Für @Cyndaquil. Sie weiß schon warum.
Abgabendump und -archiv. Kommentare zu neueren Werken sind willkommen und werden nach Möglichkeit retouniert :)
Tosender Applaus füllte die aufgestaute Luft über den Rängen und dem sandigen Rund der Manege. Wieder und wieder traten die Künstler vor, um sich zu verneigen und ihren jüngsten Bewunderern zuzublinzeln. Nach und nach wurde es unruhiger im Publikum und die ersten Besucher kämpften sich bepackt mit Kindern und Kameras durch die Enge zum Ausgang des gestreiften Zelts. Einzig ein älterer Mann, dessen klassischer Anzug nicht so recht zu seiner bunten Umgebung passen wollte, blieb sitzen bis der letzte Lärm verflogen wahr. Dann erhob er sich und trat hinaus in die grelle Sonne. Für einen Moment erstarrte er und es war als trennte ihn von dem Trubel auf dem Vorplatz mehr als nur seine Garderobe. Dennoch beachtete ihn niemand, als er in einem günstigen Augenblick den Weg zu den Privatbereichen suchte.
Etwas pikiert rümpfte er die Nase, als er sich den ersten Käfigen näherte und die Vorstellung hier als kleiner Junge gespielt zu haben, kam ihm absurd vor. Darian war ergraut. Nicht nur sein Anzug spiegelte wieder, wie wenig er noch dazugehörte, auch der Dienstwagenschlüssel in dessen Tasche war höchstens ein zusätzliches Indiz dafür, nein, es war als hätte der Staub der Zeit den bunten Glanz der Vergangenheit schon längst unter sich begraben. Er hoffte, dass keiner ihn erkannte, als er etwas ziellos an den Wohnwägen vorbeistrich, bis er vor einem eierschalfarbenen Wagen mit blauen Sternen erneut innehielt.
Wie die meisten Zirkuskinder erlebte auch Darian die Distanz, die ihn als Angehörigen des Künstlervolks von seinen Mitschülern trennte. Freundschaften zu Außenstehenden waren selten, denn mit zunehmender Distanz ließ die Frequenz aller Briefe und Telefonate mehr und mehr nach, bis am Ende oftmals nicht viel mehr verblieb als ein fahler Beigeschmack.
Doch wie jede Regel hatte auch diese ihre Ausnahmen und Darians Ausnahme war Sophia.
Unendliche Wochen hatte er in einem Sommer in einem ihm sonst bedeutungslosen Gymnasium gesessen und den sanften Fall ihrer braunen Haare beobachtet, wie besessen von der Vorstellung sie mit seinen festen Händen zu berühren und zu zwirbeln, während er die Wärme ihres Körpers an seiner nackten Brust fühlte. Aus praktischen Gründen hatten die meisten Artisten ihrer Gruppe Kurzhaarfrisuren oder trugen Kunsthaarperücken die längst verklebt wahren von Unmengen an Haarspray.
Auch als sie ihn das erste Mal ansprach, außerhalb der Schule in der Stadtbibliothek, hielt er seine Hände geballt in seinen Taschen und konzentrierte sich auf ihre leuchtend blauen Augen.
"Du bist Darian, nicht? Ich erinnere mich an dich aus Physik. Stimmt es, dass du Artist bist?"
Ihr Interesse war nicht aufgesetzt oder oberflächlich, wie er es so oft erlebte und so kam es, dass sie nur wenige Stunden später beide unter dem grünen Vordach des Wohnwagens saßen, in dem er zur damaligen Zeit noch mit seiner Familie lebte.
"Hatte ich mir irgendwie ... auffälliger vorgestellt!", waren ihre Worte gewesen, als sie an den vielen bunten und schrillen Mobilhäusern vorbei gegangen waren und vor seinem unscheinbaren Zuhause standen. Auch wenn sie dabei, versetzten ihre Worte ihm einen Stich und nur wenige Tage später saß er schwitzend in der heißen Sonne, um unter dem kritischen Blick seines Vaters die Schablonen mit dem Blau zu füllen, das ihn an ihre Augen erinnerte.
Die Last der Jahre pressten gegen seine Brust, als Darian tief einatmete und den Kopf abwandte. Er schwitzte und es schien ihm als würde die flirrende Luft sich um ihn drehen als stünde er im Zentrum einer Windhose. Für einen Moment lehnte er sich gegen einen Holzmasten, der eines der vielen Vordächer trug und widerstand dem Drang auf dem Absatz kehrt zu machen und zu seinem schwarzen Dienstwagen zurückzukehren, der verlassen in der prallen Sonne auf dem Vorplatz stand. Dann fiel sein Blick zurück auf sein altes Zuhause und er fragte sich, wer dort mittlerweile lebte und ob man von ihm erzählt hatte. Alles hatte er damals zurückgelassen, als er fortgegangen war, denn nichts sollte ihn mehr mit seinem früheren Leben verbinden. Doch Gedanken ließen sich nicht wegsperren, sie blieben. Quälten ihn über die Jahre. Er war zu stolz geblieben sich Hilfe zu suchen, so sagte er es sich. Im Grunde war es aber vor allem die Angst gewesen, sich der Wahrheit zu stellen: Es war nicht das Licht, das sie geblendet hatte, bei einer ihrer Aufführungen. Er hatte sein Wort gebrochen.
Oft saß sie unten am Rand der Manege, für ihn plötzlich wieder in unerreichbarer Ferne, während er am Zenit des Zelts seine neuste Performance probte. Sie neugierig und offen und er spürte, dass sie seine Übungen viel lieber ergänzen als beobachten würde. Zuerst sorgte er sich, da er wusste, wie Eltern reagieren konnten, sollten sich ihre Kinder für das Vagabundenleben entscheiden, zudem war sie noch nicht volljährig, doch als er nach quälenden Monaten der Trennung in die Stadt zurückkehrte und sie wiedertraf, dauerte es nicht mehr lange bis sie sie eines Abends in seinen Armen lag und ihm erzählte, worüber sie zuvor geschwiegen hatte. Zäh verging von da ab die Zeit bis zu ihrem Abschluss, doch noch in der Nacht ihrer Zeugnisverleihung stand sie mit einer dunkelblauen Reisetasche vor der Tür des gesternten Wohnwagens, den Darians Eltern ihm zur Volljährigkeit überlassen hatten. Und sie beide begannen mit dem Training um ihre verlorenen Jahre nachzuholen. Sie hatte Turnerfahrung und lernte schnell. Doch vor allem war sie beliebt und die misstrauischen Schausteller und Artisten akzeptierten sie in ihrer Mitte. Sie lachte viel und ihre Geschichten erhellten die Stimmung am Abend. Nur Darian kannte eine andere Seite an ihr, die sie sonst verbarg. Wenn ihre Stimme zitterte und brach und er ihren warmen Atem spürte, während er durch ihr weiches Haar fuhr.
Ihre Worte würde er nie vergessen, doch ihr Klang hatte sich über die Jahre verändert. Blechern hallten sie wieder und wieder in seinem Kopf, brachten ihn nachts um den Schlaf und am Tage um seine Konzentration. Manchmal ergriff ihn die Furcht bei dem Gedanken, ihre wahre Stimmfarbe womöglich schon längst vergessen zu haben und er versuchte die Möglichkeit zu verdrängen.
Seine Finger suchten den Schlüssel, der ihn erdete und von seinem alten Leben trennte. Ihm war übel und er hatte genug. Es war selten, dass Zirkuskinder die Gemeinschaft verließen und sein Neustart war hart gewesen. Doch nur mit der Illusion eines anderen Lebens konnte er seines fortführen nachdem er ihres genommen hatte. Tief in Gedanken versunken schlurfte er zurück zu seinem Wagen, vorbei an dem großen Plakat am Eingang, das er bei seiner Ankunft gar nicht bemerkt hatte. Wie erstarrt blickte er in sein junges Ebenbild und die zerbrechlich wirkende Frau mit dem glänzenden braunen Haar.
"In Erinnerung an Darius und Sophia - Großartige Künstler, die immer ein Teil unserer Familie bleiben werden."
Tränen füllten seine Augen und er spürte, wie die Last auf seinen Schultern ihn zu Boden drückte. Die Gewissheit, die er verdrängt hatte, traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht: Er hatte die Wahl zwischen einem Leben voller Bedeutungslosigkeit, dass er sich selbst vorspielte, oder er konnte sich seiner Vergangenheit stellen und zurückkehren zu all jenen, die er zurückgelassen hatte, als er vor Verantwortung geflohen war, vor den Urteilen derer, die ihn womöglich als Mörder ansahen, als unfähig seine Partnerin zu schützen.
Er wollte nicht länger weglaufen. Er wollte leben. Langsam richtete er sich auf und ging den Weg zurück, den er hergekommen war. Doch dieses Mal zog er sein Sakko aus und sein weißes Hemd leuchtete in der grellen Sonne. Unter einigen wachsamen Blicken schritt er zu dem Wohnwagen mit dem inversiven Himmelszelt und klopfte an die Tür.
Es war das erste Mal, dass sie in der Höhe probten. Das Netz würde sie schützen, aber das machte den Fall kaum minder furchtsam.
Ungeschickt nestelte sie an dem Gummi an ihrem Handgelenk, bevor sie ihre Haare zusammenband. Sie trat einen Schritt zurück und hielt inne, schüttelte dann den Kopf und lächelte ihn direkt an.
"Ich bin soweit!"
Er nickte ruhig und griff nach ihrer Hand. Warm lag sie in seiner und er spürte ihre weiche Haut trotz des schützenden Magnesias. Dann begegnete sich ihr Blick und er nahm die Nervosität wahr, die sie krampfhaft zu verstecken versuchte.
"Versprichst du mir, dass du mich immer auffangen wirst?"
"Ich verspreche es."
Charaktere
DR. SPIN (Vorsitzender der Honoris GmbH)
HERR SIG (Wohlhabender Unternehmer, durch Skandale in Verruf gekommen)
Szene 1
Büro der Honoris GmbH.
Vorhang auf. Hohe Bücherregale reihen sich an den dunkelgetäfelten Wänden. Ein Mann mittleren Alters sitzt mit einer Tasse an einem massiven Schreibtisch. Es klopft an der Tür.
DR. SPIN: Willkommen, Herr Sig, ich habe Sie bereits erwartet!
Dr. Spin bedeutet Herr Sig mit ausladender Armbewegung auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu zu nehmen. Dieser handelt wie ihm geheißen.
HERR SIG: (zynisch) Dann haben Sie etwas mit den Paparazzi vor meiner Haustür gemeinsam.
DR. SPIN: Ich wurde über Ihren Fall unterrichtet. Tut mir sehr leid, dass Sie das erleben müssen. Ganz tragische Verstrickung!
HERR SIG: Die Öffentlichkeit sieht das offenbar anders.
Dr. Spin nickt verständnisvoll und faltet die Hände.
DR. SPIN: Die Öffentlichkeit erträgt den Blick in den Spiegel nicht. Es führt zu mehr Befriedigung, seine Laster auf andere zu projezieren. Da hatten Sie nun mal ein wenig Spaß, nun gut, die Kleine war nicht volljährig ... Vielleicht war's auch nicht ganz nach ihrem Willen ... Wie auch immer, erlaubt ist, was gefällt! Kosten Sie vom Nektar des Lebens wo Ihre Zunge lose sein darf, ohne dass Sie sie riskieren. In diesem Staat sind Sie ein freier Mann. (trinkt langsam aus der Tasse auf seinem Schreibtisch)
HERR SIG: (zögerlich) Ich bin mir nicht mehr im Klaren, ob mein Verhalten so einfach abzutun ist ... Aber mein Stolz lässt Reue kaum zu. (Pausiert)
Mir wurde empfohlen, mich an Sie zu wenden. Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich hörte Sie besitzen einen gewissen ... Einfluss ... der mir helfen könnte.
Herr Sig sieht erwartungsvoll zu Dr. Spin, dieser hält den Blickkontakt starr aufrecht; eine Pause entsteht, dann huscht ein Lächeln über dessen Gesicht.
DR. SPIN: In derTat kommen Sie wie gerufen - unter gewissen Umständen zugegebenermaßen. Sagen Sie mir nur, wären Sie bereit Teil eines kleinen Projekts zu werden - ein Experiment im weiteren Sinne - sofern es sich für Sie auszahlen könnte?
HERR SIG: (aufgebracht) Ich als Versuchskaninchen!
DR. SPIN: (beschwichtigend) Nicht doch! Selbstverständlich wird der Versuch Ihrem Status gerecht. Aller Voraussicht nach wird sich dieser dadurch sogar deutlich verbessern. Den Spaß kann ich Ihnen dabei noch garantieren.
HERR SIG: (Runzelt die Stirn und lehnt sich mitverschränkten Armen zurück) Ihr Werben macht mich nicht minder interessiert als misstrauisch.
DR. SPIN: Ich erkenne Ihre Vorsicht, aber seien Sie unbesorgt. Derzeit haben Sie ja ganz am Rande bemerkt auch nichts zu verlieren.
Bedeutungsvolles Schweigen entsteht; Herr Sig wendet den Kopf ab; Dr. Spin fixiert ihn.
DR. SPIN: Die Frage mag Ihnen plötzlich erscheinen ... Herr Sig, glauben Sie an Gott?
HERR SIG: (verächtlich) Längst nicht mehr.
DR. SPIN: Nun, das sollten Sie aber. Gott muss Sie lieben, dass Sie in dieser Erdregion das Licht der Welt erblickt haben.Es belegt, dass Sie zu Höherem bestimmt sind. Und es ist in meinem Sinne, Ihnen bei der Umsetzung zu helfen.
HERR SIG: Halten Sie sich etwa für gottgleich?
Dr. Spin senkt den Kopf und lächelt; steht auf und beginnt einnehmend im Raum auf und ab zu schreiten.
DR. SPIN: Die Leute sind die Fähnchen im Wind und ich bin Aiolos, der mit diesen spielt. Die erfolgreichsten Hochkulturen basierten auf den simpelsten Prinzipien: Ganz gleich ob Brot und Spiele oder unfehlbare Gottesherrschaft. Obwohl ich zugeben muss, derBegriff "Halbgott in Weiß" wäre nicht ganz unpassend.
HERR SIG: (irritiert) Also Sind Sie Art?
DR. SPIN: Doktor!
HERR SIG: Worin haben Sie promoviert?
DR. SPIN: Ich muss glücklicherweise kein Mediziner sein, um zu erkennen, dass Sie mein sogenanntes "Vitamin B" derzeit dringend benötigen.
HERR SIG: (ungeduldig) Was wollen Sie denn nun konkret unternehmenen?
DR. SPIN: Ich - oder besser - Meine Leute und ich sorgen dafür, dass Sie in der Öffentlichkeit baldschon in einem neuen Glanz erstrahlen - Sofern Sie das möchten. Vorbei die üble Nachrede. Der Beginn einer neuen Berichterstattung!
HERR SIG: Sie manipulieren die Medien?
DR. SPIN: Aber nicht doch, Manipulation ist ein unschöner Begriff. Manipulieren können sich die Medien selbst am besten. Wir nutzen Ihre Bekanntheit und wandeln Ihr derzeitiges Image in etwas Anziehendes, das ist alles.
HERR SIG: ... Ich kann schon jetzt den tobenden Mob hören. Man wird es für verwerflich halten.
DR. SPIN: Ist es denn verwerflich, sein Hemd zu wechseln?
HERR SIG: Das lässt sich doch nicht vergleichen.
DR. SPIN: Vergleichen Sie es mit der heißen Dusche nach der morgendlichen Runde durch den schlammigen Park - Sie treten aus der Kabine und fühlen sich wieder wie jemand.
Herr Sig schweigt. Es entsteht eine Pause.
DR. SPIN: Sehen Sie, der Wert des einzelnen in der Gesellschaft wird zu großen Teilen von seinem Ruf bestimmt, der wiederum darauf basiert, wie wertvoll er für die Gesellschaft ist. Hat der Fall erst einmal begonnen, ist er kaum mehr abzuwenden. Genau da setze ich an. Ich bin jedoch nicht nur Ihr Fallschirm, nein, bei mir bekommen Sie gleich einen Raketenstart in den Neuanfang!
Rhethorik und Wohlwollen des Berichterstatters entscheiden heute mehr denn je ob aus Ihnen ein frivoles Flittchen oder eine revolutionäre Rebellin, ein flüchtiger Verbrecher oder ein unschuldiges Unfallopfer wird. Manch ein Mitglied unserer modernen Zivilisation wandert durch alle Extreme und erhebt sich von der Hure zur Herzogin. Um Ihre Frage zu meinem Vorhaben zu beantworten: In Ihrem Falle erheben Sie sich schon allzubald vom Perversen zum Politiker.
Engeisterung zeigt sich im Ausdruck von Herr Sig, er wedelt abwehrend mit den Händen.
HERR SIG: (Sichtlich außer Fassung) ICH? Politik? Sie müssen wahnsinnig sein!
DR. SPIN: (ruhig ... Dass Genie und Wahnsinn Hand in Hand gehen wird Ihnen doch sicher nicht neu sein.
Herr Sig stutzt und schüttelt noch immr fassungslos den Kopf
DR. SPIN: Seien Sie unbekümnert, wir haben schon kuriosere Gestalten als Sie in die Parlamente gebracht ... (wirft einen nachdenklichen Blick auf Herr Sig und reibt sich am Kinn)
Sie haben zumindest eine anständige Frisur.
HERR SIG: Ich bin Unternehmer, kein Demagoge.
DR. SPIN: Hervorragende Anlagen bringen Sie damit. Sie besitzen Ehrgeiz, Durchhaltevermögen, Verhandlungspotenzial und wissen, wie man gute Deals abwickelt. Das ist mehr als genug. Und wo bleibt denn auch sonst die Herausforderung? Wenn wir es richtig anstellen, können Sie es weit bringen! Die heutige Welt ist im Umbruch. Nutzen Sie dir Sensationsgier, den Blutdurst der Leute, Ihren Narzissmus, Ihre Naivität und Primitivität. Nutzen Sie Ihr Öl um damit aus der vorhandenen Glut ein Feuer zu schlagen. Was sollte da schief gehen?
(Geht hinüber zu einem massiven Schrank und holt ein Dokument hervor; überreicht dieses an Herr Sig und bedeutet ihm es durchzulesen)
Selbstverständlich ist es Ihre freie Entscheidung. Doch bedenken Sie Ihre missliche Lage. Die Presse mag Ihren Ausrutscher in einigen Wochen fast vergessen haben, aber die Namen werden Sie behalten. Womöglich wird man Sie eine ganze Weile auch mit besonderer Sorgfalt beobachten und auf den nächsten Fehltritt hoffen. Wollen Sie sich davon knechten lassen oder gehen Sie in die Offensive? ... Sie sind kein Mann, der sich bückt. Sorgen Sie dafür, dass man Ihnen zu Füßen liegt.
HERR SIG: (konzentriert lesend) Ich verstehe noch immer nicht, was Sie davon haben.
DR. SPIN: Nebst einer kleinen Aufwandsentschädigung ... Ich bin Stratege. Für mich ist die Gesellschaft mein Schachfeld - Schwarz und Weiß, beiderlei stets eng beisammen, aber am Ende geht eine Seite als Sieger hervor.
HERR SIG: ... Sie spielten sicherlich lieber schwarz, nehme ich an?
DR. SPIN: Das ist Ihre Interpretation. Und in diesem Fall mag sie gar zutreffend sein.
HERR SIG: Also gut, Herr Dr. Spin. Ich will als Ihr Bauer herhalten, Sie haben mein Interesse geweckt. Sollte ich mich blamieren, so haben Sie im Nu die besten Anwälte dieses Staates am Hals. Womöglich möchten sich diese dann mit Ihrem Titel oder den Geschäftsberichten Ihres ominösen Unternehmens befassen.
DR. SPIN: (beschwichtigend) Ich habe nichts zu verbergen! Aber keine Bange, soweit wird es nicht kommen. Millionär sind Sie bereits, aber der Aufstieg vom "Bauer" zum "Kanzler" - Der entspricht ganz meinem Sinne von modernem Schach. Den Rest wird der Ihnen ausgehändigte Vertrag regeln ... Ich benötige nur Ihre Signatur.
Herr Sig zögert, unterzeichnet dann jedoch schwungvoll.
DR. SPIN: Sehr schön. Ich danke Ihnen für Ihre Kooperation. Trinken Sie heute ein Glas Champagner auf Ihren spektakulären Wandel. Ich werde mich in Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen um die restlichen Einzelheiten zu klären.
HERR SIG: Sie sind ein außergewöhnlicher Mann. Auch ich habe Ihnen zu danken! (Erhebt sich und reicht Dr. Spin die Hand)
Einen wunderschönen Tag wünsche ich Ihnen.
Herr Sig geht ab.
DR. SPIN: (kopfschüttelnd, doch freudig) Ich liebe die Menschen.
Reibt sich die Hände und greift nach dem Vertrag. Die Tasse, die er dabei streift, fällt um. Dunkelrote Flüssigkeit saugt sich in das Papier.
Freeze. Das Licht erlischt langsam.
We read to know we are not alone.
- C.S.Lewis
* * *
Die Sonne hatte sich halbherzig hinter den Wolken verzogen und sprenkelte nur noch vereinzelte Lichtflecken auf das bräunliche Kopfsteinpflaster der Altstadt. Dennoch war es schwül und drückend und wer konnte, hatte längst einen der begehrten Platz in den hippen Cafés ergattert, um entspannt in einem der gepolsterten Rattanstühle eine kühle Limonade zu trinken. Die meisten Menschen waren um diese Uhrzeit gemeinsam unterwegs, Freundinnen, deren vollbepackte Einkaufstüten wie Trophäen neben ihren Plätzen aufgereiht waren, Familien, die sichtlich gestresst versuchten, ihren Kleinen das Erdbeereis von der Stirn zu wischen und Gruppen von Studenten, die über die wackelnden Tische fluchten (Wieso hatte eigentlich kein Café Geld für stabile Tische?).
Umso mehr fiel ihm die junge Frau auf, die etwas abseits saß – das Gesicht verborgen hinter einer überdimensionierten Sonnenbrille und einigen Strähnen, die sich aus ihren zurückgesteckten Haaren gelöst hatten. Nathan zögerte, aber dann fasste er sich ans Herz und manövrierte selbstbewusst vorbei an Taschen, Hunden und Kellnern und stand schließlich vor dem anvisierten Tisch.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen? Alles andere hier scheint belegt zu sein und das Eis ist hier absolut unschlagbar.“
Sie sah kurz auf und klappte ihr Buch zu.
„Oh, absolut. Setzen Sie sich. Ich habe selten Gesellschaft, aber vielleicht tut mir heute ein wenig Abwechslung gut.“
Etwas ungeschickt zwängte er sich in den freien Stuhl und lehnte die schwere Laptoptasche links an die hölzerne Palisade, die das Café von einem privaten Garten trennte.
Eine Pause entstand, in der ihre Finger bedächtig über den Buchrücken streiften.
„Was lesen Sie da?“, fuhr er schließlich fort.
„Alice im Wunderland. Ich bevorzuge Klassiker. Lewis Caroll war ein Genie.“
Sie nickte einmal und griff etwas ungelenk nach ihrer Limonade.
„Alice im Wunderland also. Nun, dann beantworten Sie mir doch – Warum ist der Rabe wie ein Schreibtisch?“
Sie schmunzelte und überlegte nicht lange:
„Nun, das ist doch einfach. Beide haben immerhin drei gemeinsame Buchstaben!“
„… Die ausgesprochen das Wort „Erbe“ ergeben. Und das hat uns Caroll hinterlassen. Ein Großartiges. Ich bin Nathan. Sie können mich gerne duzen.“
„Also dann Nathan. Freut mich! Mein Name ist Marie“
Sie fasste sich an ihre Brille, um sie zurecht zu rücken.
„Die Freude ist ganz meinerseits. Kommen Sie häufiger hier her? Ich habe Sie bislang noch nicht wahrgenommen?“
„Nein, ich bin bei dem heißen Wetter lieber drinnen. Aber die Stadtbibliothek wird umgebaut und darum weiche ich derzeit auf die Innenstadt aus. Ein Jammer! Dabei habe ich gerade so viel Zeit um zu lesen. Aber nun, hier geht es auch. Obwohl mir die Ruhe wirklich fehlt. Dafür scheinen sich ganz nette Gespräche führen zu lassen …
Du bist also häufiger hier? Kommst du dann immer alleine?“
„Ich bin Autor. Meistens komme ich hierher, wenn ich eine Schreibblockade habe oder mein Verlag mit dem bisherigen Stand nicht zufrieden ist. Dann sitze ich hier, beobachte die Menschen und recherchiere nebenbei für mein aktuelles Projekt.“
„Autor? Soso. Und über was schreibst du?“
„Das ist unterschiedlich. Zumeist sind es Fachbücher. Ich habe Kunstgeschichte studiert, musst du wissen. Damit verdient man nicht das große Geld, aber ich komme mittlerweile über die Runden. Zuletzt habe ich auch an einem Kochbuch mitgearbeitet, das Rezepte aus unterschiedlichen Zeitepochen enthält. Aber eigentlich ist es mein Ziel, irgendwann einen Roman zu veröffentlichen. Ich wollte schon immer mal vom literarischen Quartett zerrissen werden.“
Er lachte, sie lächelte.
„Manchmal wäre ich ganz gerne ein Buch …“, setzte sie nachdenklich an.
„Ein Buch?“
„Ja. Stell dir vor, wie es sein muss, wenn Generationen dich kennen. Ich will eine gute Geschichte sein, die Zeit überdauern und die Menschen berühren – ganz ohne sie anzufassen. Ich wäre nach meinem Ableben gerne mehr als ein Haufen Staub in einer Holzkiste unter der Erde.“
„Vielleicht solltest du darüber nachdenken, eine Karriere als Untote anzustreben. Zumindest hättest du damit deutlich mehr Bewegungsfreiheit.“
„Was für ein Unsinn! Als Buch kannst du so viel mehr sein, als ein Lebewesen. Du kannst Kriege begründen, Geschichte schreiben, Hoffnung schenken, Wissen vermitteln. Wer hat sonst die Macht zu so etwas?“
Erneut entstand eine Pause. Eine sichtlich gestresste Bedienung nahm seine Bestellung auf – Einen Joghurtbecher, so wie immer – und sie schien durch die dunklen Gläser vor ihren Augen die Menschen auf dem kleinen Vorplatz zu betrachten auf dem mittlerweile ein Straßenmusiker „Stairways to Heaven“ zupfte. Einige Tauben hatten sich auf dem Kriegsdenkmal neben ihm niedergelassen und schienen entspannt den Klängen der Gitarre zu lauschen, während die flanierenden Passanten nach ihrem Kleingeld kramten.
„Was machst du, wenn du nicht liest?“, fragte er schließlich und kratzte vorsichtig an dem kühlen Eis herum, das inzwischen vor ihm thronte.
„Du meinst beruflich?“
„Ja.“
„Naja, das ist schwierig. Ich weiß nicht so recht, ich denke das ließe sich hier nicht gut erklären.“
Er zog eine Augenbraue hoch und löffelte schweigend weiter. Sie wurde rot.
„Also, es ist nicht das, was du jetzt denken könntest. Ach Gott, nein, nur …“
Peinlich berührt wedelte sie mit den Händen.
„Ich erzähle es dir ein andern Mal.“
„Also gehst du davon aus, dass wir uns wiedersehen?“
Sie hielt inne, dann lächelte sie wieder.
„Sagen wir, ich hätte nichts dagegen.“
„Nun, dann hoffe ich doch, ich erwecke keinen falschen Eindruck, aber darf ich dich nach deiner Nummer fragen? Ich war schon lange nicht mehr in der Bibliothek. Wäre doch interessant zu sehen, ob ich dort auch eines meiner Werke wiederfinden kann.“
Sie zögerte kurz und nippte an ihrem Glas.
„Na gut. Für gewöhnlich, tue ich das eher ungerne, aber ich denke heute mache ich tatsächlich eine Ausnahme. Kann ich sie dir diktieren?“
„Natürlich, warte einen Moment.“
Eilig suchte seine Hand nach dem Smartphone in seiner Hosentasche und tippte ihren Namen in sein Adressbuch. Ruhig diktierte sie ihm die Nummer und er las sie vor, um sie bestätigen zu lassen.
Zufrieden mit sich gab er der Bedienung ein Zeichen und nahm die schwere Tasche auf seinen Schoß. Als er für beide bezahlte, bedankte sich Marie höflich, machte jedoch keine Anstalten, aufzustehen. Er erhob sich und wartete, doch sie schien noch bleiben zu wollen und so verabschiedete er sich mit dem Versprechen, sich bald bei ihr zu melden.
Es vergingen einige Wochen, in denen sie sich eher sporadisch bei ihm meldete, bis er von der Neueröffnung der Bibliothek erfuhr und sie auf ein Treffen ansprach. Beinahe war er überrascht, als sie tatsächlich zusagte. Er zog seine beste Jeans und ein frisch gebügeltes Hemd an und kam sich fast schon zu overdressed für ihren Treffpunkt vor, wollte allerdings auch jeglichen schlechten Eindruck verhindern. Leicht verspätet hechtete er die viel zu hohen Stufen zum Eingang hinauf und suchte mit seinen Augen die Umgebung ab, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken.
Die kühle Luft der Klimaanlage schlug ihm entgegen wie eine Wand, als er durch die schwere Tür trat und er rang für einen Moment nach Atem. Noch immer war keine Spur von Marie in Sicht und er beschloss sich in aller Ruhe umzusehen. Er schickte ihr eine Nachricht, doch eine Reaktion blieb aus. Sichtlich verunsichert schlenderte er ziellos durch die gewaltigen Regalreihen mit all den bunten Einbänden, die zu einem Großteil wohl einiges mitgemacht haben mussten. Zunächst suchte er sie bei den klassischen Werken, später bei den Romanen und zuletzt (insgeheim hoffnungsvoll) bei den kunsthistorischen Bänden und den Kochbüchern. Doch nirgendwo gab es eine Spur von ihr. Als er sich gerade auf einen der Stoffquader niedergelassen hatte, spürte er die Vibration seines Smartphones.
„Du kamst nicht, ich bin vorgegangen. Du findest mich im Untergeschoss.“
Im Untergeschoss befanden sich die Hörbücher. Sicherlich hätte er sie an jedem anderen Ort erwartet als dort. Aber tatsächlich. Er musste die Regallabyrinthe nicht weit durchkämmen, um zu einer gemütlichen Sofaecke zu gelangen, die durch die schmalen Fenster des Souterrains mit genügend Licht versorgt wurde. Dort saß sie, einen der fragilen Kopfhörer über den Ohren, einen Thermosbecher in der Hand und ihre Sonnenbrille auf der Nase.
Er ließ sich auf dem Sofa gegenüber nieder und beobachtete sie eine Weile.
„Hallo“, sagte sie schließlich und nahm ihren Kopfhörer ab.
„Tut mir leid, ich habe mich wirklich beeilt. Aber ich wusste gar nicht, dass du Hörbücher hörst. Ich hatte dich eigentlich oben erwartet.“
„Nunja, der Bestand ist für mich leider eher gering. Hier ist die Auswahl wesentlich größer.“
Er runzelte die Stirn und entschied sich, nicht weiter nachzuhaken.
„Siehst du mit der Brille überhaupt noch etwas?“
Sie gab einen undefinierbaren Laut von sich. Dann wandte sie sich ihm zu und nahm die Brille ab.
Perplex starrte er in schiefe, viel zu helle blaue Augen, die durch ihn durch zu sehen schienen.
„Du bist blind?“
„Korrekt gesagt: Ich bin sehbehindert. Ich erkenne einige Umrisse, so weiß ich beispielsweise, dass du für einen Typen nicht sonderlich groß geraten bist. Aber ja, ich kann nicht lesen wie du. Ich muss Geschichten hören oder sie fühlen. Leider hat diese Bibliothek aber kaum mehr Bücher in Braille-Schrift, die ich noch nicht kenne. Ich hatte eigentlich gehofft, das hätte sich nach dem Umbau geändert.“
Sie seufzte und streckte sich. Er war noch immer überrascht und fühlte sich von ihrem Kommentar fast schon gekränkt, auch wenn er wusste, dass sie es nicht bösartig gemeint hatte.
„Ist es schwer?“
„Was?“
„Na Blindenschrift zu lesen.“
„Ist es schwer, deine Tageszeitung zu lesen?“
„Nein, aber …“
„Vielleicht ist es schwer, wenn du spät damit anfängst. Schwerer, als wenn ein Analphabet erst spät zu lesen lernt. Aber wenn du damit aufgewachsen bist, dann kannst du dir nichts anderes vorstellen. Wie absurd ist es im Grunde, wie voyeuristisch, romantische Lyrik mit den Augen zu erfassen? Und wie natürlich ist es, sie Wort für Wort zu erfühlen, die Wärme unter den Fingerkuppen wahrzunehmen, sanft über die Seiten zu fahren wie über menschliche Haut?“
Er schwieg. Natürlich machte Sinn, was sie sagte und doch erschien es ihm fremd.
„Aber die meisten Bücher musst du doch hören? Ist das nicht ähnlich?“
„Geschichten wurden erzählt, lange bevor sie aufgeschrieben wurden. Viele, viele Jahrhunderte wurden Legenden von Generation zu Generation weitergereicht und jeder hatte die Möglichkeit, seinen eigenen Teil dazu beizutragen. Eigentlich fast schon schade, dass die Vorleser exakt nur das wiedergeben, was sie vor sich liegen haben.“
Sie packte den CD-Player zur Seite und griff in ihre Tasche.
„Aber ich habe auch etwas anderes dabei, dieses Mal Charles Dickens. Darf ich dir etwas vorlesen?“
„Natürlich“, antwortete er noch immer irritiert von der Wendung dieser Situation.
„Sehr gut, ich wünschte ich käme häufiger dazu. Vielleicht sollte ich Vorleserin werden. Ach, ich würde alles noch ein bisschen variieren, wie es mir gefiele.“
„Darf ich denn jetzt erfahren, was du arbeitest?“
„Ich arbeite in einer Blindenwerkstatt. Nicht sonderlich spektakulär, aber wie bei dir – Ich komme über die Runden, da darf ich wohl froh über das Prinzip des Sozialstaates sein.“
Er nickte und kam sich albern vor, weil er nicht wusste, ob das nun angebracht war – Und auch nicht, ob sie es überhaupt gesehen hatte.
„Bist du schon immer blind gewesen?“
„Nein … Das Ganze entwickelte sich in meiner Kindheit. Im Kindergarten war ich noch wie alle anderen, erst im Laufe der Jahre hat sich mein Sehvermögen immer weiter verschlechtert und erst spät haben meine Eltern realisiert, was passiert. Wahrscheinlich wollten sie es zunächst nicht wahrhaben. Danach hieß es für mich Abschied nehmen von meinen damaligen Freunden. Blindenschule, Blindenwerkstatt, immer wieder die Betreuung und Hilfen in meiner Wohnung. Glücklicherweise kann ich auf letzteres inzwischen größtenteils verzichten und komme ganz gut zurecht. Seitdem bin ich allerdings oft alleine. Ich habe irgendwann angefangen, viel zu lesen. Und ich denke, das hatte einen großen Einfluss auf mich, da ich mich seitdem weniger einsam fühle.“
Sie schwieg für einen Augenblick. Er schluckte und versuchte sich vorzustellen, wie es sein musste, in der Dunkelheit zu verschwinden. Er war sich nicht sicher, wie gut er damit zurechtkommen würde.
„Nun denn. Wollen wir anfangen?“
Sie schlug das Buch auf und strich einmal über das dicke Papier. Bedächtig fuhr sie dann mit ihren schmalen Fingern über die winzigen Erhebungen. Er beobachtete sie, sah, wie sich von Absatz zu Absatz ihre Mimik wandelte, wie sie lächelte oder die Stirn runzelte, während sie mit ruhiger und fester Stimme von Oliver Twist erzählte. Mal erkannte er die Szenen wieder, anderes was sie sprach erschien ihm fremd. Und doch beugte sie sich ständig über das Buch als würde sie lediglich die dortigen Worte wiedergeben. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Doch ihm ließ eine Frage noch keine Ruhe.
„Wie sieht es in deinem Kopf aus, wenn du liest?“
„Verstehst du es nicht? Wenn ich lese, dann kann ich sehen.“
dt. Luft und Meer (feat. Buletten-Pelipper)
Weißer Schaum umspielte den tiefbraunen Sand der Küste und ließ dann und wann algenbehaftetes Treibgut zurück, das die Menschen hier so gerne als Werkstoff für allerlei Schnitzereien sammelten. Einige Wingull zogen in der Höhe ihre Kreise um dann und wann gen Wasser zu schnellen und im letzten Augenblick einzulenken. Die Luft war klar und trug den kaum wahrnehmbaren Geruch von nassem Seegras und trocknenden Salzablagerungen ans Ufer.Marlin hatte es sich in einer kleinen Kuhle in den feinen, weißbraunen Gesteinskörnchen gemütlich gemacht und sah ziellos in die weite Ferne, wo ein einzelnes Schiff das Band zwischen Meer und Himmel durchbrach. Das kurze, gelbe Fell schimmerte im Sonnenlicht, die Spitze seines blitzförmigen Schwanzes zuckte aufgebracht und unregelmäßig. Wie gewohnt war er alleine hier, denn für gewöhnlich zogen es seine Freunde vor im kühlen Dickicht des Waldes zu bleiben.
Marlin hatte anderes im Sinne. Er wartete angespannt.
“Na men Kleener? Hamwa 'n Date hier?“
Funken stoben über den Körper des erschreckten Pokémon. Bereit zur Verteidigung war es auf alle Viere gesprungen und ließ die Elektrizität leise knistern. Das Pelipper war instinktiv zurück gewichen, war es doch wenig begeistert von der Vorstellung einen Donnerschock verpasst zu bekommen, sah nun aber mehr belustigt drein und musterte sein Gegenüber eingehend von den Spitzen seiner langen Ohren bis hinab zu den schmalen Hinterpfoten.
“Nu mack e mol halblang. Viellecht kann ick di ja wat helfen?“
Noch immer wirkte Marlin unsicher. Nachdem es den Pelikan eine Weile argwöhnisch beäugt hatte, wurde er sich wieder seiner Überlegenheit bewusst und die Spannung fiel von ihm ab.
“Nu sach e mol, wie heeßt er denn?“
“Ich bin Marlin. Aber wer bist du?“
“Mi nenn' se dit Buletten-Pelipper. Ick heb keen Ahnung warum, ick bin Vejaner, kann de Karpadors doch nix antun. Vielleecht weil ick so jern Aljebällsche futter', dit is eene feine Sache, meen Kleener, ick sach ja bloß. Aber du kannst mi de Bulli nenn', dit is scho ok füa mai.“
Marlin wusste nicht so recht, worauf diese Unterhaltung hinauslaufen sollte, aber Bulli schien das ganz gleich zu sein. Er wartete kurz auf eine Reaktion seines Gegenübers, dann fuhr er munter fort.
“Also Kleener, weshalb biste nu hier?“
“Ich mag Wasser.“
“Ay, ay, ay. Na dit is mia eener. Wasser mach er! Ick dacht‘ du wärst een Pikatschu?“
“Na und?“
Marlin sah fest in das belustigte Gesicht seines Gesprächspartners.
“Och, entschuldije mi, ick bin nit so de feine Kerl, schätz‘ ick. Aber sach ma, kannste denn überhoopt schwimm‘n?“
Marlin zögerte.
“Ja, es reicht jedenfalls um mich über Wasser zu halten, aber eigentlich will ich surfen lernen.“
“Een sörfendes Pikatschu, na wenn dit nit de Hammer heut' is! Det is mi ja de Knaller!“
Marlin schwieg sichtlich verärgert.
“Jaja, dit is nit so eenfach. Aber weeste wat? Mach di ma keene Sorje meen Kleener, ick kenn so een Typ, een Bojelin, de witt di det scho zeije kenne. Un jetzt kommts: Ick bring di gleech hin zu ihm. Was sachste dazu?“
Entgeistert starrte Marlin in den weit aufgerissenen Schnabel seines Gegenübers. Sollte er wirklich mitkommen? Was war das für eine seltsame Wendung?
“Nu kumm scho, meen Rücken hat jenuch Platz für di un bequem is et ooch.“
Als Marlin noch immer keine Anstalten machte, sich in Bewegung zu setzen, hatte Bulli ihn geschnappt ehe er sich versah und packte ihn mit seinem gewaltigen Schnabel am Nacken. Erschrocken wollte Marlin zum Volttackle ansetzen, doch Bulli warf ihn mit einem kleinen Schlenker auf seinen verhältnismäßig kleinen Rücken.
“Alle Achdung, nu jeht es los!“
Mit einem turbulenten Anlauf setzte Bulli an und erhob sich schließlich gekonnt in die Lüfte. Das Land zog unter ihnen vorbei, und Marlin krallte sich panisch am Gefieder seines Trägers fest, der munter über seine städtische Herkunft und deren Zutun an seinem seltsamen Dialekt philosophierte. Nach einiger Zeit erreichten sie eine bewucherte Anhöhe über dem Meer, wo eine Gruppe von Pokémon ein kleines Dorf in einer versteckten Lichtung errichtet hatten. Bulli landete sicher und führte ihn umher. Marlin erblickte Handelstreibende und Beerenbäcker, Schülergruppen und Ältestenräte. Bald schon erreichten sie Bojelins dammartigen Unterschlupf aneinem kleinen Teich. Marlin sah nach rechts und sein Blick kreuzte sich mit dem eines weiteren Pikachus, das sich mit einigen zwielichtig wirkenden Zobiris unterhielt.
“Wer ist das?“
“Ah, dit is di Aeryn. Di Aeryn is eene Aeronaudin. Dit sacht se jedefalls. Di will doch jlatt nach Kalos fliege.“
“Wieso will sie nach Kalos?“
“Kennste nit de Himmelskampf? Eene janz große Sache in Kalos, da kämpft ma in de Luft. Im Fluch! Un di Aeryn will unbedingt jeje di Vöjel antrete. Wennse erstma fliecht, hattse een Vorteil.“
“Aber wie kann sie in der Höhe antreten?“
“Dit is di Sach - Jenau so wie sie nach Kalos kommt. Sie will ja selber flieje. Mit een paar Ballonsken. Dit is noch eene Spur verrückter als du et bist.“
“Sie will fliegen? Nur mit Ballons?“
Marlin war sichtlich unsicher, ob er den Gefährten richtig verstanden hatte.
“Jaja. Mi hattse erzählt, dat de Menschen Ballons ooch im Kampfe nutze, damit ihre Kumpane schwebe kenne. Solche Ballonske will se ooch nutze. Aber ick bin nit di Auskunft, meer musste sie schon selbst fraje.“
Schweigend ließ Marlin sich von Bulli mitziehen, um sich Bojelin vorzustellen, der damit kämpfte einer Gruppe Bidiza das Schwimmen beizubringen, die sie mit lauten “I bims, Bidiza!“-Rufen begrüßten. Marlin sah seine Chance.
“Wenn ich diese Plagegeister übernehme, kannst du mir dann das Surfen beibringen?“
“Ein surfendes Pikachu? Das ist ungewöhnlich, aber sicherlich nicht unmöglich. Manchmal liegt die Natur auch nur daneben. Nun du hast zumindest den Vorteil, dass dein Schwanz breit genug ist um darauf zu stehen. Damit können wir arbeiten, sofern du mir tatsächlich zur Hand gehen würdest.“
Die vorgeschlagene Technik von nun an das Mittel ihrer Wahl. Es war ungewohnt für Marlin, mit beiden Füßen fest zu stehen und sich von der Strömung antreiben zu lassen, aber bald schon war sein Fortschritt unbestreitbar. Er lernte den Vorteil zu nutzen, der sich ihm dadurch bot, dass sein Blitz kein starres Brett war und er sich somit an die Situation anpassen konnte. Immer wieder kam auch Aeryn vorbei um ihm zuzusehen. Beide waren einander bereits von Beginn an wie vertraut und erzählten sich über ihr Leben bevor sie hierher gekommen waren. Wie sie selbst vorankam, hielt sie jedoch geheim. An manchen Tagen sprachen sie auch nur wenige Worte miteinander, obwohl er es sich anders wünschte. Aber ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie bald fortgehen würde, denn schon jetzt wollte er sie nicht ziehen lassen. Allerdings spürte er ihren großen Willen und er hoffte, dass sie alles heil überstehen würde.
Eines Nachts, als er sich rastlos in seinem Strohnest drehte und versuchte seine gequälten Muskeln so gut es nur ging zu entlasten, bemerkte er eine Silhouette vor dem Eingang seines Nestes und raffte sich erschöpft auf, um ihr zu folgen. Die Nacht war klar und mild. Am Ende der Anhöhe saß Aeryn auf einem breiten Baumstumpf und sah hinazf in den tiefblauen Himmel. Still nahm er neben ihr Platz. Mit ihrer Schwanzspitze deutete sie auf den schneebedeckten Gipfel, der über den Baumwipfeln thronte.
“Dorthin. Dorthin würde ich gerne fliegen. Ich möchte unseren Wald von oben sehen. Wie sehen Bäume von oben aus, dort wo ihre Kronen unser Zuhause verdecken? Stell dir nur vor, du gleitest über dieses dunkle Meer aus Blättern und Geäst, über dir das bleiche Licht von Mond und Sternen. Ich will es sehen und ich werde es sehen.“
Marlins Ohren zuckten erregt als er in die angezeigte Richtung sah. Es erschien ihm absurd, dass ein Pikachu fliegen sollte. Er war im Wald geboren worden, irgendwo tief im Flechtwerk der Baumwurzeln. Dort war er zuhause, dort kannte er sich aus. Das Meer zu überqueren war zumindest nicht wider die Naturgesetze. Nur ungewöhnlich und wider ihren Typen.
“Wie genau willst du es eigentlich anstellen?“, fragte er vorsichtig.
“Weißt du, ich mache es wie Driftlon. Ich nehme einfach eine Menge Ballons, die sind in den Menschenregionen leicht zu holen. Dann brauche ich nur eine etwas höhere Anhöhe und genügend Wind.“
“Meinst du nicht, dass das unfassbar riskant ist?“
“Wie heißt es doch? Nur wer wagt, gewinnt. Das Wasser ist dein Element, obwohl du genau so im Wald geboren bist, wie ich. Mein Element ist die Luft. Wir sind eigentlich dazu bestimmt auf festem Boden zu bleiben, aber es zieht uns in eigene Abenteuer. Fliegen ist mein größter Traum und wenn etwas schiefgeht, so muss ich mir jedenfalls nie vorwerfen, ich hätte es gar nicht erst versucht.“
Er nickte, obwohl sein Kopf vor Verwirrung und Müdigkeit dröhnte.
“Wann denkst du, du bist so weit?“
“Ich habe die Ballons längst beisammen. Einige Zobiris aus der nahen Stadt waren mir dabei behilflich, sie zu beschaffen, alles andere wäre schwierig geworden. Ich habe sie nicht getestet, damit ich sie nicht beschädige, aber alles ist exakt berechnet, ich hatte glücklicherweise auch dabei ein wenig Unterstützung.“
“Darauf vertraust du?“
“Wahrscheinlich kann jeder sowas besser berechnen als ich. Aber ich komme mit dem großen Schiff aus Sinnoh, dort haben mir einige Metang alles aufgeschlüsselt und mit Driftlon konnte ich üben. Nun bin ich hier, weil die Ballons hier am leichtesten zu bekommen sind.“
“Wann wirst du aufbrechen?“
“In wenigen Tagen. Wenn der Sommer endet, dreht der Wind und kann mich innerhalb eines Tages nach Kalos bringen. Ich hoffe, du bist dann auch dabei?“
Marlin fühlte sich erschlagen von dieser plötzlichen Information, aber er nahm sich zusammen und nickte einmal.
“Ich zähle auf dich. Du bist das Wasser, ich bin die Luft. Zusammen können wir einen ganz schönen Sturm entfachen. Aber ich bin nun schlafen, ich muss mich bis dahin schonen, die Reise wird mir einiges abverlangen.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um, hielt kurz inne und legte ihre Schwanzspitze kurz an seinen Blitz. Strom durchfloss ihn warm und beruhigend.
“Gute Nacht Marlin, schlaf gut.“
“Gute Nacht Aeryn“ war alles, was er noch hervorbrachte.
Pfeifend rieben sich die Windböen an Stämmen und Stein. Die Wolken zerflossen wie Blut in Wasser während sie mit aller Stärke gen Südost trieben. Die Luft war kühl für die warme Jahreszeit und Marlin fragte sich ob nur er den Eindruck hatte, als zöge ein Gewitter auf. Aeryn wirkte unnachlässig abenteuerfreudig. Mit glänzenden Augen sah sie hinab in das weite Tal, das sich am Fuße des Berges erstreckte.
“Bulli, wie ist der Wind?“, rief sie gegen ebendiesen laut in die Höhe.
“Na ick sach ma für mi is et nu nix, aba füa di kennt et scho stimm'n.“
Sichtlich zerzaust landete der weiße Vogel neben ihnen auf der Anhöhe.
“Dann ist es an der Zeit. Jetzt oder nie. Du wirst schon sehen, ich werde das erste fliegende Pikachu sein, dass unsere Welt je gesehen hat!“
Mit einem Schnalzen legte Aeryn ihre Pilotenbrille an.
“Her mit den Ballons!“
Marlin widerstrebte es die Kiste zu öffnen, doch er kannte Aeryns Begeisterung. Vielleicht ging sie noch ein Stück weiter als er, doch das Prinzip blieb gleich. Vorsichtig drehte er am Verschluss und fasste in den Weidenkorb. Er bekam die Schnur eines der acht Ballons zu fassen und zog daran, bis der Kopf des Ballons von innen gegen die Klappe stieß. Bulli, der sich als Gegengewicht auf der Oberseite niedergelassen hatte, umkrallte die Kante und gemeinsam schafften sie es, den ersten aufgeblasenen Ballon intakt nach draußen zu befördern, ohne dass die anderen ihrer Aufbewahrung entwiechen. Geübt befästigte Aeryn ihn an ihrem Gürtel, während Marlin sie sichernd festhielt. So fuhren sie fort, bis nur noch zwei Ballons übrig waren und Aeryn sichtlich im Wind taumelte. Als Marlin etwas energischer an der Schnur des Ballons zog, ertönte ein Knall - Bulli schlug aufgeschreckt mit den Flügeln und hatte im letzten Moment so viel Geistesgegenwärtigkeit, zu verhindern, dass der letzte Ballon entwiech. Dann erstarrten alle drei für einen Moment und blickten auf die Reste des Ballons, die an der Schnur in Marlins Pfote hingen.
“Und nu?“, erkundigte Bulli sich als Erster blinzelnd.
“Dann eben mit sieben. Es reicht aus, ich kann mich jetzt schon kaum mehr halten. Die Metang haben es mir ohnehin so ausgerechnet, das war nur ein zusätzlicher Schutz.“
Marlin fühlte ein zunehmend flaues Gefühl im Magen. Wie mechanisch folgte er Aeryns letzten Anweisungen und holte mit aller Vorsicht den letzten Ballon aus der Kiste, um ihn gemeinsam mit ihr zu befestigen, während Bulli sie nun gegen die Windböen flatternd mit der Spitze seines Schnabels auf dem Boden hielt.
“Also dann. Marlin, Bulli. Danke euch beiden! Ich hoffe wirklich, dass ich euch bald wiedersehen kann. Wenn ich mir erst einmal als Blitz der Lüfte einen Namen gemacht habe. Marlin, versprich mir, dass du weitermachst. Bin ich der Blitz der Lüfte, bist du jener der See. In ferner Zukunft wird man noch von uns sprechen, wir werden auf Briefmarken sein. Oder auf Sammelkarten! Denn wir haben die Natur überwunden, um dem Ruf in unserem Inneren zu folgen. Wir beherrschen unsere Elemente wie niemand sonst.“
Sie sah in die weite Ferne, wo die Wolken einander jagten.
“Du kannst loslassen, Bulli. Ich versuche gleich Anlauf zu nehmen, dann werde ich springen.“
Marlin konnte dem Drang, sie zu packen und festzuhalten kaum widerstehen, aber er wusste, dass es ihren sicheren Tod bedeuten würde. Ängstlich sah er zu, wie Aeryn schließlich ansetzte und mit Hilfe eines kräftigen Stoßes von Bulli in die Winde sprang.
Das Pfeifen mischte sich mit ihrer Stimme zu einem Singsang und so sah er benommen zu, wie bunte Kreise vor seinen Augen durch die Lüfte tanzten und schließlich von der Ferne verschluckt wurden.
...
Weiße Schaumkronen wurden von hohen Wellen ans Ufer geworfen. Vereinzelt hatten sie Treibgut angeschwemmt, das sich auf dem hellen Sand ablagerte. Am Himmel kreisten einige Wingull, die von Zeit zu Zeit übermütig gen Wasser schossen. Ein Hauch von Salz und Algen lag in der Luft. Am Strand reckte ein gedrungenes Pokémon gierig die Nase danach. Sein orangener Körper wirkte elektrisiert bis in die runden Spitzen der gelben Ohren, wobei unklar war ob dies sein Typ oder die Situation verursacht hatte. Mit kristallblauen Augen blickte es hinaus in die weite See. Dann drehte es sich um und nickte einer kleinen Gruppe von Pikachu zu, die sich unweit im weichen Sand niedergelassen hatten.
Für einige Zeit schien das Raichu jeden Muskel seines Körpers anzuspannen, wodurch seine Elektrizität es knisternd umspielte. Schließlich, mit enormem Tempo, rannte es in Richtung Meer, seinen markanten Schwanz weit von sich gestreckt. Mit einer fließenden Bewegung zog Marlin seinen Blitz nach vorne und sprang auf, um darauf endlich der endlosen Ferne entgegen zu reiten.
Letzte Sonnenstrahlen dringen durch grüne Schwaden nach Apfelkuchen duftender Wolken. Pinke Sterne reihen sich herzförmig am grauen Firmament. Ein Drache aus Pergamentpapier zieht seine Kreise am Himmel. Am Strand darunter sammelt eine junge Frau Worte im Sand und baut Wirtschlösser daraus. Mit einer Hand rückt sie den Kranz aus Stilblüten zurecht, der ihr Haupt wie eine Krone ziert. Ziellos schweift ihr Blick in die Weite, wo ihre Freunde in fernen Ländern Wortgefechte austragen. Sie selbst hat den Federkiel niedergelegt und denkt mit Schauern zurück wie oft sie an Klippen hing. Aber sie weiß: Autoren sind die Götter ihrer eigenen Welt.
Stille herrschte in Bisahausen, als auch die letzten Glühwürmchen zur Ruhe fanden und Sonnenlicht sich über die traumhafte Landschaft erhob. Weiße Tulpen wiegten sich im silbernen Wind, der über See und um Baumstamm strich, überzogen von türkisem Blaulicht. Einzelne Wolkenstreifen schienen sich hier zu Hasen und dort zu Piranhas zu formen, bevor sie sich schließlich auflösten. Ein Geronimatz sang ein letztes Nachtlied und verstummte anschließend, um der Handlung dieser Geschichte Raum zu geben.
Holmes, der erst kürzlich Detektivmod geworden war, trank seine Fanta aus und kickte die Pfandflasche anschließend missmutig in eine Ecke seines entsetzlich kleinen Büros. Als ambitionierter Neuling schlug er sich viele Nächte um die Ohren, um für die Sicherheit der Gemeinschaft zu sorgen. Nicht, dass ihm das keine virtuellen Kopfschmerzen bereitete. Im Gegenteil, so war er doch in den letzten Tagen Dauergast in der Lounge, um dort hin und wieder einen Vinum zu trinken und die Sorgen zu vergessen. Doch heute Morgen stand ihm der Sinn nach Apfelkuchen und so schleppte er sich kurz nach zur Kuchentheke, wo zu seinem Erstaunen sein Kollege 007 bereits auf ihn wartete.
"Hergott, Holmes!", schoss in diesem Moment die Besitzerin Jenna hinter der Theke hervor und stolperte dabei beinahe über ihre Mieze, die es sich unter einer Sidebar gemütlich gemacht hatte.
"Endlich bist du hier! Stell dir nur vor, jemand hat all meine Backwerke gestohlen! Nicht nur Apfelkuchen und Käsekuchen, sogar Zuckerschnecken und Blaubeermuffins scheint er zu mögen. Alles, was übrig ist, sind Kekskrümel!"
Erstarrt blieb Holmes stehen und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie sein Rivale ihn musterte.
"Vielleicht solltest du deine Nachtschichten künftig lieber mit dem Verwarnen und Sperren von Sittenstörern verbringen, als dem Leeren eines Becks nach dem anderen! Das nennt man wohl Bierschelle. Oder doch 'Reality hits you hard?'"
Empört wollte sich Holmes verteidigen, wurde jedoch von Jenna unterbrochen.
"Ach, hört auf niveaulos zu sein! Das steht euch so gar nicht und bringt euch sicher nicht voran. Gibt es denn bereits einen Verdacht, Herr Komissar?", wandte sie sich an 007.
"Jim Moriarty", antwortete seiner statt Holmes gelangweilt und erntete einen wütenden Blick.
"Ich entschuldige mich, jedoch darf ich über laufende Ermittlungen keine Auskunft geben", schloss 007 und schlug sein Notizbuch auf.
"Gibt es irgendwelche Zeugen?"
Sichtlich verunsichert sah Jenna zwischen den beiden Widersachern hin und her und wandte sich schließlich an 007.
"Sie könnten den kleinen Domi von nebenan befragen, er ist solch ein Gamefreak, er dürfte die Nacht sicher wieder durchwacht haben. Oh, und versuchen Sie es vielleicht auch bei Emil und Marcel gegenüber der Krämerin!"
"Wir werden den Fall bald aufgeklärt haben. Das Troll-Oberkommando ist doch längst nicht mehr das, was es einmal war. Justice always wins!", versprach 007.
"Oh bitte, aber beeilen Sie sich – Was tut Bisahausen denn nur ohne Apfelkuchen?!"
An der Tür trennten sich die Wege. Während 007 sich fleißig Interviews führte, machte sich Holmes auf den Rückweg zur Wunderwache. "Ach, wäre ich doch bloß Mathematiker geworden wie Euler. Oder Astrophysiker", dachte er bei sich.
"Mit Logik hat das nicht minder zu tun, aber es bleibt zumindest Zeit für eine Runde Chess und muss sich nicht mit solchen Antihelden herumschlagen!"
Verärgert startete er IceFox und durchsuchte die Datenbanken nach Sätzen zu Moriarty. Denn hatte er einmal einen Verdacht, so erwies sich dieser selten als falsch. Langsam wie eine Weinschnecke lud Seite für Seite, doch von Hinweisen über eine Kuchenvorliebe Moriartys fehlte jede Spur.
"Seltsam", grübelte Holmes und aß derweil eine Aprikose. Fruchtsaft tropfte auf seinJacket von Bench und er ärgerte sich wieder einmal über seine Dienstzeiten. Vielleicht sollte er sich versetzen lassen. Alaska war ihm sympathisch und was sollte so hoch unter Sirius schon passieren?
Und kaum dass er sich über Flug815 über New Yorkleff informierte, stürmte laut kleffend sein bissiges Bissbark herein und schnappte nach seiner Schuhsohle.
"Lass das, du kleiner Rambo!", ächzte Holmes und hob vorsichtshalber einige Unterlagen zum Verschwinden des legendären Blauwels außer Reichweite, die er wie ein Massi auf seinem Schreibtisch hortete, anstatt sie abzuheften. Just in diesem Moment klingelte sein Poke-Cell. Fluchend griff er nach dem Gerät.
"Holmes hier, nicht der Sherlock, aber der Thomas!", meldete er sich entnervt.
"Na Thommy, willst du nicht wissen, wo der Kuchen hin ist?", erklang eine wohlbekannte Stimme.
"Das weiß ich auch Jim, in deinem Bauch, du halber Dieb!"
"Nur halb? Wie schade. Aber lass uns doch mal wieder plaudern, Thommy, ich langweile mich so sehr ohne unsere Spielchen. Mein Kumpel Lukas ist ja solch eine Spaßbremse! Nichts geht über unser hollywoodsfinest Katz- und Mausspiel. Aber wie du möchtest. Ich mach mich jetzt aus dem Sternenstaub und warte heute Nacht beim Rotlicht auf dich, steck deine Schweinenase mal nicht in jeden Kloshit!"
Verärgert knallte Holmes den Poke-Cell auf den Dielenboden und war froh über seine schützende Silikonhülle. Moriartys Anrufe out of the Blue waren nichts Neues und vermochten es doch jedes Mal aufs Neue seine Wut ins Unendliche zu treiben.
Vollkommen übermüdet beschloss Holmes sich noch einige Stunden in sein kleines Bettparadies zu hauen und dann den mysteriösen Aufforderungen Moriartys nachzukommen.
Am Abend zog Holmes verborgen vom Schatten seine Runden über die Spaßmeile, vorbei an sexy Shizuh und Günther, erotischen Evolis, die vor dem Bisaboardell posierten und mit weitem Bogen um einige Gruppen mit geheimnisvollen Namen wie "KNB" oder "BBBs".
Suchend glitt sein Blick über das bunte Treiben, das sich wie auf dem Rummelplatz in die Zelte der magischen Miesmuschel drängte und schwarzen magic Eisteeschlürfte.
Als er Moriarty schließlich erblickte, blieb ihm fast sein Chili-san im Hals stecken. Ein starker Geruch nach Moschussiii breitete sich aus – Was war da bloß im Busch?
"Ach Holmes, du oberkrasse Olive. Was habe ich dich vermisst!"
Mit einem Finger drehte er am Topaz an seinem Handgelenk und blickte den Detektivmod schelmisch grinsend an. Doch Holmes blieb vorsichtig. Moriarty mochte zwar nicht stark wie ein Bär oder Herkules sein und obendrein schusselig wie ein ungeschicktes Sichlor, jedoch war er mental Einstein reloadet.
"Jim, mein Silberkind. Reichte dein Zückerli nicht mehr für den Griff zu Dr. Oetker, oder wieso unterziehst du ganz Bisahausen dem Apfelkuchen-Entzug?"
"Iss milka und spiel dich nicht auf, als wärst du Impergator, Sweetie!"
Wütend du ungeduldig begann Holmes darüber nachzudenken, wie er den Fieselfitz dingfest machen könnte. Solch ein Mist aber auch, dass sein Ninjutsu über die Jahr eingerostet war.
Doch da kam ihm die blendende Idee. In Windeseile würde nach dem berüchtigten Jim Moriarty schlichtweg einen Premierball werfen, um den Gauner nach dem Showdown in UHaFTnir zu nehmen und ihn schließlich in den Cheaterball zu überführen wie einst den Colonel. Moriarty, der dies tatsächlich nicht kommen sah, lehnte sich an den Bonzai hinter ihm und wartete noch immer darauf, dass Holmes das Gespräch fortsetzte.
Dieser jedoch grub wie ein Ruinenmaniac in der Tasche seines Trenchcoats und ergriff schließlich einen Premierball, um den sich seine Finger nun unnachgiebig klammerten.
"Sieh der ungeschminkten Wahrheit ins Auge, Käsebär! Deine Eisseele wird nun von den Sittenhütern Bisahausens überwacht und sicher nicht mehr so schnell Mad Max spielen! Alles in unserem Memory, weißt du?", sagte Holmes, der sich endlich wichtig fühlte und tippte sich eifrig an die Stirn.
Mit bemerkenswerter Noblesse holte Holmes zum Schwung auf und saugte den entgeisterten Jim Moriarty in sein Bällchen, bevor jener auch nur "Kuschelkrähe" sagen konnte. Nach wenigen Sekunden verschwand das Antlitz des Schurken vollständig vom Bildschirm.
"Was für ein anstrengender Tag", seufzte Holmes und beschloss, den Tag mit Tee und Apfelkuchen ausklingen zu lassen. Jenna würde mitGeld aus der Versteigerung des Topaz mit Sicherheit jeden Verlust verschmerzen können.
Und so senkte sich die Abendsonne über die beschauliche Welt der Bisamenschen und ihrer Pokémon und Holmes war mehr als froh, dass die nächste Olympiade und ihre Verpflichtungen zumindest noch auf sich warten ließen - Ganz im Gegenteil zu seiner Beförderung ...
Papier stapelte sich auf den alten Tischen aus Eichenholz, deren splitternde Lackierung von jahrelanger Beanspruchung zeugte. Das Licht neumodischer Glühlampen schien auf wissenschaftliche Berechnungen und bildete einen Kontrast zu den massiven Bücherregalen und Vitrinen, die nahezu antik wirkten. Draußen war die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden und ein übel gelaunter Nachtwächter verzog das Gesicht ob der Stärke der Kohlensäure seiner Gratislimonade aus dem monoton surrenden Getränkeautomaten hinter der Eingangstheke. Für Besucher hatte die Bibliothek von Fleetburg ihre Pforten längst geschlossen und so lag über den langen Regalreihen und Tischen ein Mantel der Ruhe, in dem nur mehr die abgegriffenen Seiten dicker Wälzer lautlos ihre Geschichten vor sich hin säuselten.
Nur zwei Menschen befanden sich noch immer im Gebäude – Der eine damit beschäftigt, eine blecherne Dose in der Hand zu drehen, der andere seinen Federhalter. Auf einem dunklen Holzschemel mit bemerkenswert buntem Sitzkissen saß ein Mann mittleren Alters tief gebeugt über seinen Notizen.
Kurven und Linien wandelten sich unter der Führung seines Federhalters zu Zahlen, Zahlen kombiniert mit weiteren Zeichen ließen komplizierte Formeln entstehen.
Was andere für gewöhnlich abstieß, das faszinierte ihn überhaupt erst – Albertus Kleinstein fühlte sich zu dieser späten Stunde angenehm zufrieden in der stillen Welt der Mathematik. Seine Rechnungen waren für ihn nicht nur Mittel zum Zweck, nein, vielmehr öffneten sie für eine beliebige Zeit ein Tor, durch das er schlüpfen konnte, um in imaginärer Ferne der Banalität des Alltagstrotts zu entfliehen. Und doch – heute Nacht hatte er sich ein hohes, wie einzig für ihn greifbares Ziel gesetzt: Er würde nach jahrelanger Arbeit schlussendlich jenen einen fehlenden Faktor in der Gleichung finden, die die Effektivität der Pokébälle bestimmte. Er bebte vor Aufregung und Müdigkeit.
„Und die Differenz hieraus wird schließlich zu … Unter Einbezug von Z jedoch, könnte auch … Und teilt man dann durch W, ergibt sich ...“
Albertus gähnte. Nicht nur der heutige Schlaf musste zugunsten der Wissenschaft verschoben werden, auch dem gestrigen, sowie vielen weiteren Einheiten zuvor, hatte der eifrige Professor mühsam widerstanden. Doch es wurde zunehmend schwieriger und Albertus spürte zu allem Übel, dass nicht nur sein Körper, sondern auch sein sonst so wacher Geist erste Schwäche zeigte. Angespannt griff er nach seiner Teetasse und hatte urplötzlich unvorstellbare Mühe, sie nicht fallen zu lassen. Und so war es glückliche Fügung, dass er erst aufblickte, als er das Porzellangefäß bereits wieder auf der Tischplatte abgestellt hatte.
Zunächst war es lediglich ein zartrosa Schimmern, das seine kostbare Aufmerksamkeit auf sich zog. Irritiert quittierte er seine Beobachtung mit einem tiefen Stirnrunzeln und warf einen schnellen Blick Richtung Flur, wo irgendwo gerade der Wächter seine Runden drehte.
Im selben Moment schien die Luft im Raum vor ihm eigenartig zu flimmern; was aus nicht sichtbaren Teilchen und Leere bestand, waberte auf und ab wie eine Alge, die von Meerwasser umspült wird. Materie floss zusammen, verdichtete sich und bildete einen Körper und ehe er sich versah, war aus dem Nichts vor ihm ein schimmerndes Pokémon in einer Vielzahl von Pastellfarben entstanden. Ruhig blickte es ihm aus seinen rosaroten Augen entgegen, während der funkelnde Stein in der Mitte seiner Stirn zu pulsieren schien.
„Ich bin Cresselia und ich werde dir geben, wonach du suchst, wenn du mir helfen kannst.“
Albertus schrak überrascht zusammen – so hatte er Cresselia ebenso für ein Gerücht gehalten, wie sprechende Pokémon.
Sein Gegenüber senkte den Kopf.
„Folge mir und du wirst sehen, wie abseits deiner bekannten Welt deine Theorien zur gleichen Zeit bestätigt und widerlegt werden können. Aber sei vorsichtig, denn die legendären Mächte, denen du begegnen wirst, sind aufgebracht und stellen eine große Gefahr für alle Menschen dar. Sie müssen besänftigt werden, damit Raum und Zeit ihre gegebene Funktion erfüllen können, wie bislang. Es ist riskant, jedoch sagt man, du seist einer der intelligentesten Forscher deiner Zeit und nicht minder ein Verfechter von Frieden, der es nicht darauf anlegt, Macht zu erlangen. Wenn du den Sprung wagen möchtest, so gehe durch das Portal, das ich hinterlasse und du reist dorthin, wo man deine Hilfe so dringend braucht. Ich werde dort warten.“
Für einige Sekunden schwebte Cresselia geräuschlos auf und ab und warf einen warmen Schein auf die ledernen Buchrücken. Dann verschwand das anmutige Pokémon auf die gleiche Weise, auf die es gekommen war. Was zurückblieb, war ein Flimmern, das Albertus magisch anzog.
Dennoch zögerte er. Seine Arbeit war bedeutsam und er durfte nicht riskieren, dass sie in seiner Abwesenheit für falsche Zwecke benutzt werden würde. Er ging zur Tür und drehte den Schlüssel. Einen weiteren Moment hielt er inne, bewegte sich dann aber auf das hinterlassene Portal zu und streckte eine Hand danach aus, die noch immer einen Stift umschloss. Wie er sich fortbewegte, spürte er einen stärker werdenden Sog. Noch war es ihm möglich, umzukehren, doch Albertus hatte seine Entscheidung gefasst. Ohne seiner Vernunft Zeit zum Einspruch zu geben, nahm er wenige schnelle Schritte, schloss seine Augen und ließ sich vom Sog erfassen. Ein Schwindel machte sich in ihm breit und ihm war, als wäre er dabei, sein Bewusstsein zu verlieren.
Als er benommen die Augen öffnete, war er umgeben von dunklem Nebel. Ein tiefes Grollen donnerte über ein gepflastertes Plateau und brach sich an zusammengefallenen Säulen. Inmitten der antiken Ruine nahm er Schemen dar, deren Größe selbst inmitten des zerfallenen Tempelbaus noch immer gewaltig wirkte. Erschrocken presste Albertus seinen Körper an eine der Säulen und konzentrierte sich auf seinen Atem, der seinem schnellen Puls geschuldet beängstigend kurz war.
„Willkommen an der Speersäule“, vernahm er in diesem Moment eine Stimme in seinem Kopf. Er blickte sich um und sah die Umrisse Cresselias unweit seines Standorts.
„Was du hier siehst, sind die Erschaffer und Wächter von Raum und Zeit, auch bekannt als Palkia und Dialga. Sie halten diese Welt in ihren Fugen und ermöglichen ihren Bewohnern damit das Leben.“
Ein Blitz, begleitet von einem tiefen Donnern, erleuchtete für einen Sekundenbruchteil die kolossalen Körper der legendären Pokémon.
„Doch wie du siehst sind sie aufgebracht - Im Streit aneinander geraten und nicht durch mich zu besänftigen. Ihr Anführer, die Gottheit Arceus ist verschwunden und ließ sie hier zurück. Nun bekämpfen sie sich bis zum bitteren Ende, ohne, dass so fern der Zivilisation etwas davon zu euch dringt. Zumindest, bis einer der beiden den anderen vollständig vernichtet hat.“
Cresselia pausierte und gab der bedrohlichen Atmosphäre mehr Wirkungsraum.
„Ich bitte dich … Zu deiner Rechten siehst du zwei Bälle. Es sind Meisterbälle, die jedes Pokémon zu fangen vermögen. In den falschen Händen bergen sie das Potenzial zur absoluten Zerstörung dieser Dimension. Fange die beiden ein und besänftige sie somit, bis ihr Anführer widerkehrt. Ohne dich wird diese Welt verloren sein!“
Albertus fühlte sich nahe der Ohnmacht. Aber schließlich gelang es ihm, seinen Kopf zu wenden. Zwei Kapseln in Rosa- und Lilatönen lagen neben ihm. Kaum etwas unterschied sie von anderen Pokébällen, bis auf das markante M, das ihre Oberseite zierte. Mit zitternden Händen griff er nach den Bällen und bemerkte dabei erst, dass er noch immer seinen Federhalter umklammert hielt. Eilig ließ er ihn fallen und nahm kaum wahr, wie er auf den glatten Steinplatten zerbarst, bevor er die mächtigsten aller Pokébälle in seinen Händen hielt – Pokébälle, die es selbst vermochten, Raum und Zeit zu bändigen.
Mit weichen Knien stand er auf und robbte sich sorgsam an der Säule entlang in Richtung des Platzes. Je näher er kam, desto klarer wurde die Sicht auf die beiden Rivalen, die ihn inmitten ihres Kampfes nicht wahrzunehmen schienen. Albertus atmete tief durch.
In diesem Moment schlug nur wenige Meter neben ihm eine Welle ein, die es vermochte den Stein zu sprengen und Albertus mit ihrer Druckwelle zu Fall brachte. Grollend erhob sich zunächst Dialga, dann Palkia und wandten sich dem Eindringling zu. Mit einem lauten Schrei begann Dialga seine tödliche Attacke aufzuladen. Albertus schloss die Augen.
Ein helles Leuchten, dass durch seine geschlossenen Lider schien, brachte ihn dazu, aufzusehen. Cresselia war ihm zur Hilfe geeilt und hüllte die Kontrahenten in ein blendendes Licht. Es war seine Chance.
Schnell griff Albertus nach den Pokébällen und warf sie nach den beiden Legenden. Ein Donnerhall ertönte, dann war er von Stille umgeben. Vor ihm ruhten, als sei nie etwas geschehen, die zwei Meisterbälle. Als er gerade zum Himmel sah, brach die dunkle Wolkendecke auf und ein goldener Schein ließ ihn die Augen abschirmen. Eine weiße Gestalt fuhr herab auf den Platz und hielt inne, bevor sie unter markantem Ausruf die Bälle zum Schweben brachte und mit ihnen in einem flimmernden Portal verschwand.
…
Als Albertus erwachte, prickelten Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Er sah auf und fasste sich an den Kopf. Wie lange hatte er geschlafen? Das Zimmer um ihn drehte sich und er fühlte sich ebenso beansprucht wie ausgeruht. Mit einem Mal, war ihm, als hielt er den Schlüssel in seiner Hand. Der fehlende Faktor erschien ihm klar umrissen vor Augen.
Gehetzt fiel sein Blick auf seine Aufzeichnungen und er griff nach seinem Federhalter. Erst, als der Kiel über sein Papier kratzte, bemerkte er, dass das, was er hielt, gar kein Stift war, sondern eine glänzende, rosafarbene Feder.
Juli, 1816.
Winde fegten heulend vorbei an den morschen Stützbalken der Holzhäuser, die längst ersetzt werden sollten. Eiskristalle bedeckten schmutzige Glasscheiben wie feingearbeitetes Silber auf Morast. Unnachgiebig schoben sich die Wolkenmassen nordwärts über das weite Land und absorbierten auch den letzten Strahl der sonst um diese Zeit so glühend heißen Nachmittagssonne. Es war kalt, nicht nur für die Jahreszeit. Nein, wenn es eine höhere Macht gab, so hatte sie das einst reich beschenkte Land mittlerweile aufgegeben und schleuderte den eisigen Pfeil zurück auf seine Untertanen, die ihn unbedacht abgefeuert hatten. Zurück zu uns.
Wenn Himmelszorn herniederfährt
Scheint das Leben bald farblos, verschwommen
Also fürchtet das Jahr ohne Sommer
wo Sonnenschein nicht wiederkehrt
Ich wand mich ab vom Fenster und griff zur Schreibfeder, die stets getreu auf ihren Einsatz wartend auf meinem Sekretär ruhte. Tinte verklebte einzelne Strahlen der einst weißen, weichen Fahne und bewies, dass ich die bitteren Tage häufiger zur Niederschrift von Gedanken und zur Bürokratie nutzte. Eigentlich war es an der Zeit für einen Ersatz, doch die sonst zu Scharen zurückkehrenden Kanadagänse mieden das gottlose Land und hatten sich seit Frühjahr nicht blicken lassen.
Mit spitzen Fingern öffnete ich das fein geschliffene Tintenfass und versenkte den Kiel achtsam bis zum Nabel. Bereits ausgefranst kratzend schob sich die Spitze über das dicke Papier und nur mit Mühe erhielt ich ein einheitliches Schriftbild. Sorgsam übertrug ich die ernüchternden Gewinne aus dem Handel mit den Fellen der einheimischen Pelztiere, die bereits vor diesem Jahr weitestgehend ausgerottet zu sein schienen und nun in letzten Verstecken Schutz vor der Jagd der Indianer suchten, die auf diese Weise die so dringend benötigte Medizin für ihr Volk ertauschten. Mein Blick glitt zum grob gewebten Wandteppich mit den feinen Stickereien, den ich zusammen mit den frischen Häuten entgegengenommen hatte. Gemischte Gefühle befielen mich, als ich die heroisch dargestellte Jagdszene betrachtete.
Just in diesem Augenblick glitt ein Tropfen Tinte von der Spule und fraß sich in das Pergament wie frisches Blut in Schnee. Ich zögerte, drückte jedoch erneut auf und zuckte zusammen, als der Kiel mit filigranem Knacken brach. Mit einem Anflug von Abscheu sah ich auf meine Aufschrift und erhob mich. Das dunkle Holz meines Zimmers erschien mir mit einem Male bedrohlich, hämisch und gemeinsam mit dem schuldlosen Weiß hinter den Wänden wie eine Metapher für den Kontrast dieses auf Ausbeuterei gestützten Lebens. Irgendetwas drängte mich nach draußen, wo einem die kalte Luft die Atemwege versengte wie sonst nur der heiße Rauch der englischen Fabriken. Fabriken gab es hier nicht. Und ebenso wenig die Hitze, die diese mit sich brachten. Ich sehnte mich nach dem warmen Kitzeln der Sonnenstrahlen, doch auf mildes Wetter warteten wir vergebens. Es schien, als wäre 1816 ein Jahr ohne Sommer.
Erneut trat ich ans Fenster und hoffte auf ein Zeichen, dass mich anwies, was nun zu tun war. Ein Hinweis, wie der Sommer wieder Einzug in unserer beschaulichen Gemeinde halten würde? Doch kein Zeichen erschien. Meine Gedanken schweiften ab zu dem Ort, an dem ich meine letzten Federn lagerte, aber ich konnte mich nicht aufraffen, meine Arbeit fortzusetzen. Bedeckt von einem dicken Mantel aus Leder und Fell trat ich so kurze Zeit später ins Freie und setzte meine ersten Spuren in den feinen Neuschnee zu meinen Füßen. Wie mit einem leichten Grollen gab die weiße Masse nach und schien mich verzweifelt festzuhalten, war ich erst einmal darin versunken. Mit steifen Fingern kratzte ich die juckenden Bartstoppeln und fluchte innerlich über meine planlose Situation. Zwar hatte sich das Schneetreiben seit Wochen nicht mehr zu einem Sturm verdichtet, doch schienen die Straße und der wolkenbedeckte Himmel ineinander überzugehen, beide nur Flecken auf dem einzigen, weiten Laken, das sich über mein gesamtes Sichtfeld spannte.
Ohne wirkliches Ziel folgte ich eine Weile dem Weg, der mich jenseits der Stadtgrenzen, hinaus in die nur von Indianern durchstreifte Wildnis führte, als ein schwarzer Schatten, der über den Boden glitt, meine Aufmerksamkeit bannte. Ich blickte gen Himmel. In endloser Stille majestätisch gleitend zog ein prächtiger Adler seine Kreise über den niedrigen Häusern und Baracken europäischer Siedler, um nach einigen Sekunden seinen Weg landeinwärts fortzusetzen und mich mit einer schwermütigen Sehnsucht zurückzulassen. Zunächst meine Augen, dann meine Beine folgten der Route des stolzen Tieres und mein Kopf zeichnete das Bild einer glänzend schwarzen Schreibfeder, die in Nistnähe des Vogels aufzufinden sein musste. Den Sommer mochte ich niemals finden, aber zumindest meinem Broterwerb würde ich bald wieder nachgehen können. In diesem Moment verschenkte ich keinen Gedanken mehr an meine Sicherheit, sondern folgte nur meinem inneren Drang, der mich fort von der schützenden Zivilisation trieb, immer weiter in die so außergewöhnlich kalte Landschaft in diesem eisigen Juli.
Wir Menschen siedeln unbedarft
Opfern Flora und Fauna dem Handel
Doch die Welt, die wir unberührt fanden
Ist uns doch niemals untertan
Ich war wohl etwa eine Stunde gelaufen, als ich das erste Mal anhielt und begann, mich um meine steif gefrorenen Füße zu sorgen. Es dämmerte bereits, die Sonne wanderte wohl gen Nordwesten, um die Welt über der undurchdringbaren Wolkendecke in sanfte Goldtöne zu tauchen. Den Adler hatte ich nicht wieder erblickt, doch stattdessen breitete sich hinter einem Schleier aus leichtem Nebelfrost eine unberührte Landschaft aus, in der hohe Fichten brüderlich zusammenhielten und ihre weiten Zweige schützend über moosbedeckte Steine und verkümmerte Sträucher reckten. Der Wind fuhr durch die schweren Äste und wehte von Zeit zu Zeit kleine Mengen Neuschnee zu Boden. Als ich mich gerade umdrehen wollte, um in anderer Richtung weiterzugehen, huschte ein kleiner Körper durch das morsche Unterholz. Interessiert schritt ich näher, gespannt, was ich sehen würde. Starr wie ein Eisklotz, verharrte ein kleines Hermelin und sah mit vibrierendem Schnurrhaar in meine Richtung.
Ich zog leise die Luft ein, war das Pelztier doch mittlerweile ein halbes Vermögen wert. Instinktiv griff meine Hand zu einem stabil geschmiedeten Messer, das ich zu meinem eigenen Schutz stets in meinem Mantel trug. Doch mitten in mein Zögern mischte sich der gellende Schrei eines Adlers, der sich über die Wipfel senkte und mich schließlich von einem tief hängenden Ast aus zu beobachten schien. Blauschwarz glänzten die Federn und ich fühlte, wie mich eine seltsame Aura umhüllte. Für mich stand außer Frage, dass es dasselbe Tier wie zuvor war.
Das Hermelin ergriff seine Gelegenheit und war in Sekundenschnelle verschwunden, ohne auch nur das Interesse des Greifvogels geweckt zu haben. Doch ich selbst blieb an Ort und Stelle. Würde mich der gewaltige Vogel zu seinem Unterschlupf führen?
Langsam ging ich näher.
Als hätte er nur darauf gewartet, breitete er jedoch die weiten Schwingen aus und war hinter den hohen Tannen abgetaucht, kaum, dass ich einen Schritt getan hatte. Ich verlor keinen Gedanken mehr und eilte in das unwegsame Gestrüpp vor mir. Zweige kratzten meine trockene, gerötete Haut und immer wieder stolperte ich über Wurzeln und verrottendes Holz, das unter der Schneeschicht den Boden des Nadelwaldes bedeckte. Schnee stob mir ins Gesicht und mittlerweile spürte ich, wie auch der so dick geglaubte Mantel eher spärlichen Schutz vor der gnadenlosen Außenwelt bot. Zum ersten Mal erwischte ich mich bei der stillen Frage, wie ich ohne auch nur einen Kompass bei mir zu haben zu meinem Wohnort zurückfinden sollte.
Ich war erneut eine Weile gelaufen und war bereits schwach von Hunger und Durst, als ich mit dem Fuß ins Bodenlose trat. Entsetzliche Panik brach aus mir heraus, als ich in Sekundenbruchteilen stürzte und mitten durch scharfkantiges Gehölz und Gestein einen Abhang hinunterrollte, wo ich reglos liegen blieb.
Es saust herab das Hagelkorn
Das uns Ernte und Leben zerstört
Aber nie unser Flehen erhört
Bringt jeder auch stets Klagen vor
Als ich erwachte, brannte die Welt.
Die Sonne schob sich als flimmernder Feuerball in den eisgesäumten Horizont und tauchte mit letzter Kraft die gesamte Landschaft in ein feurig goldenes Licht. Ich lag weich und blickte von einer Anhöhe aus über ein weites Tal, durch das in der Ferne rauschend ein breiter Fluss mäanderte. Obwohl es erkennbar Abend war, fror ich nicht, vielmehr war ich ergriffen von einer inneren Wärme, die gleichsam mein Äußeres wie eine Decke umhüllte. Aber auch eine leichte Benommenheit erfüllte meinen Körper, sodass ich mir erst nach und nach meines schmerzenden linken Knöchels gewahr wurde, als ich vorsichtig versuchte, meine Position zu verlagern. Wo war ich nur?
Nachdem ich es meiner Unbeholfenheit zum Trotz geschafft hatte, mich aufzurichten, drang eine Melodie an mein Ohr. Sie schien keines natürlichen Ursprungs zu sein und doch wirkte es so, als entspränge sie direkt der Seele der Welt, die vor mir lag. Flötentöne wehten über die Klippe in das Tal und webten einen Klangteppich, der die Kälte fast verscheuchte. Ich war irritiert, hatte ich doch bislang erwartet, alleine zu sein. Ich wandte mich um.
Eine junge Frau mit langem, schwarzem Haar saß mit verschränkten Beinen zu meiner Linken. Sie hatte sich wie ich dem Tal zugewandt und ihre geschlossenen Augen teilten mir mit, dass ihr entgangen war, dass ich mein Bewusstsein wiedererlangt hatte. Etwas unsicher bewegte ich mich an Ort und Stelle, so musste die Frau doch eine Einheimische jener Stämme sein, die einst das Gebiet unseres Dorfes besiedelt hatten und nun ihr Überleben nur durch die organisierte Jagd auf Wild, mit dem sie einst Seite an Seite lebten, sicherten. Vorsichtig beobachtete ich, wie ihre grazilen Finger geschickt über das sonderbar helle Holz ihres Instruments fuhren und lauschte den so fremdartig klingenden Tönen. Gerade wollte ich ansetzen, ihr Spiel zu unterbrechen, als bereits zum zweiten Mal ein Schatten es war, der meine Aufmerksamkeit weckte; erneut der wohlbekannte Adler, der über dem Tal kreiste. Und wie magisch angezogen, heftete sich mein Blick an den Verlauf des gleitenden Fluges. So dauerte es, bis ich mit einem Mal realisierte, dass das Flötenspiel derweil aufgehört hatte. Mit einem leichten Unbehagen wendete ich mich nach links, doch niemand saß mehr im kühlen Schnee. Stattdessen schrak ich bitterlich zusammen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
Doch dem, der reinen Sinnes ist
Reicht Tambora die schützende Hand
Ihre Botschaften schmücken das Land:
Der Einklang kennt kein Hindernis
"Es freut mich, dass es dir besser geht. Du bist gestürzt und hast einige Tage hier verbracht, ohne gänzlich das Bewusstsein wiederzuerlangen, da die Kälte bereits tief in deine Adern gekrochen war. Trink das."
Ich zögerte und sah unschlüssig auf die Schale, die sie mir hinhielt. In ihren dunklen Augen spiegelte sich die golden glitzernde Welt und die plötzliche Harmonie der Szene bereitete mir Unbehagen. Ich schien sie zu amüsieren und schließlich gab ich nach und trank von einem warmen Tee, den sie mir zubereitet hatte.
Sie setzte sich vor mich.
"Mein Name ist Tambora, meine Herkunft von keiner Relevanz. Doch eins will ich euch Siedlern mitgeben."
Sie wurde ernst und hielt inne. Dann fuhr sie mit Nachdruck fort.
"Achtet, was euch ergeben scheint."
Ein Knacken zu meiner Rechten ließ mich für einen Moment zur Seite blicken und schenkte mir das Bild eines Hermelins, welches mehrere Jungtiere mit sich trieb. Ich spürte eine seltsame Anwandlung von Schwindel, dann drehte ich mich zu meiner Retterin um. Doch statt über das Gesicht der jungen Frau schweifte mein Blick ungehindert über die friedliche Weite Kanadas. Suchend sah ich mich um, doch nirgends war eine Menschenseele zu entdecken. Da bemerkte ich einen Umschlag, der vor mir lag und griff danach… Als eine Stimme in meinem Kopf ertönte:
"Willst du zurück, so folge dem Adler."
In diesem Moment erst bemerkte ich das mir inzwischen wohlbekannte Tier und tat, wie mir geheißen. Unter seinem Geleit, im Schein der letzten Sonnenstrahlen, fand ich irgendwie meinen Weg zurück.
Das nächste, was meine Erinnerung für mich zurückbehielt, war der Augenblick, als ich in meinem weichen Bett erwachte, geweckt durch das zarte Licht einer noch vorsichtigen Sonne, die sich ihren Platz zurückerkämpfen wollte. In meiner rechten Hand lag ein Umschlag, den ich nun öffnete. Eine blauschwarze Feder fiel mir entgegen und landete auf meinem Bauch. Doch mir war nicht mehr nach Buchhaltung. Ich griff nach Pergament und schrieb.
Bewahrt das Land, das euch bewahrt
Wem gegeben wird, wird auch genommen
Und ich bin ihm mit Müh‘ nur entkommen
dem Jahr, von dem ich Zeuge war.
Vor langer Zeit, als die Welt noch nicht das war, was wir heute kennen und die Pokémon, wie sie heutzutage unsere ständigen Begleiter darstellen, noch nicht das waren, was wir nun gewohnt sind, ereignete sich einer der berühmtesten Kämpfe unserer Geschichte, dessen Ausgang den Verlauf der Weltgeschichte maßgebend beeinflusste…
So erhob sich feurig rot vom sandigen Grund ein gewaltiges Wesen. Seine Klauen, scharf wie Dolche, bereit zum entscheidenden Schnitt, strahlte es eine geradezu beängstigende Erhabenheit aus. Es schien, als hätte es lange Zeit auf diesen einen Moment gewartet, der nun endlich gekommen war.
Fast schon an ein hämisches Grinsen anmutend bleckte es seine spitzen Zähne und stieß einen markerschütternden Schrei aus.
Und just in diesem Augenblick zog eine andere Kreatur, nicht minder eindrucksvoll als die Erste, ihre Blicke auf sich – die blausilbrig schimmernde Haut mit Wassertropfen benetzt, die geheimnisvollen, roten Muster aufleuchtend, tauchte es aus den Wassermassen auf und es war so, als habe die Welt auf diesen Kampf gewartet, den Kampf der Giganten, Wasser und Erde, Erde und Wasser traten gegeneinander an, um den wahren Herrscher zu bestimmen.
Schon fuhr die blaue, walartige Kreatur auf das glühende Wesen zu, da wendete sie in letzter Sekunde und sank tief hinab auf den Grund des Meeres, unruhig seine Kreise ziehend. Groudon, wie man die Verkörperung des Landes in späterer Zeit nannte, ließ sich davon nicht beirren, alle Gliedmaßen zum Bersten angespannt blickte es über das Wasser, bereit zuzuschlagen, wenn sein ewiger Rivale wieder auftauchte.
Kyogre, wie der Name den die Menschen dem Meeresungeheuer gaben, lautet, sammelte derweil seine Kraft, um schließlich mit einem heftigen Schlag seiner Hinterflosse ohne einen weiteren Schwimmzug aus dem Wasser zu schnellen und eine gewaltige Menge des flüssigen Elements auf Groudon niederprasseln zu lassen. Dieses brüllte wütend auf und peilte mit seinen düsteren Augen nach seinem Gegner, der in kürzester Zeit nach seiner Attacke wieder auf den Grund herabgesunken war. Das nächste Mal würde es sich sicherlich nicht so einfach überlisten lassen…
In der Tat ließ der nächste Angriff nicht lange auf sich warten, Sekundenbruchteile nachdem die roten Zeichen auf Kyogres Körper im seichten Wasser aufleuchteten, schoss es erneut aus diesem, doch dieses Mal gelangte es nicht dorthin zurück; Groudon seinerseits erzeugte eine riesige Lavafontäne, die Kyogre mit ihrer vollen Wucht traf, was das elegante Wesen mit einem schmerzgeladenen Schrei quittierte, und als es zurück in das kühle Nass sprang, erhärtete die Lava um es herum und stellte ein schwierig zu überwindendes Hindernis dar. Groudon fletschte die Zähne und hob dann einen Fuß nach dem anderen, auf die Lagune zu, in der sich Kyogre befand, bereit für den finalen Schlag, der seinen Sieg bedeutete. Schon war es nur noch wenige Meter entfernt, da witterte Kyogre seine Chance und zum zweiten Mal prasselte hart wie Nägel das Wasser auf jenes, welches nun zwar heftig angeschlagen war, aber trotz der Gefahr seinen Vorteil ausspielen wollte…
Mit seinen tödlichen Pranken hieb es, den Blick starr auf seinen Gegner gerichtet, aus, kurz vor dem Schlag, der vielleicht seinen Sieg markierte. In einem letzten Moment des Triumphes blickte es auf den bald nicht mehr existierenden Ozean bis es schließlich mit voller Kraft seine langen Krallen in die glatte Haut des legendären Wals schlug.
Dieser wand sich unter den Schmerzen und sah zum Himmel auf, einen stillen Wunsch nach Rettung äußernd, von dem es nicht erwartete, dass er sich rechtzeitig erfüllen würde. Groudon griff erneut an und es schien, als sei Kyogre, das immer noch in der versteinerten Lava gefangen war, nun am Ende seines Lebens angelangt. Kurz vor der Niederlage gelang es der blauen Kreatur, die Lava zu durchbrechen und tief im Meer Erholung zu suchen und einen erneuten Angriff vorzubereiten. Groudon ließ nun auch von seinem Standpunkt über Wasser schwere Steine auf die Stellen, an denen es sein Pendant vermutete, fallen, seines Sieges schon sicher.
Kyogre währenddessen hatte sich etwas erholt und war nun wieder zu kämpfen imstande, was es auch keine Sekunde verzögerte und sofort mit einer eisigen Kälte Groudons voriges Lavamanöver konterte. Zum Glück des Landerschaffers traf die Attacke nicht, denn sonst hätte es übel um es gestanden, dafür ließ Kyogre nun schon zum dritten Male Wassermassen dem Eis folgen.
Doch plötzlich brach die Wolkendecke auf und den zerstörten Kampfplatz blendete göttliches Licht.
Ein erhabener, metallisch grüner Drache erschien am Horizont, in verwirrend eleganter Weise seine Kreise über dem Geschehen ziehend, das grelle Licht im Rücken.
Gebannt von dem Stadium, das der Kampf der beiden Legenden erreicht hatte, verharrte es einen Augenblick, bevor es vom Schmerz über das Geschehene erreicht, aufschrie, und außer sich von seinem Standort herabfuhr. Groudon und Kyogre stoben so gut es ihnen ihre Situationen erlaubten, auseinander, doch schien es als hätten sie ihre Tätigkeit, der sie gerade eben noch nachgegangen waren, völlig aus den Augen verloren, gebannt vom Auftauchen ihres Anführers, Rayquaza.
Dieses hatte nun keine Zeit zu verlieren und mit der Kraft, die ihm innewohnte, erlöste es beide von ihren Schmerzen, um sie nun in einen langen Schlaf zu schicken, dem sie beide verfallen würden, bis jemand, der der Begegnung der Legenden würdig war, die Kugeln, in denen ihr Lebensgeist nun wohnte, an den hierfür vorgesehenen, heiligen Ort brachte, um somit die geheimen Kammern der beiden zu öffnen und sie wiederzuerwecken, um sie vielleicht, wer wusste es schon, für immer zu vereinen. Das Licht brach sich auf den Schuppen des grünen Drachens, während er nun, da er seine Mission für eine unbestimmte Zeit erfüllt hatte, zu dem Ort, aus dem es zuvor erschienen war, zurückkehrte; der mächtige Himmel in dessen Ozonschicht es das Treiben auf der noch jungen Erde überwachte, bereit einzuschreiten, falls die natürlichen Gesetze in ein Ungleichgewicht gebracht würden, wie es sich hier nun schon zum wiederholten Male zugetragen hatte. Doch nun, da die ewigen Rivalen getrennt voneinander ruhten, würde fürs erste vielleicht endlich Frieden einkehren und dem schönen Planeten war eine gute Zukunft bereitet, auch wenn niemand je vergessen sollte, was sich einst hier zutrug, da es bewies, zu was die ausgelebte feindselige Rivalität der beiden führte, zu ihrem eigenen Nachteil.
„Ich sehe dich dort draußen im Wind.
Anfangs führt die Schnur des Lebens dich sanft durch die starken Winde, lässt dich tanzen und freudig hüpfen, hält dich fern von den irdischen Gewittern und holt dich auf den Boden, wenn du zu hoch fliegst. Du wirst deine Grenzen testen und doch immer wieder zurückgehalten werden von drohendem Übel. An manchen Tagen dreht sich die Spule schnell und du hast das Gefühl, du könntest jedes weit entfernte Ziel erreichen. Die, die dich steuern freuen sich mit jedem Stück, das du höher das Blau des Himmels erklimmst, bis die Sonne dir gefährlich wird und droht dich auszubleichen. Und sie sind es, die dich schnell auf den Boden zurückholen. Wütend wirst du hierhin und dahin zucken, da du selbst doch am besten weißt, wohin du willst, aber du hast dich ihrem Willen zu biegen.
Du alterst und lernst andere kennen. Steigst und fällst mit ihnen zusammen. Eure Schnüre kreuzen und verknoten sich für eine Weile, doch meist werden sie von starkem Wind oder deinen Steuerern wieder entwirrt, bevor du ganz abstürzt. Mit der Zeit passieren die Unfälle und hier und da bist du nicht mehr neu, doch an dir hängen Erinnerungen und Gefühle, niemals bist du nur ein Objekt.
Die Sanduhr rast und die Schnur wird porös. Oft wird sie reißen und immer wieder sorgsam zusammengefügt werden. Es hinterlässt seine Knoten, doch diese machen dich stärker und lassen dich nie vergessen, was geschah. Und eines Tages ist es so weit. Du bist bereit und machst dich los um getragen vom Wind nicht mehr zu ihnen zurückzukehren. Sie werden weinen, dich vermissen und an dich denken, aber du hast deine eigenen Strecken zu fliegen und kannst dich nicht länger kontrollieren lassen. Du verfängst dich und stürzt ab, doch jemand ist oft da und hilft dir, vielleicht flickt er die Löcher, die deine Misserfolge hinterlassen haben und behält dich eine Weile für sich. Doch irgendwann wirst du erneut verschwinden, deine Schnüre mit anderen kreuzen und glücklich sein. Du weißt, das Leben in der Höhe ist gefährlich, doch du machst weiter und willst immer mehr.
Bis du eines Tages abstürzt und keiner da ist um dir aufzuhelfen.
Drache, eigentlich bist du nur wie ich …“
Leise und mit vibrierenden Lippen las Eliza die Zeilen aus dem Handbuch für Drachenflieger. Keine Lampe war an, nur die dämmernde Abendsonne sah zum kleinen Fenster hinein und winkte ihr mit ihrem Licht zu, sodass sie langsam Schwierigkeiten beim Entziffern der Wörter bekam. Und doch wirkte alles leicht golden in diesem Augenblick. Der schwache Schein der Sonne, der Apfelbaum vor dem Fenster, der schon Generationen überdauert hatte, samt seinen herbstlichen Blättern und das viele Holz in ihrem gemütlichen Zimmer. Sie war müde, aber dennoch hievte sie ihre nackten Füße aus ihrem Bett und ließ sie mit einem uneleganten, klatschenden Geräusch auf den Boden fallen um schwerfällig aufzustehen. Ihre Tür war nur angelehnt und das kleine Mädchen huschte lautlos durch den Spalt zur Treppe hin. Pete, ihr Dackel stand mit aufgerichtetem Schwanz auf dem Wohnzimmerteppich und ließ sie keine Sekunde aus den Augen, als sie vorsichtig an der Garderobe hantierte und ihren kleinen, roten Mantel suchte.
„Sei still, Pete“, formten ihre zarten Lippen, als sie die Haustür öffnete und ihre Ballen einen nach dem anderen auf dem kühlen Backstein unter ihr absetzte. Nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, eilte sie zur Garage und warf sich in eine staubige Kiste, wild umherwühlend, die Beine schon beinahe steil zur Decke aufragend. Dann hatte sie ihn gefunden. McFly, ihren treuen Drachen, den sie einst von ihrer Großmutter bekommen hatte. Uralt war er und nicht so bunt und groß und ausgefallen geformt wie die neueren Modelle. Aber Eliza liebte diesen Drachen, da an ihm Erinnerungen hingen und er schon so lange in dieser Familie war. Dieser Drache hatte vor langer Zeit einmal im Krieg einem Menschen das Leben gerettet, indem er als Ablenkung für den Soldaten diente, den ihre Großmutter geliebt hatte. Er nahm ihn mit nach Hause und als er seine spätere Frau kennenlernte waren sie es, die täglich auf den Hügel in der Nähe des Bauernhaus kauften, indem sie geboren worden war und ihn immer wieder steigen ließen. Und nach dem Tod ihrer Großmutter war es Eliza, die auf den Hügel stieg und zusammen mit ihren Großvater den Drachen besonders hoch steuerte, als letztes Abschiedsgeschenk für die faszinierende Frau, die ihre Oma für sie dargestellt hatte. Sie hatte ihn ihr kurz vor ihrem Tod geschenkt, da der Mann ohne die Verbindung zu seiner Frau kaum noch Gefallen an dem Windtänzer fand und ihn mehr und mehr an die Schrecken des Krieges erinnerte. Erneut ging sie den sandigen Weg und lauschte dem Flüstern des Windes im Gras, der ihr versprach, ihren Freund heute besonders hoch zu tragen. Es war wirklich sehr windig und hatte sich im Verlaufe des Abends immer weiter zugezogen, aber Eliza hatte keine Angst. Sie war die beste Drachenlenkerin des Dorfs, zudem der Hügel auf dem sie lebten gehörte. Schneller und schneller lief sie, weit war es nicht mehr bis zur höchsten Stelle und noch während des Laufens hob sich der Drache empor, stieg tänzelnd in den Himmel und wurde eins mit seiner Umgebung. Auf dem Gesicht des Mädchens lag ein Ausdruck so reiner, kindlicher und unschuldiger Freude, dass wohl kein Betrachter jemals das Bild, das sich ihm bot, zerstört hätte.
Doch dann schien der Himmel weißer und weißer zu werden. Eliza kniff die Augen zusammen und sah dennoch nur verschwommen. Ein unangenehmes Piepen begann und alles schien sich um sie zu drehen. Die alte Frau wachte auf. Schwach richtete sie sich ein wenig auf und betrachtete unglücklich die Schläuche, die aus ihrer Hand ragten und die vielen, ihre letzten Monate erleichternden technischen Hilfsmittel im Zimmer ihres Altersheims. Über 70 Jahre war sie alt und viel erlebt, das hatte sie in der Zeit. McFly war schon lange nur noch ein Bild in ihrem imaginären Album, denn nur wenige Wochen vor ihrem 14. Geburtstag war sie es, die an einem windigen Tag zu übermütig wurde und die Schnur reißen ließ. Die Wunde war nie verheilt, da sie den letzten lebendigen Teil ihrer Großmutter nicht beschützt hatte und er von immer von ihr gegangen war. Aber auch sie selbst unterschied sich wenig von seinem Schicksal. Sie lernte ihren Mann kennen und heiratete, bekam jedoch keine Kinder und verfiel nach seinem Autounfall dem Alkohol. Erst spät kam man ihr zur Hilfe, doch die Versuchung blieb ständig da und zerfraß ihre Seele, nahm sie ein und wurde ihr ein Leben lang zur Last. Und in all diesen Situationen hatte sie das Handbuch für Drachenflieger zur Hand genommen und die umgeknickte Seiten aufgeschlagen, ihre Hand über die leicht gelblichen Seiten fahren lassen, wellig von ausgeschütteten Getränken und hier und da leicht zerrissen. Oft las sie die Einleitung und starrte an eine Wand, saß alleine auf einem Sofa.
Rasselnd ging ihr Atem und ihr Brustbein schmerzte, als sie sich wieder hinlegte, die faltigen Hände umfassten sich tief unter der schweren Decke. Man hatte das Buch weggeworfen. Entsorgt, als sie hierher kam, in ihr lebendiges Grab, wo doch in Wirklichkeit alle nur auf ihr Ableben warteten, um einen neuen Platz freigeben zu können, vielleicht für einen gesprächigeren und offeneren Anwärter als sie es hier je war. Tränen stiegen in die müden Augen der alten Frau und die Decke, die ihren abgemagerten Körper bedeckte schien mit einem Mal schwerer denn je. Das Piepen des Geräts verwandelte sich in einen monotonen kreischenden Klang, als sie endlich ihre Ruhe fand und ihre Großmutter sie in Empfang nahm.
Dunkelheit. Geschlossene Augen, ein verzweifltes Tasten nach etwas. Nach jemandem, nach einer anderen Existenz. Ein haltloses, rastloses Suchen und ein unendliches Scheitern. So erscheint manchmal die Welt. Bis die Fingerspitzen etwas fühlen, etwas, am anderen Ende des Armes, eine Leitung zu jemand anderem. Der andere Arm tastet sich heran und der andere erwidert die Berührung. Wie eine Flamme scheint er inmitten der Dunkelheit zu lodern, die Welt zu erleuchten und sie in warme, weiche Farben zu hüllen. Jede Faser des Körpers scheint sich zu öffnen und zu schweben inmitten eines unberührbaren Raumes voller Menschen, die einen doch nie wirklich erreichen. Doch das Zucken seiner Flamme zeigt die Zerbrechlichkeit eines solchen Augenblickes. Ein Windhauch, eine eigene Berührung und das Licht zieht sich zurück. Erlischt, oder färbt sich schwarz. Schwarze Flammen recken sich empor und strahlen ihre Farbe inmitten die endlose Düsterkeit. Und plötzlich, ganz schnell. Und manchmal gleichzeitig doch quälend langsam, spürt man den Augenblick des Falls in den tiefen Abgrund. Den Boden erreicht man dabei nur selten. Denn wenn man Glück hat, erblickt man ein weiteres Licht im Dunkel und hält sich daran fest. Wird gerettet. Oder weitergeworfen. Jedes Licht wirft seinen Schatten und mit der Zeit füllt sich auch das eigene Leben damit. Bis sich eine Flamme von den anderen abhebt. Diese wird nicht erlischen und das eigene Feuer entfachen. Erstärkt, bis der Tod die Bande löst. Oder die eigene Naivität ihre Maske abnimmt. Dunkelheit und Licht. Sie gehen Hand in Hand.
Ein Park bei Nacht. Was kannst du sehen?
Eine leere Bank. Die überquillenden Müllcontainer. Ein Obdachloser, gehüllt in zerschlissene Decken. Die alten und kranken Bäume sowie das langsam fallende Laub und die nackten, kahlen Äste.
Zwei Menschen Hand in Hand. Zwei Menschen, die gewöhnlich sind. Aber das macht sie besonders. Zwei Menschen, die sich nicht einbilden, anders zu sein, aber es doch gerade dadurch sind. Zwei Menschen, die den Mondschein nutzen, um all dem zu trotzen, was ihre Bande zerbrechen wollte. Eine Frau, alt und hager, die die Zeit gezeichnet zu haben scheint. Die zu viel erlebt hat und deren weiche, faltige Haut ein Schild gegen die Außenwelt ist. Auch wenn sie so schwach wirkt. Ein Mädchen, das den Krieg erlebt hat und deren Herz für den Frieden schlägt. Sie lächelt.
Ein Mann im gleichen Alter. Fülliger und stolz geht er neben ihr. Er wurde bereich beschenkt, das Füllhorn des Lebens leerte sich über ihm aus und doch floh er seiner perfekten Welt. Er floh aus der Illusion in die Realität. Soldat, dann Offizier. Erneut wurde sein Leben perfekt im Vergleich zu den anderen Strängen, die sich unter ihm wanden. Und erneut floh er. Aber er fand seinen Stolz wieder. Bei ihr. Er lächelt.
Gemeinsam gehen sie zu dem Obdachlosen und bringen ihm die Decke, die kurz zuvor noch auf ihrem Sofa lag. Dann, ohne lange seinen Schlaf zu stören, gehen sie hinüber zu der Parkbank. Sitzen gemeinsam im Mondlicht und schweigen. Sie brauchen keine Worte um einander zu verstehen.
Ich sitze auf der Fensterbank, und fahre mit einem Zeigefinger meinen Knöchel hinab. Mein Nacken schmerzt von meiner unbequemen Position, aber ich kann nicht anders. Fasziniert fixieren meine Augen den runden Vollmond. Dann sehe ich hinab in den Park. Ein altes Ehepaar sitzt auf einer Parkbank und ich lächle über meine Gedanken. Ich bin eine Träumerin, träume von der Perfektion. Die Nacht nimmt mich in ihre Arme und aus ihrem Gewand klaube ich Scherben geträumter Geschichten und füge sie neu zusammen.
Ich senke meinen Kopf und beuge mich wieder über das Notizbuch auf meinem Schoß. Genug Inspiration für diese Nacht. Lächelnd greife ich zum Kugelschreiber und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Schreiben, das ist das, was man aus meinen tagsüber geröteten Augen liest. Schreiben, das ist das, was ich nachts tue. Im Mondschein.
Schneeflocken rieselten unnachgiebig vom hellgrauen Himmel herab.
Feingliedrige Eiskristalle bedeckten Steine und Pflanzen. Der Frost schien den sonst doch so lehmigen Pfad in reinen Diamant verwandelt zu haben - Kalt und funkelnd breitete sich der schmale Weg zwischen den hohen Tannen aus, welche jeden Reisenden auf dieser Passage mit ihrem gewaltigen Ausmaß unter sich zu begraben drohten.
Stille herrschte in dem weiten Wald, längst waren die Tiere in ihre Verstecke gekrochen oder vor dem bedrohlichen Eis geflüchtet. Nur eine junge Frau schritt unbeirrt ihres Weges, ein kleines Kästchen nahe an ihr Herz gepresst. Die lähmende Kälte war längst durch ihre dicken Stiefel und ihren wallenden Mantel gekrochen. Einen solchen Winter hatte man hier seit Jahrhunderten nicht mehr durchlebt und es war offensichtlich, dass dies kein Streich der Natur war.
Ein Ast knackte tief zwischen den Kiefern und Saira fuhr herum. Blitzartig schnellte ihre rechte Hand zu dem Dolch, den sie tief unter ihrem Gewand bereithielt. Sie wusste, dass das silberne Messer ihr kaum einen Schutz bot, dennoch war es die effektivste Waffe, die sie abseits ihres Bogens noch bei sich trug und wohl sicherlich die vielseitigste.
Einen Moment lang blickte sie in die Weite des Waldes, doch wo sie hinsah hoben sich nur die graubraunen Äste von der trügerisch weißen Reinheit des Schnees ab. Aufmerksam spitzte sie ihre Ohren, aber die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen, waren das Klopfen ihres Herzens und ihr gepresster Atem.
Sie raffte entschlossen ihren Umhang und ging weiter. Man hatte ihr ausdrücklich verboten sich auf den Pfaden der Händler zu bewegen, aber sie war schwach und wusste nicht, wie lange sie es aushalten würde weiterhin über umgefallene Bäume und Felsen klettern zu müssen ohne sich zu verletzen oder entdeckt zu werden.
Saira senkte den Kopf und biss die Zähne zusammen. Ihre blauen Lippen schmerzten, aber sie versuchte es weiterhin zu ignorieren. Sie fragte sich, wie stark wohl nun der Kontrast ihrer flammenden Haare zu der bläulich-weißen Haut war und wünschte sich mehr denn je an einen wärmenden Karmin.
Ein Schatten schien an ihr vorbei zu huschen, doch als sie nach rechts sah, blickte sie in die Einöde der schneebedeckten Baumgruppen. Sie blinzelte kurz und presste das kleine hölzerne Kästchen dicht an ihr Herz, wie um den Inhalt vor der unwirklichen Welt zu schützen.
Nach einigen Minuten sah Saira auf. Der Weg vor ihr gabelte sich um einen morschen Wegweiser, dessen verwitterte Lettern man bloß noch erahnen konnte, wenn man sie nicht schon ewig kannte. Sie atmete tief durch und sah sich nach allen Seiten um. Ihr Kopf pochte und ihr Puls stieg immer weiter nach oben. Sie fühlte sich beobachtet, konnte jedoch nicht sagen, wieso.
Ein Frösteln kroch über ihren Rücken. Dieses Mal nicht vor Kälte.
"Beruhige dich. Du musst es schaffen", wisperte sie leise.
Dann bog sie auf den linken Pfad ab, der sie zu dem See führen würde, der in jedem Winter von Nebel umfangen war. Jedoch war dies schon beinahe der Ausgang des Gefängnisses aus Tannen, die bedrohlich auf sie hinabsahen. Hatte sie den See überquert würde sie bald an einen Hang gelangen, der sie in das Tale einer Schlucht führte. Von dort aus war es noch ein Tagesmarsch bis zu ihrem Ziel. Dem endgültigen Ziel. Der geheime Tempel der Zoraten.
Beinahe wäre sie froh gewesen, dass die Temperaturen ihre Glieder gefühlstaub machten, als sie wie mechanisch den gewundenen Weg hinabstolperte. Mehrmals hatte sie das Verlangen stehen zu bleiben, hielt sich aber an weiterzugehen.
Bald hatte sie ihre Etappe erreicht. Wirklich sehen konnte sie den See nicht, so dicht war der Nebel über dem gefrorenen Gewässer. Die meisten Einheimischen aus den umliegenden Gemeinden mieden ihn deshalb im Winter, während er die Leute im Sommer mit frischem Fisch versorgte und an warmen Tagen als Badestelle diente.
Die junge Frau seufzte innerlich bei diesem Gedanken. Wie gerne hätte sie ihren Mantel unter der brütenden Hitze des letzten Sommers nun abgelegt und sich in dem kühlen Wasser erfrischt. Stattdessen lag der See jedoch spiegelgleich hinter der weißen Wolke verborgen.
Mit einem Male lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie zweifelte nun keine Sekunde mehr daran, dass sie nicht alleine war. Jemand oder gar etwas anderes lauerte zwischen den Bäumen und hatte seinen Blick fest auf sie geheftet. Vorsichtig drehte sie sich um. Hinter ihr lag der verborgene See während sich vor ihr nun das Spalier der gewaltigen Baumstämme erstreckte. Dieses Mal glitt ihre linke Hand wie unter Zeitlupe an ihrem Gewand hinab und ließ das wertvolle Kästchen in eine der Manteltaschen gleiten. Stattdessen griff sie nach ihrem Bogen und holte einen Pfeil aus dem Köcher. Gekonnt legte sie ihn an und sah wachsam in den Wald hinein. Das schimmernde Paar gelber Augen fiel ihr in just dem Moment auf, als das Wesen bereits auf sie zupreschte. Schnee stob zu allen Seiten davon und das Geräusch, wenn Teile der gewaltigen Kreatur auf dem Eis aufkamen glich einem Pistolenschuss in der Stille.
Doch die Rothaarige reagierte schnell. Zitternd formten ihre Lippen die kraftraubenden Worte und im Nu war die blitzende Pfeilspitze von einem silbrigen Licht umgeben. Ohne auch nur eine weitere Sekunde zu zögern ließ sie los. Melodisch surrend sauste das Geschoss durch die Luft, bevor es sein Ziel erreichte. Der Schuss hatte getroffen, jedoch war er lediglich in einer Flanke des gewaltigen Wolfs gelandet, der schmerzhaft aufjaulte, sich aber schnell wieder fing und lauernd innehielt. Seine menschlichen Augen symbolisierten nichts als Hass und die junge Priesterin wusste sofort, dass es sich um eine jener verlorenen Seelen handelte, die der grausame König in den Lagern seiner Armee aussortiert hatte. Des Körpers beraubt verdammt dazu die tierische Gestalt der jeweiligen Person anzunehmen. Bis an das wahre Lebensende.
Das Knurren drang durch Mark und Bein und die Angst breitete sich weiter in Saira aus. Wie der Nebel, der sie bereits sanft umschloss waberte auch das gefährliche Gift durch ihren Körper und drohte sie zu lähmen. Aufzugeben. Ihre Mission an diesem Punkt zu beenden. Aber sie durfte nicht.
Sie wog ab, ob es ratsam war, auf dieser kurzen Distanz ihren Bogen beizubehalten, ließ ihn jedoch nach wenigen Momenten in den Schnee fallen.
Der Seelenwolf bäumte sich auf und Saira war klar, dass es nur noch Augenblicke dauern würde, bis er erneut angreifen würde. Unnachgiebig hielt sie seine Augen fixiert, versucht, den letzten menschlichen Rest darin zu erreichen, doch es war vergebens. Ihre Hand glitt blitzartig zu dem gesegneten Messer als das dunkle Wesen bereits auf sie zu stürzen drohte. Mit aller Kraft sprang sie zur Seite und rollte sich im unangenehm beißenden Schnee ab. Ein Heulen ging von dem riesigen Hund aus und Saira wusste, dass er Verstärkung anforderte. So schnell sie noch fähig war, suchte sie ihren Rücken nach dem Bogen ab, bereit ihren Gegner nun zu töten.
Doch ihre wertvolle Waffe lag meterweit von ihr entfernt im Schnee und der Nebel war nun bereits so dicht, dass er ihr die Orientierung nahm, wo genau sie ihn abgelegt hatte. Die Zeit schien wie Sand durch ihre ledernen Handschuhe zu rinnen und verzweifelt blickte sie sich um. Noch immer hatte ihr Kontrahent den gewaltigen Kopf in den Nacken gelegt und rief lautstark nach Kumpanen.
Ihr Herz schien zu zerspringen, als sie sich bäuchlings auf das glatte Eis legte und sich quälend langsam vorwärtsschob. Nun von hinten anzugreifen war ihre letzte Chance sicher zu entkommen. Geheimnisvoll schimmerte die Klinge des Dolches, dessen scharfe Spitze sich bis aus dem wahrnehmbaren Bereich des Betrachters erstreckte. Eine gefährlichere Nahwaffe gab es wohl mit Ausnahme des heiligen Schwertes im gesamten Land nicht. Doch war jenes nicht einmal halb so wendig wie das silberne Messer.
Saira wünschte, sie wäre mehr auf Nahkampf spezialisiert als auf den Umgang mit Pfeil und Bogen.
Zentimeter für Zentimeter. Die Zeit schien stillzustehen.
Dann jedoch raste ihre Welt an ihr vorbei und lediglich der begleitende Laut hallte in ihren Ohren wider; Das Heulen weiterer Wölfe.
Nun war es vergebens.
Der Seelenwolf mit den gelben Augen sprang herum. Er wusste genau wo sie war. Es dauerte einen Moment und ihre Hand wanderte an ihrem Gewand hinab bis zu der harten Ausbeulung an ihrer Kleidung. Ein letztes Mal strich sie über das alte Holz und die goldenen Scharniere, dann formten ihre Lippen zum zweiten Male innerhalb weniger Minuten eine Beschwörung. Doch diese nahm ihr ihre letzte Kraft. Sie riss den Dolch in die Höhe, dessen plötzliches feuriges Glühen sich über den ganzen See hinweg ausbreitete. Ihr Kontrahent jaulte auf und wich zurück, doch er würde nicht mehr fliehen können.
Mit einem ohrenbetäubenden Krachen kam der Dolch auf der dicken Eisdecke auf und zerbarst die trügerische Fläche in Sekundenschnelle zu kleinen Schollen, die alles, was sie auf sich ruhten nun in die Tiefe rissen. Saira warf einen letzten Blick nach oben in den grauen Himmel und den stürzenden Wolf, dann nahmen die eisigen Fluten sie in ihre Arme und trugen sie und ihren wertvollen Besitz immer weiter auf den Grund des dunklen Gewässers, entschwindend der Welt der Lebenden.
Leise raschelnd fällt das Laub von den hohen Eichen. Licht bricht durch die kahler werdenden Äste und wirft seine Sprenkel in das Meer aus bunten Farben. Noch verhindern die Blätter den Blick nach oben in den klaren Himmel. Doch bald werden die Zweige sich krachend und ächzend unter gewaltigen Winden biegen, um sich anschließend nackt und starr nach oben zu winden und den Blick auf die Wolkendecke frei zu geben, aus der friedlich der weiße Schnee fällt. Eine Welt eiskalt und starr. Bis der Kreislauf von vorn beginnt. Dieses Leben ... Ist es mehr als eine bloße Abfolge von Zyklen?
Rauschend flog das Weltall an dem kleinen Jungen vorbei, der in der Mitte der runden Kapsel saß. Sein Stofftier eng im Arm, die Spielzeugtrommel rhythmisch schlagend lief eine alte Figur vorbei. Sein Blick schweifte auf die Handschellen an der Wand und er fragte sich, inwiefern er einen Polizisten in seine Geschichte einbauen sollte. Vielleicht als ... Weltraumpolizei?
Erst als der Fernseher im Wohnzimmer angeschaltet wurde und der Lärm der Soaps seine Fantasie brach, kletterte er von seinem Hochbett. Wie sehr hoffte er, dass seine Träume eines Tages Realität würden und er fort von dieser Welt fliegen konnte.
Die Schildkröte gähnte und wackelte mit ihrem Schwanz, als sie aufwachte, um sich weiter auf gen Süden zu machen. Denn in der Ferne fand man doch das Glück ... Oder etwa nicht?
Zu Weihnachten war sie mitsamt anderem "Spielzeug" wie einem Schaukelpferd unter dem Baum gelandet. Doch wie kleine Kinder waren, verloren sie schnell ihre Freude an ihrem Hab und Gut. Und so waren seit Weihnachten einige Abenteuer durch die Kanalisation vergangen, in denen sich aus dem kleinen Schildkrötenmädchen eine echte Dame entwickelt hatte. Irgendwo dort auf ihrer Reisekarte, weit unten an dem großen Feuerberg ... Da würde sie die Ihrigen finden. So zumindest hatte sie es in der Kanalisation aufgeschnappt. Als sie langsam über den grauen Asphalt kroch und das Hupen schon zur Einheit verschmolz, da erst fragte sie sich, was sie sich zu finden erhoffte. Doch da war es schon zu spät.
Die Blätter unter ihren Füßen knistern leise, als sie durch das Dickicht irrt. Doch das Mädchen sieht nicht nach unten. In ihrer Hand hält sie eine einfache Papiertüte und ihr Blick ist starr nach oben gerichtet. Als die Wolken die Sonne freigeben, läuft sie schneller - Immer weiter bis sie schließlich die Lichtung erreicht. Dort öffnet sie ihre Tüte und fängt das Licht. Warm legen sich die Strahlen in die Tüte, bis das Mädchen genug davon hat. Nun kann sie zurück.
"Bevor ich sterbe, möchte ich noch ein letztes Mal die goldenen Lichtstrahlen spüren. Denkst du, du kriegst das hin?"
[spoiler=Kastanienmännchen (2014)]Eifrig drehte und wendete ich die Kastanien, die ich mit meinem Vater heute sammelte. Streichhölzer verbinden und schaffen Menschen, die Menschen Familien, und die Familien mir meine eigene kleine Welt. Glatt und angenehm liegen die kleinen, festen Früchte in meinen Händen und schon beginne ich Gesichter zu erkennen. Meine Finger fahren durch die Furchen und Geschichten wirbeln durch meinen Kopf.
Mein Vater holt mich zurück.
"Aber Cecile, das sind Esskastanien!"
Und so trennt er alles ab. Bein für Bein, Arm für Arm, bis meine Welt zerlegt in ihre Einzelteile vor auf dem Tisch liegt. Dann öffnet er den Ofen.