Und damit ist der Vote der ersten Runde des Saisonfinales 2017 eröffnet!
Anders als in den vergangenen Jahren, wird es dieses Mal ein anderes Votesystem geben. Was geblieben ist, sind die optionalen Begründungen (für die Vote-Medaillen des Bereichs sind Begründungen allerdings notwendig). Wie funktioniert das Voting also dieses Jahr?
Wir haben uns beim Mapping-Bereich etwas abgeschaut und übernehmen deshalb das Voting der beliebten Aktion Map of the Month. Ihr könnt den jeweiligen Texten zwischen 1 (nicht gut) und 5 (sehr gut) Punkte vergeben. Halbe Punkte (wie 3,5 Punkte) sind ebenfalls möglich.
Saisonfinalteilnehmer erhalten für ihre Votes einen Votebonus.
Anm.: Votende Teilnehmer müssen ihre Abgabe nicht verraten. Vergebt an alle Abgaben Punkte, wie jeder andere Voter es auch tun muss und bei der Auszählung werden die Punkte, die ihr an eure eigene Abgabe vergeben habt, nicht gewertet.
Der Vote läuft bis zum 26.11.2017 23:59 Uhr.
Benutzt bitte diese Schablone zum Voten:
ZitatAlles anzeigenAbgabe 01 - x/5.0
Abgabe 02 - x/5.0
Abgabe 03 - x/5.0
Abgabe 04 - x/5.0
Abgabe 05 - x/5.0
Abgabe 06 - x/5.0
Abgabe 07 - x/5.0
Abgabe 08 - x/5.0
Abgabe 09 - x/5.0
Abgabe 10 - x/5.0
Zur Erinnerung, die Aufgabenstellung war folgende:
ZitatEure Aufgabe in dieser Runde besteht darin, eine kurze Geschichte zum Thema Bücher zu verfassen. Ihr habt dabei jeden Freiraum solange ein Buch oder mehrere Bücher in eurer Geschichte vorkommen und eine Rolle spielen.
Euch ist freigestellt, ob eure Abgabe einen Pokémonbezug hat. Beachtet jedoch, dass ihr in einer der drei Runden im Saisonfinale Pokémon eine Rolle spielen müssen.
Seit ich mich erinnern konnte, faszinierte mich die Macht des Wortes. Schon als kleines Mädchen schlug ich Bücher auf und schaute die Buchstaben an, ohne dass ich etwas verstand. Doch ich spürte bereits, dass das Wort die Kraft hatte, dem Zahn der Zeit zu widerstehen, wie dies Menschen nie können werden.
Meine Mutter spielte dabei eine wichtige Rolle. Sie förderte meine Leidenschaft von klein auf, indem sie mir jeden Abend ein Kapitel aus einem Buch vorlas. Ich hörte ihr jedes Mal wie gebannt zu. Später, als ich älter war und lesen konnte, brachte Mutter oft Bücher nach Hause. Ich verschlang eines nach dem anderen. Es waren die einzigen Geschenke, die ich bekam, und es war auch alles, was ich wollte. Bücher waren ein inniger Bestandteil der Beziehung zu meiner Mutter.
Es war deshalb nur natürlich, dass ich mit 15 Jahren auf ihren Rat hin eine Berufslehre im Buchladen meines Dorfes anfing. Es war ein kleiner, herziger Laden im untersten Stock eines Reihenhauses und über der Tür hing ein Schild an zwei kurzen Eisenketten, die im Wind quietschten. Die Besitzerin war eine alte, etwas schrullige Frau, die den Laden schon seit Jahrzehnten führte. Meine Mutter war aufgrund ihren häufigen Einkaufe hier gut mit ihr befreundet, so dass die beiden oft bei uns zu Hause zum Tee trafen. Ich arbeitete nun also dort.
„Deine ersten Bilderbücher habe ich damals deiner Mutter verkauft. Da warst du noch klein, und jetzt schau dich an, du bist so gross“, sagte die alte Frau, wenn ich die Regale entstaubte oder das Schaufenster neu einrichtete oder zu jeder anderen Gelegenheit, die ihr gerade passend erschien. Ich fand diesen Spruch peinlich und musste immer verlegen lachen. Doch irgendwo drin keimte dennoch ein Gefühl der Geborgenheit auf. Seit jeher war dieser Buchladen mit meinem Leben verstrickt, erst über meine Mutter und nun direkt. Er war Teil meiner Identität.
Obwohl die Konkurrenz durch die grossen Ketten, die in den umliegenden Städten wie Pilze aus dem Boden schossen, hart war, konnten sich die alte Frau und ich gut über Wasser halten. Die Segnungen des Internets kompensierten unsere kleine Auswahl vor Ort, so dass wir immer auf eine treue Stammkundschaft setzen konnten. Da war zum Beispiel der Biologieprofessor, der Bücher über exotische Frösche bestellte, oder die frischgebackene Mutter, die jede Woche einen neuen Erziehungsratgeber kaufte. Sie wuchsen mir mit jedem Ladenbesuch etwas mehr ans Herz. Ich liebte meinen Job.
Auch Jahre später, nachdem ich meine Ausbildung längst abgeschlossen hatte, war meine Leidenschaft fürs Buch noch immer ungetrübt. Nicht nur auf der Arbeit, auch in meiner Freizeit umgab ich mich immer mit Büchern und ich verbrachte einen grossen Teil davon mit Lesen. Jedes Mal, wenn ich ein Buch in die Hand nahm und es aufschlug, sah ich vor meinem inneren Auge meine Mutter, wie sie auf meinem Bettrand sass und genau wie ich das Buch aufschlug, um mir etwas vorzulesen. Dieses Bild erfüllte mich mit tiefer Ruhe und Geborgenheit. Ich war in der Welt der Wörter zu Hause.
***
Am Tag, an dem meine Mutter starb, hatte ich frei. Ich war mit einer Freundin in die Stadt gefahren, um einkaufen zu gehen, als plötzlich mein Telefon klingelte. Es war mein Vater. Mit tränenerstickter Stimme erzählte er mir, dass meine Mutter vor wenigen Stunden in einen Autounfall verwickelt wurde. Im Spital sei sie dann gestorben. Ich war wie vom Blitz getroffen. Auf der Stelle angewurzelt, verschwamm mein Sichtfeld um mich herum, ich spürte, wie sich mein ganzes Blut im Innersten des Körpers zusammenzog und einen Hohlraum zurückliess, der mit unglaublicher Geschwindigkeit meinen ganzen Körper erfüllte. Ich war so leer, dass ich nicht einmal mehr Tränen hatte, um zu weinen.
Meine Freundin redete mit einem besorgten Gesicht auf mich ein, doch ich verstand nicht, was sie sagte. Ich verstand nicht, was mein Vater mir durch den Hörer sagte, den ich noch immer verkrampft gegen mein Ohr drückte. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Dann plötzlich spürte ich, wie mein Blut wieder durch meine Adern schoss. Und mit dem Blut kam der Schmerz. Er explodierte regelrecht in meinen Arterien. In einem Weinkrampf liess ich mich zu Boden fallen, der Bildschirm des Telefons zersplitterte in 1000 Stücke. Doch das war mir egal. Ich hatte das Gefühl, dass ich für immer weinend auf der Strasse sitzenbleiben würde.
Doch mein Leben ging weiter. Quälend langsam schlichen die Minuten voran und ich kam mir vor, als müsste ich unendlich lange einen dunklen Tunnel entlanggehen. Kein Licht, keine Hoffnung, keine Freude. Die Trauer und der Schmerz haben sie aus mir vertrieben.
Ohne Mutter war es schrecklich leer im Haus. Hinter jeder Tür, nach jeder Ecke meinte ich, ihr fröhliches Gesicht zu sehen. Doch es waren Hirngespinste. Wunschträume. Wunschalbträume. Mein Vater war mir auch keine Hilfe. Er war ein einziges Wrack und er verbrachte die meiste Zeit bei seinen Eltern 200 Kilometer entfernt.
Am schlimmsten war es aber im Buchladen. Immerzu umgeben von Büchern. Das alte, idyllische Bild meiner Mutter am Bettrand stieg in mir auf, doch statt des liebevollen Lächelns starrte eine leere Fratze direkt in mein Herz, dorthin, wo es am meisten schmerzte. Jedes Mal, wenn ich ein Buch anfasste, brannte sie sich von neuem in mein Gedächtnis. Plötzlich liess ich das Buch, das ich gerade in meinen Händen hielt, fallen, rannte zur Tür hinaus ins Freie und schrie. Ich schrie laut und lange und es war mir egal, wenn die Leute komisch schauten. Ich schrie, bis mir die Luft ausging. Keuchend stand ich auf der Strasse, als plötzlich das Glöckchen der Ladentüre ertönte und die alte Frau hinaustrat.
„Mein armes Kind. Komm herein, ich habe heisse Schokolade gemacht“, sagte sie mit einem warmen Lächeln. Doch auch in ihren Augen konnte man die Trauer sehen.
Ich schleppte mich kraftlos auf die Ladentüre zu und quälte mich unendlich langsam durch die Regalreihen zum Hinterzimmer. Tatsächlich standen dort zwei dampfende Tassen Schokolade. Die alte Frau sass schon an ihrem gewohnten Platz, das rote Sitzkissen aus Samt bequem hinter ihrem Rücken platziert. Ich liess mich auf den Plastikstuhl gegenüber fallen und ergriff die Tasse mit beiden Händen.
„Es ist hart, geliebte Menschen zu verlieren“, begann die alte Frau. „Ich selbst habe viele geliebte Menschen gehen lassen müssen. Insbesondere mein Mann… Das war sehr schwierig für mich. Doch egal wie dunkel es ist, egal wie weh es tut, es wird wieder besser. Nicht genau gleich wie zuvor, aber anders.“
Ich starrte in die leere Tasse. Es wurde nicht besser, und es fühlte sich nicht so an, als ob es je besser würde.
„Man muss sich auf andere Gedanken bringen, mein Kind. Zum Beispiel auf Reisen gehen. Das wäre doch was für dich“, meinte sie.
„Ich will nicht reisen“, grummelte ich trotzig. Ich war viel zu müde, die Trauer machte die Glieder und den Kopf schwer. Jetzt noch eine anstrengende Reise, nein danke!
„Ach, komm. Es wird auch ganz ruhig. Wir gehen in ein Kloster. Morgen schon fährt der Zug nach Italien“, sagte die alte Frau mit einem leisen Grinsen, wie ein kleines Kind, das soeben seinen Freund hereingelegt hat.
„Was, du hast etwas gebucht?“, fuhr ich auf.
„Ja“, sagte sie, und das Grinsen wandelte sich zu einem verschmitzten Lächeln.
„Ich komme nicht mit“, antwortete ich. Reisen war doch Realitätsflucht. Und wenn mir meine Mutter eines eingebläut hatte, dann, dass man sich seiner Realität stellen sollte.
„Wieso denn nicht?“, fragte sie.
„Weil… Weil jemand muss doch den Laden offenbehalten, und ich will nicht einfach auf und davon und meinen, ich könnte in der Ferne glücklich sein! Ich muss hier wieder glücklich werden. Hier! Nicht in Italien“, rief ich energisch aus.
„Es ist ja nicht irgendeine Reise, mein Kleines. Wir gehen in ein Kloster, und-“
„Kloster hin oder her, das ist mir doch egal, ich glaube nicht einmal an Gott!“, unterbrach ich sie.
„Lass mich doch ausreden. Es ist nicht irgendein Kloster. Es das letzte Kloster in ganz Europa, wo die Mönche noch von Hand Bücher abschreiben. Das ist so ursprünglich, wie es nur geht
„Bücher! Ausgerechnet Bücher! Du weisst doch, was mir Bücher bedeuten! Nichts mehr! Seit Mutter gestorben ist, sind Bücher nur noch scheisse! Weisst du was? Ich gehe jetzt. Ich bin fertig. Geh doch alleine auf deine Traumreisen nach Italien, das ist mir scheissegal! Ich habe genug!“
Mit Tränen in den Augen liess ich sie im Hinterzimmer sitzen und stürmte laut fluchend aus dem Laden. Voller Wut rannte ich nach Hause, wo ich vor meiner Haustür zusammenbrach und bitterlich weinte.
Schweissgebadet fuhr ich auf. Noch immer sah ich die gesichtslosen Fratze, die mich von meinem Bettrand bis zu einer Klippe gejagt hatte. Ich sprang, und im nächsten Moment war ich aufgewacht. Ich schaute auf den Wecker. Fünf Uhr morgens. Es dämmerte schon und mein Zimmer war von einem Halbdunkel erfüllt, feinste Staubflocken tanzten in den Lichtstrahlen, die durch die Latten der Fensterläden drangen. Ich hatte wenig geschlafen, doch ich fühlte mich hellwach. Wie immer bohrte sich der Schmerz in mein Herz wie Minenarbeiter in den Berg, doch neu war der bittere Beigeschmack, der alles noch mieser machte als üblich. Es war das schlechte Gewissen. Wie konnte ich nur so grausam sein? Die alte Frau wollte mir doch nur helfen. Und ich habe sie abgekanzelt, ohne jegliche Rücksicht. Mein Magen zog sich noch enger zusammen und ich hatte das Gefühl, gleich ab mir selber erbrechen zu wollen. Nach einigen Minuten ohne Besserung beschloss ich, dass ich die Sache in die Hand nehmen musste. So konnte es nicht mehr weitergehen. Ich stand auf, machte mir etwas Kaffee. Ganz schwarz, wie jeden Morgen, seit meine Mutter gestorben war. Eine Tasse trank ich selbst, den Rest füllte ich in eine Thermosflasche. Noch im Schlafanzug schlich ich mich aus dem Haus, die Flasche fest an die Brust gedrückt. Sie war angenehm warm.
Auf der Strasse war es völlig leer. Nur das ferne Bellen eines Hundes liess mich wissen, dass ich nicht das einzige Lebewesen war, das um diese Zeit schon wach war. Ich ging die paar Minuten zum Buchladen und schloss die Türe auf. Das kleine Glöckchen erklang übernatürlich laut. Auf leisen Sohlen schlich ich durch die Regale. Wen könnte ich überhaupt wecken? Ich wusste es nicht und dennoch schien es mir angebracht, möglichst leise zu sein. Im Hinterzimmer angekommen, sah ich die beiden Tassen von gestern abgewaschen neben dem Lavabo stehen. Sie waren über Nacht getrocknet. Ich öffnete den Küchenschrank und es klirrte fein, als sie beim Versorgen an die anderen Tassen stiessen. Dann setzte ich mich mit der Thermosflasche an den Tisch und wartete.
Eine Stunde später, gegen halb sieben, hörte ich einen Schlüssel im Schloss drehen und die Türe öffnete sich. Die Glocke hallte wieder so übernatürlich laut durch den Raum und es fuhr mir kalt den Rücken hinunter. Zweifel kamen auf. Was hatte ich mir überhaupt dabei gedacht, einfach so am frühen Morgen in den Laden kommen? Was würde die alte Frau bloss sagen? Doch es war zu spät, ich war nun mal da. Die Knie zum Kinn hochgezogen sass ich starr auf dem Stuhl.
„Mein Kind, was machst du denn hier?“, rief die alte Frau als sie mich erblickte. Sofort liess sie ihre Handtasche zu Boden fallen und umarmte mich so fest sie konnte. Ich rührte mich nicht, nur eine einzelne Träne kullerte über meine Wange.
Die alte Frau löste die Umarmung und schaute mich an. Sekunden vergingen, und mit jeder schämte ich mich mehr dafür, an einem so guten Menschen auf eine so egoistische Weise meine Trauer ausgelassen zu haben.
„Ich habe etwas Kaffee gemacht“, sagte ich endlich, „als Entschuldigung für gestern.“
„Das wäre nicht nötig gewesen“, meinte sie und lächelte mich liebevoll an. „Das passiert manchmal.“
„Ich fühle mich noch schlechter als zuvor“, sagte ich und schlug die Augen nieder. Sie sagte nichts mehr. Still sassen wir uns gegenüber, wie am Tag zuvor, und tranken Kaffee.
„Wo bleiben eigentlich die Kunden?“, fragte ich nach einer Weile.
„Die kommen heute nicht. Ich habe den Laden geschlossen, weil ich wegfahre“, antwortete sie. „Ich habe deine Fahrkarten noch, falls du doch mitkommen willst.“
„Darf ich denn?“, fragte ich.
„Sicher, mein Kind, nichts wäre mir lieber als das.“
***
Das Kloster lag in einem Laubwald, dessen frühlingshaftes Grün die ganze Umgebung in eine fast gespenstisch anmutende Natürlichkeit tauchte. Der Bau selbst war alt und schon lange nicht mehr renoviert worden. Dicke Sprünge klafften im Marmorboden der Eingangshalle und die angrenzende Kirche war eine halbzerfallene Ruine, die langsam durch den Wald erobert wurde.
Den wenigen Mönchen, die noch hier lebten, schien das wenig auszumachen. Sie gingen scheinbar sorglos ihrem Alltag nach, beteten, pflegten ihren kleinen Gemüsegarten oder philosophierten im Kreuzgang. Am wichtigsten war jedoch die Abschrift.
Bruder Josephus führte mich und die alte Frau in die Bibliothek. Es könne nur am Tag abgeschrieben werden, denn im Kloster habe es kein elektrisches Licht, erklärte er uns.
In der Bibliothek war bereits ein anderer Mönch, der sich gerade über einen alten Schinken beugte. Fasziniert schaute ich ihm zu, während er den Federkeil mit vorsichtigen Bewegungen über das Papier fahren liess und feste, schwarze Tinte zurückblieb. Was auch immer er gerade abschrieb, ich war mir sicher, dass es ungeheuer wichtig war.
Nach dem Abendessen wurden wir in unser Zimmer geführt, das ich mit der alten Frau teilte. Es war klein und wurde nur durch eine Öllampe erhellt. Durch das Fensterchen konnte man die schemenhaften Umrisse des Waldes im Mondlicht erkennen. Müde wie wir waren, legten wir uns sofort schlafen.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ich verspürte ein merkwürdiges Ziehen in meiner Brust und war ganz aufgeregt. Plötzlich wusste ich: Ich musste zurück in die Bibliothek. Leise, um die alte Frau nicht zu wecken, stand ich auf, zündete die Öllampe an und schlich mich aus dem Zimmer. Es war alles still. Auf dem Tisch in der Bibliothek lag noch immer dasselbe Buch wie am Nachmittag. Ich setzte mich auf den Stuhl und hielt die Öllampe so, dass ich die Schriftzeichen betrachten konnte. Obwohl ich sie nicht verstand, spürte ich, wie in ihnen die Kraft von Jahrtausenden innewohnte. Ich fühlte mich wieder wie als kleines Kind.
„Was machst du da?“, erklang es plötzlich hinter mir. Ich fuhr herum und sah im gelblichen Schein das Gesicht von Bruder Josephus.
„Ich musste die Bücher anschauen. Entschuldigung“, murmelte ich kleinlaut.
„Es ist in Ordnung. Sie sind eben schon faszinierend, nicht?“, meinte er und setzte sich neben mich.
„Ich habe meine Mutter verloren“, begann ich auf einmal, „und seither hasste ich Bücher. Sie waren immer wie der Inbegriff meiner Liebe zu ihr, und als sie verschwand, so verschwand auch meine Liebe zu den Büchern. Doch diese hier, die sind irgendwie anders.“
„Sie sind von Gott, und Gott hilft den Menschen in Not“, sagte Bruder Josephus mit ernster Miene.
„Aber ich glaube nicht einmal an Gott“, sagte ich.
„An was glaubst du denn?“, fragte er.
„Ich weiss es nicht… Ich glaube an das Wort“, antwortete ich.
„Vielleicht ist das gar nicht so verschieden, wie du denkst“, sagte er. Dann stand er auf und ging hinaus. Ein warmes Gefühl ergriff mich und zum ersten Mal seit langer Zeit war ich glücklich.
Das Buch ohne Titel
„Hey, June?“
Noahs Stimme schallte seltsam lange nach, bis seine Worte ihren Weg zurück an sein Ohr fanden.
„Was denn?“, hörte er das Mädchen hinter ihm antworten. Sie saßen Rücken an Rücken, deswegen konnte Noah sie nicht sehen. Er spürte nur die Wärme ihres Körpers und ihren gleichmäßigen Atem. Als Noah den Kopf in den Nacken legte, sah er das weiße Nichts über ihm. Sie waren alleine in diesem leeren Ort. Keine Erde und kein Himmel. Weiß, so weit das Auge reichte.
„Erinnerst du dich noch an das Buch?“
Für einen Moment blieb alles still. Noah hörte nur das seltsam hohle Echo seiner Stimme. Irgendwann spürte er ein unterdrücktes Lachen hinter ihm.
„Na klar. Wie könnte ich das auch vergessen?“ June stieß einen theatralischen Seufzer aus. „Ich will mir jedes Mal einen Kopfschuss verpassen, wenn ich daran denke.“
„So schlimm war es auch nicht“, schmunzelte Noah, aber sie wussten beide, dass das eine Lüge war.
June antwortete nicht und er war sich nicht ganz sicher, ob sie in ihrem Schweigen an einer geistreichen Antwort arbeitete oder sich selbst in den peinlichen Erinnerungen ertränkte. Irgendwann richtete sie sich etwas auf, bis ihr Hinterkopf gegen seinen Nacken lehnte. Als sie noch Kinder gewesen waren, hatte June ihn immer ein kleines Stück überragt. In den letzten Jahren hatte sich das beinahe schlagartig geändert, was für einige Sticheleien von Noahs und viele böse Blicke von Junes Seite sorgte.
„Was ist mit dem Buch?“, fragte June und drehte den Kopf nur so weit, dass sie aus dem Augenwinkel die Seite seines Gesichts sehen konnte. Sie beobachtete ihn genau, das konnte Noah förmlich spüren. Wenn June wollte, dann entwickelte seine Freundin diesen fürchterlichen Röntgenblick, der sich anfühlte, als würden sein ganzer Körper Stück für Stück aufgelöst werden.
„Ich weiß nicht“, nuschelte Noah und vergrub seine untere Gesichtshälfte in seiner Hand, was den Rest des Satzes nahezu unverständlich machte. „Hab mich nur gerade daran erinnert.“
June machte ein Geräusch, das wie eine merkwürdige Mischung aus Stöhnen, Seufzen und amüsiertem Grunzen klang, und drehte ihren Kopf dann wieder nach vorne.
„Ich hab‘s hier. Das Buch“, stieß June dann nach einer Weile aus.
„Warum das?“, antwortete er betont uninteressiert, aber damit täuschte er nicht einmal sich selbst, so sehr er es auch versuchte.
„Zwei Dumme, ein Gedanke, schätze ich.“ Er hörte June hinter sich lachen, dann ein dumpfes Geräusch von etwas Schwerem, das auf den Boden fiel. Er wusste, dass es das Buch sein musste. Woher seine Freundin es plötzlich hatte oder woher er wusste, dass es das Buch war, ohne es zu sehen, waren Dinge, über die er sich vermutlich Gedanken machen sollte. Tat er aber nicht.
Als er das Geräusch von raschelndem Papier hörte, horchte Noah auf.
„Willst du wirklich darin lesen?“, fragte er und schnitt eine Grimasse.
„Wenn wir es schon einmal hier haben“, antwortete June. Für eine Weile gab es nur das Geräusch von Seiten, die umgeschlagen wurden. Dann stieß sie ein trockenes Lachen aus und Noah konnte sich den beinahe angeekelten Ausdruck auf ihrem Gesicht nur zu gut vorstellen. „Okay… Vielleicht improvisieren wir ein bisschen. Ein bisschen viel.“
Noah fuhr sich über die Stirn, konnte aber nicht anders, als etwas zu grinsen. Als die ersten Worte aus Junes Mund kamen, schloss er die Augen und rutschte ein Stück tiefer, bis ihre Köpfe auf einer Höhe waren.
„Es war einmal, vor langer Zeit, ein Junge, der lebte mit seiner Familie am Rande einer alten Stadt. Ihr Haus war gebaut aus braunen Backsteinen, hatte ein Dach aus Stroh und war umgeben von hohen, mächtigen Bäumen und saftigem, grünem Gras. Der Vater arbeitete bei einem Bauern und die Mutter war eine Wäscherin. Der Junge aber war noch nicht alt genug um zu arbeiten. Und so verbrachte er seine Tage damit, vor dem Haus zu spielen.“
Ihre Worte schallten durch die weiße Unendlichkeit um sie herum. Noah hörte den fernen Chor ihrer Echos, ein leises Wispern in der Leere. Einige Zeit lang war da nur Junes Stimme und sonst nichts.
Aber irgendwann… Irgendwann spürte er ein leichtes Beben. Es war kaum merklich und doch da. Als Noah die Augen öffnete sah er gerade noch, wie das endlose Nichts aufsprang.
In der Ferne trennten sich Himmel und Erde. Das Weiß über seinem Kopf wich blassem Blau, das wie Wasserfarbe auf einem Blatt Papier immer weiter in das Nichts sickerte. Auf dem Boden breitete sich eine Lache aus Grün aus. Stück für Stück schwemmte sie an ihn und June heran. Als sie näher kam, sah er die Grashalme, die aus der Erde hervortraten, kleine, grüne Pflanzenfinger, die sich der jungen Sonne entgegenstreckten. Ein sanfter Windhauch trieb das Gras gegen seine Beine und leitete die Wolken über den Himmel. Noah spürte die leichte Umarmung der Wärme, die die Sonne über ihren Köpfen aussandte. Im Grün brach der Boden auf und dünne Äste gruben sich hinaus, wuchsen in die Höhe und trieben auseinander. Ihre Stämme wurden dicker, Knospen sprangen tausendfach überall an den Bäumen auf und wurden zu großen, dunkelgrünen Blättern, die die Landschaft hinter ihnen verschleierten und die Luft mit dem Geruch des Waldes füllte. Als Noah sich umsah, entdeckte er ein unscheinbares Haus, die Wände aus alten, braunen Backsteinen und das Dach aus gebundenem Stroh.
„Eines Tages entschied sich das Junge dazu, in den Wald zu gehen. Also nahm er eine alte Tasche und legte einen Laib Brot hinein. Dann trat es aus der Tür hinaus und stellte sich in die Mitte der Lichtung. Er schloss die Augen, drehte sich im Kreis, bis ihm schwindelig wurde, und blieb dann stehen. Dann marschierte er einfach geradeaus, tief in den Wald hinein.“
Die Tür des kleinen Hauses sprang auf und heraus trat ein Junge von 7 Jahren. Sommersprossen tanzten auf seinem runden Gesicht und seine braunen Augen fuhren über die ganze Lichtung, immer auf der Suche nach etwas Interessantem. Der Wind fuhr dem Jungen durch das unordentliche braune Haar, das sicherlich in letzter Zeit keine Bürste mehr gesehen hatte. Aber viel wichtiger war…
„Hey, er ist viel zu klein“, raunte Noah mit einem kritischen Blick. „Ich hab ihn größer in Erinnerung.“
„Natürlich hast du das“, schmunzelte June zurück und drückte ihm leicht den Ellbogen in den Rücken. „Aber ob es dir gefällt oder nicht, er war wirklich so klein.“
„Unsinn“, grummelte Noah.
„Okay, dann mach du weiter.“
Ohne eine Vorahnung flog etwas in hohem Bogen über seinen Kopf und direkt in seinen Schoß. Mit einem dumpfen Knall landete der dunkelrote Einband auf seinen Beinen, was ihm einen überraschten Fluch entlockte.
Das Buch sah genauso aus, wie in seiner Erinnerung. Wenn auch wesentlich älter und ausgeleierter als früher, aber das blieb vermutlich nicht aus, wenn es über Jahre hinweg in irgendwelchen Kellern lag und Feuchtigkeit sich einnistete wie ein ungewollter Untermieter. Als Noah über das dunkelroter Leder des Umschlags fuhr, fühlte es sich weich und kühl an. Es stand kein Titel darauf, denn sie hatten sich nie auf einen einigen können.
Noah hob den Deckel des Buches an und schlug einige Seiten um, während er aus dem Augenwinkel beobachtete, wie der Junge mit seiner Tasche in der Hand munter Kreisel spielte. Hätte Noah nicht darauf geachtet, wäre es ihm wohl nicht aufgefallen, aber noch in der Drehung wuchs er ein ganz kleines Stückchen.
„Ernsthaft?“, hörte Noah June hinter sich lachen und zuckte kaum merklich zusammen. Er spürte, wie die Wärme ihres Körpers verschwand und sie sich vorbeugte. Gerade, als er sich umdrehen wollte, legte sie ihre Hände auf seine Schultern. Ihr Gesicht schwebte ein Stück hinter seinem, aber so sehr Noah auch mit den Augen rollte, er sah nur ihre Nasenspitze. Grummelnd wandte er sich wieder dem Buch in seinem Schoß zu.
Für eine Weile versuchte er, die krakelige Kinderschrift zu entziffern, gab sich aber dann geschlagen. Nicht schlimm. Er erinnerte sich sowieso noch an alles, was sie damals geschrieben hatten.
Mit einem Räuspern legte er seinen Finger auf eine wahllose Stelle auf der aufgeschlagenen Seite und begann zu erzählen, genau in dem Augenblick, in dem der Junge in den Wald verschwand.
„Der Junge wunderte lange, lange Zeit durch das Dickicht des Waldes. Jeder Schritt trug ihn weiter weg von zu Hause, aber er hatte keine Angst. Egal, wie oft er stolperte und wie dunkel die Welt um ihn herum wurde, er ging mutig weiter.“
Es fühlte sich beinahe so an, als würden sie schweben, als der Boden unter ihnen sich bewegte, Noah und June aber wie an einer Stelle fixiert sitzen blieben. Das Haus und die Lichtung verschwanden hinter ihnen und die Bäume kamen näher, als sie den Jungen verfolgten, der durch das Dickicht stapfte. Die Sonne verschwand hinter den dichten Baumkronen und mit ihr die Wärme. Noah spürte eine leichte Gänsehaut auf seinen Armen.
„Irgendwann tat sich die Dunkelheit auf. Inmitten des Waldes fand er eine Wiese mit schneeweißen Blüten. Und dort, in diesem Feld aus Blumen-“
„Dort fand er ein Mädchen.“
June hatte ihm einfach eine Hand vor den Mund gehalten und dann übernommen. Noah zog ihre Finger von seinem Gesicht und grummelte einen gespielt beleidigten Kommentar, hielt dann aber das Buch so hoch, dass June hinter ihm es problemlos lesen konnte.
Vor ihnen sahen sie wieder das gelbe Licht der Sonne. Als die Welt zum Stehen kam, saßen sie inmitten einer Lichtung, unter ihnen eine Wolke aus weißen Blütenblättern. Und direkt vor ihnen stand sie.
„Das Mädchen war so blass wie die Blüten um sie herum und hatte Haar wie flüssiges Gold. Als der Junge langsam auf die Lichtung stolperte, richtete sie ihre blauen Augen auf ihn. Einen Moment lang beobachteten sich die beiden. Dann, weil es langweilig war, nur in der Gegend herumzustehen, ging der Junge zu dem Mädchen herüber. Er griff in seine Tasche und holte das Laib Brot heraus. Ohne ein Wort brach er es und reichte dem Mädchen die eine Hälfte.“
Der Junge stolperte im wahrsten Sinne des Wortes und vermied nur durch wildes Wedeln mit den Armen den bevorstehenden Kuss mit dem Boden. Ein kleines, kaum merkliches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mädchens, da überbrückte er die Distanz zwischen ihnen und kramte eine gefühlte Unendlichkeit lang in seiner Tasche.
„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er so ungeschickt war“, raunte Noah über seine Schulter. „Und das Mädchen hatte mehr Ähnlichkeit mit einem begossenen Pudel!“
„Gar nicht wahr!“, gab June zurück und gab ihm den wohl schwächsten Klaps auf den Hinterkopf den die Welt je gesehen hatte.
„Oh doch, ich weiß es noch genau!“, antwortete Noah ihr und übernahm wieder.
„Das Mädchen war fürchterlich hungrig und froh darüber, dass der Junge so freundlich zu ihr war. Sie erzählte ihm, dass sie schon lange niemand besucht hatte und dass sie schrecklich einsam gewesen sei. ‚Fürchte dich nicht!‘, antwortete da der Junge und versprach, dass sie jetzt nicht mehr alleine sein würde, denn er würde jeden Tag kommen und mit ihr spielen.“
Vor ihren Augen verlor das Mädchen etwas von ihrem übertriebenen, überirdischen Glanz, und, um noch ein wenig Salz in die Wunde zu streuen, auch etwas von ihrer Größe, was June mit einem protestierenden „Hey!“ kommentierte.
„Und der Junge hielt Wort. Jeden Tag besuchte er das Mädchen auf seiner Lichtung und spielte mit ihr im Wald. Und so wurden die beiden unzertrennlich.“
Noah beobachtete für einen Moment die Kinder auf der Blumenwiese. Im ersten Augenblick jagten sie einander lachend, im nächsten saßen sie zwischen den weißen Blüten und flochten Kränze, die sie sich gegenseitig auf den Kopf setzten. Zuletzt lagen sie nebeneinander, den Blick in den Himmel gerichtet, wo die Wolken vorbeizogen.
„Doch eines Tages, als der Junge die Lichtung betrat, da war seine Freundin weg.“
Ein Schatten zog über sie hinweg. Einen Laib Brot in der Hand stand der Junge am Rande der Lichtung und blickte sich suchend um.
Noah sah die Sorge in seinen Augen und lächelte schwach, als er die Hände vor seinen Mund hielt und nach seiner Freundin rief. Es kam keine Antwort.
June hinter ihm legte ihre Arme um Noahs Hals. Er spürte ihren Atem auf seiner Wange, als sie weiter las.
„Die weißen Blumen der Lichtung waren ausgetrocknet und kahl. Unter den verdorrten Stängeln konnte er die trockene, braune Erde sehen, die sonst immer verdeckt gewesen war.“
Vor ihren Augen verwelkten die Blumen und zerfielen, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb. Der Junge versuchte noch, nach ihnen zu greifen, aber es war zu spät.
Noah atmete einmal tief ein und fuhr dann fort:
„Aber der Junge dachte nicht daran, aufzugeben. Bestimmt war seine Freundin verschwunden, weil die Blumen verwelkt waren. Wenn er neue pflanzte, dann würde sie zurückkommen, ganz bestimmt. Also machte er sich an die Arbeit. Über Tage, Wochen und Monate hinweg kam er zur Lichtung und pflanzte neue Blumen, goss sie und kümmerte sich um sie.“
Noah sah zu, wie der Junge mit bloßen Fingern den Boden umgrub und kleine Samen in die Erde drückte. Er schaufelte sie zu, holte eine Tonphiole aus seiner Tasche, zog den Stöpsel ab und ertränkte die Saat beinahe in Wasser.
„Du übertreibst“, raunte June. „Es war doch nur eine Woche.“
„Für ihn hat es sich aber länger angefühlt“, entgegnete Noah und lächelte, als die ersten Knospen aus dem Boden trieben. Mehr und mehr gesellten sich dazu, bis die Lichtung voll war mit neuen Pflanzen.
Und dann, alle auf einmal, sprangen die Knospen auf. Und inmitten des Meeres aus weißen Blüten...
„Und als die Blumen endlich blühten und die Lichtung wieder in weiß erleuchtete, da kam sie zurück zu ihm. Und sie schworen sich, dass sie sich niemals wieder trennen würden.“
Der Junge und das Mädchen standen sich gegenüber. Vorsichtig, beinahe, als hätte er Angst sie zu verscheuchen, hob der Junge seine Hand. Doch bevor er sie berühren konnte, zog das Mädchen ihn in seine Arme.
„Du bist so dramatisch“, kicherte June. Auf Noahs Lippen breitete sich ein Lächeln aus.
Für einen Moment schwiegen sie und beobachteten die Kinder in ihrer stillen Glückseligkeit.
„Noah?“
„Hm?“
„Wir bleiben immer zusammen, richtig?“ June war so nah bei ihm. Ihr warmer Atem jagte ihm einen Schauer über den Rücken. „Das hast du mir damals versprochen.“
Langsam nickte er.
„Dann musst du dein Versprechen auch halten.“
Er versuchte, sie anzusehen. Aber egal, wie sehr er auch wollte, er konnte seinen Kopf nicht drehen.
„Lass mich nicht alleine, Noah.“
Sein Herz pochte schneller, lauter. Junes Stimme wurde zu einem bloßen Flüstern.
„Wach auf. Bitte.“
Als er die Augen öffnete, sah er nur weiß. Eine weiße Zimmerdecke, ein weißes Laken, weiße Vorhänge an einer weißen Wand. Sieben Glasvasen mit weißen Blumen, sein eigenes kleines Meer aus Blüten.
Noahs Atem ging rasselnd. Sein Körper kribbelte, noch nicht ganz wach und wie gelähmt von seinem Schlaf. Es bereitete ihm Mühe, auch nur seinen Kopf zu drehen. Aber als er es schaffte, breitete sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Neben seinem Bett, die Beine angezogen auf einem dunklen Leder-Sessel, schlief sie.
June.
Seine June.
Und in einer festen Umarmung in ihren Armen, als fürchte sie, dass jemand ihn wegnehmen könnte, hielt sie den alten, dunkelroten Einband ohne Titel.
Der kondensierte Atem, dem Ben Schwarz mit einem Seufzer in nebligen Schwaden entglitt, kontrastierte den frühabendlichen dunklen Himmel und verdeutlichte dem Geschäftsmann einmal mehr, dass der Winter nahte. Ben bereute, dass er seinen Pelzmantel im Büro liegen ließ und nun mit nichts als seinem neuen Dreiteiler und einem schweren Aktenkoffer durch die kalte Herbstluft marschierte, um sein letztes Geschäft für diesen Tag abzuschließen. Nervös beobachtete er wie sein Seufzer zuerst in dünne, weiße Wolken emporstieg und sich schließlich ins Nichts auflöste. Ben hatte seinen Bruder gebeten die nötigen Vorbereitungen für das kommende Geschäft zu treffen und kam nun nicht umhin sich dabei zu ertappen, immer wieder auf seine Taschenuhr zu starren. Er hatte seinem Bruder eine Stunde Zeit gegeben Bens Geschäftspartner in Empfang zu nehmen; eine Tätigkeit, die Kaspar nun schon viele Male für ihn erledigt hatte. Doch in letzter Zeit hatte Bens Bruder des Öfteren über die Stränge geschlagen und zu viel Aufmerksamkeit auf die Arbeit der Familie Schwarz gelenkt. Das erschwerte erfolgreiche Transaktionen ungemein und machte das Aufräumen hinterher um einiges teurer.
Ben verdrängte seine Sorgen jedoch schnell, als er vor dem Eingang einer alten Lagerhalle zum stehen kam. Seine goldene Uhr zeigt nun genau siebzehn Uhr an, es war Zeit Herr Gottlieb zu treffen. Ben nickte zwei finster dreinblickenden Männern zu, die den Eingang in die Lagerhalle bewachten, als er in diese eintrat. Sie waren Ben wohlbekannt, Kaspar besuchte Geschäftstermine nie ohne mindestens zwei gute, vertrauenswürdige Schläger an seiner Seite. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, schritt Ben unbeirrt über die Leiche auf dem staubigen Betonboden hinweg und blieb vor einem modrigen Holztisch stehen, den man inmitten der Halle aufgestellt hatte.
„Herr Gottlieb, nehme ich an?“, begrüßte Ben den Mann, der ihm gegenüber am Tisch Platz genommen hatte.
Sein Geschäftspartner war ein Mann aus gehobenen Kreisen, wie Ben an seiner feinen Kleidung und dem sauber getrimmten Bart erkannte. Gut, das bedeutete, er würde den Inhalt des Aktenkoffers unbemerkt verschwinden lassen können.
„Wie können Sie es wagen mich so anzureden als sei nichts gewesen, nachdem ihre, ihre … Hooligans meinen Assistenten wie tollwütige Hunde angefallen haben?!“, herrschte Gottlieb ihn an. „Ich hätte es besser wissen sollen, als mich mit euch Gangstern einzulassen!“
„Herr Gottlieb, ich dachte ich hätte mich klar ausgedrückt: Nur sie und die Ware, alleine und unbewaffnet“, entgegnete ihm Ben ruhig.
„Sie haben ihn ermordet! Er hatte eine Familie, verdammt!“, fuhr ihn Bens Gegenüber weiter an. „Das war nicht Teil der Abmachung, ich sollte Sie verhaften lassen!“
Ben schaute dem Mann ruhig in die Augen, ohne eine Miene zu verziehen. „Ich dachte“, wiederholte er, „ich hätte mich klar ausgedrückt, Herr Gottlieb. Nur sie, unbewaffnet und die Ware. Ich sehe keine Ware, dafür einen toten Mann“, Ben ließ nun eine Drohung mit seinen Worten mitschwingen.
Doch Herr Gottlieb schien sie entweder überhört oder nicht verstanden zu haben. Mit einem lauten Poltern stürzte der Stuhl auf dem der Herr noch vor kurzem gesessen hatte um und zwei Hände donnerten auf den Holztisch.
„Was denken sie eigentlich, wer …“, er brachte seinen Satz nicht mehr zu Ende, unterbrochen von dem Klicken eines gerade gespannten Revolverhahns, der irgendwo aus einer dunklen Ecke ertönte.
Ben hatte sich indes nicht das kleinste bisschen gerührt, er kannte dieses Spiel schon zu gut. Es war nicht das erste Mal, dass sich ein Geschäftspartner über die Details aufregte. Er beobachtete seinem Gegenüber schlichtweg dabei, wie er sich vorsichtig umdrehte, den Stuhl aufhob und sich wieder setzte. Auch Ben nahm ihm nun gegenüber Platz. Mit einem dumpfen Laut ließ er den Aktenkoffer auf den Tisch fallen und schaute Herr Gottlieb in die Augen.
„Die Ware, bitte.“
„Erst will ich das Geld sehen!“, verlangte der Herr.
„So haben wir das nicht abgesprochen, Gottlieb.“
„Ich will erst das Geld sehen!“, zischte er zwischen knirschenden Zähnen.
Ben zögerte einen Moment, zog dann aber schließlich den Koffer zu sich ran, entsperrte ihn und drehte Gottlieb den Koffer offen zu, damit er den Inhalt betrachten konnte.
„Zwölftausend britische Pfund“, kommentierte Ben die Situation. Er hinterfragte die seltsame Währung nicht. Geschäftspartner hatten oft merkwürdige Wünsche. „Nun Sie.“
Auch Gottlieb schien einen Moment zu zögern, bevor er sich erneut erhob und langsam in die Innentasche seines Anzugs griff. Ben konnte Kaspar nicht sehen, aber er wusste, dass sein Abzugsfinger bei Gottliebs Bewegung unweigerlich gezuckt haben musste. Doch statt einer Waffe holte der feine Herr einen dicken braunen Umschlag hervor und schob ihn Ben hin. Dieser Griff nach dem Umschlag öffnete das Siegel mit einem Klappmesser, das in seiner Jackentasche lag und holte den Inhalt hervor. Der Geruch nach altem Leder stieg Ben in die Nase und war ihm eine erste Bestätigung über die Echtheit des Buches, das er in der Hand hielt. Vorsichtig öffnete er die erste Seite und warf einen kurzen Blick aufs Impressum.
„Original der Erstausgabe im besten Zustand. Beinahe ein Unikat, wobei es für Sie nicht allzu schwierig sein dürfte sich eine Kopie zu besorgen“, kommentierte Gottlieb nun seinerseits die Situation. „Warum geben Sie also ein Vermögen dafür aus? Sie sehen mir nicht wie ein Sammler aus.“
„Oh“, entgegnete ihm Ben, „ich sammle durchaus. Bin sogar ein großer Fan des Autors, aber lassen Sie das bitte meine Sorge sein. Wollen Sie das Geld nachzählen?“
„Nein“, antwortete Gottlieb knapp.
„Dann endet das Geschäft hier, es war mir eine Freude Herr Gottlieb.“
„Auf nimmer Wiedersehen, Herr Schwarz“, sagte Gottlieb und wandte sich zum Gehen, nur um vor der Leiche seines Assistenten innezuhalten. „Wird die Polizei nicht …“, fragte er und deutete auf seinen ehemaligen Mitarbeiter.
„Nicht, wenn sie weiterhin bezahlt werden will“, erklärte Ben.
„Aber natürlich“, sagte Gottlieb mit einem grimmigen Lächeln und schritt zur Tür.
Wie als hätte sich ein Schatten materialisiert, tauchte Kaspar plötzlich aus der Dunkelheit der hinteren Halle hervor und zielte mit seiner Waffe auf Herrn Gottlieb. Ben signalisierte seinem Bruder jedoch mit einer gehobenen Hand, den Revolver wegzustecken.
„Lass gut sein, wir haben was wir wollten“, sagte er und schaute auf das Buch in seinen Händen. „Trommel die Anderen zusammen, Familienrat um 19 Uhr.“
Das Anwesen von Ben Schwarz wurde erst seit zwei Jahren von ihm bewohnt, zuvor lebte hier die Witwe eines einflussreichen Politikers. Die Frau scheute die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nachdem ihr Mann verstorben war und verließ das Haus nur selten. Schon viele interessierte Käufer wurden von der Frau abgewiesen, so auch zuerst Ben. Nachdem jedoch eine unaufgeklärte Brandserie die Anwesen der naheliegenden Bewohner zu Grunde brannte, war die Witwe plötzlich nicht mehr allzu versessen darauf Ben abzuweisen. Fortan nannte man das Anwesen im Volksmund nur noch „die schwarze Witwe“.
Nach dem Kauf hatte Ben das komplette Anwesen nach seinem Geschmack sanieren lassen und ein halbes Vermögen für die neue Inneneinrichtung ausgegeben. Herzstück seines Zuhauses war für Ben jedoch immer das eher unauffällige Büro, dass sich hinter einer halbtransparenten Glastür im zweiten Stock befand. Ben saß an seinem Ebenholzschreibtisch und betrachtete seine Familie, die ihm gegenüber Platz genommen hatte. Kaspar hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute wie immer grimmig drein. Bens Schwester Lena hatte darauf verzichtet sich hinzusetzen und stand lieber neben dem Sessel, während sie nervös mit dem Fuß auf dem Boden tippte. Sie wollte diese Treffen stets schnell hinter sich bringen. Das älteste Mitglied der Familie Schwarz, Bens Großvater Jonathan Schwarz, hatte sich tief in seinem Sessel vergraben und stütze seinen Kopf auf einen Gehstock, den er vor sich auf dem Boden hielt.
„Hast du’s?“, ergriff Lena das Wort, bevor Ben es konnte.
„Ja“, antwortete er.
„Dieses Mal auch das Original?“
„Ja, es gibt keinen Zweifel daran.“
„Oh, den gab es auch letztes Mal nicht, aber irgendwann hast du - “
„Es ist das Original“, versicherte Ben seiner Schwester und schnitt ihr damit das Wort ab.
Für einen kurzen Moment schien sie es bei den wenigen Worten zu belassen, entschied sich aber anders. Wie so oft.
„Wie viel?“
„Umgerechnet fünfzehntausend.“
„Fünfzehntausend …“, Lena schaute abwertend zu Boden. „Zu seinen Lebzeiten hätte die gesamte Auflage nicht einmal halb so viel eingebracht …“
„Tote Mafiosi bringen halt mehr ein“, erklärte Kaspar.
„Nenn ihn nicht so“, mahnte Ben seinen Bruder.
„Ach, wie denn? Wie soll ich ihn nicht nennen? Wie soll ich das alles hier nicht nennen, Bruder?!“, fragte Kaspar wütend, während er mit ausgestreckten Armen auf die Einrichtung deutete.
„Nenn ihn nicht so!“, fuhr Ben seinen Bruder an. Er war dieser Diskussion überdrüssig geworden. „Jedes Mal das Gleiche … nur einmal will ich die Geschichte hinter mich bringen, ohne, dass ich am nächsten Tag heiser vom schreien bin“, sagte er gereizt.
„So oder so, es wird das letzte Mal sein“, sagte Jonathan plötzlich, der wie aus einem Schlaf erwacht wirkte.
Kaspar beruhigte sich mit einem tiefen Atemzug und nickte Ben entschuldigend zu. „Lena, schließ die Tür ab, ich hole die Bücher“, sagte er anschließend.
Ben konnte spüren wie in ihm die Aufregung anstieg, als Kaspar begann zwölf alte Bücher aus einem Regal zu nehmen und sie nach Erscheinungsjahr geordnet auf den Schreibtisch zu legen. Nachdem er fertig war, schaute er Ben vorsichtig in die Augen und nickte ihm abermals zu. Ben fuhr sich nervös durchs Haar, griff dann in seine Jackentasche und stellte das Buch, das er zuvor Gottlieb abgekauft hatte, ans Ende der Bücherreihe. Die dreizehn Bücher waren eine bunte Mischung verschiedener Genre. Romane, Reiseberichte, philosophische Abhandlungen, selbst ein Kinderbuch fand darunter Platz. Letzteres hatte Ben nie behagt. Die Bücher schienen keine Gemeinsamkeit miteinander zu haben, nichts was sie verband. Nichts, bis auf den Namen des Autors: Erhard Schwarz stand in unauffälliger, kleiner Schrift über den Titeln, so bescheiden wie es der Autor zu Lebzeiten war.
In literarischen Fachkreisen hatte dieser Name nie sonderlich viel Aufmerksamkeit erregt. Lediglich ein Berufsautor, der versuchte seine Familie mit den knappen Verkäufen über Wasser zu halten. Erst als eine Reihe von kriminellen Geschäften und ein ganzer Ganovenring die Polizei zu eben diesem Autor führte, erlangten seine Bücher zu Ruhm. Jedoch nicht bevor Erhart Schwarz festgenommen, exekutiert und beinahe alle seine Bücher verbrannt wurden. Plötzlich hegten die Menschen ein großes Interesse an den knapp gewordenen Büchern, die Werke eines echten Gangsters!
Erharts Familie indes hatte nie etwas von seinen kriminellen Aktivitäten mitbekommen, nur die Sorge, ob die monatlichen Tantiemen bis zum nächsten Monat ausreichen würden. Sie hatten nie das bisschen Reichtum gesehen, das der Mann durch seine illegalen Geschäfte angehäuft hatte. Es war kein Egoismus, daran glaubte Ben fest. Auch, wenn Kaspar es anders sah, Ben war überzeugt, dass Erhart seine Familie mit aufrichtiger Arbeit ernähren wollte. Nur deshalb hatte er überhaupt weitergeschrieben.
Ben schüttelte den Gedanken von sich ab und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Auf sein Zeichen begann Kaspar die zweite Seite eines jeden Buches aufzuschlagen, hielt vor dem letzten jedoch inne.
„Ben …?“, forderte er ihn auf.
Mit schwerem Herzen griff Ben nach dem letzten Buch, schlug es auf und stütze sich mit den Händen auf seinen Schreibtisch ab. Nur eine einzige Zeile war jeweils auf diesen Seiten gedruckt. Ben begann zu lesen:
Für meine Frau Lissi, bald gibt es zwei Männer im Haus!
Für meinen Sohn Ben, werde groß und stark, mein Junge!
Für meine Tochter Lena, die nicht nur ihren Bruder in den Wahnsinn treiben kann, sondern auch Muse für ihren Vater ist!
Für meine Kinder Ben, Lena und Kaspar, auch auf die dunkelste Nacht folgt der Morgen!
Für meine Kinder, harte Zeiten zehren an der Gesinnung eines Mannes.
Ben, Lena, Kaspar, auch die besten Intentionen können auf die falschesten Wege führen.
Eine Missetat wird erst zum Fehler, wenn man sie nicht korrigiert!
Aus Unrecht Glück zu machen, täuscht nicht über Übel hinweg.
Folgt den Idealen eurer Eltern, nicht ihren Beispielen.
Luxus sind nicht fehlende Schulden, sondern fehlende Sorgen.
Kinder, auf dass ihr in Ruhe schlafen könnt, wenn es euer Vater nicht kann.
Für meine lieben Kinder, mein Ein und Alles: auf das ihr mehr Tugend findet, als es euer Vater konnte.
Für Ben. Für Lena. Für Kaspar. Lasst mich stolz auf euch sein …
Der letzte Satz hing schwer in der Luft und raubte der Familie Schwarz die Sprache. Niemand wollte etwas sagen, niemand wusste, was sie darauf sagen sollten. Selbst dem sonst so redegewandten Ben fehlten die Worte. Jonathan erweckte als erster den Eindruck die Stille zu brechen, schüttelte dann jedoch nur den Kopf.
Ben betrachtete seine Familie, studierte den Ausdruck auf ihren Gesichtern. Er wusste selbst nicht genau warum, vielleicht suchte er nach einer Antwort, etwas, das die Spannung aus der Atmosphäre nehmen konnte. Schließlich beließ er es jedoch dabei seinen Blick durch die Einrichtung schweifen zu lassen. Unter seinen Händen spürte er noch immer den massiven Ebenholztisch. Das erste Möbelstück, dass sich Ben vom Schutzgeld gekauft hatte, das ihm Barbetreiber zahlen mussten. Er schaute auf sich selbst hinab und musterte den dreiteiligen schwarzen Anzug, den er von einem chinesischen Schneider dafür bekommen hatte, dass dessen Schneiderei nicht in Flammen aufging. Zuletzt fiel sein Blick auf den Revolver, der auf dem Schreibtisch lag. Es war die einzige Waffe, die Ben aus einer großen gestohlenen Rüstungslieferung behalten hatte. Die restlichen Waffen hatten sie zu einem Teil an Putschisten geliefert und zum anderen Teil an deren Gegner. Mit diesem Geld hatte er unter anderem das Anwesen erworben, in dem er nun wohnte. Ben konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie aus einfachen Taschendieben zu wohlhabenden „Unternehmern“ geworden waren. Nach dem Tod seines Vaters fiel dessen Geschäft Ben förmlich in den Schoß und der Junge brillierte in seiner neuen Aufgabe. Er hätte es beenden können, nachdem sie genug Geld hatten um ein anständiges, aufrichtiges Leben zu führen. Doch Ben wollte mehr, wollte nie wieder auch nur in die Nähe von Geldnöten und Hunger kommen. Also arbeitete er unerlässlich, bis der Familienname zum Synonym für Wohlstand, Reichtum und Angst wurde.
Der schwere Seufzer, der Ben entglitt, war das erste Geräusch, dass in der Stille des Büros erklang. Er schaute ein zweites Mal auf die letzte Widmung seines Vaters. Lasst mich stolz auf euch sein, schrieb er.
Ben stellte sich ans Fenster und blickte zum Himmel empor, bevor er sich eines Besseren besann und stattdessen auf den Boden schaute.
„Und?“ fragte er leise in sich hinein.
„Mann, es ist so langweilig, ich sterbe gleich“, murmelte Tilda und trottete hinter ihrer Klasse her. Eigentlich hatte sie sich auf diesen Schulausflug ja gefreut. Sie besichtigten ein altes Schloss, das von außen wie von innen unglaublich beeindruckend war und schon allein durch sein Dasein eine Geschichte zu erzählen schien. Eine Geschichte von alten Zeiten, von Herrschern und Reichen, die seit Jahrhunderten zerfallen waren. Das kalte, fast schwarze Gemäuer strahlte eine eiskalte Aura der Macht und Dominanz aus.
Tilda ließ ihren Blick über ein Gemälde schweifen, auf dem ein relativ junger Mann mit einer fremdartigen Kreatur zu sehen war, die für sie ein bisschen wie der Herrscher der Unterwelt selbst aussah. Was den Mann wohl dazu getrieben hatte, sich ausgerechnet mit so einem Wesen abbilden zu lassen? Wollte er sich als der Bezwinger der Drachen inszenieren und damit seine Macht zum Ausdruck bringen? Wie ein reales Wesen wirkte das Monster mit den leuchtend roten Augen jedenfalls nicht.
Fast wäre Tilda in ihre Mitschülerin Sara hineingerannt, denn die Klasse blieb abrupt stehen. Der Guide wandte sich an die Gruppe und deutete auf das Bild. Nachdem sie die Schüler mit dem Satz „Mein Name ist Frau Fischer und ich bin heute euer Guide“ begrüßt hatte, machten sich alle einen Spaß daraus, sie als eben solchen anzusprechen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien sie den ironischen Unterton überhaupt nicht zu bemerken.
„Dieses Gemälde zeigt den ursprünglichen Besitzer dieser Burg, den Grafen von Distortia“, erzählte der Guide. „Der Legende zufolge beherrschte er einst die ganze Welt.“
„Und was ist das für ein Vieh neben ihm, Guide?“, fragte Sara.
Die Frau sah sie für einen Moment lang finster an. „Das ist kein Vieh“, sagte sie dann. „Den Legenden zufolge gehorchte dem Grafen ein mächtiger Drache, der die Welten kontrollierte. Den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte kann man natürlich anzweifeln.“
„Gut, dass sie uns darauf hinweist, dass man nicht alle Märchen glauben sollte“, murmelte Tilda. Sie hatte doch ursprünglich gehofft, dass sie heute interessante Fakten über dieses Schloss lernen würde. Stattdessen hatte ihr Lehrer wohl die Märchenführung für Grundschüler gebucht.
Nachdem nun jeder die seltsame Drachenkreatur und ihren Besitzer bestaunt hatte, setzte sich die Klasse endlich wieder in Bewegung.
„Dort hinten befindet sich die Bibliothek des Grafen“, erzählte der Guide, als sie an einem mit einer Schnur abgesperrten Gang, der zu einer großen Tür führte, vorbeigingen. „Sie ist jedoch nicht für Besucher geöffnet, um die alten Bücher zu schützen.“
„Wie viele Bücher befinden sich dort denn?“, fragte Tilda tatsächlich interessiert. Sie liebte Bücher. So viel lieber wäre sie jetzt dort in der Bibliothek gewesen statt bei dieser sterbenslangweiligen Führung.
„Genau neuntausenddreihundertsechsundsiebzig“, antwortete die Frau. „Jedoch würdest du die meisten davon nicht lesen können, da sie in einer Sprache verfasst sind, die noch kein Wissenschaftler entschlüsselt hat.“
„Was ist das denn für eine Sprache?“, fragte ein Mitschüler.
„Nun, sie hat keinen offiziellen Namen“, erklärte die Frau weiter, „deswegen wird sie nur als die ’Sprache des Grafen’ bezeichnet. Nirgendwo auf der Welt konnten bisher weitere Schriftstücke in dieser Sprache entdeckt werden und sie scheint auch mit keiner uns bekannten Sprache verwandt zu sein. Es wird vermutet, dass der Graf sie selbst entwickelt hat, um geheime Informationen vor ungebetenen Gästen zu schützen.“
Die Klasse bewegte sich weiter, doch Tilda blieb staunend stehen. Die Bibliothek, diese geheimnisvolle Sprache … Das alles reizte sie so sehr. Sie wollte so gerne mehr darüber erfahren, das alles mit eigenen Augen sehen, doch andererseits wollte sie auch keinen Ärger. Wobei … Sie war beim Lehrer sehr beliebt, bei so gut wie allen Lehrern sogar, so viel Angst vor Ärger musste sie da doch gar nicht haben, oder? Sie konnte sich ja einfach irgendeine gute Ausrede einfallen lassen, bis sie wieder zur Klasse zurückkommen würde. Manchmal musste man eben ein Risiko eingehen.
Unbemerkt schlich sich Tilda unter dem Seil durch und huschte in den Bibliothekssaal hinein. Zum Glück stand die Tür einen Spalt offen, um Besuchern einen Blick zu gewähren, und war auch nicht mit Glas oder Ähnlichem abgetrennt.
Mit offenem Mund blieb Tilda stehen und staunte. Der Saal war gigantisch. Bis zur Decke stapelten sich die Bücher in riesigen Regalen, wenn man diese Bauwerke überhaupt noch als solche bezeichnen konnte. Sie waren kunstvoll verziert und sahen aus, als wären sie in einem Stück aus Stein geschlagen worden. Dort standen Bücher in allen Formen, Farben, Größen und Dicken. So viele Bücher an einem Ort hatte Tilda noch nie zuvor gesehen. Sie konnte sich kaum bewegen, kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Dies musste das Paradies sein. Dann bemerkte sie eine Leiter, die vor einem der Regale stand. Wie praktisch! Vielleicht war sie ja sogar der erste Mensch, der eines dieser Bücher seit Hunderten von Jahren in den Händen halten würde. Dieser Gedanke war so spannend. Schnell kletterte sie hinauf und sah sich die Bücher in Reichweite an. Einige wirkten sehr abgegriffen, als würden sie bei der kleinsten Berührung auseinanderfallen. Andere wirkten dagegen fast wie neu, nur etwas verstaubt. Zögerlich griff sie nach einem Buch mit einem braunen Ledereinband. Es sah zwar nicht sehr eindrucksvoll aus, aber aus irgendeinem Grund war ihr Blick an genau diesem Buch hängengeblieben.
Tilda hustete kurz, als sie den Staub vom Buch wischte. Vorsichtig schlug sie eine Seite auf. Dort war ein offenbar mit Tinte handschriftlich verfasster Text, doch die Wörter ergaben keinen Sinn. War das diese fremde Sprache? Sie war etwas verwundert darüber, dass diese Sprache lateinische Buchstaben verwendete. Ob der Graf sie wirklich erfunden hatte? Eine eigene Sprache, das wäre sehr cool.
Langsam blätterte Tilda durch die nicht lesbaren Seiten, äußerst fasziniert von dem Ganzen, als ihr auf einmal etwas entgegen rutschte. Da, mitten im Buch, lag ein großer Schlüssel. Als sie sich im Bibliothekssaal umsah, bemerkte sie eine Tür zwischen den Regalen. Ob der Schlüssel für diese Tür bestimmt war? Nachschauen konnte sie ja zumindest. Sie stellte das Buch zurück ins Regal und kletterte die Leiter hinunter. Dann ging sie zur Tür. Sie war verschlossen. Von der Größe her konnte der Schlüssel zum Schloss passen. Sie steckte ihn hinein. Dann drehte sie vorsichtig. Tatsächlich – die Tür öffnete sich!
Dahinter lag ein kleiner Raum, in den kein Licht von draußen fiel. Alles war staubig und wirkte, als wäre es die letzten paar Jahrhunderte nicht betreten worden. Tilda aktivierte die Taschenlampenfunktion ihres Smartphones, um besser sehen zu können. In dem Raum befand sich … anscheinend nichts. Der Boden und die Wände bestanden aus ungleichmäßigen, rechteckigen Mauersteinen, doch ansonsten schien hier absolut gar nichts zu sein. Dennoch trat Tilda ein und sah sich den Raum genauer an. Ein bisschen unwohl fühlte sie sich dabei, denn wenn nun die Tür zugestoßen würde, wäre sie allein in der Dunkelheit gefangen. Aufmerksam sah sie sich um, als sie etwas Merkwürdiges sah: Einer der Mauersteine im Boden war anders. Nein, das war kein Mauerstein. Sie kniete sich hin, um es genauer betrachten zu können. Das war kein Mauerstein. Das war ein Buch. Ein Buch, das perfekt getarnt in den Boden eingelassen worden war. Tilda hob das Buch aus dem Boden. Der Einband war schwarz und kalt. Sie schlug die erste Seite auf. Etwas überrascht stellte sie fest, dass der Text hier sogar deutsch war.
„Dieses Buch möge erklären, wie man die Weltherrschaft erlangt.“
Das Erlangen der Weltherrschaft … Waren die Legenden etwa tatsächlich wahr? Aber wenn das so war, dann durfte dieses Buch unter keinen Umständen in die falschen Hände geraten. Tilda überlegte kurz, was sie tun sollte. Konnte sie es einfach so einstecken? Vermutlich wusste sowieso niemand von seiner Existenz, also würde es nicht auffallen. Aber aus einem alten Schloss ein Buch stehlen? Sie rang mit sich selbst, doch dann öffnete sie ihren Rucksack und ließ das Buch vorsichtig hinein gleiten.
Nun verließ sie schnell das kleine Zimmer und sperrte es wieder ab. Den Schlüssel steckte sie zurück in das Buch, in dem sie ihn gefunden hatte. Dann verließ sie unbemerkt die Bibliothek und suchte ihre Klasse wieder. Sie würde ihnen einfach erzählen, dass sie kurz stehen geblieben war und die Gruppe dann aus dem Blick verloren hatte, das würde schon glaubwürdig genug sein.
Erschöpft ließ sich Tilda auf ihr Bett fallen. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihrem Lehrer weiszumachen, dass sie sich in diesem Schloss, durch das quasi nur ein einziger, abgegrenzter Weg führte, verlaufen hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte. Möglicherweise hatte sie einmal mehr einfach mehr Glück als Verstand.
Tilda zog das alte Buch aus ihrem Rucksack. Es sah auf den ersten Blick tatsächlich ein bisschen wie Stein aus, in dem dunklen Raum hatte sie das ja nur auf die Lichtverhältnisse zurückgeführt. Vermutlich war es nun am besten, wenn sie es irgendwo versteckte, bevor es noch jemand fand. Erstens würde das Ärger für sie bedeuten und zweitens unter Umständen auch welchen für die Welt. Sie überlegte. Wo könnte sie so etwas am besten verstecken? Der Dachboden wäre eine recht klischeehafte Lösung, oder der Keller. Sie könnte das Buch auch im Garten vergraben oder in den Kratzbaum der Katze integrieren oder unter ihre Matratze legen. Sie war sich noch nicht sicher und etwas müde, also entschied sie sich für die im Moment einfachste Lösung: Unter ihrer Matratze.
Nach einem derart stressigen Tag gab es für Tilda nur eines, was sie so richtig entspannen ließ. Also fuhr sie ihren Laptop hoch und scrollte über die Facebook-Startseite. Dort gab es lustige Katzenfotos, schlechte Witze, interessante Zitate ohne Quellenangabe, zwielichtige Artikel, definitiv nicht auf sie zugeschnittene Werbeanzeigen … Alles eben, was man brauchte, um sein Hirn effektiv abschalten zu können. Doch zwischen alledem entdeckte sie auf einmal etwas anderes. Einen Post ihrer Mitschülerin Sara. Er begann ja ganz harmlos damit, dass diese den Tag als „total chillig“ beschrieb. Doch es gab eine Kommentarschlange darunter. „der beste teil war da wo tilda sich verlaufen hat lol“, schrieb irgendwer. „Haha ja, wie blöd kann Man sein“, antwortete irgendwer anders. Auf diesen beiden Beiträgen häuften sich die Haha-Reactions. Wütend klappte Tilda den Laptop wieder zu. Diese Leute waren einfach unmöglich.
Nun lag sie auf ihrem Bett und wusste nichts mit sich anzufangen. Sie musste wieder an das Buch denken, das nun direkt unter ihrem Kopf lag. Vielleicht schadete es ja nicht, einen Blick zu wagen. Sie holte das Buch zu sich und fing an, darin zu blättern, als sie merkte, dass anscheinend nur die Inhaltsbeschreibung auf der ersten Seite auf deutsch verfasst war, denn schon auf der nächsten Seite fand sich wieder diese mysteriöse Sprache. Sie blätterte weiter, bis sie auf etwas sehr Interessantes stieß: Mitten im Text waren immer wieder einzelne Brocken, die die Funktion der fremden Sprache erklärten. Dort stand erklärt, wie man Sätze bildete, wie man die Sprache aktiv anwendete, gar ganze Vokabellisten waren mitten im Fließtext versteckt. Nun waren ihre Neugierde und ihr Wissensdurst geweckt. Sie wollte diese Sprache lernen und dieses Buch lesen. Also fing sie an, sich hindurchzuarbeiten.
„Schritt eins: Bändige Giratina“, las Tilda. Sie hatte Monate gebraucht, um die Sprache so weit zu beherrschen, dass sie den Sinn von ganzen Sätzen verstehen konnte. Doch nun war es so weit. Sie konnte endlich damit beginnen, zu lernen, wie man die Welt beherrschte. Nicht, dass das ihr Ziel war, aber es war dennoch unglaublich interessant. Giratina … Wer oder was war Giratina? Der Text erzählte etwas von einem Tor zu einer anderen Welt, das man öffnen musste, um Giratina zu treffen. Das klang einfach zu verlockend. Eine fremdartige Welt mit eigenen Augen zu sehen, was konnte es Interessanteres geben?
Schritt für Schritt befolgte sie die Anweisungen. Sie musste die Sonne zu einer gewissen Uhrzeit aus einem gewissen Winkel auf einen Spiegel scheinen lassen, dann diesen schlagartig verdunkeln und „Giratina, ich rufe dich“ rufen. Sie verstand den Sinn nicht ganz, doch es würde bestimmt schon seine Richtigkeit haben.
Tilda bemerkte erschrocken, wie sich der Himmel schlagartig schwarz färbte. Das Tuch, das sie zum Verdunkeln benutzt hatte, wurde in den Spiegel gesogen und in diesem entstand ein riesiges, schwarzes Portal.
„Wenn du mich sprechen willst, dann komm in meine Welt“, erklang eine Stimme in der Sprache des Grafen aus dem Spiegel. Zögerlich näherte sich Tilda dem dunklen Strudel. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und sprang hinein.
Sie fand sich tatsächlich in einer völlig anderen Welt wieder. Der Himmel glühte lilafarben bis grün, der Boden bestand aus tiefschwarzem Sand, so schwarz, dass man meinen konnte, er würde alles Licht absorbieren. Es gab Wasserfälle ohne Anfang und ohne Ende, schwebende Bäume und Gebirge, die aussahen, als wären sie an den Himmel geschraubt.
„Komm zu mir, wenn du es wagst“, sprach die Stimme.
Tilda wagte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Auf einmal stolperte sie, als wäre die Erdanziehung plötzlich extrem angestiegen. Sie stand wieder auf und ging vorsichtig weiter. Tatsächlich schien die Schwerkraft zu schwanken, mal fiel es ihr schwer, überhaupt auf den Beinen zu bleiben, mal hatte sie das Gefühl, fast abzuheben.
Dann erblickte sie das Wesen.
Eine schwebende Schlange mit Stacheln an der Seite und langen Auswüchsen auf dem Rücken blickte auf sie herab. Sein Gesicht war wie von einer goldenen Maske bedeckt und seine Augen leuchteten blutrot. Ein bisschen erinnerte sie das Wesen an den Drachen auf dem Gemälde des Grafen.
„Bist du Giratina?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete der Drache.
„Bist du auch das Wesen, das dem Grafen gehorchte?“, fragte sie weiter.
„Ja“, antwortete der Drache erneut.
„Was ist dieser Ort? Und warum sahst du auf dem Gemälde so … anders aus?“
„Dies ist die Zerrwelt, mein Zuhause“, erklärte Giratina. „Ich sehe, du hast meine Sprache gelernt. Also bist du würdig, dass ich dir deine Fragen beantworte. Mein Körper ist sehr wandelbar, betrete ich eine andere Welt, passe ich mich dieser an. Hier ist die Gravitation sehr sprunghaft und an vielen Orten so leicht, dass es möglich ist, ohne Anstrengung zu schweben. Auf eurer Welt jedoch ist die Gravitation gleichmäßig und stärker, sodass ich Beine und Flügel brauche, um mich mit möglichst wenig Energieaufwand fortzubewegen. In jeder Welt, in der ich erscheine, habe ich eine geringfügig andere Form.“ Das Ungetüm hielt einen Moment lang inne. „Sag mir, Mensch, warum bist du hier?“, fragte es dann. Tilda überlegte einen Moment, was sie antworten sollte.
Tilda saß auf ihrem Thron im schwarzen Schloss, das nun ihr gehörte, neben ihr lag Giratina. Über ihrem Kopf hing ein Gemälde, das sie zusammen mit ihrem mächtigen Drachen zeigte und allen künftigen Generationen auf einen Blick klarmachen sollte, dass sie die mächtigste Frau der Welt war.
„Weißt du, Giratina“, sagte sie und streichelte ihrem treuen Freund über den Kopf, „eigentlich wollte ich ursprünglich gar nicht die Weltherrschaft erringen. Aber der Gedanke war auf einmal so … reizvoll. Ich konnte nicht widerstehen.“ Ihr Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Aber ich bereue die Entscheidung kein bisschen.“
Bücherfreunde
≫Es war einmal vor langer Zeit JETZT≪
Dieses Schild hing in großen Lettern an der Eingangstür der Bücherei.
Sarah liebte dieses Schild, beschrieb es doch den Charakter ihres liebsten Hobbys – das der Bücher – so treffend. Wenn sie las, wurde die Geschichte, die vor so langer Zeit geschah, erdacht oder niedergeschrieben wurde, zu ihrem Jetzt. Es war, als würde die Welt um sie herum stillstehen und wie im Märchen küsste sie die, im Buch schlummernde Geschichte wach.
Immer, wenn Sarah die Buchdeckel dann zuklappte, brauchte sie einen Moment, um wieder in ihre Gegenwart zurückzufinden. Wie benebelt saß sie dann da und wartete darauf, dass die, im Licht der Abendsonne tanzenden Staubpartikel, der längst kalt gewordene Tee auf dem Couchtisch vor ihr und der leise, durch die Fenster hereindringende Straßenlärm zur Wirklichkeit wurden.
Sarah drückte die Türklinke der schweren Holztür herab und betrat den Raum. Sofort nistete sich der der vertraute Geruch des bedruckten Papiers in ihrer Nase ein. Tief sog sie ihn ein, nahm den Duft der Druckerschwärze, des Papiers und der Einbände in sich auf und erfreute sich so sehr daran, wie sie es sonst nur am Buch selbst tat. So roch nur eine Bücherei.
Sonnenlicht schien auf den Parkettboden, dessen leises Knarzen unter den Füßen und dem wärmenden Licht, die angenehme Atmosphäre herrlich ergänzte. Manch ein Bücherfreund rümpfte die Nase, wenn er das viele Licht auf den Rücken der Bücher sah, doch Estelle, die Bibliothekarin pflegte immer zu sagen: „Nicht die Bücher sind so wertvoll, sondern ihr Inhalt und den können wir in fast allen Fällen nachdrucken. Warum diese Schätze also in ein dunkles Zimmer stellen und vor der Welt verstecken, anstelle ihnen die gebührende Aufmerksamkeit zuzudenken?“
Und so war es, dass diese Bücherei in hellen und freundlichen Farben erstrahlte. Sarah mochte diesen Anblick und gerne machte sie es sich auf einem der bequemen Couchelemente gemütlich und las direkt an Ort und Stelle, denn hier fiel es ihr noch viel leichter, in die fremde Welt einzutauchen.
„Guten Morgen Estelle“, zeigten Sarahs Hände, als diese sie von ihrem Schreibtisch aus erblickte. Sie lächelte. Einige Worte und Zeichen der Gebärdensprache hatte Sarah ihr bereits beigebracht, nicht immer erkannte sie alle direkt, doch die letzten zwei verstand sie immer: Zwei auseinanderklappende Handflächen, wie beim Öffnen eines Buches und die Zeigefinger, die einen gezackten Umriss ich in die Luft malten: Der Spitznamen, den sich Sarah für Estelle ausgedacht hatte, er lautete Bücherstern.
Estelle ihrerseits formte so gut es ihr gelang mit ihren Händen die Worte „Guten Morgen Büchermond“ und spielte mit dem Mond auf die ursprüngliche Bedeutung des Namens ihrer treusten Besucherin an.
Die weitere Kommunikation verlief meist einseitig verbal und Sarah antwortete unter Zuhilfenahme von Papier und Stift. Oft geschah es, dass in dieser Bücherei auf diese Weise ein kleines Buch selbst entstand. Ein Buch des Alltags, das nur eine Seite der Gespräche enthielt, nur eine Hälfte der Handlung und so zu einem Geheimnis wurde.
Sarah trat an den Schreibtisch und legte ein dickes Buch, welches sie ausgeliehen hatte, ab. Eine kreisende Hand mit ausgestrecktem Daumen deutete an, wie gut es ihr gefiel.
„Aha!“, rief Estelle aus „ich wusste doch, dass du das gut finden würdest. Wie lang hat es dieses Mal gedauert? Zwei Stunden? Drei Stunden?“
Sarah grinste und hob zwei Finger zur Antwort und wandte sich um, um in einem der Regale nach Nachschub zu stöbern.
„Sarah!“, rief Estelle ihr dann aber nach und setzte hinzu: „Ich habe da noch etwas für dich.“
Die junge Frau drehte sich wieder zu ihr um, blickte überrascht und machte eine fragende Handbewegung.
„Du musst wissen: Es war heute. Heute vor drei Jahren hast du dein erstes Buch bei mir ausgeliehen, ich habe es in den Verzeichnissen nachgeschlagen. Ich hatte damals Mühe, deine Schrift auf den Zetteln zu entziffern und die Informationen über dich, mit denen du deinen Büchereiausweis ausgefüllt hattest, in den PC zu übertragen.“ Estelle lachte.
„Du schreibst immer so schnell und undeutlich, das macht es einem anfangs wirklich nicht leicht.“
Sarah schüttelte sich zu einem stummen Lachen und nickte heftig mit dem Kopf. Oft hatten sie über dieses Thema gesprochen und immer hatte sie Besserung gelobt, nie trat diese tatsächlich ein.
„Ich bat dich damals, deine Zettel mitnehmen zu dürfen, um zuhause das Lesen üben zu können. Kannst du dir das vorstellen? Eine Bibliothekarin, die das Lesen übt?“ Wieder lachte sie kurz und fuhr dann fort: „Ich habe nie aufgehört, sie zu sammeln, Sarah. Ich bewahrte sie auf, ergänzte die leeren Stellen mit meinen Worten und vervollständigte so dein Buch des Alltags.“
Estelle zog eine der Schreibtischschubladen auf und ihre Hand griff nach etwas, das Sarah nicht sehen konnte.
„Unsere Gespräche blieben mir immer lang im Gedächtnis und ich habe nie eine Person getroffen, die eine ähnlich starke Liebe zum geschriebenen Wort empfindet, wie du es tust.“
Oft hatte Sarah Estelle von den Geschichten, die sie las vorgeschwärmt. Sie hatten sich gegenseitig zum Lesen verschiedenster Bücher animiert und nie hatte Sarah es abwarten können, Neuzugänge in der Bücherei zu verschlingen.
„Aus diesem Grund möchte ich dir dieses Buch hier schenken.“
Sie holte ein dickes Buch aus der geöffneten Schublade. Der Einband besaß das gleiche Muster, wie der dunkle Parkettboden zu ihren Füßen, schien aber keinen Titel oder Autor auszuweisen.
„Zu unserem Jubiläum erhältst du den ersten Band deines Buchs des Alltags. Er enthält all unsere Gespräche, all die Witze und tiefsinnigen Momente, die innerhalb dieser Wände stattgefunden haben.“
Zu diesen Gesprächen zählte auch das Weiterspinnen von Geschichten. Das Erfinden von Alternativen Enden und Handlungsstränge, wenn ihnen die Entscheidungen des Protagonisten oder Autors nicht zugesagt hatten. Tagelang hatten sie über einigen Werken gebrütet, versucht die Motivation hinter einigen Taten und die Bedeutung verschiedener Wortkonstrukte zu ersinnen.
Estelle stand auf und ging, mit dem Geschenk in der Hand, um den Tisch herum, auf Sarah zu. Diese stand da, wie zu Stein erstarrt, die Hände an die Lippen erhoben und ihre Augen verrieten die Rührung, die sie empfand.
„Ich habe einige Stellen kommentiert und weitere Gedanken und Nachrichten an dich einfließen lassen“, erzählte Estelle weiter „aber am besten du liest einfach selbst.“
Als sie Sarah das Buch überreichen wollte, löste sich deren Spannung mit einem Ruck und sie fiel ihrer Freundin in die Arme. Ihr ganzer Körper bebte unter den Tränen der Freude.
„Danke“ formten ihre Lippen lautlos. „Danke“ wieder und wieder flüsterte sie dieses Wort stumm über Estelles Schulte, während ihre Hände sie fest umschlungen.
Später an diesem Tag versank Sarah wieder in einer Welt. Doch sie war nicht fremd und sie war sowohl früher, als auch jetzt. Es war ihre Welt.
Illyria drückte sich dicht in die Mähne ihres Pferdes. Ihre im wilden Galopp umherflatternden Haare vermischten sich mit denen des Pferdes und nahmen ihr erbarmungslos die Sicht. Doch das Ziel war ohnehin zweitrangig.
Weg, Hauptsache Weg, nur die Distanz vergrößern.
Das Tier unter ihr keuchte bereits schwer, die dröhnenden Hufschläge hämmerten in ihrer Brust. Oder war es ihr eigener Herzschlag? Sie vermochte es nicht zu sagen.
Weg. Bitte, ihr Götter, einfach nur weg.
Ein wildes Flirren aus Grün- und Brauntönen schoss verschwommen an ihr vorbei, während sie sich immer weiter in dieser sinnlosen Verfolgungsjagd verlor. Und doch hielt sie etwas davon ab, sich zu ergeben. Einfach aufzugeben und das Unvermeidliche nicht mehr hinauszuzögern.
Nein … nein, so leicht würde sie es ihnen nicht machen!
Tief sog sie die erdige Luft ein, die vom schweißüberströmten Körper des Pferdes in ihre Nase drang, und richtete sich ein Stück auf. Gerade genug, um nicht von vorbeifliegenden Ästen aus dem Sattel gerissen zu werden.
Verbissen konzentrierte sie sich auf einen Punkt in ihrer rechten Handfläche, fokussierte ihr ganzes Sein auf diesen einen Punkt-
Ein heftiger Ruck, gefolgt von einem erschrockenen Wiehern, rissen sie aus ihrer Trance. Illyria krallte sich verzweifelt in der Mähne des Tieres fest, hörte sein Keuchen, das pfeifende Schnauben, die Rufe, die Schreie, da war Rauch, Feuer- waren das noch ihre eigenen Gedanken?
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Entsetzt riss die junge Frau die Augen auf: Einer der Verfolger war nun fast gleichauf.
Ein widerwärtiges Grinsen umspielte seine Lippen, als er die letzten Zentimeter zu ihr aufschloss.
Illyria presste die Lider zusammen, als der Mann seinen gekrümmten Sichel hob, bereit zum Schlag, bereit, sie zu treffen, zu stoppen – zu töten.
Wie gelähmt zählte sie die Herzschläge, unfähig, noch etwas zu tun, unfähig, sich aus dieser Lage zu befreien.
Und dann-
Ein lauter Knall zerriss die Stille. Milas zuckte erschrocken zusammen und lies den kleinen Gegenstand fallen, den er gerade studiert hatte.
Wenn der Meister herausfand, dass er wieder seine Aufgaben unterbrochen hatte, konnte er was erleben!
Unwillkürlich rieb sich der Lehrling das Hinterteil, als könnte er die Striemen der letzten Züchtigungsstrafe noch immer spüren.
Das Geräusch, das ihn aus seiner Trance gerissen hatte, ließ nur einen Schluss zu: Sein Herr hatte den Raum betreten und die schwere, glänzende Holztür kräftig hinter sich zugeschlagen.
Hastig schlängelte er sich zwischen dicht befüllten Regalen und scheinbar achtlos herumliegenden Stapeln hindurch. So sehr dieser Ort auch nach Chaos schrie, wusste Milas doch, das alles hier einem bestimmten System folgte, eine ganz eigene Ordnung besaß, die nur sein Meister vollkommen verstand. Schweiß perlte auf seiner Stirn, als er versuchte, rechtzeitig wieder an seinem Platz zu sein. Gerade schlitterte er um die letzte Ecke, sein Schreibpult schon in Sichtweite, als er ein vertrautes, kratziges Husten vernahm.
'Verdammt', dachte der Lehrling und schluckte, während er sich wieder auf seinen Platz fallen ließ. 'Das war knapp!'
Hastig nahm er seinen Federkiel zur Hand, tunkte ihn übereifrig in das Tintenfass und fuhr damit fort, einen halb verfallenen Folianten abzuschreiben.
Meister Henrik ging lächelnd an seinem Schüler vorbei. Das stete Kratzen von Feder auf Pergament begleitete seine Schritte, während er unauffällig den Gang aufsuchte, aus dem er Milas hatte kommen sehen. Dabei schweifte sein Blick über die unzähligen Pforten, Tore zu anderen Zeiten und Welten, deren Hüter er vor so langer Zeit geworden war.
Alles schien an seinem Platz. Fast alles.
Mühsam bückte sich der alte Mann und hob schmunzelnd ein kleines Büchlein auf, das in der Mitte des Ganges auf dem Boden lag.
Sagen und Legenden des Uhnterlandes. Band I: Die Abenteuer der hl. Illyria, verkündete der verblichene Titel.
Die Hafenkneipe in Fleetburg war gut besucht und ein schwerer Geruch nach Schweiß, Zigarettenrauch und Alkohol lag in der Luft. Die Gäste unterhielten sich oder würfelten um irgendetwas, wobei sie zeitweise lachten, aber oft genug auch miteinander stritten.
Kein Ort, an dem Shirl lange verweilen mochte. Sie selbst hatte sich alleine an einem Tisch in einer etwas hinteren Ecke der Kneipe niedergelassen. Während sie gelegentlich an ihrem Drink nippte, behielt sie ständig die anderen Anwesenden im Auge – nicht nur, weil vielleicht hier und da ein Streit eskalieren könnte, sondern weil sie auf jemanden wartete. Zugleich ruhte eine ihrer Hände ständig auf einem der beiden Pokébälle an ihrem Gürtel, auch wenn Snibs und Quaul ihr in einem Kampf keine allzu große Hilfe sein dürften. Dennoch galt es in ihrem Metier nun einmal, stets wachsam zu sein.
Schließlich betrat ein Mann die Kneipe und Shirl vermutete, dass er die Person war, auf die sie gewartet hatte. Der Mann war anscheinend um die dreißig Jahre, mittelgroß und offenbar durchaus kräftig. Auf den ersten Blick schien er mit seiner abgetragenen Jacke und der alten Jeans gut in dieses Ambiente hineinzupassen, zumal sein kurzes dunkles Haar unordentlich aussah.
Er steuerte auf keinen Platz zu, sondern schien sich nur umzusehen. Schließlich begegnete sein Blick dem Shirls. Er zog eine Augenbraue hoch und näherte sich ihrem Tisch. Als er näherkam, fiel Shirley auf, dass er offenbar heterochrome Augen hatte – eines war blau, das andere grün.
„Guten Abend, Miss Smallwood“, sagte der Mann in einem höflichen und doch hintergründigen Tonfall, als er an ihren Tisch trat.
„Shirl“, sagte sie. „Nennen Sie mich Shirl.“
„In Ordnung. Bitte vielmals um Verzeihung, Miss Shirl.“
Es war ein kurzer Austausch, der als Erkennungsmerkmal vereinbart war. Nun, da sie beide sicher sein konnten, dass die andere Person die richtige war, griff der Mann in eine Innentasche seiner Jacke, um einen zusammengefalteten Umschlag hervorzuholen, sich kurz umzusehen und ihn Shirl rüberzuschieben. Sie nahm ihn und legte ihn neben sich auf die gepolsterte Sitzbank.
„Danke“, gab sie knapp zurück.
„Der Umschlag enthält den Vorschuss und alle Informationen, die mein – und nun ja auch Ihr – Auftraggeber gesammelt hat“, sagte der Mann in geschäftsmäßigem Ton und blickte sich noch einmal um, ob auch wirklich niemand sie beobachtete.
„Gut“, erwiderte Shirl und fügte hinzu: „Ich hoffe doch, da steht wirklich alles drin, was ich brauche?“
„Ja, wir waren dabei sehr sorgfältig. Und der Auftrag selbst ist Ihnen ja schon bekannt, nehme ich an.“
Shirl nickte, hakte aber vorsichtshalber noch einmal nach: „Die Übergabe später ist aber nicht wieder in der Kneipe hier, oder? Es ist nicht unbedingt sehr vorteilhaft, die am gleichen Ort zu machen.“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „die wird woanders stattfinden. Aber das werden Sie ja lesen.“
Shirl nickte zufrieden und trank den Rest ihres Glases aus. „Gut, dann gibt’s wohl keinen Grund, hier noch länger rumzuhängen“, meinte sie. „Kommen Sie doch mit, dann sieht’s aus, als würden Sie mich abschleppen. Ist unauffälliger.“
„Vermutlich, ja.“
Shirl stand auf, ging zur Theke und schubste ein paar andere Gäste beiseite, um ihr Getränk beim Wirt bezahlen zu können. Anschließend verließ sie mit dem Mann die Kneipe, der ihr höflich die Tür aufhielt. Irgendwie gefiel ihr sein Grinsen dabei nicht.
Sie gingen ein paar Schritte zusammen, dann trennten sich ihre Wege.
„Viel Erfolg“, sagte der Mann, immer noch auf eine seltsame und unheimliche Art lächelnd.
„Danke“, sagte Shirl nervös, nickte ihm knapp zu und ging die Straße hinunter. Als sie sich im Gehen noch einmal umsah, war der Mann bereits verschwunden.
Ein paar Tage später war die Nacht gekommen, in der sie den Auftrag ausführen sollte. Einen Tag danach würde dann die Übergabe anstehen.
Shirl stand vor der Fleetburg-Bibliothek und sah zu dem alten Gebäude hoch, während sie sich sein Inneres ins Gedächtnis rief, das sie die letzten Tage noch ein wenig ausgekundschaftet hatte. Viel war aber nicht dabei gewesen, da sie nur in das Erdgeschoss musste. Dann allerdings sollte es wohl gar nicht so leicht sein, an das zu kommen, was sie haben wollte. Dabei sollte man meinen, ein Buch aus der Bibliothek zu klauen sei ganz leicht, wenn einen das Personal nicht dabei störte. Nur dass dieses Buch offenbar besonders gesichert war. Shirl wusste nicht, wieso, aber das hatte sie auch nicht zu kümmern. Sie führte nur diesen Auftrag aus, mehr nicht.
Sie schlich um das Gebäude herum. Wenn sie von der Hinterseite aus einbrach, würde sie niemand sehen können. Außerdem sollte ihre dunkle Kleidung sie in der nächtlichen Finsternis vor allen Blicken schützen können.
Sie erreichte eines der hinteren Fenster, bei dem der Rollladen heruntergelassen war. Bei ihren täglichen Besuchen hatte sie die Fenster bereits überprüft und erfreut festgestellt, dass sie alt und in keiner besonderen Weise gesichert waren. Shirl zog ihren Rucksack, in dem sie einige Werkzeuge bei sich trug, vom Rücken und kramte kurz darin nach einem Schraubenzieher. Nachdem sie ihn gefunden hatte, schob sie den Rollladen hoch, setzte den Schraubenzieher unten am Fenster an und hebelte es mühelos mit einem leisen Geräusch auf.
Als sie in das Gebäude einstieg, spürte sie deutlich das schnelle Klopfen ihres Herzens. Man gewöhnte sich irgendwie nie daran, man bleib nie wirklich ruhig, auch wenn einige Handgriffe mit der Zeit eine gewisse Routine bekamen.
Sie sprang von der Fensterbank auf den hölzernen Fußboden, der dabei leicht knarrte. Sie befand sich in einem Gang zwischen zwei Regalreihen.
Für einen Moment verharrte sie und horchte in die Stille hinein, doch wie erwartet war niemand hier. Die Sicherheitsmaßnahmen waren wirklich nachlässig. Umso überraschender, dass man ein ganz bestimmtes Buch dann doch stärker sicherte …
Shirl schüttelte ihren Kopf, bevor sie anfing, ihn sich über solche Dinge zu zerbrechen. Nicht ihre Aufgabe, erinnerte sie sich und schlich vorwärts durch die hoch aufragenden Regale, hin zur Rezeption. Sie kletterte über den Tresen und stand nun vor einem Gemälde, das an der sonst kahlen Wand hing. Sie zog eine kleine Taschenlampe aus der Seitentasche ihres Rucksacks und knipste sie an. Das schwache Licht würde man sicherlich nicht durch die Rollladen der Fenster sehen können.
Kurz betrachtete Shirley das Bild, das sie tagsüber nicht genau aus der Nähe hatte sehen können; es zeigte einen Mann mit einem Schwert, das er triumphal in die Luft streckte. Um ihn herum hatten sich Pokémon in unterwürfigen und geduckten Positionen niedergelassen und schoben offenbar mit ihren Händen, Pfoten oder Tentakeln Essen zu dem Mann hin. Manche Pokémon schienen verängstigt, andere hasserfüllt.
Shirl lief ein kleiner Schauer über den Rücken. Die Szenerie wirkte gerade im Dunkeln irgendwie bedrohlich. Umso besser, dass sie das Gemälde ohnehin abhängen musste, was sie sogleich auch tat.
Hinter ihm kam nun etwas anderes zum Vorschein, nämlich ein Wandtresor, der, wie Shirl sogleich bemerkte, offenbar auch schon etwas älter war. Er war nicht elektronisch gesichert, sondern hatte ein Schlüsselloch. Vielleicht würde sie ihn mit ihrem Werkzeug schnell und leise knacken können, aber da sie nicht mit allen mechanischen Tresorschlössern gut zurechtkam, war das vielleicht ein guter Moment, um Snibs und Quaul mal etwas tun zu lassen.
Also zog Shirl den Pokéball vom Gürtel und ließ ihre beiden Helfer hervorkommen. Quaul war ein Schallquap mit einer Art sechstem Sinn: Es konnte über die Nutzung seiner Schallwellen das Innere von Tresoren erspüren. Snibs hingegen war ein Snibunna mit der Fähigkeit, auf sehr raffinierte und kontrollierte Art Eis an ihren Klauen wachsen zu lassen. Für das Knacken von Tresoren waren beide in Kombination sehr nützlich, allerdings hatte das Training auf die Feinarbeit dabei dazu geführt, dass die für einen tatsächlichen Kampf benötigten Fähigkeiten bei beiden ein wenig nachgelassen hatten.
Die beiden Pokémon sahen sich kurz neugierig um, nachdem sie befreit worden waren, machten aber keine Geräusche, denn sie wussten, dass sie still sein mussten. Schließlich sahen sie beide Shirl fragend an.
„Ich brauche mal eure Hilfe“, sagte diese und nickte zu dem Wandsafe. Die beiden Pokémon nickten und Shirl zog einen Stuhl heran, auf den sich Snibs stellen konnte, um an den Tresor heranzukommen. Behutsam hob das Snibunna das Quaul behutsam hoch und hielt es an den Tresor, indem es das kleine Schallquap auf seinem rechten Arm balancierte. Zugleich steckte es eine Klaue seiner linken Pfote in das Schlüsselloch.
Nun fing Quaul ein wenig zu zittern an und Shirl wusste, dass es mit den für sie unhörbaren Schallwellen, die es dabei ausstieß, innerhalb von Sekunden ein Bild des Schließmechanismus erhielt, welches es an Snibs weitergab. Dieses wiederum bildete zeitgleich einen Art Schlüssel aus Eis, der es ermöglichen würde, die kleine Tür zu öffnen.
Es dauerte auch keine Minute, da drehte Snibs seine Klaue ein wenig und der Tresor schwang auf.
„Gut gemacht“, lobte Shirl. „Wenn wir zu Hause sind, kriegt ihr eine Belohnung.“
Sie rief beide Pokémon wieder zurück und leuchtete in das Innere des Safes hinein. Dort lag nur ein einziges kleines Buch, ledereingebunden und mit offenbar schon leicht zerfledderten Seiten. Auf Shirl wirkte es wie ein Tage- oder Notizbuch, wenn auch recht alt. Und wieder fragte sie sich, warum man dieses kleine Ding so schützen musste. War es irgendwie selten oder sonst wertvoll? Oder stand irgendetwas drin, an das ihr Auftraggeber heranwollte?
Für einen Moment war sie tatsächlich versucht, einen Blick in das Buch zu werfen, doch besann sie sich eines Besseren. Es ging sie nichts an und außerdem war das jetzt ohnehin nicht der richtige Ort, um darin zu lesen, sagte sie sich.
Sie machte die Safetür wieder zu – wenngleich sie sie nicht verschließen konnte – und hing das Bild wieder auf. Anschließend stellte sie auch den Stuhl wieder zurück. Musste ja nicht unbedingt offensichtlich sein, dass hier jemand eingebrochen war – nun, das offene Fenster mit den Einbruchsspuren würde das natürlich nahelegen, aber wenigstens wusste man nicht sofort, ob etwas gestohlen worden war und wenn ja, was.
Shirl kletterte wieder über den Tresen und wollte sich gerade auf den Weg zurück machen, als sie glaubte, vor sich in dem Gang zwischen den Regalen in der Nähe des Fensters eine Bewegung zu sehen. Es war nur kurz, ein kleiner Schatten, der sich bewegte.
Shirl blieb wie erstarrt stehen und richtete ihre Taschenlampe in die Richtung, sah jedoch nichts. Es sollte um diese Zeit niemand hier sein.
Vielleicht ist jemand oder etwas durchs Fenster hereingekommen, überlegte Shirl. Könnte einfach ein streunendes Pokémon sein.
Doch das spielte keine Rolle, dachte sie weiter. Wenn sie jemand hier erwischt und vielleicht die Polizei gerufen hatte, war es das Beste, so schnell wie möglich abzuhauen. Und wenn nicht, war es natürlich auch das Sinnvollste.
Also näherte sie sich wieder dem Fenster, wenn sie auch dabei besonders wachsam war. Die Luft zwischen den Regalen kam ihr in dem Moment seltsam staubig vor. Klar, in Bibliotheken war von Staub sicherlich viel vorhanden, aber sie konnte sie nicht erinnern, dass ihr dieser auf dem Weg hinein so aufgefallen war. Vielleicht lag das aber auch einfach daran, dass sie gerade noch mehr aufgekratzt war. Wobei … Sie hätte schneller atmen müssen, doch das war nicht der Fall. Stattdessen wurde sie sogar ruhiger. Was war nur los mit ihr? Sie geriet ins Stolpern und wankte nur noch durch diese Luft, die sich wie Blei auf ihre Lunge und ihren Verstand zu legen schien. Sie war plötzlich müde, unfassbar müde. Doch sie durfte doch jetzt nicht einschlafen, das war verrückt … Und doch …
Sie kam aus dem Tritt und fiel vornüber, wobei sie noch ihren Sturz mit den Händen abfing. Für einen Moment sah Shirl noch vor sich eine kleine Gestalt, dann fielen ihr die Augen zu.
„Hey!“, rief jemand wie aus weiter Ferne. „Aufwachen!“
Shirl spürte, wie ihr jemand eine saftige Ohrfeige gab. Im nächsten Moment war sie wach und ihr fiel alles wieder ein: Die Bibliothek, der Safe und die staubige Luft … Nur, dass es wohl kein Staub gewesen war.
Sie riss die Augen auf und versuchte, aufzustehen, doch etwas an ihrem linken Arm hielt sie schmerzhaft zurück. Als sie über die Schulter sah, erkannte sie, dass sie mit Handschellen an ein Heizungsrohr gekettet war.
„Was zum …“, stieß sie hervor und drehte den Kopf wieder in die andere Richtung. Vor ihr stand eine unausgeschlafen wirkende Frau, die eine Jogginghose und ein einfaches graues T-Shirt mit einer leichten Jacke darüber trug. Ihre langen blonden Haare wirkten zerzaust. Zu ihren Füßen bewegte sich ein Pokémon, das Shirl als Tangela identifizierte.
Der Raum, in dem sie sich befand, war fensterlos, hatte nur eine Tür und enthielt nur ein paar Aktenschränke und zwei Schreibtische. An den Wänden hingen zwei kleine Bilder. Shirl vermutete, dass es sich um die Kartei der Bibliothek handelte. In einer Ecke lag ihr Rucksack.
Shirl griff an ihren Gürtel.
„Ihre Pokébälle habe ich an mich genommen“, sagte die Frau und unterdrückte ein Gähnen.
„Was … Wie …“, stammelte Shirl hervor. Diese Situation war schlecht, sehr schlecht. Man hatte sie erwischt und wenn diese Frau die Polizei vielleicht schon gerufen hatte, dann …
„Mein Freund hier hat sie ausgeschaltet und mich verständigt“, fuhr die Frau fort und wies auf das Tangela. Shirl sah jetzt, dass das Pokémon offenbar einen Pager mit seinen Ranken umklammert hielt.
„Aber keine Sorge“, fügte die Frau hinzu. „Die Polizei habe ich nicht verständigt. Noch nicht.“
„Was wollen Sie?“, fragte Shirl in dem kläglichen Versuch, nicht panisch zu klingen.
„Ich will wissen, warum Sie dieses Buch stehlen wollten.“
Sie hielt das alte Notizbuch hoch. Shirl sagte nichts und biss sich auf die Lippe.
„Gut“, sagte die Frau. „Also die Polizei.“
Sie wollte sich umdrehen, da rief Shirl: „Okay! Wenn Sie mich laufen lassen, dann werde ich …“
„Es wird zumindest die Chancen erhöhen“, warf die Frau ein.
„Okay“, sagte Shirl hektisch atmend. „Ich wurde beauftragt, das Buch zu klauen. Ich bin, nun … von Beruf Einbrecherin.“
„Ist das auch die Wahrheit?“, fragte die Frau misstrauisch.
„Ja“, erwiderte Shirl.
Die Frau schien sie zu mustern. Shirl wusste nicht, ob sie ihr glaubte und auch nicht, ob das überhaupt gut für sie wäre.
„Wer war ihr Auftraggeber?“, fragte die Frau.
„Weiß ich nicht“, sagte Shirl wahrheitsgemäß. „Ich habe nur einen Mittelsmann getroffen.“
„Wie sah der aus?“
Shirl dachte kurz nach. „Mittelgroß, kurze dunkle Haare, recht athletisch. Und eins seiner Augen war blau, das andere aber grün.“
Die Frau schien scharf die Luft einzusaugen. „Sie haben die Fährte des Schwerts aufgenommen“, murmelte sie geistesabwesend.
„Schwert?“, fragte Shirl verwirrt.
„Vergessen Sie’s“, erwiderte die Frau scharf.
Sie zog ein Handy aus der Tasche und tippte darauf herum. Dann wandte sie sich wieder an Shirl: „Ich habe soeben Hilfe angefordert.“
Sie löste Shirls Handschellen und reichte ihr die Pokébälle von Snibs und Quaul.
„Sie haben etwa drei Minuten, um abzuhauen. Versuchen Sie gar nicht erst, mir das Buch doch noch abnehmen zu wollen, das schaffen Sie in der Zeit garantiert nicht.“
Shirl konnte es nicht fassen.
„Danke“, sagte sie und rannte los, durch die Tür und die dahinterliegende Bibliothek. Sie kletterte durch das Fenster und flüchtete in die Nacht, erleichtert, aber auch verängstigt. Sie war gescheitert und das würde ihren Auftraggeber garantiert nicht freuen. Vielleicht war es besser, eine Zeit lang unterzutauchen.
The Book
dt. Das Buch
Ich stand mit zitternden, leicht verschwitzten Händen vor dem Büro der Schulleiterin, die mich in der großen Pause höchstpersönlich aufrufen ließ, was nie etwas gutes bedeutete; ich konnte mir aber bereits denken, worüber sie mit mir reden wollte, denn – sagen wir es mal lieber so – gestern war nicht unbedingt ein zufriedenstellender Tag für meine Person und wahrscheinlich auch für ein paar andere meiner Mitschüler. Meine rechte Hand bewegte sich zögernd Richtung Tür und ballte sich allmählich zu einer Faust, bevor ich all meinen Mut sammelte und – um sie nicht noch mehr zu verärgern – zweimal sachte anklopfte.
„Herein!", ertönte ihre kräftige Stimme nur den Bruchteil einer Sekunde später aus dem Zimmer. Ich trat, ohne mir weitere Gedanken zu machen, ein und bemerkte augenblicklich die Hitze der aufgedrehten Heizung und die stickige Luft, die mich leicht ermüdete.
„Setz' dich, bitte!", befahl Miss Winchest im ernsten Tonfall, während sie auf den abgenutzten, auf der Rückseite mit Hakenkreuzen bekritzelten Stapelstuhl, der vor ihrem modernen, noch nach frischem Holz duftenden Schreibtisch stand, deutete. Ich befolgte, ohne auch nur ein Wort zu verlieren, ihre Anweisung und visierte unbeeindruckt ihre dunkelblauen Augen an.
„Nun …", begann sie die Koversation. „Du weißt, wieso ich dich aufrufen ließ, oder?" Ich nickte, während ich meinen Blick von ihr abwendete und er peinlich berührt zu Boden sank.
„Dann erkläre es mir, bitte!", sagte sie und zog dabei ihre spitzen Krallen – ihre rot lackierten, falschen Fingernägel – ein.
„Es ist nicht so, wie Sie denken", versicherte ich ihr.
„Paige!", stoppte die große Chefin mich mit mittellauter Stimme. „Das ist nicht das, was ich von dir hören will!" Ihre Krallen, dessen bloßer Anblick mich bereits einschüchterten, kamen wieder zum Vorschein.
„Es ist so, dass … Sie haben doch sicherlich in den Nachrichten von ‚The Book‘ gehört, oder?", fragte ich.
„Natürlich habe ich das", antwortete sie. „Es ist nahezu unmöglich, nicht davon gehört zu haben! Aber was hat das …"
„Ich und ein paar andere meiner Mitschüler sind Feuer und Flamme für dieses Buch!", versuchte ich, zu erklären. „Doch wir hatten Angst, dass es heute am offiziellen Veröffentlichungstag nach der Schule bereits vergriffen sein würde, da der Medienrummel um es ziemlich enorm ist, weswegen wir uns bereits vor dem Buchhandel versammeln wollten."
„Und deswegen habt ihr die Schule gestern geschwänzt?", hinterfragte sie mit ironischen Beigeschmack. „Wegen eines Buches? Ich hätte von einer Musterschülerin wie dir, Paige, mehr erwartet, um ehrlich zu sein."
„Sie verstehen das nicht …", merkte ich an. „Es ist viel mehr als nur das!"
„Ich verstehe es sehr wohl, doch dafür könnt ihr nicht einfach die Schule ausfallen lassen!", sagte sie im bekannten ersten Ton. „Es gibt schließlich nicht ohne Grund eine Schulpflicht!"
„Seien Sie doch lieber froh darüber, dass wir überhaupt freiwillig lesen wollen!", nörgelte ich. „Obwohl ich es noch nicht gelesen habe, bin ich mir zu einhundert Prozent sicher, dass ‚The Book‘ bedeutend besser als die übliche Scheiße ist, die Sie versuchen, uns im Unterricht vorzusetzen!"
„Paige!", unterbrach sie mich. „Bis eben sah ich noch davon ab, dich zum Nachsitzen zu schicken, doch so werde und will ich nicht mit mir reden lassen!"
„Das können Sie mir nicht antun!", beklagte ich mich.
„Wie du siehst, kann ich das sehr wohl! Melde dich bitte nach dem Unterricht beim Nachsitzen oder ich werde nicht davon absehen können, dir gegenüber einen Tadel auszusprechen!" Ich stand eingeschnappt auf, verließ das Büro schweigend und knallte die Tür hinter mir mit gedämpfter Wucht zu.
Wie ausgemacht oder, besser gesagt, wie aufgezwungen meldete ich mich nach dem Unterricht beim Nachsitzen, um nicht noch mehr Ärger zu bekommen – schließlich wollte ich direkt nach der High School auf ein College gehen, was mit einem Tadel etwas schwierig werden könnte. Als ich in den Klassenraum eintrat, bemerkte ich sofort, dass ich neben Joanna Manson, die gefühlt jeden Tag nachsitzen musste, die Einzige war, aber auch – wer hätte es gedacht – dass Miss Winchest, die Schulleiterin, die Aufsicht übernahm. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich, wie ich an ihrem Blick sofort ablas, in dieser Sekunde gestorben. Um zumindest nicht allzu alleine in einer Ecke zu sitzen, saß ich mich direkt neben Joanna hin.
„Hey!", flüsterte mir Joanna nach eine Weile zu. „Was haste verbrochen?"
„Hmm?", träumte ich vor mich hin. „Redest du mit mir?"
„Siehste hier sonst jemanden?", antwortete sie. „Denkste, ich würd' freiwillig mit Miss Winchest red'n? Nu, was haste gemacht?"
„Geschwänzt", erklärte ich ihr.
„Willkomm'n im Club!", scherzte sie. „Wofür?"
„‚The Book‘", sagte ich.
„Diesem Buch?", fragte sie sich. „Wegen 'nem Buch? Hätteste das nicht wie alle normalen Menschen auf dieser Welt über das Internet bestellen können?"
„Wäre es dort nicht nach wenigen Minuten nach seiner Vorstellung ausverkauft gewesen, hätte ich es so gemacht", erläuterte ich.
„Das muss aber 'n besonderes Buch sein, haha!", scherzte sie.
„Du verarschst mich doch!", motzte ich.
„Psst!", ermahnte uns Miss Winchest, die ihren Blick kurzzeitig von den noch zu kontrollierenden Tests abwendete.
„Du hast nicht gehört, dass ‚The Book‘ deine eigene Geschichte erzählt?", fragte ich sie ungläubig.
„Wie?", dachte sie laut nach. „Wie meinst du das?"
„Das Buch passt sich an seinen Leser an", erklärte ich ihr. „Es beginnt mit deiner Geburt, schreibt über deine Kindheit und, was auch hauptsächlich der Grund dafür ist, wieso so viele Menschen dieses Buch lesen wollen, erzählt von deiner Zukunft."
„Aber …", unterbrach sie mich, „wie ist das möglich?"
„Das ist der Knackpunkt", teilte ich ihr mit.
Als Miss Winchest uns dreißig Minuten später entließ, nahm ich sofort meinen schweren Rucksack, rannte aus dem Schulgebäude zum Fahrradabstellplatz und radelte mit meinem alten Rad zur nächsten Buchhandlung nahe dem Gemeindezentrum. Dort angekommen bemerkte ich sofort das grell-weiße Schild im Schaufenster, auf dem mit schwarzem Edding geschrieben „Ausverkauft" stand. Gleiches passierte mir in den restlichen drei Geschäften; ich entschied mich dennoch, beim letzten hineinzugehen, denn ich gab die Hoffnung noch nicht gänzlich auf.
„Hallo?", rief ich nach einem Verkäufer, als ich hinter der Kasse niemanden vorfand.
„Moment, bitte!", schallte es im totenstillen Laden, kurz bevor jemand mit gestapelten, leeren Kisten aus dem Lager herauskam, diese vor einem Tisch absetzte und danach zu mir kam. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?"
„Ich würde gerne nachfragen, wann Sie Nachlieferungen von ‚The Book‘ erwarten", bat ich den jungen Mann um Hilfe.
„Das könnte schwierig werden", gab er zu. „Es ist aktuell überall ausverkauft, wie Sie sicherlich im Schaufenster gesehen haben, und vom Verlag selber haben wir bisher keine Antwort bekommen."
Ich hinterließ meine Kontaktdaten bei dem Verkäufer und hoffte, dass er oder einer seiner Kollegen sich demnächst bei mir melden würde, damit ich es endlich in den Händen halten konnte.
Um ehrlich zu sein, pflegte ich keine große Erwartung an den folgenden Tag, denn mir war bewusst, dass ich nicht die Einzige in der Schule war, die sich für das Buch interessierte; ganz im Gegenteil. Und damit hatte ich sogar relativ recht – gefühlt jeder war bereits im Besitz von ‚The Book‘ und verschlang es regelrecht in den Pausen; doch die große Hofpause war eindeutig die schlimmste. Selbst meine besten Freundinnen wendeten sich von mir ab und versteckten sich in irgendeine Ecke, um es zu lesen. Ich fühlte mich ausgegrenzt und suchte in meiner Not nach Leidensgenossen, sodass ich Joanna, von der ich sicher wusste, dass sie das Buch nicht besaß, aufsuchte.
„Na, kein Glück gehabt?", stichelte sie. „Sei lieber froh drüber! Sonst wärste auch noch eine von den Nerds!"
„Ich möchte es trotzdem noch lesen!", ärgerte ich mich. „Willst du denn nicht erfahren, wie dein Leben seinen Lauf nimmt?"
„Kein bisschen!", antwortete sie. „Ich lass' mich lieber überraschen! Aber wenn es dir so viel bedeutet, wieso bittest du nicht einfach jemanden darum, dir sein Buch kurz auszuleihen?"
„Meinst du, dass würde jemand machen?", fragte ich sie.
„Das nicht unbedingt, aber schau' doch mal!", sagte sie und deutete dabei auf eine grüne Bank, auf der ein loses Buch lag. „Los, hol's dir!"
„A-aber", stotterte ich, „ich klaue nicht!" Joanna schaute sich kurz um, bevor sie selbstsicher zur Bank schlich, das Buch unbemerkt in die Hand nahm und wieder zu mir zurückkehrte.
„Da, nun hast du's nicht geklaut!", sprach sie. „Nun schau' mich nicht so an, lies lieber!"
Aufgeregt blätterte ich durch ‚The Book‘, jedoch war zu meiner Überraschung keine einzige Seite beschrieben.
„Und dafür geben die ihr Geld aus?", dachte Joanna laut nach. „Was für 'ne sinnlose Geldverschwendung!"
„Seltsam …", flüsterte ich leise vor mich hin, als plötzlich eine fette, schwarze Schrift auf den leeren Seiten erschien.
„Dies ist nicht deine Geschichte", las Joanna laut vor. „Kauf' dir noch heute deine eigene Ausgabe, um sie lesen zu können!" Wütend warf ich das Buch zu Boden und wendete mich von ihr ab.
Auch der nächste Tag verhieß von vornherein nichts gutes für mich: zuerst verschlief ich, weil die Batterien vom Wecker leer waren, sodass ich fünf Minuten zu spät zum Englischunterricht in der ersten Stunde kam; sonst kam ich doch immer pünktlich. Aufgrund dessen vergaß ich auch mein Frühstück und ausgerechnet heute hatte die Kantine wegen Umbaumaßnahmen den ganzen Tag über geschlossen – dabei knurrte mein Magen schon in der dritten Unterrichtsstunde.
„Paige!", rief eine Stimme meinen Namen, als ich in Gedanken – ich dachte an mein Frühstück, das Zuhause irgendwo auf dem Esstisch auf mich wartete – alleine auf dem Schulfhof stand, als ich mich überrascht umdrehte und Joanna in ihre orangenen Augen blickte. „Ich habe 'n Geschenk für dich! Komm mit!" Sie zerrte an meine Jacke und zog mich hinter die Sporthalle, wo überall auf dem Boden benutzte Kippen verteilt lagen.
„Schau!", sagte sie und holte eine Ausgabe von ‚The Book‘ aus ihrer schwarzen Kunstlederhandtasche hervor.
„Aber das ist doch …", flüsterte ich vor mich hin.
„Nimm' schon!", ermutigte sie mich.
„D-danke!", bedankte ich mich bei ihr, während sie mir das Buch übergab. Ich blätterte gespannt durch die ersten Seiten, jedoch schwang meine Motivation sofort wieder in Enttäuschung um, denn diese waren wie beim Exemplar von gestern ebenfalls leer. Panisch suchte ich den Rest der Buches nach Wörtern, Buchstaben, Zeichen oder sonstigem ab, als die Zeile „Dies ist nicht deine Geschichte." durchdruckte.
„A-aber", stotterte ich. „Wie?"
„Weil es mein Buch ist!", antwortete Joanna, während sie mit einer Pistole, die sie ebenfalls in ihrer Handtausche aufbewahrt hatte, auf mich zielte. Ein unwohles Gefühl breitete sich in mir aus; ich zuckte kurz innerlich zusammen und riss überrascht meine Augen auf.
„Wieso?", fragte ich sie.
„Wer könnt' schon seiner eigenen Zukunft widerstehen?", antwortete sie. „Ich habe gelesen, was du Miststück mir antun wirst! Du wirst mich überfahren, während du alkoholisiert von einer Party nach Hause fährst!"
„Ich …", versuchte ich, zu erklären.
„Sei ruhig!", schrie sie mich an. „Ich habe gelesen, was du nun tun willst; versuche es erst gar nicht!"
Meine Atmung wurde schneller; meine Hände zitterten wild vor sich hin. Ich wollte wegrennen oder so laut wie möglich nach Hilfe schreien, aber ich konnte nicht: sie würde mich auf der Stelle erschiessen.
„Joanna, wir können darüber reden", schlug ich ihr vor. „Noch ist es nicht passiert; wir können noch alles verändern, wenn du jetzt die Pistole zur Seite legst!"
„Wir können nichts ändern! Es steht geschrieben! Verstehst du's nicht?", bedrohte sie mich. „Und wenn du nicht sofort deine verdammte Klappe hälst, wird es in deiner Geschichte noch Tote geben!" Ich überlegte, was ich nun machen sollte, um mich zu befreien.
„Joanna Manson!", ertönte plötzlich die Stimme der Schulleiterin, die mit zwei Cops aufgeregt um die Ecke gerannt kam.
„Legen Sie sofort die Waffe auf den Boden!", befahl einer der Polizisten. „Und halten Sie ihre Hände danach klar und deutlich nach oben!" Joanna ließ schockiert die Waffe fallen und lief davon, bevor sie von den Beamten verfolgt und zu Boden gerissen wurde. Ich sank zu Boden und begann, zu weinen, während Miss Winchest zu mir kam und mich in den Arm nahm.
„Danke", schluchzte ich vor mich hin. „Ich danke Ihnen! Aber woher …" Sie zeigte mir ihre Ausgabe von ‚The Book‘, die sie fest mit ihren Händen umklammerte, half mir beim Aufstehen und begleitete mich in das Schulgebäude.
We read to know we are not alone.
- C.S.Lewis
* * *
Die Sonne hatte sich halbherzig hinter den Wolken verzogen und sprenkelte nur noch vereinzelte Lichtflecken auf das bräunliche Kopfsteinpflaster der Altstadt. Dennoch war es schwül und drückend und wer konnte, hatte längst einen der begehrten Platz in den hippen Cafés ergattert, um entspannt in einem der gepolsterten Rattanstühle eine kühle Limonade zu trinken. Die meisten Menschen waren um diese Uhrzeit gemeinsam unterwegs, Freundinnen, deren vollbepackte Einkaufstüten wie Trophäen neben ihren Plätzen aufgereiht waren, Familien, die sichtlich gestresst versuchten, ihren Kleinen das Erdbeereis von der Stirn zu wischen und Gruppen von Studenten, die über die wackelnden Tische fluchten (Wieso hatte eigentlich kein Café Geld für stabile Tische?).
Umso mehr fiel ihm die junge Frau auf, die etwas abseits saß – das Gesicht verborgen hinter einer überdimensionierten Sonnenbrille und einigen Strähnen, die sich aus ihren zurückgesteckten Haaren gelöst hatten. Nathan zögerte, aber dann fasste er sich ans Herz und manövrierte selbstbewusst vorbei an Taschen, Hunden und Kellnern und stand schließlich vor dem anvisierten Tisch.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen? Alles andere hier scheint belegt zu sein und das Eis ist hier absolut unschlagbar.“
Sie sah kurz auf und klappte ihr Buch zu.
„Oh, absolut. Setzen Sie sich. Ich habe selten Gesellschaft, aber vielleicht tut mir heute ein wenig Abwechslung gut.“
Etwas ungeschickt zwängte er sich in den freien Stuhl und lehnte die schwere Laptoptasche links an die hölzerne Palisade, die das Café von einem privaten Garten trennte.
Eine Pause entstand, in der ihre Finger bedächtig über den Buchrücken streiften.
„Was lesen Sie da?“, fuhr er schließlich fort.
„Alice im Wunderland. Ich bevorzuge Klassiker. Lewis Caroll war ein Genie.“
Sie nickte einmal und griff etwas ungelenk nach ihrer Limonade.
„Alice im Wunderland also. Nun, dann beantworten Sie mir doch – Warum ist der Rabe wie ein Schreibtisch?“
Sie schmunzelte und überlegte nicht lange:
„Nun, das ist doch einfach. Beide haben immerhin drei gemeinsame Buchstaben!“
„… Die ausgesprochen das Wort „Erbe“ ergeben. Und das hat uns Caroll hinterlassen. Ein Großartiges. Ich bin Nathan. Sie können mich gerne duzen.“
„Also dann Nathan. Freut mich! Mein Name ist Marie“
Sie fasste sich an ihre Brille, um sie zurecht zu rücken.
„Die Freude ist ganz meinerseits. Kommen Sie häufiger hier her? Ich habe Sie bislang noch nicht wahrgenommen?“
„Nein, ich bin bei dem heißen Wetter lieber drinnen. Aber die Stadtbibliothek wird umgebaut und darum weiche ich derzeit auf die Innenstadt aus. Ein Jammer! Dabei habe ich gerade so viel Zeit um zu lesen. Aber nun, hier geht es auch. Obwohl mir die Ruhe wirklich fehlt. Dafür scheinen sich ganz nette Gespräche führen zu lassen …
Du bist also häufiger hier? Kommst du dann immer alleine?“
„Ich bin Autor. Meistens komme ich hierher, wenn ich eine Schreibblockade habe oder mein Verlag mit dem bisherigen Stand nicht zufrieden ist. Dann sitze ich hier, beobachte die Menschen und recherchiere nebenbei für mein aktuelles Projekt.“
„Autor? Soso. Und über was schreibst du?“
„Das ist unterschiedlich. Zumeist sind es Fachbücher. Ich habe Kunstgeschichte studiert, musst du wissen. Damit verdient man nicht das große Geld, aber ich komme mittlerweile über die Runden. Zuletzt habe ich auch an einem Kochbuch mitgearbeitet, das Rezepte aus unterschiedlichen Zeitepochen enthält. Aber eigentlich ist es mein Ziel, irgendwann einen Roman zu veröffentlichen. Ich wollte schon immer mal vom literarischen Quartett zerrissen werden.“
Er lachte, sie lächelte.
„Manchmal wäre ich ganz gerne ein Buch …“, setzte sie nachdenklich an.
„Ein Buch?“
„Ja. Stell dir vor, wie es sein muss, wenn Generationen dich kennen. Ich will eine gute Geschichte sein, die Zeit überdauern und die Menschen berühren – ganz ohne sie anzufassen. Ich wäre nach meinem Ableben gerne mehr als ein Haufen Staub in einer Holzkiste unter der Erde.“
„Vielleicht solltest du darüber nachdenken, eine Karriere als Untote anzustreben. Zumindest hättest du damit deutlich mehr Bewegungsfreiheit.“
„Was für ein Unsinn! Als Buch kannst du so viel mehr sein, als ein Lebewesen. Du kannst Kriege begründen, Geschichte schreiben, Hoffnung schenken, Wissen vermitteln. Wer hat sonst die Macht zu so etwas?“
Erneut entstand eine Pause. Eine sichtlich gestresste Bedienung nahm seine Bestellung auf – Einen Joghurtbecher, so wie immer – und sie schien durch die dunklen Gläser vor ihren Augen die Menschen auf dem kleinen Vorplatz zu betrachten auf dem mittlerweile ein Straßenmusiker „Stairways to Heaven“ zupfte. Einige Tauben hatten sich auf dem Kriegsdenkmal neben ihm niedergelassen und schienen entspannt den Klängen der Gitarre zu lauschen, während die flanierenden Passanten nach ihrem Kleingeld kramten.
„Was machst du, wenn du nicht liest?“, fragte er schließlich und kratzte vorsichtig an dem kühlen Eis herum, das inzwischen vor ihm thronte.
„Du meinst beruflich?“
„Ja.“
„Naja, das ist schwierig. Ich weiß nicht so recht, ich denke das ließe sich hier nicht gut erklären.“
Er zog eine Augenbraue hoch und löffelte schweigend weiter. Sie wurde rot.
„Also, es ist nicht das, was du jetzt denken könntest. Ach Gott, nein, nur …“
Peinlich berührt wedelte sie mit den Händen.
„Ich erzähle es dir ein andern Mal.“
„Also gehst du davon aus, dass wir uns wiedersehen?“
Sie hielt inne, dann lächelte sie wieder.
„Sagen wir, ich hätte nichts dagegen.“
„Nun, dann hoffe ich doch, ich erwecke keinen falschen Eindruck, aber darf ich dich nach deiner Nummer fragen? Ich war schon lange nicht mehr in der Bibliothek. Wäre doch interessant zu sehen, ob ich dort auch eines meiner Werke wiederfinden kann.“
Sie zögerte kurz und nippte an ihrem Glas.
„Na gut. Für gewöhnlich, tue ich das eher ungerne, aber ich denke heute mache ich tatsächlich eine Ausnahme. Kann ich sie dir diktieren?“
„Natürlich, warte einen Moment.“
Eilig suchte seine Hand nach dem Smartphone in seiner Hosentasche und tippte ihren Namen in sein Adressbuch. Ruhig diktierte sie ihm die Nummer und er las sie vor, um sie bestätigen zu lassen.
Zufrieden mit sich gab er der Bedienung ein Zeichen und nahm die schwere Tasche auf seinen Schoß. Als er für beide bezahlte, bedankte sich Marie höflich, machte jedoch keine Anstalten, aufzustehen. Er erhob sich und wartete, doch sie schien noch bleiben zu wollen und so verabschiedete er sich mit dem Versprechen, sich bald bei ihr zu melden.
Es vergingen einige Wochen, in denen sie sich eher sporadisch bei ihm meldete, bis er von der Neueröffnung der Bibliothek erfuhr und sie auf ein Treffen ansprach. Beinahe war er überrascht, als sie tatsächlich zusagte. Er zog seine beste Jeans und ein frisch gebügeltes Hemd an und kam sich fast schon zu overdressed für ihren Treffpunkt vor, wollte allerdings auch jeglichen schlechten Eindruck verhindern. Leicht verspätet hechtete er die viel zu hohen Stufen zum Eingang hinauf und suchte mit seinen Augen die Umgebung ab, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken.
Die kühle Luft der Klimaanlage schlug ihm entgegen wie eine Wand, als er durch die schwere Tür trat und er rang für einen Moment nach Atem. Noch immer war keine Spur von Marie in Sicht und er beschloss sich in aller Ruhe umzusehen. Er schickte ihr eine Nachricht, doch eine Reaktion blieb aus. Sichtlich verunsichert schlenderte er ziellos durch die gewaltigen Regalreihen mit all den bunten Einbänden, die zu einem Großteil wohl einiges mitgemacht haben mussten. Zunächst suchte er sie bei den klassischen Werken, später bei den Romanen und zuletzt (insgeheim hoffnungsvoll) bei den kunsthistorischen Bänden und den Kochbüchern. Doch nirgendwo gab es eine Spur von ihr. Als er sich gerade auf einen der Stoffquader niedergelassen hatte, spürte er die Vibration seines Smartphones.
„Du kamst nicht, ich bin vorgegangen. Du findest mich im Untergeschoss.“
Im Untergeschoss befanden sich die Hörbücher. Sicherlich hätte er sie an jedem anderen Ort erwartet als dort. Aber tatsächlich. Er musste die Regallabyrinthe nicht weit durchkämmen, um zu einer gemütlichen Sofaecke zu gelangen, die durch die schmalen Fenster des Souterrains mit genügend Licht versorgt wurde. Dort saß sie, einen der fragilen Kopfhörer über den Ohren, einen Thermosbecher in der Hand und ihre Sonnenbrille auf der Nase.
Er ließ sich auf dem Sofa gegenüber nieder und beobachtete sie eine Weile.
„Hallo“, sagte sie schließlich und nahm ihren Kopfhörer ab.
„Tut mir leid, ich habe mich wirklich beeilt. Aber ich wusste gar nicht, dass du Hörbücher hörst. Ich hatte dich eigentlich oben erwartet.“
„Nunja, der Bestand ist für mich leider eher gering. Hier ist die Auswahl wesentlich größer.“
Er runzelte die Stirn und entschied sich, nicht weiter nachzuhaken.
„Siehst du mit der Brille überhaupt noch etwas?“
Sie gab einen undefinierbaren Laut von sich. Dann wandte sie sich ihm zu und nahm die Brille ab.
Perplex starrte er in schiefe, viel zu helle blaue Augen, die durch ihn durch zu sehen schienen.
„Du bist blind?“
„Korrekt gesagt: Ich bin sehbehindert. Ich erkenne einige Umrisse, so weiß ich beispielsweise, dass du für einen Typen nicht sonderlich groß geraten bist. Aber ja, ich kann nicht lesen wie du. Ich muss Geschichten hören oder sie fühlen. Leider hat diese Bibliothek aber kaum mehr Bücher in Braille-Schrift, die ich noch nicht kenne. Ich hatte eigentlich gehofft, das hätte sich nach dem Umbau geändert.“
Sie seufzte und streckte sich. Er war noch immer überrascht und fühlte sich von ihrem Kommentar fast schon gekränkt, auch wenn er wusste, dass sie es nicht bösartig gemeint hatte.
„Ist es schwer?“
„Was?“
„Na Blindenschrift zu lesen.“
„Ist es schwer, deine Tageszeitung zu lesen?“
„Nein, aber …“
„Vielleicht ist es schwer, wenn du spät damit anfängst. Schwerer, als wenn ein Analphabet erst spät zu lesen lernt. Aber wenn du damit aufgewachsen bist, dann kannst du dir nichts anderes vorstellen. Wie absurd ist es im Grunde, wie voyeuristisch, romantische Lyrik mit den Augen zu erfassen? Und wie natürlich ist es, sie Wort für Wort zu erfühlen, die Wärme unter den Fingerkuppen wahrzunehmen, sanft über die Seiten zu fahren wie über menschliche Haut?“
Er schwieg. Natürlich machte Sinn, was sie sagte und doch erschien es ihm fremd.
„Aber die meisten Bücher musst du doch hören? Ist das nicht ähnlich?“
„Geschichten wurden erzählt, lange bevor sie aufgeschrieben wurden. Viele, viele Jahrhunderte wurden Legenden von Generation zu Generation weitergereicht und jeder hatte die Möglichkeit, seinen eigenen Teil dazu beizutragen. Eigentlich fast schon schade, dass die Vorleser exakt nur das wiedergeben, was sie vor sich liegen haben.“
Sie packte den CD-Player zur Seite und griff in ihre Tasche.
„Aber ich habe auch etwas anderes dabei, dieses Mal Charles Dickens. Darf ich dir etwas vorlesen?“
„Natürlich“, antwortete er noch immer irritiert von der Wendung dieser Situation.
„Sehr gut, ich wünschte ich käme häufiger dazu. Vielleicht sollte ich Vorleserin werden. Ach, ich würde alles noch ein bisschen variieren, wie es mir gefiele.“
„Darf ich denn jetzt erfahren, was du arbeitest?“
„Ich arbeite in einer Blindenwerkstatt. Nicht sonderlich spektakulär, aber wie bei dir – Ich komme über die Runden, da darf ich wohl froh über das Prinzip des Sozialstaates sein.“
Er nickte und kam sich albern vor, weil er nicht wusste, ob das nun angebracht war – Und auch nicht, ob sie es überhaupt gesehen hatte.
„Bist du schon immer blind gewesen?“
„Nein … Das Ganze entwickelte sich in meiner Kindheit. Im Kindergarten war ich noch wie alle anderen, erst im Laufe der Jahre hat sich mein Sehvermögen immer weiter verschlechtert und erst spät haben meine Eltern realisiert, was passiert. Wahrscheinlich wollten sie es zunächst nicht wahrhaben. Danach hieß es für mich Abschied nehmen von meinen damaligen Freunden. Blindenschule, Blindenwerkstatt, immer wieder die Betreuung und Hilfen in meiner Wohnung. Glücklicherweise kann ich auf letzteres inzwischen größtenteils verzichten und komme ganz gut zurecht. Seitdem bin ich allerdings oft alleine. Ich habe irgendwann angefangen, viel zu lesen. Und ich denke, das hatte einen großen Einfluss auf mich, da ich mich seitdem weniger einsam fühle.“
Sie schwieg für einen Augenblick. Er schluckte und versuchte sich vorzustellen, wie es sein musste, in der Dunkelheit zu verschwinden. Er war sich nicht sicher, wie gut er damit zurechtkommen würde.
„Nun denn. Wollen wir anfangen?“
Sie schlug das Buch auf und strich einmal über das dicke Papier. Bedächtig fuhr sie dann mit ihren schmalen Fingern über die winzigen Erhebungen. Er beobachtete sie, sah, wie sich von Absatz zu Absatz ihre Mimik wandelte, wie sie lächelte oder die Stirn runzelte, während sie mit ruhiger und fester Stimme von Oliver Twist erzählte. Mal erkannte er die Szenen wieder, anderes was sie sprach erschien ihm fremd. Und doch beugte sie sich ständig über das Buch als würde sie lediglich die dortigen Worte wiedergeben. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Doch ihm ließ eine Frage noch keine Ruhe.
„Wie sieht es in deinem Kopf aus, wenn du liest?“
„Verstehst du es nicht? Wenn ich lese, dann kann ich sehen.“
Das Buch der Bücher
Illumina, den 25. Augustus im Jahre des Schöpfers 1622
Verehrter Major Volkner von Frizelbliz,
ich stimme mit Ihnen vollkommen darin überein, dass Bücher wahrhaftig kleine Meisterwerke sind. In einem nur daumendicken Werk kann sich ein ganzes Universum verbergen, dass es zu entdecken gilt. Ein Umstand, der mir persönlich sehr zugute kommt, denn wie Sie wissen, ist meine Reisefähigkeit seit dem Unfall starkeingeschränkt. Doch mithilfe meiner Privatbibliothek kann ich das Wasser der Meere, den Sand der Strände, die Hitze der Wüsten und die Kühle der Berge spüren als sei ich selbst dort. Nicht zuletzt dank meiner neuesten Akquisition, einer Lektüre, die sich selbst als „Buch der Bücher“ bezeichnet … Ja, ich spreche davon wie von einer Person – doch ich greife vor.
Die Geschichte beginnt im Fernen Osten in einem kleinen Dorf namens Elyses, wo vor nunmehr als einhundert Jahren ein Junge namens Akahiro aufwuchs. Seine Kindheit war eher beschwert; als der Jüngste von sieben Brüdern stand er oft vor der Herausforderung, sich gegen seine älteren Geschwister durchzusetzen. Das fiel ihm nicht leicht, denn während die anderen Jungs gerne draußen im Schlamm rangen oder Ninja und Samurai spielten, war Akahiro von eher zartem Gemüt. Ihn zog aus auf die Wiesen und in die Wälder, wo er sich in der Ruhe der Natur bevorzugt mit Käfer-Pokémon umgab. Dort fühlte er sich frei vom von den Pokémon als der akzeptiert, der er war. Er musste sich nicht bei jeder Kleinigkeit im Armdrücken beweisen (was ihm ohnehin nie gelang) und war auch nicht permanent dem „Humor“ seiner Brüder ausgesetzt, die offenbar große Freude daran hatten, sich gegenseitig ins Gesicht zu furzen. Auf eine Art schien ihm die „Wildnis“ der Pokémon sogar zivilisierter als sein eigenes Zuhause. Seine Lieblingspokémon hatte er sogar mit einigen geschnitzten Aprikokos zu seinem Team erkoren: ein kleines Webarak, das er einmal vor einem Schwarm Taubsi gerettet hatte, die Waumpel-Zwillinge, die sich mittlerweile aber längst zu Pudox und Papinella entwickelt hatten und ein freundliches Tannza, das ihm eines Abends bis zur Türschwelle nachgefolgt war.
Es war ein stürmischer Herbstnachmittag. Das Wetter war zu schlecht, um sich hinauszubegeben und so begab es sich, dass die sieben Brüder allesamt im Haus eingepfercht waren. Akahiro hätte die Stimmung als angespannt bezeichnet – nicht, dass seine Brüder sensibel genug gewesen wären, das wahrzunehmen. Doch als die Mutter zum Essen rief, schlug ihm einer der Brüder – wohl aus Langeweile und adoleszenter Aggression – den Teller aus der Hand, so dass sich seine Portion auf dem Fußboden wiederfand.
„Hey, was soll das?“, Akahiro war entsetzt. Nahrung gab es nicht gerade im Überfluss zu dieser Jahreszeit.
„Was denn“, entgegnete der Bruder, „ein Mädchen wie du muss doch auf ihre Linie achten!“
„Wehr dich doch“, war ein anderer ein, „oder bist du etwa zu sehr Mädchen dafür, Aka-hime?“
So ging es bereits seit Tagen. Die Brüder hatten Akahiro beim Spielen mit Papinella beobachtet und entschieden, dass Schmetterlinge etwas für Mädchen seien (dabei war Pudox eigentlich das Weibchen unter den Zwillingen!). Zu sechst ließen sie keine Gelegenheit aus, den jungen Akahiro darauf zu stoßen, dass er bei weitem nicht so männlich war wie die anderen.
Tränen stiegen ihm in die Augen. Er war es gewohnt, von seinen Brüdern getriezt zu werden, doch selbst das weichste Herz kann nur so viel Druck vertragen, bis es bricht. Vielleicht hätte es ihn nicht so gestört, hätten sie sich über etwas anderes lustig gemacht, doch seine Liebe zu Pokémon, die doch seine einzigen Freunde zu sein schienen – das war zu viel. Akahiro konnte spüren, wie sein Gesicht rot anlief, wie ihm die Tränen heiß die Wangen runterkullerten – wenigstens diesen Anblick wollte er seinen Brüdern nicht gönnen. Er stürmte zur Tür hinaus in den Regen (er nahm sich nicht einmal die Zeit, seine Schuhe anzuziehen) und rannte. Rannte hinaus auf die Wiesen, in den Wald und weiter, immer weiter, Hauptsache weg. Weg von dem Spott und dem Druck und einer Erwartung, der er ohnehin nie gerecht werden konnte – und auch nicht gerecht werden wollte. Er wollte nicht so sein wie seine Brüder, es machte ihm eben keinen Spaß, anderen die Arme zu verdrehen, bis sie weh taten oder seine Genitalien in ihre Getränke zu tunken. Er verstand auch den Witz dahinter nicht – aber wer weiß, ob sie das selbst taten.
Irgendwann wusste Akahiro schon selber nicht mehr wie lange oder wie weit er gelaufen war. Im Halbdunkel des Abendlichts war es sogar schwer geworden zu sagen, wohin. Aber immerhin der Regen hatte sich beruhigt. Es schien als habe sich der Himmel gemeinsam mit dem Jungen ausgeweint. Stur setzte Akahiro weiterhin einen Fuß vor den anderen. War ihm doch egal, wo er war. Und wo die anderen waren. Es galt bloß, möglichst weit weg zu kommen, dachte er und fing an die Steigung zu erklimmen, die nun vor ihm ansetzte. Schritte für Schritt immer weiter, immer höher, bis ihm schließlich dämmerte, dass er den Kraterberg erreicht hatte. So weit war er noch nie von zuhause weg gewesen und kannte diesen Ort auch nur vom Hörensagen der fahrenden Händler. Besondere Pokémon sollten hier leben und man munkelte sogar, der Schöpfer der Welt habe sich auf der Spitze zur Ruhe gelegt. Na dem hätte Akahiro was zu sagen gehabt! Was sollte das überhaupt, dass er so anders war als die anderen und nur darunter zu leiden hatte? Wer erschafft sowas denn bitte? Sollte er diesen Schöpfer jemals treffen, würde er ihm gehörig den Marsch blasen – und warum sich auch nicht jetzt sofort auf den Weg zu ihm machen? Zum Umdrehen war es sowieso zu spät. Mission Bergsteiger begann jetzt!
Ich verderbe Ihnen jetzt nun eher unwahrscheinlich die Überraschung, wenn ich vorwegnehme, dass ein vielleicht achtjähriger Junge es nicht eigenhändig bis auf die Speerspitze geschafft hat. Doch wie so oft war auch hier vielmehr der Weg das Ziel.
Gemeinsam mit seinen Pokémon erklomm der Junge aber ein gutes Stück des Weges und ein jeder hatte seinen Teil beizutragen: Webaraks Spinnenfaden erwies sich als hervorragendes Kletterseil, besonders wenn Papinella das Spinnenpokémon auf höher gelegenen Vorsprüngen absetzte. Tannzas harter Körper Schutzschildattacken bewahrten die Gruppe vor mehr als nur einem Steinschlag und Pudox schaffte es ganz alleine, eine Gruppe hungriger Ursaring abzuwehren.
Eine besondere Begegnung gab es zwischen Akahiro und einem verletzten Pikachu, über dessen Kopf bereits die Habitak zu kreisen begonnen hatten. Sein Körper war unter herabgestürztem Gestein eingeklemmt. Mithilfe seiner Pokémon befreite der Junge das arme Wesen und päppelte es mit einigen Beeren, die am Berg wuchsen wieder auf.
Auf ganz natürliche Weise von der Fürsorge des Jungen angezogen, schloss sich das gelbe Pokémon seiner Expedition an und erhellte auf seinem Weg die eine oder andere Höhle, die es zu durchqueren gab mit seinen elektrischen Kräften. Der letzte Tunnel, durch den sie sich gemeinsam den Weg bahnten jedoch mündete in einer Sackgasse. Einer Höhle, die ebenso endlos wie dunkel erschien – bis sich an den Wänden zahllose Augen zu öffnen schienen, die den jungen Trainer und seine Pokémon unentwegt anstierten.
Schon standen allen die Nackenhaare zu Berge, schon war der kollektive Entschluss schweigend gefasst worden, dass es Zeit war, umzudrehen und hinauszustürmen … da lösten sich die Augen von den Wänden und schwebten durch den Raum. Es waren Pokémon – Icognito, viele Icognito. Mystische Wesen, denen eine Verbindung zum Schöpfer selbst nachgesagt wird. Es wurden immer mehr, immer schneller, sie schienen die kleine Gruppe zu umkreisen, die Augen stets ins Zentrum gerichtet, schneller, immer schneller, bis Licht den gesamten Raum flutete, so hell, dass es schon fast unmöglich war etwas zu sehen. Dann war der Spuk vorbei und vor Akahiro lag … ein Buch. Eine seltene Erscheinung, wurde in der Sinnoh-Region doch meist auf Schriftrollen geschrieben. Bücher hatten nur besonders teure Händler mit Verbindungen nach Übersee im Angebot.
Unsicher schlug Akahiro es auf und wie sich die Seiten auftaten, tat es auch sein Geist. Es war als schreite er durch das Buch in eine andere Welt. Man musste es nicht lesen, um es zu verstehen, ein einzelner Blick genügte, um die Bedeutung eines ganzen Kapitels aufzunehmen. Akahiro las nicht, er sah. Er sah das innere eines Berges, eine riesige Höhle voll mit Kristallen aller Farben durchzogen, die Wände mit den edelsten Metallen bedeckt und in ihrer Mitte schlummerte ein Onix, das selbst aus unendlich klaren Edelsteinen zu bestehen schien. Er blätterte weiter. Die Tiefen eines Vulkans, Feuer brodelte überall, die Hitze war fast unerträglich außer die Schneckmag und Magmar, die hier vergnügt zu baden schienen. Nächste Seite. Ein Ort voller metallener … Kisten, die allesamt zu surren schienen, kleine Blitze zuckten durch den Raum, in dessen Mitte ein gelb-schwarzer Vogel sein Nest gebaut zu haben schien. Wo war das? So etwas hatte er nie gesehen. Akahiro blätterte weiter und weiter, durchschritt eine Vision nach der anderen, bis er am Schluss … sich selbst sah. Sich, seinen neuen Begleiter an seiner Seite und ihm gegenüber einen in schwarz gekleideten Herren, der neben einem fast menschlich wirkenden Pokémon stand, von dem eine fast unendliche Macht auszugehen schien. Was war das? Wann war das? – Ehrlich gesagt … man weiß es nicht. Auch ich weiß es nicht, verehrter Herr Major. Alles, was ich ihnen sagen kann ist, dass diese Geschichte so wahr ist wie meine Worte hier auf diesem Briefpapier. Ich habe sie nicht gelesen, ich habe sie gesehen. Das Buch erzählt die Geschichten all seiner Besitzer, wenngleich nicht jeder mit der Gabe versehen zu sein schien, seine Schätze zu entdecken.
Ich selbst sehe am Ende des Buches mich, in einem finsteren Turm voller Bücher, umgeben von Pokémon, die mich wie Geister umschweben. Und vor mir stehen Sie, bereit zum Duell.
Vielleicht sollten Sie mal wieder einen Besuch einplanen und mir sagen, was Sie darin sehen. Meine Bibliothek steht Ihnen wie immer gerne offen.
Gezeichnet
Baronesse Anissa II.
Falls sich Fehler bei der Formatierung eurer Texte eingeschlichen haben sollten, gebt mir einfach bescheid und ich passe es an. Ich hab zwar alles noch einmal geprüft, aber man weiß ja nie ... Danke!