seinen Rucksack auf dem Boden ab, wobei ein lautes Klimpern zu hören war, denn Tim war heute für die Getränke zuständig gewesen. Er warf einen Blick auf das instabilste Einrichtungsgegenstück, das sich hier befand: Ein kaputtes Regal, dass zu einem nicht unerheblichen Teil von den vielen angefressenen, zerknitterten und eselsohrigen Büchern darin getragen wurde. Man durfte nicht zu viele davon hervorziehen, oder alles würde in sich zusammenstürzen. Und Laura hatte jedes einzelne Buch davon gelesen… Kaum vorstellbar.
Das Quietschen der Eingangstür riss Tim aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf und sah Philipp hereinkommen. Er trug eine größere Tasche bei sich, die er auf den Boden abstellte.
„Hi“, sagte er knapp, ging auf Tim zu und begrüßte ihn mit einem Handschlag. Er wirkte ein wenig kurz angebunden.
„Ist was?“, fragte Tim.
„Ach“ winkte Philipp ab, „Es hat zu Hause wieder mal Stress gegeben. Mein kleiner Bruder brauchte Hilfe bei den Hausaufgaben und… Naja, er war höchst lernunwillig, um es mal höflich auszudrücken.“
Tim nickte mitfühlend. Er hatte einmal während eines Besuches bei Philipp erlebt, wie dessen kleiner Bruder das halbe Haus zusammen geschrien hatte, während seine Mutter verzweifelt versucht hatte, ihm das kleine Einmaleins beizubringen.
„Und bei dir so?“, fragte Philipp.
„Och, normal. Das Übliche halt: ‚Mach deine Hausaufgaben – Spiel nicht so viel am Computer – Geh raus, es ist schönes Wetter – Treib dich nicht wieder mit diesem dreckigen Mädchen herum…‘
„Redet ihr von mir?“, rief eine spöttische Stimme von der Tür her.
„Oh“, sagten Philipp und Tim gleichzeitig. „Hallo, Laura.“
„Hallo“, erwiderte diese.
Laura war eine merkwürdige Erscheinung, was nicht weiter verwunderte, wenn man ihre Geschichte kannte oder vielmehr an das glaubte, was sie erzählte: Anscheinend waren ihre Eltern früh verstorben, weshalb man sie in ein Heim gesteckt hatte. Aus diesem war sie jedoch irgendwann ausgerissen und hatte sich seitdem so gut wie überall rumgetrieben, unterstützt nur vom eigenen Überlebensinstinkt und mildtätigen Erwachsenen. Letztere beäugte sie allerdings stets misstrauisch, denn obwohl man sich vielleicht Besseres vorstellen konnte, als obdachlos und arm zu sein, wollte Laura gar nichts Anderes haben und war somit sehr darauf bedacht, allen auszuweichen, die glaubten, es sei für sie das Beste, einen Teil ihrer Freiheit gegen drei geregelte Mahlzeiten und ein warmes Bett einzutauschen.
„Wobei die Mahlzeiten im Heim mies und die Betten sowieso zu hart sind“, pflegte sie gerne zu sagen.
Sie selbst sah jedenfalls ziemlich abgerissen aus, wobei sich Tim und Philipp nie ganz sicher waren, ob dahinter nicht auch ein bisschen Absicht steckte. Ihre Haare waren stets durcheinander, standen kraus vom Kopf ab und waren genau wie auch ihr Gesicht und ihre Kleidung meist sehr dreckig. Es kam nämlich recht selten vor, dass Laura sich und ihre Klamotten wusch oder auch nur die Gelegenheit dazu bekam. So trug sie ständig einen viel zu großen fleckigen Mantel, in dem sie alle möglichen Sachen verstaute und der an vielen Stellen geflickt war. Darunter war sie mal mit einem schäbigen karierten Hemd oder einem alten Pullover bekleidet, unter dem sich jeweils noch ein grünes oder rotes T-Shirt befinden konnte. Ihre alte Jeans, die sie meistens trug (manchmal ersetzte sie diese durch einen Rock), hatte mehrere Löcher, was Laura im Scherz gelegentlich als modisch bezeichnete. An ihren Füßen, die in zwei verschiedenfarbigen Socken unterschiedlicher Größe steckten, befand sich ein Paar ziemlich abgelatschter Turnschuhe.
Trotz ihrer ungewöhnlichen Erscheinung und der Tatsache, dass sie sich nicht oft wusch, musste man aber eingestehen, dass sie zumindest nicht unangenehm roch oder zumindest besser, als man es vielleicht hätte denken können. Außerdem zeigte sie ein verblüffend hohes Maß an Schulbildung und war sehr lesebegeistert.
Auch jetzt griff sie in ihren Mantel und zog ein altes zerfleddertes Buch heraus, das sie ins Regal stellte.
„Wir brauchen bald ein größeres“, meinte sie.
„Vor allem brauchen wir eins, das nicht ständig Gefahr läuft, zusammenzukrachen“, meinte Philipp.
„Ja, kann sein“, sagte Laura geistesabwesend. „Herrje, vielleicht werde ich doch noch schwach und ziehe dauerhaft hier ein.“
„Wär doch schön“, sagte Tim achselzuckend.
„Weiß nicht. Ich bleibe immer noch ungern zu lange am gleichen Ort.“
„Was einer der Gründe dafür ist, dass wir immer Probleme haben, uns hier zu verabreden“, warf Philipp ein. „Man kann dich ja auf keinem Wege erreichen, es sei denn, man trifft sich mal zufällig.“
Laura zuckte nur die Achseln. Tim sah auf seine Uhr.
„Noch eine halbe Stunde, bis das Spiel anfängt“, sagte er. „Möchtet ihr vielleicht schon was trinken?“
„Gerne“, sagten Philipp und Laura.
Tim öffnete seinen Rucksack und holte drei Flaschen Apfelschorle hervor. Sie durften zwar auch alle schon Alkohol trinken (zumindest wenn es stimmte, was Laura über ihr Alter sagte), aber da sie allesamt keinen mochten, bleiben sie lieber bei Apfelschorle.
„Wir sollten vielleicht auch schon die Pizza essen“, meinte Philipp, öffnete seine Tasche und holte drei Pizzakartons heraus. „Ich meine, sie ist ja schon relativ kalt geworden, aber immer noch ein bisschen warm. Für das Spiel habe ich noch Chips mitgebracht.“
Laura und Tim nickten und nahmen ihre Pizzen entgegen.
„Ui, mit Anchovis“, sagte Laura begeistert. „Du bist der Beste.“
„Ich weiß ja, was du magst“, erwiderte Philipp zwinkernd.
Er selbst hatte eine vegetarische Pizza mit Spinat und anderem Gemüse, während er für Tim eine mit Schinken mitgebracht hatte.
Während des Essens unterhielten sie sich noch ein wenig: „Und was gibt es bei dir Neues, Laura?“, fragte Philipp mit vollem Mund.
„Naja“, sagte Laura und schluckte ihren Bissen herunter. „Ich habe letztens eine verletzte streunende Katze gefunden und zu einem Tierarzt gebracht. Musste ziemlich weit zu Fuß laufen, da mich keiner mitnehmen wollte. Zum Glück war die Katze nicht schwer verletzt, nur eine kleine Wunde – aber wenn es etwas Größeres gewesen wäre, wäre ich vielleicht nicht rechtzeitig da gewesen. Andererseits… Man kann den Leuten wohl schlecht einen Vorwurf machen. Ich meine, seht mich an – bin nicht unbedingt eine vertrauenserweckende Erscheinung.“
„Naja“, sagte Tim. „Wenn dich die Leute näher kennen würden, sähe das sicher anders aus.“
„Lieb von dir“, sagte Laura. „Übernachten wir eigentlich heute hier?“
„Hatten wir eigentlich so geplant“, erwiderte Philipp.
„Deine Eltern wissen Bescheid, falls meine anrufen?“, fragte Tim.
„Jep. Wenn sie anrufen, sagen meine Eltern, dass du bei uns übernachtest und nicht hier im Bunker.“
„Gut. Hoffentlich wollen sie nicht auch noch, dass ich ans Telefon komme.“
„Sie wissen gar nichts von unserem kleinen Versteck hier, oder?“, fragte Laura.
„Nö, und das soll auch so bleiben“, antwortete Philipp.
„Also ich werde es ihnen ganz sicher nicht verraten“, grinste Laura. „Wobei ich es ihnen ja zurufen müsste, da sie mich nicht auf fünfzig Meter an sich herankommen lassen würden.“
Sie lachten alle kurz, ein Lachen, das von alltäglichen Sorgen befreite, aber gleichzeitig aufgrund ihrer plötzlichen Abwesenheit auch eine gewisse Leere und damit verbundene Stille hinterließ. Nach einiger Zeit schließlich erhob Laura ihre Apfelschorle: „Auf uns drei. Denn wisst ihr, es ist echt schön, euch zu kennen.“
„Hört, hört“, sagten Philipp und Tim und prosteten ihr zu.
Meine Schritte knarzten auf der alten Holztreppe und der zitternde Lichtschein meiner Taschenlampe fiel auf eine dunkle Gestalt. Quieksend stolperte ich zurück und konnte mich gerade noch so am Geländer festhalten. Ich hielt inne und wartete auf einen Zug des anderen, doch es passierte nichts mehr. Still lag die letzten Stufen vor mir.
Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und stürmte sie hinauf, zu allem bereit, doch als ich oben ankam, bemerkte ich, dass es sich bei dem vermuteten Feind nur um eine Pokémonfigur handelte. Eine teure, steinerne Dragoranfigur, die sich in jeder Arena finden ließ. Sie zeugte vom Wohlstand der ehemaligen Bewohner dieser Villa, der Alten Villa, um die sich unzählige Schauergeschichten drehten. Was aus ihren Bewohnern geworden war, wusste niemand so genau. Sicher war jedoch, dass sie seit Jahren leer stand. Ich war ja auch nicht hier um herauszufinden, was geschehen war, sondern um den Zustand des Gebäudes zu überprüfen.
Für sein Alter hatte es sich gut gehalten; bis auf den Efeu, der sich um die Außenfassade rankte und die teilweise kaputten Treppen. Und dann war da noch der große Raum – wohl ein Esszimmer, der Anzahl der Stühle und dem großen Tisch nach zu urteilen – in welchem sich Brandflecken an den Wänden und auf dem Boden wie auf de Möbeln befanden. Scheinbar hatte es mal einen Brand gegeben, der sich wohl nicht weiter ausgebreitet hatte.
Ich sah mich auf der zweiten Etage um; am jeweils anderen Ende gab es noch zwei Türen, doch ich entschied mich dazu, erst mal den Raum, der sich direkt hinter der Treppe befand, zu begutachten.
Der vermeintliche Raum stellte sich als Flur mit vielen weiteren Türen heraus. Ich drehte mich hin und her, konnte jedoch kein Ende des Ganges ausmachen. Ich seufzte – wieso hatte ich mich nochmal hierauf eingelassen? Ach ja, weil man mich praktisch dazu gezwungen hatte! Von den acht Arenaleitern, die diese Region besaß, hatte wohl keiner die Zeit gehabt, um kurz das Gebäude zu überprüfen und auch die Top Vier, die zu dieser Zeit eh nichts zu tun hatten, immerhin wurden aktuell keine Trainer für Herausforderungen zugelassen, hatten sich dieser Aufgabe nicht annehmen können. Also musste ich herhalten – mal wieder. Seitdem ich meine Ausbildung zur Arenaleiterin bei Volkner abgeschlossen hatte, wurde mir jede mögliche Aufgabe aufgehalst. Meistens mit der Begründung „ich habe ja eh nix zu tun“ oder „ich sei ja soooo gut im Umgang mit meinen Pokémon, das wäre für mich bestimmt ein Klacks!“. Auch wenn ich warten musste, bis sich der aktuelle Arenaleiter zur Ruhe setzen würde, war ich noch lange nicht arbeitslos. Sonnewik war eine große Stadt und ich war unter anderem für diese verantwortlich, da Arenaleiter in gewisser Weise den Posten des Bürgermeisters übernahmen und ihre Auszubildenden sie dabei unterstützten. Aber statt meinen eigentlichen Pflichten nachzukommen, durfte ich durch die Region pendeln und jeder Bitte nachkommen!
Seufzend ging ich auf den ersten Raum zu und unter das Quietschen der alten Türe mischte sich Gelächter, als ich diese einen Spaltbreit öffnete. Alle meine Härchen stellten sich auf und mit der Hand, in der meine Taschenlampe lag, packte ich Dais Pokéball und ließ das Pokémon heraus. Die riesige Raubkatze baute sich neben mir auf. Mit einer Schulterhöhe von einem Meter fünfzig war das Luxtra ein furchterregender Gegner und gleichzeitig mein treuster Gefährte. Etwas mutiger trat ich schließlich in den Raum, doch es erwartete mich nur ein flimmernder Fernseher auf dem eine einallische Sitcom lief.
Dais Rückenfell stellte sich auf und auch mir bekam die Situation nicht – immerhin war der Strom für die Villa schon lange abgestellt worden. Vorsichtig näherte ich mich dem Gerät, der nur leblos dastand und seine Serie laufen ließ. Ich drückte auf den Power-Knopf, doch nichts änderte sich – der Fernseher blieb an.
Ich trat zurück und sah zu Dai, der das Gerät betrachtete. „Zerstöre den Fernseher vorsichtig“, befahl ich. Gehorsam nutzte das Elektro-Pokémon Eisenschweif um die äußere Hülle zu zerstören, die bereits nach einem leichten Schlag in sich zusammenfiel. Aus den Trümmern erhob sich ein kleines Wesen mit einem orangen, gezackten Körper, der bläulich leuchtete und den Raum in ein blaues Licht tauchte. Ich ging auf es vor, streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus, doch sofort spürte ich einen Stromschlag, der durch meinen Körper fuhr. Ich zog die Hand zurück und betrachtete das Wesen, das aufgeregt herumflog und immer wieder Funken sprühte. Es war deutlich verängstigt. Wie lange hatte es wohl in dem Fernseher gelebt? Ich musste es beruhigen. Leicht nervös fasste ich mir an den Arm und atmete tief durch um meinen Körper zur Ruhe zu bringen. Der Lärm, der aufgrund der neuen Erfahrung, zuvor in meinem Kopf dominiert und meinen Körper zum Beben gebracht hatte, wich eisiger Ruhe.
„Dai“, flüsterte ich dem Luxtra ins Ohr, um das andere Pokémon nicht weiter aufzuregen, „setz' erst mal Elektrofeld ein.“ Es dauerte nur wenige Sekunden bis ich den Strom an meinen Füßen spüren konnte, doch es war nur ein leichtes Prickeln. Eigentlich nutzte man Elektrofeld in Kämpfen um Pokémon am Einschlafen zu hindern, doch besonders Elektro-Pokémon genossen die Attacke doch auch sehr. Und es erzielte den gewünschten Effekt, das fremde Pokémon kam zu Ruhe. Es schwebte etwas um Dai herum und begann Funken mit ihm auszutauschen, ein beliebter Weg von Elektro-Pokémon sich zu unterhalten. An dem Zucken von Dais Ohren konnte ich erkennen, dass es sich gut mit dem anderen Pokémon verstand und ich trat erneut auf es zu. Es drehte sich um, doch dieses mal sah es mich nur an. „Hallo Kleines“, begrüßte ich es, „tut mir leid, dass wir dich gestört haben. Nimmst du das hier als Entschuldigung an?“ Ich griff in meine Hosentasche und zog einen Knursp heraus, den ich dem Wesen hinhielt. Zuerst musterte es ihn misstrauisch, doch als es ein Nicken von Dai erhielt, überwand es seine Angst und verspeiste die Süßigkeit. Scheinbar schmeckte sie ihm, denn es schmiegte sich an meine Wange. Vorsichtig streichelte ich es und nach einer kurzen Kuschelzeit flog es wieder zu Dai. Die beiden unterhielten sich noch kurz, dann flog es davon. Lächelnd sah ich zu meinem Luxtra. „Ob wir es jemals wieder sehen werden?“, fragte ich in den Raum. Dai stieß mir an die Schulter und sanft streichelte ich ihm über den Hals.
Ich drehte mich noch ein letztes Mal um und betrachtete das dunklen Foyer. Die anderen Räume waren entweder durchschnittlich eingerichtet oder komplett zu gestapelt gewesen, weswegen sich aus diesen Nichts mehr ergeben hatte. Im Endeffekt hatte mein Besuch hier aber auch seine gute Seite gehabt, immerhin hatte ich dieses Wesen treffen können. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich verließ die Alte Villa durch ihre große Eingangstür. Inzwischen war es tiefe Nacht und der Wald lag geräuschvoll vor mir, überall konnte man Rascheln, Pokémonrufe oder Gesang wahrnehmen. Und doch hatte es eine stille Atmosphäre. Und inmitten der Bäume, die gleichzeitig lautlos und voller Lärm waren, stand die Alte Villa.
Es war ein sehr düsterer Tag, der Himmel sah schon so aus als würde es bald zu regnen beginnen, aber es war einfach nur sehr Windig, grau und ungemütlich.
An so einem Tag saß man lieber Zuhause in einem Zimmer, um an einem PC ein Game zu zocken und vor allem dann, wenn man einen unangenehmen Tag hatte.
Der rothaarige junge 18-jährige Mann mit dem Namen Akio hatte genauso einen Tag und war sehr froh mal endlich etwas abschalten zu können.
Der YouTube Fan träumt davon endlich mal mit YouTube anfangen zu können, aber seine Eltern würden ihm das nie erlauben und das sorgt immer wieder dazu das wegen diesem Thema ein kleiner Streit ausbricht. Auch heute war es wieder einmal so gewesen.
Er hatte sogar sein Geld so sehr zusammengespart das er sich das nötige Equipment kaufen könne, jedoch bringt ihm alles nichts, wenn er keine Gelegenheit bekommt dieses auch mal zu benutzen. Er hasste alles und am liebsten würde er einfach nur so leben wie es er für richtig hält.
Seine Gedanken waren komplett woanders und das war nicht so gut, wenn man sich eigentlich auf das Spiel konzentrieren sollte.
Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, da er von einem Gegner angeschrieben wurde, weshalb er denn so schlecht spiele und das hatte ihn wachgerüttelt.
-Oh nein! Was mach ich denn hier,- dachte er sich und schüttelte schnell den Kopf um seine Gedanken wieder zu sortieren.
‚Es tut mir leid, war in Gedanken,‘ schrieb er zurück und es kam nur ein ok, aber, dass er nun richtig Spielen sollte.
Akio war nun ganz genau bei dem Spiel und als die Runde zu Ende war, wurde er gefragt ob er den Skype oder TS hätte denn er wäre eigentlich recht gut gewesen. Akio freute sich, denn es war schon fast wie in einem Traum, da er selbst findet das er einfach nur sehr schlecht darin ist.
Aber auch wenn er Skype und TS wirklich hatte, war das nicht leicht, da er das vor seinen Eltern geheim halten musste. Dennoch bestätigte er es und gab ihm seinen Skype Namen.
Als er ihm diesen gegeben hatte schrieben sie sich immer wieder mal und Akio war sehr fröhlich, denn endlich hatte er jemanden mit dem er sich sehr gut verstand. Denn in seiner Umgebung waren nur solche die ihn nicht mochten und an allem was Akio interessierte, überhaupt nicht mochten.
Seine Eltern hatten ihm zwar immer gesagt, dass es eigentlich zu gefährlich wäre über das Internet jemanden kennen zu lernen, aber das war ihm egal.
Es ging nun schon einige Zeit und Akio fand mittlerweile, dass dieser ein sehr guter Freund geworden war. Er hatte heute eine Freistunde, auch wenn er eigentlich davon wusste, hatte er zuhause nichts erwähnt, da er heute mal mit seinem Kumpel telefonieren wollte.
Kurz nachdem er das Schulgebäude verlassen hatte, ging er etwas weiter von diesem weg und rief ihn mit der Nummer welche er bekommen hatte an.
Es klingelte schon mal, das dachte Akio zumindest, jedoch ging Niemand ran, was den Rothaarigen ziemlich traurig machte.
Doch als dieser gerade sein Handy in seine Hosentasche stecken wollte vibrierte dieses und der YouTube Fan sah sofort nach, warum es sich denn gerade gemeldet hatte.
Als der Rothaarige dies tat, lächelte er und freute sich, denn es war eine Entschuldigung. Welche er durch eine WhatsApp Nachricht bekommen hatte.
Natürlich schrieb Akio sofort zurück. Mit den Worten, das es ihm nichts ausmache, denn jeder kann mal nicht sofort ans Handy kommen.‘ und anschließend wartete auf eine Antwort von seinem Kumpel.
Es dauerte nicht lange und die Antwort war da, jedoch wollte dieser sich nun mit Akio treffen, aber wie sollte er das machen?
Seine Eltern würden ihm das nie erlauben, weshalb er sich etwas einfallen lassen musste und das war nicht ganz so einfach, aber er wollte sich dennoch mit ihm treffen, denn das hatte er sich schon sehr lange gewünscht.
Sofort schrieb Akio zurück, dass er sich gerne mit ihm treffen würde und er ihm dann schreibt, wann er letztendlich Zeit hat.
Zuhause angekommen, begab er sich sofort in sein Zimmer, anschließend warf er seine Schulsachen in die Zimmerecke und setzte sich an den PC. Nachdem er diesen gestartet hatte, wollte er sofort antworten, wann er denn nun Zeit hätte und Akio hatte auch schon eine Idee, welche er auch leicht umsetzten konnte.
Denn da eine seiner Lehrer krank geworden war, hatte er nächste Woche erneut eine Freistunde und diese konnte er nutzen um sich mit seinem Kumpel zu treffen.
Nachdem er ihm das Datum und den Ort des Treffens geschrieben hatte, legte er sich in sein Bett, denn er hatte in diesem Moment überhaupt keine Lust etwas für die langweilige Schule zu machen, aber er wusste das er das heute noch machen musste.
Die Zeit verging und somit neigte sich auch der Tag dem Ende zu, da er von seinen Eltern zum Lernen verdonnert wurde, war Akio bis in die späten Stunden noch am Lernen und so ging es einige Tage lang weiter.
Immer wieder schrieben sich die beiden. Sehr oft kurz vor der Schule oder auch manchmal danach, aber immer nur wenn der Rothaarige Schüler nicht Zuhause war.
Der Tag an dem die beiden sich treffen wollten, war nun endlich gekommen und als Akio sich mit einem ‚bis Später‘ bei seinen Eltern verabschiedete, freute er sich schon sehr darauf seinen Internetfreund endlich mal zu treffen.
Die Schulzeit verging relativ schnell und somit rückte auch die Zeit näher wo die beiden sich zum ersten Mal sahen konnten.
Nun war die Schule zu ende. Akio verließ freudestrahlend das Gebäude und begab sich zu dem Treffpunk, jedoch wartete dort nicht ein 19-Jähriger junger Mann, sondern ein über 40-jähriger und beobachtete immer wieder die Zeit.
Akio bekam nun etwas Angst, als der Mann sich anschließend auch noch zu dem Rothaarigem drehte und ihn fragte ob er denn Akio sei, wurde dem YouTube-fan bewusst das er sich die ganze Zeit mit diesem Herrn geschrieben hatte.
Der Junge trat einige Schritte zurück, aber nickte etwas zögerlich. Sein vermeintlicher Kumpel ging auf Akio zu und fragte ihn, warum er denn zurückginge, aber der Rothaarige schüttelte den Kopf, denn er konnte es nicht glauben, dass er so unvorsichtig war und als der 40-jährige den 18-jährigen festhielt, konnte er sich gerade noch losreißen und weglaufen.
Während er weglief, achtete er gar nicht darauf wo er hinrannte, weshalb er relativ schnell mit jemandem zusammenstieß.
Akio entschuldigte sich und wollte sofort weiter, aber der andere wollte wissen weshalb es der Rothaarige so eilig hatte.
Nachdem er dem jungen Mann seine Geschichte schilderte, nickte dieser und fragte den YouTube-fan ob er ihn nicht lieber begleiten sollte, außerdem sollte er so schnell es ging zur Polizei gehen damit es nicht mehr Leuten passieren konnte.
Akio nickte und der andere ging mit ihm zur Polizei, als die beiden dort ankamen, schilderte der rothaarige junge Mann sein Problem. Die Polizei nahm alles sehr schnell zu Kenntnis und fragten Akio ob sie denn seine Eltern benachrichtigen sollten. Er nickte und auch wenn er wusste das er mächtig Ärger bekommen würde, wollte er sich mit seinen Eltern unterhalten und vor allem auch Entschuldigen, da er ihre Angst nun verstehen konnte.
Während die beiden auf die Eltern von Akio warteten, kamen sie ins Gespräch und es stellte sich heraus das der andere ein YouTuber war, welcher noch ziemlich am Anfang stand. Die beiden verstanden sich sehr gut und als eine Eltern kamen, waren diese froh das ihrem Sohn nichts passiert war.
Es war schon einige Zeit vergangen und Akio hatte durch diesen Vorfall sehr viel gelernt, nämlich das er nicht jedem so schnell vertrauen darf, außerdem das er auf seine Eltern hören soll, denn die wissen es meist besser.
Mit dem jungen YouTuber, in den er reingerannt war, hatte er immer noch Kontakt und sie wurden sehr gute Freunde, aber der 40-jährige wurde schnell gefunden und hat eine angemessene Strafe erhalten.
Ich falle.
Und ich frage mich, ob jetzt mein Leben an mir vorbeiziehen müsste. Denn so ist es nicht. Vielleicht bin ich noch zu weit vom Boden entfernt, blicke dem Tod nicht direkt ins Auge. Dabei wüsste ich gerne, was ich dann sähe. Was ist so wichtig in meinem Leben, dass ich es noch einmal erleben würde? Was würde ich bereuen? Worüber mich freuen? Ich stelle mir vor, ich würde meine Familie sehen, all die freundlichen Gesichter, die mich schon so lange auf meinem Weg begleiten. Was wäre mit meinen Freunden? Würde ich wirklich alles sehen? Mein gesamtes Leben? Ob ich es je erfahren werde? Denn der Tod kommt meistens plötzlich.
Ich falle.
Und ich frage mich, ob es die richtige Entscheidung war, zu springen. Bin ich überhaupt schon bereit, mich in die Tiefe zu stürzen? Habe ich auch wirklich schon alles gelernt, was nötig ist? Vielleicht hätte ich vorher noch etwas machen müssen. Doch jetzt ist es zu spät. Jetzt falle ich. Und ich genieße es. Die Welt erstreckt sich unter mir. Braun und grün und grau. Das alles erscheint unwichtig und weit weg. Ich versuche, nicht mehr zu zweifeln, sondern mich einfach auf meine Gefühle zu konzentrieren. Ich fühle mich unsicher, ein wenig unbehaglich und doch so lebendig wie noch nie zuvor. Ich weiß, dass dieser Fall etwas ganz Besonderes ist.
Ich falle.
Und ich frage mich, ob sich so ein Vogel fühlt, der zum ersten Mal fliegen soll. Das werde ich wohl nie erfahren; denn ich kann nicht fliegen. Ich falle einfach nur. Immer weiter. Und mit jeder Sekunde kommt der Boden näher. Die Luft rauscht in meinen Ohren, während sich mein Fall beschleunigt, über mir erstreckt sich der weite, blaue Himmel. Es kommt mir vor, als würde er mich zu sich rufen. Wie gerne würde ich jetzt meine Flügel ausbreiten und dort hinauf fliegen. Aber das geht nicht. Denn ich habe keine Flügel. Ich kann nur den Fall genießen. Und nicht darüber nachdenken, dass sich der Abstand bis zur Erde immer weiter verkleinert.
Ich falle.
Und ich frage mich, warum ich mir das überhaupt antue. Mein Herz rast in meiner Brust, pumpt Blut und Adrenalin zu gleichen Teilen in meinen Körper. Um mich herum ist nichts als weite Leere. Nichts hält mich, nichts ist mir im Weg. Wenn man fällt, fühlt man sich frei; aber nur so lange, bis man realisiert, dass man sich dem Boden nähert. Ich habe oft vom Fallen geträumt. Doch da gibt es keinen Grund. Ich falle immer weiter; ich schwebe. Und genau dieses Gefühl hat mich immer wieder hierher gezogen. Die Freiheit. Im Fall hat nichts mehr eine Bedeutung. All der Stress fällt ebenso. Nur ein Moment der Schwerelosigkeit. Doch der Boden wird ihn beenden. Immer wieder kommt in mir der Wunsch auf, dass dem nicht so wäre. Aber ich wusste es, als ich sprang. Ich habe nur diesen Moment.
Ich falle.
Und ich frage mich, ob es das Ganze überhaupt wert ist, für nur einen einzigen Augenblick der Schwerelosigkeit. Wenn ich mir überlege, was alles schief gehen könnte, krampft sich mein Magen zusammen. Aber daran darf man vermutlich einfach nicht denken. Immer wieder sagen einem die Leute, man müsse einfach springen, egal was kommt. Um Neues auszuprobieren, um seinen Traum zu leben, um sich von Altem zu lösen. Der berühmte Sprung ins Ungewisse. Doch ich verstehe nicht, was an dem Alten so schlecht ist. Denn wenn man erst einmal gesprungen ist, kann man nicht mehr zurück. Man fällt immer weiter; es gibt keinen Notausstieg. Eine Sicherheitsleine vielleicht, aber man kommt so oder so am Boden an. Die Realität holt jeden ein.
Ich falle.
Und ich frage mich, ob ich für den Sprung bereit war. Ich versuche mich an alles zu erinnern, mir jedes Detail ins Gedächtnis zu rufen. Ich will nicht rational denken, aber ich muss. Zumindest ein wenig. Ich spüre den Druck auf meinem Rücken. Objektiv betrachtet, stelle ich mich wahrscheinlich ganz gut an, aber mein Gehirn geht jedes nur erdenkliche Szenario durch. Ich rede mir ein, dass noch alles gut geht. Warum sollte auch nicht alles nach Plan laufen? Weil es immer eine Ausnahme von der Regel gibt. Ich schiebe den Gedanken beiseite. Ich habe nur noch wenige Sekunden im freien Fall. Ich möchte sie genießen. Ich möchte die Energie spüren, die durch meinen Körper fließt und mir nicht das Schlimmste ausmalen. Nur noch ein bisschen.
Ich falle.
Und ich frage mich, woher man weiß, dass man den Fall beenden sollte. Wie kann man sich sicher sein, dass es wirklich an der Zeit ist? Woher weiß ich, dass ich nicht mehr weiter fallen kann, dass ich wirklich jede Sekunde der Schwerelosigkeit ausgenutzt habe? Wer hat einmal entschieden, wann dieser Punkt gekommen ist, und woran hat er es fest gemacht? Ich wünschte meine Träume würden Wirklichkeit werden und der Fall würde niemals enden. Es ist ein so unglaubliches Gefühl. Aber ich sehe andere um mich. Sie sagen mir, dass es nun so weit ist. Für mich ist der freie Fall beendet. Und ich höre auf sie.
Ich ziehe an einer Leine.
Ich falle noch ein kleines Stückchen weiter.
Dann fängt mich der Fallschirm.
Die roten Blätter der Fächer-Ahorne leuchteten im Schein der Nachmittagssonne. Ein kurzer Windstoß fuhr durch das Laub und der ganze Wald begann zu rauschen. Von fern hörte man sanftes Gezwitscher, doch sonst herrschte Stille im Forst. Unter dem dichten Blätterdach erschien plötzlich ein helles Licht. Lautlos öffnete sich zwischen den hohen Baumstämmen ein kurzer Spalt, durch den eine Gestalt hindurch kam und im Wald erschien. Der Schein erstarb und ein kleines, grünes Wesen blickte sich um. Zwei hauchdünne Flügel schlugen auf seinem Rücken und ließen es über den Boden schweben. Aus großen, blauen Augen betrachtete es den roten Wald, durch den es nun langsam flog. Eine Spur blühender Blumen sprossen aus dem weichen Erdreich unter ihm und folgten ihm, wohin es sich auch bewegte.
Nach einer Weile erreichte das grüne Wesen schließlich den Waldrand. Mit stetig flatternden Flügeln stoppte es beim letzten Baum und legte seine kleine Hand an die Borke. Vor ihm ragte ein großer Turm in den wolkenlosen Himmel. Die Pagode saß auf einem steinernen Fundament und die Wände bestanden aus edlem, dunklen Holz. Neun Dächer bedeckt mit dunklen Ziegeln folgten aufeinander bis zur Spitze des Bauwerks, die eine hohe, goldene Säule markierte. Das grüne Wesen sah hinauf zu dem neunten Dach und erkannte einen vielfarbigen Schimmer, wie der eines Regenbogens. Es blinzelte überrascht, doch schließlich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und mit ungeahnter Geschwindigkeit flog es aus dem Schatten des Waldes direkt auf den Turm zu. Übermütig drehte es sich, bevor es kerzengerade in den blauen Himmel flog, auf die Spitze der Pagode zu. Als es sich dem letzten Dach näherte, erkannte es die goldenen Glocken, die an jeder der vier Ecken hingen.
Steinerne Vogelstatuen begrüßten das grüne Wesen, doch weder diesen noch der hohen goldenen Säule in der Mitte schenkte es seine Aufmerksamkeit. Stattdessen weiteten sich seine blauen Augen vor Freude, als es die Gestalt eines großen, bunten Vogels erkannte. Er rastete auf einer mächtigen Sitzstange und betrachtete die Stadt, die sich unter ihm ausbreitete.
„Welch angenehme Überraschung“, richtete sich eine Stimme an die kleine Gestalt. „Es ist eine ganze Weile her, dass wir uns getroffen haben, nicht wahr, Celebi?“
„Ho-Oh!“, rief das grüne Wesen freudig aus und kam näher. „Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen Augen vom Boden aus trauen konnte. Wie geht es dir? Was führt dich hierher?“
„Nun, dies ist der Glockenturm, der einzige Ort auf dieser Welt, an dem ich mich niederlassen kann“, begann Ho-Oh und in seiner tiefen Stimme lag ein verschmitzter Unterton.
„Ach, Ho-Oh! Das weiß ich doch!“, begehrte Celebi sogleich auf. „Aber du warst doch schon seit ewigen Zeiten nicht mehr hier.“
Ein unterdrücktes Lachen entkam dem gelben Schnabel des Regenbogenvogels und er wandte seinen Kopf, um sein Gegenüber aus bernsteinfarbenen Augen anzusehen.
„Du wirst mir doch sicherlich einen kleinen Scherz gönnen, oder? Ich habe nicht oft so reizende Gesellschaft.“
„Freilich!“, kicherte der Waldgeist breit grinsend und setzte sich auf den steinernen Boden. „Aber meine Fragen musst du trotzdem beantworten. Du weißt, ich lasse nicht locker!“
„Gewiss, das tust du nicht“, erwiderte Ho-Oh und bewegte kurz seine Flügel. „Um also deine erste Frage zu beantworten, ja, es geht mir gut. Ich habe unzählige Monde damit verbracht durch die Lande zu fliegen und mich zum Ausruhen in den Bergen versteckt. Trotz meiner Bemühungen wird man mich wohl gesehen haben. Und zu deiner zweiten Frage kann ich nur sagen, dass ich Heimweh hatte. Ich war müde von der langen Reise und dachte, mich hier an diesem Ort ausruhen zu können, hoffentlich ohne neugierige Besucher. Nun, letzteres ist ja leider nicht gelungen.“
„Hey!“, entgegnete Celebi gespielt beleidigt. „Wenn ich dir so unangenehm bin, dann geh ich einfach wieder!“
Der große Vogel brach in ein helles Lachen aus und das grüne Wesen konnte nicht anders, als mit einzustimmen.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich das vermisst habe“, meinte Ho-Oh schließlich und blinzelte seine Besucherin an.
„Ja, es ist wirklich schon sehr lange her.“
„Die Zeiten haben sich geändert. Das wirst du am besten beobachtet haben.“
„Bist du den Menschen immer noch böse?“, wollte der Waldgeist plötzlich wissen. Der Vogel wandte den Kopf wieder der Stadt zu und blickte eine Weile auf die Ansammlung der Häuser.
„Es ist anders als vor dem Brand und anders als kurz danach“, erwiderte er mit nachdenklicher Stimme.
„Du weißt, dass ich zurückgehen und das alles verhindern kann?“, meinte Celebi, doch Ho-Oh schüttelte nur leicht den Kopf.
„Das Unwetter wirst du nicht verhindern können.“
„Das nicht, aber ich kann etwas tun, damit niemand sterben muss!“, begehrte das grüne Wesen auf. „Ich kann verhindern, dass die Menschen so feindlich reagieren!“
Mit mildem Blick betrachtete der große Vogel seine kleine Besucherin und erwiderte: „Ich weiß, dass du alles tun würdest, aber ich bezweifle, dass es etwas bringen würde. Der Zwilling dieses Turmes hier, war ein Ort, an dem sich Pokémon ausruhten. Die drei Wesen, die wir heute unter den Namen Raikou, Entei und Suicune kennen, waren damals dort, um zu rasten. Mit Sicherheit haben sie das Unwetter gespürt und dort Schutz gesucht. Niemand konnte ahnen, dass es so enden würde.“
„Aber weißt du, was ich nicht verstehe“, begann sie verwirrt, „warum haben die Menschen so auf euch reagiert? Du hast doch etwas Gutes getan, als du ihnen das Leben zurückgegeben hast.“
„Das ist eine berechtigte Frage, meine liebe Freundin“, erwiderte Ho-Oh mit ruhiger Stimme, als er wieder auf die Häuser hinuntersah. „Ich selbst habe viele Jahre gebraucht, um diese Reaktion zu verstehen. Schließlich ist mir jedoch ein Wesenszug der Menschen klar geworden, der in ihrer Natur liegt. Sie fürchten sich vor dem, was sie nicht kontrollieren können und bekämpfen, was sie nicht verstehen. Meine Macht kannten sie nicht. Sie beurteilten Lugia und mich nach unserem Aussehen, deshalb hatten sie Respekt vor uns. Doch sie besaßen keine Vorstellung von unseren Kräften. Aus ihrer Ehrfurcht wurde Angst, als ich demonstrierte zu was ich fähig war. Vor ihren Augen hatte ich die Energie dieser drei verstorbenen Pokémon genutzt und sie mit den umliegenden Elementen zum Leben erweckt. Die Elektrizität, die noch in der Luft hing. Die heiße Asche, die vor kurzem noch Feuer war. Und das Wasser, welches alles gelöscht und beruhigt hatte. Sie sahen meine Macht und die drei Pokémon und reagierten mit Angst und Ablehnung.“
„Ich kann es trotzdem nicht verstehen“, gab Celebi zu und verschränkte ihre dünnen Arme. „Ihr hattet nie vor ihnen zu schaden.“
Ho-Oh wandte seinen Kopf wieder dem grünen Wesen zu und sagte: „Natürlich hatten wir das nicht, aber sie wussten, dass sie uns nicht kontrollieren konnten. Dass sie es niemals würden. Lugia war bereits auf den Strudelinseln. Ihr Rastplatz war zerstört worden und niemand aus der damaligen Bevölkerung machte sich die Mühe diesen wieder aufzubauen. Als ich das beobachtete, wandte ich mich schließlich ab, denn es fühlte sich nicht richtig an hier zu sein, während meine gute Freundin von den Menschen verstoßen wurde. Weil sie Angst hatten. Seitdem meiden wir beide jeden Kontakt; genauso wie Entei, Raikou und Suicune.“
„Aber das alles ist doch schon so lange her“, begann sie vorsichtig. „Meinst du nicht, dass sich die Menschen inzwischen geändert haben? Vielleicht bereuen sie die Taten ihrer Vorfahren.“
„Das könnte sein“, musste der Regenbogenvogel zugeben. „Seit ich hier gelandet bin, spüre ich eine seltsame Verbundenheit. Zuerst dachte ich, es wäre der Ort, aber nun denke ich, es könnte auch ein Mensch sein. Mein Instinkt sagt mir, dass ich nicht soweit von hier fortfliegen sollte.“
„Das ist gut, denn mir gefällt diese Zeitlinie momentan auch sehr“, erwiderte der Waldgeist breit grinsend. „Ich habe das Gefühl, dass hier bald etwas Wichtiges passieren wird.“
„Da könntest du Recht haben“, meinte Ho-Oh nachdenklich und neigte den Kopf. „Es war schön dich zu sehen, ich hoffe, wir haben in Zukunft öfter die Gelegenheit für ein Gespräch.“
„Ja, das hoffe ich auch“, entgegnete Celebi breit grinsend. Der große Vogel begann einige Male mit seinen mächtigen Flügeln zu schlagen.
„Pass gut auf dich auf, Celebi“, sagte Ho-Oh zum Abschied und warf seiner Besucherin einen sanften Blick zu.
„Das mach ich immer!“, lachte diese und erhob sich mit wild schlagenden Flügeln von dem steinernen Untergrund. Er nickte ihr kurz zu, bevor er mit einem besonders kräftigen Flügelschlag von der Stange abhob und sich im Gleitflug der Stadt näherte. Doch sogleich erhob er sich mit seinen mächtigen, bunten Schwingen immer weiter in den Himmel, eine goldene Spur mit seinen gelben Schwanzfedern zeichnend. Celebi blickte ihm nach, bis er schließlich in der azurblauen Weite verschwunden war.
„So wie Lugia im endlosen Meer verschwinden würde“, murmelte sie lächelnd. Danach wandte sie sich Richtung Süden und flog mit weit ausgebreiteten Armen durch die warme Luft. Ihr Ziel war ein sehr alter Wald, den sie in diesem Land zu ihrer Heimat auserkoren hatte. Dort wollte sie sich für einige Zeit zurückziehen und beobachten, was geschehen würde.
Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe den dunklen Weg aus. Die Wolken verdeckten an diesem frühen Herbstabend einen Großteil des Himmels, sodass wenig Licht bis zur Erde durchdrang.
„Wir suchen also einen Stern, sagst du?“, fragte ich meine Begleitung neben mir. Ein junges Mädchen mit blonden Haaren und einem schneeweißen Kleid sah mich mit ausdrucksloser Miene an, während ich es an der Hand hielt.
„Nicht einen Stern“, meinte dieses daraufhin. „Wir suchen meinen Stern. Ich muss ihn finden.“
„Und wo genau ist der Unterschied?“ Ich schüttelte den Kopf über die Korrektur, wusste aber, dass ich wohl keine Antwort bekommen würde. Das Mädchen war schweigsam und hatte bisher nur sehr wenig über sich oder die jetzige Aufgabe erzählt.
Interessanterweise kannte ich dieses Mädchen auch erst seit etwa zwei Stunden. Ich war gerade auf dem Weg nach Hause und nahm dabei wie üblich eine Abkürzung durch den großen Park. Meine Wohnung lag eine kurze Strecke abseits davon. Recht weit kam ich jedoch nicht, da sah ich bereits dieses Mädchen, wie es weinend auf dem Weg kniete und versuchte, seine Tränen zu trocknen. Als es mich sah, hörte es kurz auf, stand auf und umklammerte mich im nächsten Moment schon mit beiden Armen. Mir war das zu dem Zeitpunkt sichtlich unangenehm und fragte, warum es denn weinte. Als Antwort folgten nur ein ersticktes Schluchzen und die nicht so klare Aussage, dass es seinen Stern suche.
Und hier war ich nun. Mittlerweile war es noch dunkler geworden und unser Weg führte bereits an den Rand des Dorfes, wo wir nun einen Landweg entlang gingen. Mit einem kurzen Blick zur Seite merkte ich, wie das Gras im kühlen Wind raschelte.
Ich seufzte. Warum musste ich mir das eigentlich antun?
Das Mädchen sah mich unterdessen weiter an und legte den Kopf schief. Ob es etwas wollte?
„Sag mal, wo sind eigentlich deine Eltern?“, fragte ich das Mädchen, woraufhin es den Kopf schüttelte.
„Ich habe keine Eltern“, antwortete es mir mit unschuldiger Miene, sehr zu meiner Verwunderung.
„Also lebst du allein?“
„Nein. Ich bin nie allein.“
„Wie meinst du das?“
„So, wie ich es meine.“
Genervt presste ich die Lippen aufeinander, unterdrückte eine dumme Bemerkung und beließ es dabei. Wenn das Mädchen nichts über sich erzählen wollte, dann sollte es wohl so sein.
Wir gingen einige weitere Schritte, bis mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass unsere Suche keinen Erfolg haben würde. Schließlich wusste ich nicht einmal, was eigentlich dieser Stern sein sollte. War es ein echter oder etwas, bei dem sich das Mädchen nur einbildete, dass es ein Stern war? Darüber hinaus hatte sie auch keine Richtung gesagt, während ich bisher den Weg angeführt hatte und … irgendwohin gegangen war.
Ich fluchte leise und warf meinen Kopf in den Nacken. Dass mir solche Dinge aber auch immer in den schlechtesten Momenten einfielen!
Das Mädchen schickte sich an, mit einem Fingerzeig den Weg durch die angrenzende Wiese fortzusetzen. Zum ersten Mal heute, dass es ohne mein Zutun etwas tat, worüber ich sogar recht erleichtert war. Die nachfolgende Stille beunruhigte mich aber trotzdem und ließ mich schaudern. Ohne groß darüber nachzudenken setzte ich da an, wo wir vorher aufgehört hatten.
„Falls es dich interessiert: Ich lebe allein. Stört mich persönlich aber auch nicht, weil ich von meinen Eltern unabhängig werden wollte. Mein einziges Problem ist nur, dass ich keine gute Arbeit finde und bisher immer nur Nebenjobs gemacht habe, um über die Runden zu kommen.“
Für einige Momente hörte ich nur unsere Schritte durch das Gras sowie den Wind, der mich leicht frösteln ließ. Daraufhin ergriff das Mädchen wieder das Wort.
„Also suchst du auch nach deinem Stern?“
Irritiert wusste ich nicht sofort eine Antwort darauf. War dieser Stern also gar nicht wörtlich zu nehmen, sondern nur eine Umschreibung für eine Sache, die man selbst suchte? Wenn ich so darüber nachdachte, machte das auch keinen wirklichen Sinn. Was sollte ein Mädchen wie es schon suchen? Seinen Plüschteddy vielleicht?
„Wenn du das so sagen möchtest: Ja. Bisher war mein Privatleben nicht unbedingt vom Glück verfolgt. Mal Pech hier, mal ein Versagen da. Mein Wunsch ist, einfach etwas Glück zu haben bei dem, was ich mache.“
Das Rascheln des Grases drang wieder an meine Ohren. Mittlerweile leuchtete ich die Umgebung eher lustlos aus, da selten ein Objekt im Weg stand. Mit einem kurzen Blick zum Himmel wurde mir auch bewusst, dass der Vollmond bereits am Himmel stand und die Wolken zum größten Teil abgezogen waren. Na, zum Glück war meine Aufmerksamkeitsspanne entsprechend groß, dass mir das so früh auffiel.
Ich sah zu dem Mädchen, das sich weiterhin an meine Hand klammerte. Da es nicht antwortete, konnte ich wohl davon ausgehen, dass es nicht weiter relevant war, wie es mir ging. Ich rollte mit den Augen.
„Weißt du, wo du deinen Stern findest?“ Überrascht über die plötzliche Reaktion blickte ich sie an und grübelte.
„Nein, nicht wirklich“, antwortete ich. „Ich meine, Glück kann man sich nicht kaufen. Aber mich freut es, anderen zu helfen, wo ich kann; so wie dir jetzt. Allein das erfüllt mich mit Zufriedenheit. Nur manchmal wünsche ich mir schon etwas mehr. Etwas Unerwartetes. Ein Wunder sozusagen.“
„Also deinen Stern?“
Ich seufzte laut. „Ja, meinen Stern.“
Dieses Mädchen war mir suspekt. Was hatte es nur immer mit diesem Stern? Ich kam nicht um den Gedanken umhin, dass es mir einen Streich spielen wollte. Aber auf der anderen Seite war es so ernst bei der Sache, dass jeder Zweifel fehl am Platz war. Worauf wollte es mit seinen Fragen hinaus?
Plötzlich erstrahlte inmitten der Wiese ein Licht. Es war recht deutlich zu sehen, sodass wir uns zielstrebig darauf zubewegen konnten. Als wir schließlich angekommen waren, traute ich meinen Augen nicht.
Vor uns befand sich doch tatsächlich ein leuchtender Stern. Einer mit fünf Zacken, so wie er oft in Geschichten beschrieben wurde, jedoch mit viel runderen Übergängen. Daran konnte man sich definitiv nicht verletzen.
Das Mädchen ließ meine Hand los und ging langsam auf diesen Stern zu. Neben ihm ließ es sich auf die Knie fallen und berührte ihn sanft. Daraufhin sah es mich wieder an.
„Danke, dass du mir geholfen hast, meinen Stern zu finden.“
Nun war ich wirklich perplex. Also war es wirklich wortwörtlich ein Stern, den wir gesucht hatten?
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ja und Nein. Mein Wunsch war es, ihn wiederzufinden und damit hat sich dieser Wunsch auch erfüllt. Es hatte nichts mit ihm selbst zu tun.“
Gerade als ich einen Schritt auf es zugehen wollte, sah ich, wie sich der Stern langsam in den Himmel erhob. Das Mädchen hielt sich an ihm mühelos fest, während das schneeweiße Kleid im Wind wehte, und es machte nicht den Anschein, dass diese Tat für es anstrengend wäre.
„Auch dein Wunsch soll sich erfüllen, John“, sagte es mit seiner klaren Stimme. „Du bist sehr aufopferungsvoll und bietest Hilfe an, die nicht selbstverständlich ist. Besonders nicht in deiner Position. Lass mich daher bitte dein Stern sein.“
Sprachlos blickte ich dem steigenden Stern nach, der sich immer weiter von meiner Position entfernte. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich, ein Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens gesehen zu haben. Bevor ich mich versah, war sie aber auch schon außer Sichtweite und ließ mich zurück. Allein.
Ich senkte den Kopf und lachte. Niemals hätte ich nach dieser Begegnung und der kurzen Reise so einen Ausgang erwartet. Und obwohl ich mich etwas durcheinander fühlte, war ich zufrieden mit dem Ergebnis.
Schlussendlich hatten wir beide unseren Stern gefunden.
„Ähm, 'Tschuldigung, ist der Platz hier noch frei?“
Verdutzt sah ich sie an, bevor ich den Stuhl ansah, ihn hochhob, nur um ihn kurz darauf wieder ab zu stellen. Verwirrt sah mich die Brünette an, unsicher, ob sie wieder gehen sollte.
„Ich habe kein Namensschild gefunden“, antwortete ich schließlich, „dass heißt hier ist wohl noch frei.“ Ich zuckte mit den Schultern, was meinem Gegenüber ein leichtes Schmunzeln entlockte.
„Gut, dann sollte ich da später vielleicht noch meinen Namen drauf schreiben, nicht, dass der nächstes Mal schon vergeben ist. Darf ich einen Stift haben?“
Ich zuckte erneut mit den Schultern, bevor ich ihr einen Eding reichte. Wenige Augenblicke später zierte die Unterseite des Stuhles ein in kursiv geschriebener Name: „Keksi“.
*
„Achtung, Einfahrt vom Regional Express Richtung Donauwörth auf Gleis 3“.
Leise schlich ich katzenartig über das Gleis des Bahnhofes, während die Geräusche der Fahrgäste langsam in meinen Ohren zu verklingen begannen. Nicht, dass ich sie vorher wahrgenommen hätte, nicht dass es mich interessieren würde, was sie zu sagen hatten. Das hatte es noch nie.
„Ich weiß wirklich nicht, wie du das machst. Du bist hoffnungslos, Keksi“.
Kopfschüttelnd sah ich ihr nach, wie sie fast durch die Hallen der Bibliothek flog, ihre Augen jede Ecke abscannten.
„Bist du sicher, dass du deine Campus Card hier verloren hast?“, fragte ich erneut, auch wenn sich die Antwort in den letzten 5 Minuten kaum geändert haben konnte.
„Ich schwöre ich mache das nicht mit Absicht“, jammerte sie, zum dritten Mal unter den Mülleimer sehend.
Seufzend trat ich an sie heran, bevor ihr ihr meine Hand auf die Schulter legte.
„Komm, ich kau dir ein Bounty und dann gehen wir zur Studienkanzlei und sagen, dass du deine Karte wieder verloren hast.“
Ihre Augen sahen mich so traurig an, dass ich dem Drang widerstehen musste, ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben.
*
Inzwischen hatte ich den Bahnhof hinter mir gelassen, während mich die Decke der Nacht warm umschmiegte. Niemand hatte bemerkt, wie im Gebüsch verschwunden war, wie ich leise den Gleisen folgte, die in die Landschaft hinaus führten. Hinaus aus dem Bahnhof, hinaus aus der Stadt, hinaus. Einfach hinaus.
„Also ich weiß wirklich nicht, wieso jeder so einen großen Wirbel um diesen Film gemacht hat. Ich hab noch nicht mal einen Penis gesehen“.
„Man sagt nicht Penis, dass ist so … „, unterbrach mich Keksi.
„...autonomisch korrekt?“, lachte ich, was dazu führte, dass sie bockig die Arme verschränkte.
„OK, wie würdest DU es denn nennen, wenn Penis ein so böses Wort ist?“
„Banane?“, schlug sie vor. Sie sagte das so blitzartig, dass ich mich fragte, ob sie sich regelmäßig mit so etwas beschäftigte? Dachte sie über so etwas nach, bevor sie schlafen ging? Wenn sie gedankenverloren aus dem Fenster sah? Wenn sie einen Keks aß?
„Ich weiß nicht, wie du die Fortsetzung überleben willst. Da haben sie ja noch mehr Sex“.
„Es gibt eine Fortsetzung?!“, schrie sie, die Augen der anderen Kinobesucher auf uns ziehend.
Ich wusste nicht einmal wieso, doch das war die Aussage, die mich zum Lachen brachte. Das war die Aussage, die mir den Abend zum Highlight machte. Und das war die Aussage, die mich dazu brachte, mental bereits Karten für Fifty Shades of Gray 2 zu reservieren.
*
Sollte ich mich in den Dreck setzen oder stehen bleiben? Wie lange musste ich noch warten? Ich spielte damit mein Handy heraus zu holen, war mir aber nicht sicher, ob ich es überhaupt eingesteckt hatte. Wie spät war es noch einmal auf der Uhr im Bahnhof? Halb elf? Konnte das stimmen? Im Prinzip spielte es sowieso keine Rolle mehr, ob ich nun dreckig wurde oder nicht. Es spielte keine Rolle ob ich stand, ob ich mich hin legte.
Trotzdem wollte ich meine Jacke nicht dreckig machen. Also stand ich und wartete auf meinen Zug.
Hatte ich mich verhört? War ich sicher, verstanden zu haben, was ich dachte vernommen zu haben? Ich meine vielleicht hatte ich eine zu große Fantasie? Tagträume? Nahtoderfahrung? Koma? Das waren alles Möglichkeiten, die ich nicht außer Acht lassen konnte und sollte.
Also fragte ich erneut, wobei meinen Mund wohl nur ein komischer Laut entfuhr, der in der deutschen Sprache wohl als „Eh?“ aufgefasst werden konnte.
„G...gehst du mit mir aus? Ich meine… du musst nicht und – nur wenn du willst – und … also … weißt du was, es war eine dumme Idee. Vergiss es einfach. Ich meine … also … weißt du...“
In der nächsten Sekunde drückte ich sie an mich, ihr nicht mehr die Möglichkeit lassend, auch nur ein Wort heraus zu murmeln, auch nur einen Gedanken zu fassen.
„Ja“, hauchte ich. „So was von ja“, bestätigte ich, nur um sie etwas fester an mich zu drücken.
„Ich muss aber noch atmen, sonst wird das mit dem Date nichts mehr“, flüsterte sie.
„Atmen wird überbewertet“, lächelte ich, bevor ich mich dazu entschied meinen Griff zu lockern.
*
Zuerst war ich mir nicht sicher, was für seltsame Geräusche meine Jacke machte, bis ich realisierte, dass es mein Handy war, das gepiept hatte.
Sie haben eine neue Nachricht von Keksi
verkündete es mir stolz. Einen Moment sah ich mein Handy an, bevor ich es wieder in die Jacke stopfte. Keksis Nachricht blieb ungeöffnet.
„Sie müssen sich irren. Es … es liegt ein Fehler vor. Sind sie sicher, dass das Labor meine Ergebnisse nicht einfach vertauscht hat? Dass kann immerhin passieren…
„Hören Sie, es tut mir wirklich sehr Leid, doch es liegt ganz sicher kein Fehler vor. Vielleicht sollten sie erst einmal gehen, und mit Uschi einen neuen Termin ausmachen. Verarbeiten Sie es erst einmal. Ich bin sicher, es … [...]“
Den Rest hörte ich nicht mehr, da ich aus der Praxis stürmte.
Ich saß 15 Minuten im Auto, ohne mich zu bewegen. Dann schrieb ich Keksi:
„Falscher Alarm. Der Arzt sagt es geht mir gut :) „
Nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte, fing ich an zu weinen.
*
Inzwischen lief ich auf und ab, während ich bereute keine Wärmere Jacke mitgebracht zu haben. Beim verlassen des Hauses schien es mir unwichtig, doch nun erkannte ich, dass der Wind stärker war, als gedacht. Man müsste meinen, es sei mir egal. Zu Tode frieren wollte ich aber nicht, also fing ich nun an herum zu hüpfen. Half nicht viel.
„Wir könnten immer noch versuchen … „
„Würde es etwas bringen“, unterbrach ich.
„Es besteht die Chance, dass …“
„Ob es etwas bringen würde“.
„Dass kommt drauf an, wie ...“
„Lügen Sie mich einfach nicht an!“
Ich wandte mich ab, drückte die Tränen zurück, die sich in mir bildeten, sodass ich die Antwort meines Arztes fast verpasst hätte.
„Nein“.
*
Ich war sicher, das Handy bereits seit Stunden an zu sehen, während ich damit rang, ob ich die Nachricht öffnen sollte oder nicht. Es war nicht so, als ob der Inhalt jetzt noch eine Rolle spielte, oder? Es war nicht so, als ob ihre Worte mich noch retten konnten, oder? Es war nicht so, als wollte ich, dass sie etwas änderten, oder?
Fluchend tippte ich die Nachricht an:
„Ich gehe ins Bett. Bis morgen :-) Hab dich lieb ♥ „
„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“
In der Dunkelheit des Zimmers konnte ich ihre sonst so schönen Augen nicht erkennen, konnte nicht sehen, wie sie mich musterten, wie sie glänzten. Ich sah nur ihre Figur, die neben der meinen lag.
„Wieso fragst du?“, hauchte ich.
Sie antwortete nicht. Ich glaubte schon, sie sei eingeschlafen, als mich ein leises Flüstern vom Gegenteil überzeugte.
„Ich liebe dich“.
Sie warf es einfach so in den Raum. So, wie man jemand nach dem Wetter fragt. So, wie man sich nach den Sportergebnissen erkundigt.
„Ich dich auch.“
*
Um 22:49 packte ich mein Handy wieder in meine Tasche. Aus der Ferne konnte ich bereits das herannahen meines Zuges vernehmen, das Quietschen der Gleise hören, das Schlagen der Steine, das Schreien des Windes.
Ich schloss die Augen und machte einen Schritt.
Mein Zug fuhr vorbei.
Nach einem Augenblick drehte ich mich um und lief zurück.
Als ich das Auto erreichte schrieb ich Keksi:
„Bis morgen :-) Ich dich auch ♥ „
"All things are possible when you're looking for your car keys"
- George Carlin
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Andres Geduld riss gleichzeitig mit dem letzten bisschen Ruhe, das er sich bewahrt hatte.
Er tastete sich bereits zum dritten Mal ab. Seine Anzugtaschen waren bis auf ein Kaugummipapierchen und eine Packung Taschentücher leer. In seiner linken Hosentasche befand sich sein Portemonnaie, in seiner rechten Hosentasche lag sein Smartphone, das er sich erst letzte Woche gekauft hatte. Er holte es raus, strich über die Risse, die sich über das gesamte Display zogen und überlegte sich, was zu tun war.
Er hatte bereits sein Hotelzimmer abgesucht. Auch das Bad und den kleinen Kühlschrank. Er hatte in und hinter jeden Schrank geschaut, jede Hosen-, Akten- und Reisetaschetasche doppelt und dreifach überprüft, in der Rezeption und sogar auf dem Messegälende nachgefragt. Von seinem Autoschlüssel war keine Spur.
Das Problem war, dass der Schlüssel überall sein konnte. Fünf Tage lang stand der Wagen nun in der Hotelgarage und er musste es kein einziges Mal nutzen. Zum Messegelände fuhren er und seine Kollegen mit der Bahn und den Rest der Zeit verbrachten sie in der Hotelbar oder in den Kneipen in der Nähe des Hotels.
Unruhig, fast schon panisch lief Andre in seinem Hotelzimmer auf und ab. Die Kneipen hatte er bereits abgeklappert, bis auf einige ahnungslose und hilfslose Gesichtsausdrücke konnte er aber nichts finden.
Ihm gingen die Möglichkeiten aus, eine Option hatte er aber noch. Einen letzten Strohhalm, an den er sich klammern konnte.
"Guten Tag! Wie kann ich Ihnen behilflich sein?", fragte der Beamte am Schalter des Fundbüros, der in seinem Bürostuhl zusammengesackt war und sich gerade wieder aufrichtete.
"... Autoschlüssel verloren, muss wohl in den letzten fünf Tagen passiert sein. Da dachte ich, dass ich hier nochmal nachfrage", sagte Andre eilig. Er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Der Beamte lehnte sich geschäftig vor und tippte irgendetwas in seinen Computer ein, während er leise vor sich hinredete. Das Tippen hallte unnatürlich laut und überdeckte für eine kurze Zeit das geschäftige Gemurmel der anderen Leute im Büro, selbst das Radio gab kleinlaut bei.
"Dann schauen wir mal, oder? Das sollten wir gleich haben, ich meine mich da an etwas erinnern zu können..."
Der Beamte klickte mit der Maus herum und summte vor sich hin. Andre sah ungeduldig auf die Uhr, ohne die Uhrzeit zu lesen. Er sah nochmal hin. Es war zehn Uhr. Seine Kollegen waren wohl schon auf dem Heimweg, während er im Fundbüro feststeckte.
"Natürlich musste ich während der Messe die Schlüssel verlieren. Es reicht ja nicht, dass meine Kollegen eh schon glauben, ich wäre unorganisiert", dachte Andre wütend und sah erneut auf die Uhr.
Es war immernoch zehn.
Andre wurde von dem Beamten aus den Gedanken gerissen, als dieser sich erneut zu Wort meldete.
"Hmm. Seltsam, sieht schlecht aus für Sie. In den letzten Tagen wurde leider kein Autoschlüssel gemeldet. Aber ich dachte, dass Berta... Hmmm."
Er musterte Andre skeptisch. "Wie heißen Sie?"
"Andre Lagosch", antwortete Andre. "Wieso, ist das wichtig?"
"Hmm. Mhm, hmm. Wie mans nimmt, denke ich", lautete die Antwort.
Der Beamte trommelte mit den Fingern auf den Tisch und dachte kurz nach, bevor er wieder das Wort ergriff.
"Es ist natürlich möglich, dass ihr Schlüssel fälschlicherweise in den Keller gelegt wurde", sagte er. "Wissen Sie, wir haben einen Raum im Untergeschoss, wo alle Fundsachen hinkommen, wenn sie nicht mehr vermisst werden. Wenn Sie wollen, können wir kurz runter und dort auch nachsehen"
Andre seufzte. Sein Strohhalm wurde immer kürzer.
"Sicher, wieso nicht", meinte er resigniert.
"Gut, ich bin sofort bei Ihnen", sagte der Beamte und stand von seinem Stuhl auf.
Er verschwand kurz aus Andres Sichtfeld, verließ den Schalter durch eine Tür und trat zu ihm.
"Folgen Sie mir"
Sie gaben zusammen ein komisches Gespann ab: der kleine, dickliche Beamte lief voraus und der großwüchsige, hagere Andre trottete hinterher. Der Beamte führte Andre zu einem Treppenhaus, das sie gemeinsam hinunterstiegen. Im Untergeschoss angekommen, verließen sie das Treppenhaus wieder und durchquerten einen hell beleuchteten Flur. Am Ende des Ganges befand sich ein Raum, den sie durch eine Schiebetür betraten.
Der Raum war karg. Bis auf einen Schreibtisch, an dem eine ältere Dame saß und auf einer Tastatur herumtippte, war er leer. In die Wand gegenüber dem Schreibtisch war ein riesiges Eichentor eingelassen. Es erweckte den Anschein, höher als die Zimmerdecke zu sein und seine Präsenz füllte praktisch den gesamten Raum aus. Ein Kellerfenster und eine Leuchtstoffröhre an der Decke füllten das Zimmer mit kaltem, blassem Licht. Aus dem Radio auf der Fensterbank verkündete eine gutgelaunte Stimme, dass die Regenwahrscheinlichkeit 80% betrug.
Andre hatte das Gefühl, sich in einem Klassenzimmer zu befinden, in dem eine Prüfung geschrieben wurde. Es war still und gleichzeitig unangenehm laut, als würden geräuschgewordene Gedankenfetzen von einer Wand zur anderen springen, durcheinander wirbeln, zusammenprallen und sich gegenseitig verstärken.
"Moin! Lange nicht mehr gesehen! Wie geht es dir, hmm?", fragte der Beamte gutgelaunt.
"Guten Morgen", antwortete die alte Dame knapp, ohne von ihrem Bildschirm aufzusehen.
Es dauerte einige Sekunden, bis der Beamte verstand, dass sie nichts mehr sagen würde.
"Du, ich meine mich daran zu erinnern, dass du letztens einen Autoschlüssel zum verstauen bekommen hast. Kannst du uns sagen, wo du ihn hingetan hast?"
"Name?", lautete die Antwort.
Der Beamte kratzte sich peinlich berührt am Kinn und wandte sich an Andre: "Mhh... Entschuldigen Sie bitte, aber wie hießen Sie nochmal?"
Andre fragte sich langsam, wieso es wichtig war, wer er war. Es war doch nicht einmal klar, ob das Fundbüro seine Schlüssel hatte. Außerdem fiel ihm gerade auf, dass er noch kein einziges Mal nach seinem Ausweis gefragt wurde. Wenn seine Identität so wichtig war, wieso wurde sie bisher nicht überprüft?
Misstrauisch antwortete er: "Andre Lagosch"
"Aha"
Die alte Dame rückte ihre Brille zurecht und hackte weiter auf die Tastatur ein.
"Achtes Fach rechts. Der Schlüssel liegt auf dem Fensterbrett", meinte sie nach einer Weile beiläufig und deutete mit dem Kinn eine Bewegung in Richtung Fenster an.
"Dankeschön", sagte der Beamte schnell, nahm sich den Schüssel und öffnete das Eichentor.
Langsam, gleichmäßig schwangen die Flügel auf. Etappenweise gingen die Halogenlampen mit einem leisen "Klick" an der Decke an und gaben die Sicht auf einen langen, schlauchartigen Raum frei, an dessen rechter Wand sich ein riesiger Aktenschrank entlang zog. Je mehr Lampen angingen, desto klarer wurde Andre, wie lang dieser Raum sein musste. Klick. Länger als ein Haus. Klick. Länger als eine Bahnstation. Klick.
Andre beschloss, dass sein Gehirn auf eine optische Illusion hereinfiel und hörte deshalb mit dem Schätzen auf.
"Achtes Fach, Sie haben Glück!", sagte der Beamte gutgelaunt. "Stellen Sie sich vor, wir müssten zu einem vierstelligen Fach! Also das würde eine Weile dauern"
Andre sagte nichts mehr. Er bekam es zwar einerseits langsam mit der Angst zu tun, andererseits fühlte er sich nicht bedroht. Seine Neugier gab den Ausschlag: Er folgte dem Beamten in den Gang.
Dieser blieb vor der achten Reihe der Aktenschränke stehen und wandte sich an Andre: "Der Schlüssel passt in ihr Fach. Nur der Besitzer seiner Sachen darf sein Fach aufmachen", mit diesen Worten übergab er Andre den Schlüssel.
Andre, der sich bereits mit seiner Situation abgefunden hatte, haderte nicht lange und probierte seinen Schlüssel am erstbesten Fach aus, welches sich auch sofort öffnen ließ. Das Fach glitt auf und Andre warf einen Blick hinein. Im Regal lagen seine Autoschlüssel, aber auch Kuscheltiere und Spielsachen. Ein MP3-Player, den er als Kind einmal verloren hatte, lag dort, neben einer Wollmütze. Außerdem wackelten überall auf dem Boden verteilt schwarze Murmeln herum. Nein, keine schwarzen Murmeln. Murmeln, die das Licht in sich auffingen und nicht mehr nach draußen ließen. Er nahm eine Handvoll, um sie etwas näher zu betrachten.
Plötzlich, ohne Vorwarnung, schossen Bilder, Szenen und Gedanken durch seinen Kopf. Sie alle kamen ihm bekannt vor, er hatte sie alle schon gesehen, alle schon erlebt. Er fühlte sich, als würde er von einem Déjà-vu überflutet werden, als würde er ersticken. Panisch ließ er die Murmeln wieder los. Die meisten fielen zurück ins Regal, eine fiel aber zu Boden und zersplitterte in schwarzen Staub, der in einer Wolke verpuffte.
"Was zum Teufel war das?", war alles, was Andre zustande brachte.
"Das sind geistige Elemente, die Sie irgendwann einmal verloren haben. Erinnerungen, Ideen, solche Sachen", antwortete der Beamte ruhig.
"Ich nehme sie wieder mit", stellte Andre fest. Das war eine Feststellung, keine Bitte.
"Das dürfen Sie. Seien Sie aber vorsichtig: ein Mensch kann nicht unbegrenzt viele Gedanken im Kopf behalten. Wenn Sie diese Gedanken wieder aufnehmen, werden Sie andere verlieren, allerdings man kann nicht vorhersehen, welche. Und bis eben wussten Sie nicht einmal, dass Sie sie vermissten"
~~~
In fields where nothing grew but weeds
I found a flower at my feet
Bending there in my direction
I wrapped a hand around its stem
And pulled until the roots gave in
Finding there what I've been missing
And I know
So I tell myself, tell myself it's wrong
There's a point we pass from which we can't return
The Good Left Undone - Rise Against