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Es wird mal wieder Zeit für ein neues Topic in diesem Bereich. Und ja, ja, es mag sein, dass ich gerade prokrastiniere (ähäm), aber da ich beim Überarbeiten von „Der Schleier der Welt“ gerade auf das Thema gestoßen bin, dachte ich, ich bringe es hier einmal ein.
Chekhov's Gun. Habt ihr den Begriff schon einmal gehört? Wenn nicht: Nicht schlimm. Ich werde ihn ohnehin noch einmal erklären. Und nur als Vorwarnung: Hier wird es nicht nur um Chekhov's Gun gehen, sondern auch um ein paar Dinge, die damit zusammenhängen.
Also … Chekhov's Gun. Anton Pavlovich Chekhov war ein russischer Schriftsteller, der sich vor allem mit dem Aufbau von Geschichten beschäftigt hat. Dabei war ein Thema, über dass er viel Theorie geschrieben hat, das reduzieren einer Geschichte auf die Dinge, die essenziell für die Geschichte sind. (Das drückt es nicht ganz richtig aus, aber es ist die beste Art, die mir einfällt, es auszudrücken.) Und aus dem Kontext kommt auch der Begriff Chekhov's Gun. Denn in dem Zusammenhang beschrieb er gerne ein Beispiel:
„Remove everything that has no relevance to the story. If you say in the first chapter that there is a rifle hanging on the wall, in the second or third chapter it absolutely must go off. If it's not going to be fired, it shouldn't be hanging there.“
Worum es ihm dabei geht: Als Autor hat man vollkommene Macht über die Welt, die man erschafft, die Geschichte, die man erzählt. Dinge, die zur Handlung nichts beitragen, sollten einfach nicht erwähnt werden.
Und auch abseits von Chekhov findet man dieses Motiv. Man hört immer wieder die Regel: „Jeder Satz in einer Geschichte, sollte die Handlung voran treiben oder den Leser neue Informationen über Charaktere oder Welt erfahren lassen.“
Auch hier steht wieder eine Sache im Vordergrund: Beschränkung auf das Essenzielle.
Allerdings gibt es dahingehend oft ein Problem: Verschiedene Leute haben verschiedene Vorstellungen davon, was essenziell für eine Geschichte ist. Das merkt man allein an dem Unterschied zwischen Chekhov's Gun und dem zweiten Motiv (Story, Charaktere, Welt). Denn Chekhov's Gun konzentriert sich sehr darauf, dass alles, was eingebracht wird, einen Payoff in der Handlung haben sollte. Es sollte noch einmal auftauchen und dann auch eine Rolle spielen. Dabei gibt es allerdings einen guten Einwand: Muss die Waffe wirklich abgefeuert werden, wenn sie da hängt? Sagt sie nicht dadurch, dass sie da hängt etwas über den Charakter, der sie aufgehängt hat, oder die Welt, in der sie hängt?
Chekhov formulierte die ganze Sache mehrfach unterschiedlich und gerade eine Formulierung bleibt mir im Kopf: „Wenn eingebracht wird, dass ein Charakter eine geladene Waffe trägt, muss er diese abfeuern.“ Aber muss er das wirklich? Kann es nicht auch essenziell für den Charakter und seine Darstellung sein, einfach zu wissen, dass er die Waffe hat? Nehmt zum Beispiel einen Veteran, der dank PTSD unter Paranoia leidet und deswegen immer eine geladene Waffe mit sich herumträgt. Muss er diese abfeuern, damit sie diese Rolle erfüllt?
Und ja, ich weiß, ich nehme diese Regel gerade zu wortwörtlich. Und ja, ich mache das ganze gerade mit Absicht, um den Konflikt ein wenig darzustellen. Denn es gibt auch Chekhov's Guns, die nie gefeuert werden.
Habt ihr Zootopia geschaut? Das „Fox repellent spay“, das Judy von ihren Eltern bekommt ist auch eine Chekhov's Gun ohne direkt genutzt zu werden. Denn der essenzielle Teil, den es in der Story spielt, ist, dass sie es die ganze Zeit bei sich trägt, es dann nach der Pressekonferenz beinahe gegen Nick benutzt und das vorerst ihre Beziehung zerbricht. Dafür muss sie es nicht gegen ihn einsetzen. Allein die Tatsache, dass sie darüber nachdenkt, reicht.
Aber wäre auch hier die Frage: Selbst wenn sie es nicht einsetzt, ist es nicht auch etwas, dass etwas über ihren Charakter sagt?
Und ja, ich weiß auch, dass Chekhov's Gun nicht zuletzt auch mit foreshadowing zu tun hat (und man kann behaupten, dass ein Red Herring das fast wortwörtliche Gegenteil ist - also die Waffe, bei der jeder die ganze Zeit davon ausgeht, dass sie in einem signifikanten Moment abgefeuert wird, was aber dann bewusst nicht passiert), aber wie gesagt: Ich möchte ein wenig mehr auf das implizierte Thema dessen, was für die Handlung denn essenziell ist, was nicht und wie Chekhov's Gun oft als Begründung existiert, Szenen zu schneiden, bis der Plot brach liegt.
Ich bringe diese Diskussion gerade auf, weil es einer meiner persönlichen Pet Peeves in Geschichten ist, wenn jede einzelne Szene irgendetwas zur Geschichte beitragen muss und darüber zwangsweise Alltagsszenen verloren gehen. Denn ich mag Alltagsszenen und bin persönlich der Meinung, dass diese extrem wichtig sind, um Charaktere glaubhaft darzustellen, selbst wenn sie mit der Handlung nichts zu tun haben.
Dahingehend bringe ich gern ein Beispiel aus einer älteren Geschichte von mir auf, die mit einer zweiseitigen Szene anfängt, in der der Protagonist nach Hause kommt, eine Nachricht von seinem Vater vorfindet, sich essen aufwärmt, Fernsehen schaut, sich dann an den Computer setzt und dort seinen effektiven „Call to Adventure“ vorfindet. Ist diese Szene über? Ich behaupte nicht. Denn sie bietet den Kontrast zwischen dem Alltag des Helden, bevor er den „Call to Adventure“ erhält, und dem Alltag danach. Es zeigt dem Leser, wie sich dieser Alltag verändert. In meinen Augen sagen die einzelnen Sachen, die er in der Szene macht auch sehr viel über ihn und sein Verhältnis zu seinem Vater aus.
Und da würde schon die Diskussion anfangen. Sind diese Informationen denn wichtig für den Charakter? Ja, würde ich sagen, nein, sagen andere.
Da ich weiß, dass die meisten hier die Geschichte nicht gelesen haben werden, nehmen wir doch zwei andere Beispiele. Beide aus Filmen, wo – dank der sehr begrenzten Laufzeit – oft sehr stark auf diese „essenziellen“ Informationen geachtet wird.
Da hätten wir zum einen ein relativ neues Beispiel, das viel diskutiert wurde und bei dem ich hoffe, dass sich niemand gespoilert fühlt. Es ist für den neusten Star Wars Film: The Last Jedi.
(Obligatorisch, da ich es nicht in einen Tag schreiben will: Spoiler Anfang!)
Der Mittelteil des Films wird vor allem vom „Canto Bight“ Plot ausgefüllt. Um es möglichst nicht-spezifisch zu beschreiben: In diesem Plot gehen zwei Charaktere zu einem Casino, weil sie glauben, dort jemanden zu finden, der ihnen helfen kann. Wir sehen sehr viel von der Casino-Atmosphäre und wie unterschiedlich die Charaktere darauf reagieren, inklusive einiger Witze. Wir sehen dann außerdem, wie bei diesem Casino Tiere misshandelt und Kinder zur Arbeit gezwungen werden. Ein paar Dinge passieren, die beiden Charaktere schaffen es nicht, die Person, die sie suchen zu bekommen, müssen fliehen, befreien dabei aber die Tiere und die Kinder. Jemand hilft ihnen und sie erfahren auf dem Rückweg zum Rest des Plots, dass die Leute im Casino den Krieg befeuern, da sie davon profitieren.
(Spoiler Ende)
Jetzt könnte ich lange darüber reden, wie ausnahmslos jedes Element in diesem Szenario eine Chekhov's Gun ist. Wirklich: Jedes Element, das wir im Verlauf der ersten Hälfte des Szenarios sehen, bekommt in der zweiten ein Payoff. Aber deswegen bringe ich das Beispiel nicht ein, sondern wegen etwas anderem: Viele Leute, die den Film (aus mir unerfindlichen Gründen, aber lassen wir das einmal) nicht mochten, und auch einige, die den Film mochten, sagen, diese ganze Sequenz war unnötig, da sie den eigentlichen Plot des Films letzten Endes nicht voran gebracht hat – nicht zuletzt, da die beiden Charaktere ihr Ziel nicht erreicht haben. Sie sind gescheitert. Außerdem werden diverse Aspekte eingebracht, die – so die Leute – nichts zur Handlung beigetragen haben und deswegen besser hätten gekürzt werden sollen.
Ich persönlich sehe das allerdings nicht so. Denn ich sehe in der Sequenz eine Menge unglaublich wertvoller Szenen, die uns viel über die beteiligten Charaktere, die Welt und auch die Moral des Films erklären. Während es vielleicht ein, zwei kurze Aspekte in der Sequenz gibt, die ich unnötig finde, bin ich der Meinung, dass die Sequenz als ganzes unglaublich wichtig für die Story ist und das darauf beharren, dass die Sequenz hätte gekürzt oder ganz geschnitten werden soll, ein Beispiel dafür ist, wie Plot immer wieder über Charaktere und Welt gestellt wird.
Zweites Beispiel – oder vielleicht auch zweites und drittes Beispiel.
Ich möchte nämlich einen neuen, selbsterfundenen Begriff reinwerfen, der mit dem Punkt erstaunlich viel zu tun hat: „Chekhov's Gay“.
Wer die Marvelfilme schaut, hat vielleicht mitbekommen, dass Valkyrie in Thor Ragnarok zumindest in den Filmen bisexuell ist. Wer sich noch ein wenig tiefer mit der Produktion der Filme beschäftigt, weiß vielleicht auch, dass für den Film eine Szene gedreht wurde, in der impliziert wird, dass Valkyrie Sex mit einer Frau hatte. Es wäre nur eine kurze Szene gewesen, die offenbar gezeigt hätte, wie eine Frau Valkyries Zimmer auf eine entsprechend implizierte Art verlässt. Die Szene wurde jedoch geschnitten, obwohl Schauspielerin und Regisseur sie unbedingt behalten wollten. Warum? Weil laut Produzenten die Szene nicht essenziell für den Film ist.
Ich werde hier geflissentlich ignorieren, dass der wahrscheinlich eigentliche Grund die Angst vor den „Besorgten Müttern“ ist, die den Film boykottieren würden, was man allein daran sieht, wie viele Marvelfilme unnötige heterosexuelle Szenen beinhalten.
Ein anderes Beispiel für effektiv genau dieselbe Sache ist der neue Fantastic Beasts and where to find them Film, der aktuell in Produktion ist. In diesem Film kommen Dumbledore und Grindelwald vor. Laut Rowling ist Dumbledore schwul und war in Grindelwald verliebt, etwas, das in HP nicht vorkommt, da es dort nichts zur Handlung beiträgt. Und ratet doch mal, was den neuen Film angeht. Ja, genau, es kommt nicht vor, soviel wurde bestätigt, weil es auch da, so Rowling, nichts zur Handlung beiträgt. In einem Film, der sich offenbar um den Kampf von Dumbledore und Grindelwald dreht.
Ja, okay. Ich rede hier von LGBT-Erasure und dass LGBT-Erasure scheiße ist. Aber speziell rede ich im Zusammenhang mit dem Topic von der Begründung: „Na ja, der Charakter ist vielleicht LGB, aber das tut doch nichts zur Handlung, also warum einbringen?“ Oder auch: „Die Tatsache, dass der Charakter LGB ist, trägt zur Handlung nichts bei und ist deswegen unwichtig, auch wenn es eventuell für den Charakter wichtig wäre.“ Was eben die Frage einbringt: Ist sexuelle Orientierung für den Charakter wirklich prinzipiell unwichtig? Sind Beziehungen (romantisch oder anders) des Charakters unwichtig, wenn sie kein Payoff in der Handlung haben? Sind alltägliche Aspekte der Charaktere unwichtig, wenn sie nicht direkt in die Handlung einspielen? Selbst dann, wenn sie zumindest teilweise in die Charakterentwicklung hineinspielen oder die Charakterentwicklung verdeutlichen würden?
Kurzum: Sollte der Plot immer das wichtigste sein? Sollten sich Charaktere und Welt hinten anstellen?
Was meint ihr? Bringt ihr, als Autoren Szenen ein, die zur eigentlichen Handlung nichts beitragen? Warum? Warum nicht?
Habt ihr Beispiele von Chekhov's Gun in eurer Geschichte?
Was ist in euren Augen essenziell in einer Geschichte?