1.
Als ich angekommen war, stand die Tür zum Treppenhaus offen. Eine große Glastür.
Ich möchte weinen, aber ich kann es nicht mehr. Unsicher betrete ich das Hochhaus und schließe die Tür, bevor ich langsam eine schwere Treppenstufe nach der anderen nehme. Die Tür ist geschlossen, denn der folgende Abschnitt geht nur mich etwas an, er ist klein und nur für mich. Er ist mühselig und scheint doch so lange zu dauern. Ich spüre den grauen Beton unter meinen Füßen. Das farblose Grau, es ist so simpel. SImpel ist angenehm, simpel brauchte ich jetzt. So schob ich meine Beine über sie rüber - sie wollten es nicht von selbst tun, wie sie es schon unzählige Male gemacht hatten - mich überall hingebracht hatten. Auf sie war einst Verlass gewesen, doch diese Aufgabe war zu schwer für sie. Diesmal musste ich mich höchstpersönlich um das Erreichen des Zieles kümmern.
Ich war im vierten Stock angekommen. Ich war außer Atem. In der Schule hatte ich den Sportunterricht gehasst und niemals hatte ich sonst das Haus verlassen, also besaß ich keine Ausdauer. Es war meine Schuld. Alles war meine Schuld. Ich hatte versagt und nun bekam ich die Konsequenzen zu spüren. Der vierte Stock hatte ein Fenster. Vielleicht sollte ich dort einfach hinaus springen? Es war zu klein, viel zu klein. Ich hätte die größe einer Katze haben müssen. Ich mag Katzen. Jede Etage war mit zwei Wohnungen bestückt. Die meisten Anwohner hatten Fußmatten oder sonstige WIllkommensschilder an ihre Türen gehängt oder gestellt. "WIllkommen, Komm Näher, Tritt ein." Sie lockten mich ins Verderben. Auf ein Schild hatte jemand mit krakeliger Schrift "Willkommen Dahoam" geschrieben. Ich hasse bairisch. Ich hätte gelacht, hätte ich gekonnt. Aber in diesem Moment war das Schild wundervoll. Es zeigte mir, dass diese Schriftzüge kein Leben besaßen, sie wollten mir nicht schaden, sie waren einfach nur ein paar Schilder in einem Treppenhaus. Ich prägte mir das Dahoam Schild genau ein. Dann lief ich weiter, vorbei an dem Fenster, das dort hereinstrahlende Licht hinter mich lassend.
Nicht, dass es dort dunkel war, nein, aber das Fenster gab mir helles Tageslicht, Sonnenlicht. Ich erhöhte mein Tempo, als würde ich vor dem Fenster, dem Licht, der Quelle unseres irdischen Lebens wegrennen. Nicht nur vom dem Fenster nein, sondern auch vor einem nicht existenten Verfolger, vor der Angst. Ich rannte vor der Angst weg, nach oben, in einem Treppenhaus. Ich kam dem Himmel immer näher, doch dort oben würde eine Sackgasse sein. Das Treppenhaus besitzt 22 Stockwerke und benötigt somit zwei Aufzüge. Ich würde den zweiten Aufzug nehmen. Aber bis zum 11ten Stock musste ich noch durchhalten. Ich rannte Stock um Stock, stolperte öfter fast, wäre mehrmals gestürzt. EIn Treppensturz wäre wohl besser gewesen. Die Angst hätte mich eingeholt und es wäre besser ausgegangen. Friedlich diskutieren, statt wegzurennen. Mit seiner Angst reden. Keinen Krieg führen, sich verbarikadieren. Diplomatie führt zum Erfolg. Ich war froh, dass es ein Treppenhaus war. Denn dort war ich für mich alleine. Nur mit mir selbst. Ich konnte mich selbst spüren, vor mir selbst flüchten, ich konnte nur an mich denken, es konnte nur um mich gehen. Es war so ein schöner, kleiner Moment in der Zeit. Es fühlte sich magisch an. Ich fühlte mich freier mit jedem Schritt.
Wieso habe ich nie das Haus verlassen?
Ich wurde leichter mit jedem Schritt.
Wieso habe ich nie mit Mama und Papa geredet?
Ich wurde glücklicher mit jedem Schritt.
Warum haben sie mich nicht verstanden?
Ich wurde glücklicher und leerer mit jedem Schritt.
Warum fühle ich so wenig?
Ich rannte vor meiner Angst weg und der Befreiung entgegen.
Wer bin ich?
Ich rannte der Leere entgegen.
Irgendwann hatte ich den elften Stock erreicht. Ich drückte auf den mattsilbernen Knopf. Es surrte. Ich erschrak. Es war nur ein Geräusch. Aber es kam nicht von mir. Ich hatte es nicht verursacht. Ich dachte, es geht um mich? Ein Gefühl, es vibrierte in meiner Hosentasche. Vorhin, auf dem Weg hierher hatte es schonmal vibriert. Ich weiß aber nicht, wann. Ich nahm das Handy aus meiner Hosentasche. Ein Gesicht schaute mich im Spiegelbild des schwarzen Bildschirms an. Es war wohl mein Gesicht, doch es war nicht ich. Es war das Gesicht, das ich jahrelang gesehen und ertragen hatte. EIn Gesicht mir so fremd und doch so nah. Mein Eigen genannt, doch von mir nicht akzeptiert. Ich war das nicht, ich wollte das nicht sein. Ich entsperrte den Bildschirm. Über dem SMS Icon ist eine rot eingekreiste zwei. Zwei neue Nachrichten. Nachrichten die ich nicht lesen will, Nachrichten die mich daran erinnern, dass es außerhalb dieses Treppenhauses noch etwas gibt. EIne große Welt. Einen riesigen Ort voller Menschen die weinen und lachen und leiden und sich freuen.
Papa: Warum bist du nicht in der Schule?
Mama: Wo bist du? Wir machen uns Sorgen, bitte komm nach Hause. Hab dich lieb.
Hab dich lieb.
Der Aufzug war angekommen. Was machte ich hier, wo war ich hier nur? Mein Handy vibrierte erneut, ein Anruf meiner Mutter. Ich nahm ihn an. Ich sagte nichts. Ich holte mir den zweiten Aufzug hoch, der lediglich bis zum elften Stock ging. Sie legte nicht auf. Sie konnte mich wohl atmen hören. Ich legte das Handy in den Aufzug und drückte auf EG - Erdgeschoss. Die Aufzugtüren gingen zu, es machte einen Ton. Aus dem Handy erklingt fragend und beunruhigt der Name eines Sohnes. Es kann nicht ich sein, denn ich bin kein Sohn, ich bin ein Mädchen. Ich hörte den Aufzug hinunter fahren. Es war unser Abschied gewesen. Ob sie es wohl wusste? Ob sie weinend die Polizei anrief? Ob sie immer wieder diesen Namen in das Telefon rief? Ob sie sich wunderte?
Werde ich sie wiedersehen?
Ich steige in den anderen Aufzug ein. Er hat keine Spiegel und dafür bin ich dankbar. Seine Wände bestehen aus grauem Metal. Zu meiner rechten ist die Stockwerkauswahl. Kleine Schilder diverser Arztpraxen stehen neben den Stockwerksangaben. Ich drücke den Obersten: Endgeschoss.
Endgeschoss. Ende.
Der Aufzug schließt. Es gibt keinen Weg zurück. Er fährt los. Es dauert nicht lange, vielleicht zwei Minuten - oder eine. Währenddessen streiche ich an dem Metall entlang. Ich drücke mein Gesicht dagegen. Ich rieche es, ich lecke es. Ich liebe es, denn ich werde es nie wieder sehen - es kommt mir so wertvoll vor, während mein Wert immer kleiner wird. Die Aufzugtüren springen auf. Ich trete hinaus. Hinter mir liegt das Leben und vor mir die Freiheit. Der hellblaue weite Himmel erstreckt sich vor mir.
Es ist wunderschön.
Der Aufzug fährt nicht zurück. Es benutzt ihn wohl keiner um diese Zeit. Tatsächlich war niemand im Treppenhaus gewesen. Es gab nur mich. Und auch hier gibt es nur mich. Der Aufzug fährt nicht zurück. Er signalisiert mir: Endstation. Hier ist es vorbei. Ich trete an den Rand der Dachterrasse. Meine Hände krallen sich in die weiße Brüstung. Für mich werden die Dinge noch simpler, als sie sind, während die Welt um mich herum sich wieder verkompliziert. Ich sehe Bäume, Menschen, Häuser, Cafes, ich höre, ich rieche. Es ist so wunderschön aus der Ferne, so wunderschön. Hier werde ich sterben. Endlich werde ich sterben. Ich stelle mich auf die Brüstung, doch ich habe vergessen meine Schuhe auszuziehen, also steige ich wieder herunter. Ich befreie mich von den Schuhen und ziehe die Socken aus. Ordentlich stelle ich meine Schuhe nebeneinander. Ein braunes Schuhpaar und eine rote und eine grüne Socke. Auch das finde ich wunderschön. Nach 16 Jahren sind es meine letzten Schuhe, die ich getragen habe. Es waren die schönsten Schuhe von allen. In diesem Moment hätte ich gerne geweint, so wie in vielen dramatischen Momenten, doch ich hatte es verlernt, meine Tränen und meine Emotionen waren versiegt und mit ihnen meine Freiheit. Ich steige wieder auf die Brüstung. DIe Angst hat mich eingeholt. Sie braucht keinen Aufzug. Sie kann den Schacht hochfliegen. Sie ist wieder bei mir. Sie hat einen Job zu erledigen und zwar, mich zu schützen. Heute wird sie Versagen. Sie wird auf ganzer Linie Versagen. Dafür wird sie gefeuert. Gefeuerte Emotionen haben aber keinen Ort zum Hingehören. Genau wie ich. Meine Angst macht mir ein Angebot. Sie bleibt bei mir, sie geht mit mir. Ins Nichts, in die Freiheit. In die lang gewünschte Freiheit. Das Ende. Es ist nicht schwarz, es ist nicht weiß, es ist nicht braun. Es hat keine Farbe. Es ist einfach nur das Ende. Ich wünschte ich hätte weinen können. Ich setze meinen linken Fuß nach vorne. Meine Beine zittern. Ich möchte nicht abrutschen. Ich setze meinen rechten Fuß nach vorne. Er steht auf dem nichts. Man würde sagen, er hängt über dem nichts, aber für mich steht er auf dem nichts. Ich setze mein linkes Bein noch einen weiteren Schritt nach vorne. Jetzt stehe ich mit allem was ich habe auf dem nichts. Ob sie mich sehen können? Die Leute in den Cafes und Geschäften? Ob die Bäume mich riechen können? Ob sie mich spüren? Vielleicht wird meine Asche einmal Dünger. Vielleicht bleibt nicht viel übrig.
Ich merke, dass ich zu schwer für das nichts bin. Meine Haare merken das auch. Sie möchten nach oben zurück flüchten. Ich falle. Sie ziehen an meinem Kopf, aber kommen nicht von mir weg. Ich falle und falle. Vorbei an Bäumen, vorbei an Liebe, vorbei am Leben. Ich sehe Erinnerungen, ich sehe Farben. Lichtstrahlen leuchten von der Seite in meine Iris. Das Licht wird falsch gebrochen. Ein Regenbogenstreifen verläuft durch mein ganzes Sichtfeld. Ich halte es bereits nicht mehr für nötig zu atmen. Ich weiß was vor mir liegt. ich spüre alles. Es wird schwarz, weiß, grau. Der Boden, er kommt näher. Ich fliege, ich falle, ich fliege, ich falle.
Es ist wunderschön.