Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

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  • Danke für das Feedback, Rex Lapis :smile:


    Womöglich ist Cherens Reaktion tatsächlich ein wenig übertrieben, aber man muss bedenken, dass es ihm ja nicht nur um ihn selbst ging, sondern vor allem auch um Bell, wie er ja auch selbst gesagt hat. Und die wiederum war völlig fertig, hat sich wahrscheinlich auch noch selbst Vorwürfe gemacht, weil sie Black nicht aufgehalten hat, und so weiter und so fort... da wundert es nicht, dass Cheren wütend auf Black ist, weil der einfach so abgehauen ist und damit Bell solche Angst gemacht hat.

    Das war jedenfalls in etwa die Begründung, die ich mir dahinter gedacht habe.


    So ein Special mit Kiesling wäre für die Zukunft tatsächlich keine schlechte Idee. Ich habe ohnehin schon ein paar kürzere Nebengeschichten im Kopf, die ich vielleicht irgendwann mal in einer Sammlung hier veröffentlichen will. Da würde sich dieses Kiesling-Special sicher auch gut machen. :haha:


    Zusammenfassungen klingen ebenfalls gut, daran habe ich gar nicht gedacht, aber ja, ergibt Sinn, bei einer so langen Fanfiction, die ich ja wahrscheinlich noch über Monate hinweg posten werde. Hätte sich eigentlich nach Kapitel 11 gleich angeboten, vielleicht trage ich das noch nach, wenn ich Zeit habe.


    Und schon irgendwie lustig, wie bisher fast jeder, der hier kommentiert hat, erwähnt hat, wie spannend ich die Kämpfe schreibe. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich etwas schlechter darin bin, ruhige Szenen oder längere Dialoge zu schreiben, als actionreiche Sequenzen. Dabei finde ich persönlich in vielen Geschichten eigentlich gerade die Szenen zwischen den Kämpfen oftmals wichtig und interessant, vor allem für die Charakterentwicklung. :biggrin:

    107716-bd8fa1b4.pngIch kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.
    - Bilbo Beutlin -


    Meine Anime-Liste: MAL -Azaril-

  • Da würde sich dieses Kiesling-Special sicher auch gut machen. :haha:

    Würde mich sehr freuen - ich stelle mir das nach dem, was du bisher preisgegeben hast, als sehr interessante Figur vor :D


    Zusammenfassungen klingen ebenfalls gut, daran habe ich gar nicht gedacht, aber ja, ergibt Sinn, bei einer so langen Fanfiction, die ich ja wahrscheinlich noch über Monate hinweg posten werde. Hätte sich eigentlich nach Kapitel 11 gleich angeboten, vielleicht trage ich das noch nach, wenn ich Zeit habe.

    Ich weiß nicht, wieviel das tatsächlich bringt, weil ich das bisher noch kaum gesehen habe, tatsächlich. Aber ich denke da an mich selbst: Ich bin schon in die eine oder andere längere Geschichte eingestiegen und hätte mir sehr gewünscht, wenn ich mich an irgendetwas hätte orientieren können. Denn, seien wir ehrlich: Wenn du auch unbedingt deine Meinung zu etwas sagen willst, aber mit den Kapiteln nicht hinterherkommst, wird's irgendwann sehr anstrengend v.v leider eben, auch, wenn die Geschichte noch so gut ist. Man kann zwar immer den Autoren fragen, aber naja ... ich stelle mir jedenfalls vor, dass so etwas ganz nützlich ist!


    Und schon irgendwie lustig, wie bisher fast jeder, der hier kommentiert hat, erwähnt hat, wie spannend ich die Kämpfe schreibe. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich etwas schlechter darin bin, ruhige Szenen oder längere Dialoge zu schreiben, als actionreiche Sequenzen. Dabei finde ich persönlich in vielen Geschichten eigentlich gerade die Szenen zwischen den Kämpfen oftmals wichtig und interessant, vor allem für die Charakterentwicklung. :biggrin:

    Vielleicht, weil du das gut kannst? *g*

    Bzw. auch, weil du selbst spannendere Szenen vielleicht besser findest. Die sind ja auch plakativer, aber umso wichtiger sind, wie du schon angedeutet hast, die ruhigeren Phasen. Da stimme ich absolut zu. Nicht nur, weil sie die eigentlichen Schlüssel für Charakterentwicklungen beinhalten, sondern auch, weil man von zu viel Action schnell überladen wird und das alles dann keine richtige Wirkung mehr hat.


  • ZWuW - Kapitel 13.pdf

    ZWuW - Kapitel 13.epub



    Letzten Endes wurde ich nicht fündig.

    Was Sichtungen legendärer Pokémon anging, gab es genug Artikel in den letzten Jahren über besonders starke Gewitter, in denen Leute Voltolos oder Boreos gesehen zu haben behaupteten, manche dieser Artikel wurden von undeutlichen Photos begleitet, die genauso gut Fälschungen sein konnten. Zudem gab es Berichte über verschiedene Orte, an denen regelmäßig die Ritter der Redlichkeit, Kobalium, Terrakium und Viridium, auftauchen sollten, zum Beispiel das sogenannte Feld der Besinnung, aber ob da etwas dran war… ich würde jedenfalls nicht meine Zeit darauf verschwenden, an einem dieser Orte wochenlang auf die Ankunft einer solchen Legende zu warten.

    Über Zekrom, Reshiram oder den hohen Drachen gab es in den Zeitungen nichts, aber das hatte ich um ehrlich zu sein auch nicht wirklich erwartet. Am Ende meiner ergebnislosen Recherche hatte ich mich lediglich seufzend auf dem Stuhl zurückgelehnt, auf dem ich im Zeitungssaal Platz genommen hatte, und mir gedacht, dass ich mir das gleich hätte denken können. Aber ich hatte es zumindest versuchen wollen. Wenn doch wenigstens Blaus Arbeit über Kantos Legenden zur Verfügung stände… es war nichts über Einalls Drachen, aber ich interessierte mich ja auch allgemein für legendäre Pokémon. So gesehen war das Ganze nicht komplett vergebens gewesen, denn immerhin hatte ich mein Wissen in diesem Gebiet mehren können.

    Wie es wohl wäre, so ein Pokémon im Team zu haben? Voltolos vielleicht? Oder Kobalium? Es wäre ein mächtiger Verbündeter. Es gab tatsächlich Trainer, die sich einzig darauf spezialisiert hatten, Pokémon wie diese zu jagen und zu fangen, auch wenn ich nicht gehört hatte, dass einer von ihnen jemals erfolgreich darin gewesen wäre. Es gab mächtige Pokémon wie die legendären Vögel, die am häufigsten in Kanto gesichtet wurden – solche Legenden, von denen erwiesenermaßen mehrere existierten, teilweise auf der ganzen Welt, noch immer weit seltener als die meisten anderen Pokémon, aber doch häufig genug, dass man tatsächlich darauf hoffen konnte, eines davon zu sehen oder vielleicht sogar zu fangen. Aber dann gab es wiederum solche Legenden, die einmalig waren und viel zu mächtig, um sie jemals einfangen zu können, wie zum Beispiel Ho-Oh, über das ich in den letzten Stunden auch ein bisschen gelesen hatte. Bedauerlicherweise gehörten Einalls legendäre Pokémon allesamt zur letzteren Kategorie – Voltolos beispielsweise mochte nicht ganz so mächtig und mit einer Mythologie verknüpft sein wie der Regenbogenphönix Ho-Oh, aber es war dennoch einzigartig – darin jedenfalls schienen sich sämtliche Forscher einig zu sein.

    Wie auch immer, nachdem ich endlich des Lesens überdrüssig wurde – und damit ließ ich mir so viel Zeit wie möglich –, machte ich mich letztlich auf den Weg zum Pokémon-Center und schrieb Cheren währenddessen, dass ich bald dort sein würde. Ich hatte daraufhin zwar gut zwanzig Minuten Zeit, mich mental darauf vorzubereiten, aber als Grünchen mir mit Tränen in den Augen um den Hals fiel, sobald ich durch die Tür des Centers kam, riss sie mich damit dennoch beinahe von den Beinen.

    Im Gegensatz zu Cheren verzichtete sie jedoch darauf, mir ins Gesicht zu schlagen, obwohl sie mit Vorwürfen nicht hinterm Berg hielt, auch wenn diese in ihrer schieren Erleichterung unterzugehen schienen. Sie hatte sich wohl wirklich Sorgen um mich gemacht, und so erhielt mein schlechtes Gewissen neue Nahrung, aber zugleich auch meine Verärgerung, als auch sie keine wirkliche Sympathie zeigte, nicht einmal versuchte, zu verstehen, warum ich mich sechs Wochen lang so sehr zurückgezogen hatte, dass niemand mich erreichen konnte. Natürlich fragte sie nach dem Warum und dem Weshalb… aber es stellte mich irgendwie nicht zufrieden. Es kam mir vor, als würde sie es nicht wirklich ernst meinen, als würde es ihr nicht um meine wahren Gründe gehen, sondern nur darum, warum sie zurückgelassen worden war.

    Am liebsten hätte ich einfach die Bombe platzen lassen und ihnen gesagt, dass Zurrokex tot war, um dann aufzustehen und mich auf mein Zimmer zurückzuziehen. Vielleicht würden sie es dann kapieren, anstatt sich nur aufzuregen, dass ich mich ein paar Tage nicht bei ihnen gemeldet hatte.

    Zugleich wusste ich, dass das unfair war. Dass das in diesem Moment der Zorn war, der aus mir sprach – nicht der Zorn auf Cheren und Bell, sondern auf Team Plasma. Ich merkte es, seit ich dort beim Helikopter gegen diese Typen gekämpft hatte. Ich sah sie nun anders. Ich verachtete Team Plasma. Ich wollte es zur Strecke bringen, denn es stellte eine Gefahr dar. Eine Gefahr, derer sich meine Freunde offensichtlich nicht bewusst waren.

    Jedenfalls stellte ich fest, dass ich mich ausgelassen fühlte, trotz aller Wiedersehensfreude, und so stand ich kurz nach dem Abendessen auf und entschuldigte mich bei ihnen mit irgendeiner Ausrede von wegen, ich hätte einen langen Tag gehabt und sei schon müde.

    Zwei Monate… kaum zu glauben, dass es erst um die zwei Monate her war, dass wir aus Avenitia aufgebrochen waren. Ich hatte das Gefühl, es hatte sich vieles verändert. Viel mehr, als ich für möglich gehalten hätte. Und das schon jetzt. So langsam begann ich zu verstehen, was diese Reise wirklich für uns alle bedeuten würde, welch Wendepunkt sie war, und welch wichtige Weggabelung auf dem Pfad unseres Lebens.

    Mit solcherlei schweren Gedanken legte ich mich in dieser Nacht schlafen, auf dass sie mich bis in meine Träume hinein verfolgten.


    Tags darauf kehrte ich alsbald in die Bibliothek zurück, genauer gesagt in die an sie angeschlossene Arena. Es war Zeit für meinen eigenen Kampf gegen Aloe, natürlich wollte ich nicht lange hinter Cheren zurückstehen. Ich musste kurz auf die Arenaleiterin warten, die sich etwas verspätete, und als sie erschien, kam sie dieses Mal nicht in Begleitung ihres Mannes, der offenbar heute keine Zeit hatte, sondern eines Assistenten, den sie wohl kurzerhand von seinen üblichen Pflichten abkommandiert hatte, um als Kampfrichter zu dienen, seinem wenig begeisterten Blick nach zu urteilen.

    Mir war es gleich, solange der Kampf nicht abgesagt wurde, was bei allem, was ich inzwischen über Aloe Libra zu wissen glaubte, gar nicht so weit hergeholt war. Gestern war es mir jedenfalls so vorgekommen, als hätte eher ihr Ehemann den Überblick über ihre Termine, nicht sie selbst.

    Wir hielten uns nicht lange mit Formalitäten oder gegenseitiger Vorstellung auf, da wir uns ja von gestern schon kannten, sondern begaben uns gleich in die Arena und fingen ohne weitere Umschweife an. Sobald der Kampfrichter die Regeln erklärt hatte, die denen von gestern entsprachen, war es auch schon an der Zeit, unsere ersten Pokémon auszusenden. Erneut machte Aloe den Anfang, dieses Mal rief sie jedoch ihr Picochilla zuerst. Über dieses wusste ich von den drei Pokémon, die sie gestern eingesetzt hatte, am wenigsten, aber es war auch nicht dieses, vor dem ich mich am meisten in Acht nehmen musste.

    »Du hast mir deine Entschlossenheit in der Grundwassersenke demonstriert und dir so einen Platz in meinem Team verdient«, murmelte ich, indes ich einen Superball von meinem Gürtel nahm. »Jetzt kannst du beweisen, dass die Entscheidung, dich zu fangen, richtig war. Los, Kiesling!«

    »Ein Gestein-Pokémon«, stellte Aloe fest, sobald der kleine Felsen mit dem Loch, das ihm vielleicht als Auge, vielleicht auch als Ohr diente, und der Steinantenne sich vollständig materialisiert hatte. »Dagegen sind Normal-Attacken nicht sehr effektiv. Eine kluge Entscheidung.«

    »Im Gegensatz zu Cheren bevorzuge ich nicht nur einen Typen«, rief ich über das Feld hinweg. »Warum also nicht jeden Typvorteil ausnutzen, der sich mir bietet? Und dieses Kiesling hat es in sich, das können sie mir glauben!«

    »Wir werden sehen«, lautete ihr einziger Kommentar dazu, bevor sie die linke Hand ausstreckte und ihrem Picochilla den ersten Befehl zurief. »Kehrschelle!«

    Die gleiche Attacke wie gestern, erkannte ich. Yorkleff ist ihm entgegengerannt und hat mit Gegenschlag gekontert. Kiesling ist nicht so schnell wie Yorkleff, Picochilla könnte einem Gegenangriff also mit Leichtigkeit ausweichen. Deshalb…

    »Bleib stehen, wo du bist«, wies ich mein Pokémon an. »Lass es herankommen.«

    Die Rute der kleinen, grauen Maus begann leicht zu schimmern, kurz bevor es Kiesling erreichte. Dann sprang es schlagartig nach oben und vollführte in der Luft eine Drehung, aus der heraus es mit seiner Rute zuschlug – doch damit war es noch nicht vorbei, denn sofort griff es noch einmal an, und noch einmal, eine unerbittliche Serie von Angriffen in schneller Abfolge aus rapiden Drehungen heraus. Kehrschelle war eine Attacke, die auf eine Aneinanderreihung von mehreren schwachen Angriffen baute, dabei wurde es jedoch mit jedem Treffer wahrscheinlicher, dass ein ungeübter Anwender das Gleichgewicht verlor und die Attacke daher abbrechen musste. Im Idealfall wurden bis zu fünf Treffer erzielt, und genau dieser Idealfall schien nun einzutreten.

    Doch Kiesling ließ das alles über sich ergehen und rührte sich nicht von der Stelle, wie ich es ihm gesagt hatte. Picochilla vollführte einen weiten und hohen Satz nach hinten und setzte dann auf ein Kommando seiner Trainerin hin Sternschauer ein, woraufhin gut sechs leuchtend goldene Miniatursterne vor ihm erschienen, welche kurz darauf auf Kiesling herab hagelten und den Sand auf dem Kampffeld aufwirbelten, als sie in kleinen Explosionen detonierten. Doch noch immer zeigte mein Pokémon keine Reaktion – es war allerdings nicht so, dass es die furiosen Angriffe seines Gegners nicht spürte, doch es ertrug sie. In jenem Augenblick sah ich es vor mir, wie es unter dem kleinen Wasserfall stand, manchmal stundenlang, und es über sich ergehen ließ… dieses kühle Nass, das die meisten Gestein-Pokémon wie Kiesling nicht ausstehen konnten, es hatte geduldig alles ertragen.

    Dadurch hatte ich erkannt, worin seine Stärke lag. Es war weder sehr schnell noch sehr kräftig – aber es war außerordentlich widerstandsfähig. Aloe konnte es mit Normal-Attacken versuchen, solange sie wollte, es würde nicht funktionieren, Kiesling würde standhalten, und am Ende würde Picochilla an Kraft verlieren und erschöpft sein. Es sei denn, Aloe wollte das hier schneller zu Ende bringen. Wenn ich durch die Analyse des gestrigen Kampfes eines gelernt hatte, dann das: Die Bibliothekarin mochte nach außen hin wie eine besonnene Person wirken, aber sie war keineswegs geduldig. Sie brannte auf spannende Kämpfe und liebte es, ihren Gegner zu bezwingen. Sie würde nicht einfach abwarten, bis ihr Pokémon völlig ausgelaugt war.

    »Was ist los? Willst du nicht angreifen? Ist dein Kiesling vor Angst erstarrt?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Du hast sicher mehr drauf. Was ist deine Strategie? Willst du, dass mein Picochilla sich verausgabt? Ich denke es ist Zeit für einen kleinen… Weckruf!«

    Plötzlich sprintete Picochilla erneut auf Kiesling zu, dieses Mal jedoch mit Pfoten, die in demselben Orange glühten wie Kukmardas Knie, als es Fußkick gegen Yorkleff eingesetzt hatte – ein Indiz für eine Attacke des Typs Kampf, gegen den Gestein-Pokémon schwach waren. Das also war ihr Trumpf gegen mein Kiesling. Mit rasender Geschwindigkeit kam das Chinchilla-Pokémon näher und schlug schließlich unerbittlich zu. Es sah fast ein wenig aus, als würde es mein Kiesling links und rechts ohrfeigen wollen, doch wieder zeigte der Angriff kaum einen Effekt, trotz des vorteilhaften Typs.

    Dafür äußerte ich nun meinen ersten Angriffs-Befehl: »Jetzt, Katapult! Nutze Picochilla als Geschoss!«

    »Was?!«, rief Aloe entsetzt, als Kiesling auf einmal einen Fuß nach hinten setzte, um Schwung zu holen, und dann nach vorne schnellte, ehe Picochilla sich in eine sichere Distanz zu begeben vermochte, wobei es mit der Felsnadel, die von seinem Kopf abstand, seinen Kontrahenten direkt in der Körpermitte traf und es dabei so heftig in einem etwa Fünfundvierzig-Grad-Winkel davon schleuderte, dass es nach kaum einer Sekunde in die Decke der Arena krachte und von dort wieder auf das Feld hinunter fiel, wo es ein zweiter, fast ebenso brutaler Aufschlag erwartete.

    Katapult war eine Gestein-Attacke, bei der für gewöhnlich Steine oder Felsen benutzt wurden, um fliegende Gegner vom Himmel zu holen. Da es hier in dieser Arena jedoch weder Stein noch Fels gab, einmal abgesehen von Kiesling, das selbst so wirkte wie ein belebter Stein, obwohl es natürlich ein lebendes Wesen war, musste eben etwas Anderes als Munition herhalten – in diesem Fall der Gegner, der dafür gerade die richtige Größe hatte.

    »Picochilla ist besiegt!«, kam kurz darauf die offizielle Verkündung des Kampfrichters. »Kiesling gewinnt! Der Herausforderer geht mit einem Punkt in Führung!«

    »Sieh an, sieh an, ihr könnt ja doch kämpfen.« Seufzend schüttelte die Leiterin den Kopf, rief ihr erneut durch nur eine einzige Attacke besiegtes Picochilla zurück und sah dann nachdenklich auf den Pokéball hinab. »Vielleicht war es für dich doch noch zu früh. Ich werde dich ausführlicher trainieren müssen. So viel haben diese beiden Kämpfe auf jeden Fall gezeigt. Nun gut. Black Averon! Mit diesem zweiten wirst du kein so leichtes Spiel haben!«

    So flog ein Superball, und Terribark erschien. Der Kampf ging in die zweite Runde.


    Ihr nächstes Pokémon zu besiegen, erwies sich als nicht so schwer, wie ich gedacht hatte. Nachdem ich gesehen hatte, wie Aloes Terribark mit unglaublicher Geschwindigkeit und Präzision nach Cherens Navitaub geschnappt hatte, hatte ich mich auf einen harten Kampf gefasst gemacht, aber wie sich herausstellte, war es fast ebenso machtlos gegen Kiesling wie Picochilla vor ihm.

    Es biss sich im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne an ihm aus. Da Normal-Attacken offensichtlich nicht funktionierten, hatte die Leiterin es offenbar mit Unlicht versuchen wollen, aber auch durch den Biss eines Pokémon wie Terribark war der steinernen Hülle meines neuesten Teammitglieds nicht beizukommen. Nachdem sie die Wirkungslosigkeit dieser Herangehensweise erkannte, versuchte sie, die Regungslosigkeit meines Kiesling auszunutzen, um Terribarks Stärke per Kraftschub zu erhöhen, aber natürlich ließ ich das nicht geschehen.

    Kiesling war nicht sehr schnell, sodass sein Kontrahent immer wieder wegrennen und an anderer Stelle mit Kraftschub beginnen konnte, wenn das Gestein-Pokémon es angriff, doch dadurch wurde es stets unterbrochen und kam nicht dazu, mehr Kraft in seine Angriffswerte zu stecken. Währenddessen erzeugte Kiesling durch die Attacke Lehmschelle kleine Lehmbrocken, wozu es den Sand am Boden vor das Loch in seinem Körper saugte und dort auf wundersame Weise umwandelte, und warf diese dann auf das Hunde-Pokémon, wobei es erneut die Steinantenne wie eine Art Baseballschläger verwendete.

    Um mich kurz zu fassen: Kiesling gewann, Terribark verlor. Als sich die Treffer, die es auf Dauer unweigerlich einstecken musste, bei Terribark häuften, sah sich Aloe gezwungen, wieder in den Nahkampf überzugehen, wo mein Partner die Auseinandersetzung schließlich mit Kopfnuss für sich entschied. So weit so gut.

    Doch jetzt folgte der wahre Kampf. Aloe nahm einen weiteren Superball zur Hand – ich wusste genau, was jetzt kommen würde. Das war es, worauf ich gewartet hatte. Dieses Pokémon würde die Entscheidung bringen, auf die eine oder andere Weise.

    »Es hängt jetzt an dir, Kukmarda!«, rief sie, und warf die Kapsel in die Luft. »Zeig alles, was du hast!«

    In blauem Schimmer erschien das rot-gelbe Kukmarda mit den hypnotischen Augen, das Cheren gestern so viele Probleme bereitet hatte. Mit verschränkten Armen stand es dort, eine fast schon ein wenig arrogant wirkende Pose, und sah auf das kleinere Gestein-Pokémon herab, in dem es offenbar keine große Bedrohung erkannte, trotz der vorangegangenen Niederlagen seiner Gefährten. Gut. Hochmut kam bekanntlich vor dem Fall. Es war mir lieber, es unterschätzte mein Kiesling, als dass es zu vorsichtig wurde, um sich in Reichweite zu begeben.

    Dennoch ließ ich Aloe dieses Mal nicht die Initiative übernehmen. Kukmarda durfte gar nicht erst dazu kommen, Hypnose einzusetzen. »Lehmschelle!«

    Erneut erzeugte Kiesling mehrere kleine Lehmbrocken, um diese geradewegs seinem Kontrahenten entgegen zu schleudern und damit hoffentlich seine Sicht einzuschränken, sodass ihm die Hypnose erschwert wurde. Kukmarda wich allerdings durch Scanner betont mühelos aus und kam dabei schrittweise näher. Schließlich war es so weit, dass Aloe ihm befahl, Hypnose zu verwenden, woraufhin sich die gelben Kreise in seinen Augen zu drehen begannen und wie gestern scheinbar zu Spiralen wurden, obwohl es sich dabei – wie ich jetzt erkannte – lediglich um eine optische Täuschung handelte. Dennoch rief der Anblick bei mir eine leichte Benommenheit hervor, von welcher ich mich jedoch nicht davon abbringen ließ, Kiesling zuzurufen, dass es sich abwenden sollte.

    Die Bewegungen meines Pokémon kamen mir träger vor als sonst, doch immerhin bewegte es sich noch, es war also noch nicht eingeschlafen. Vielleicht lag das daran, dass es selbst keine richtigen Augen hatte, sodass die Attacke nicht ihre ganze Wirkung entfalten konnte, aber so gelang es ihm immerhin, Kukmarda den Rücken zuzuwenden, um nicht mehr in diese müde machenden Spiralaugen blicken zu müssen. Es hatte keine gute Nase wie Yorkleff, um den Gegner selbst dann anhand des Geruchs ausfindig zu machen, wenn es diesen nicht zu sehen bekam, aber dafür hatte Kiesling ein gutes Gehör und sehr gute Verteidigung, weshalb ich beschloss, das Risiko eingehen zu können, es diesem Kukmarda den Rücken zukehren zu lassen.

    Natürlich zögerte die Arenaleiterin nicht, diese Gelegenheit auszunutzen. »Fußkick! Hau es um und lass es nicht wieder aufstehen!«

    Schlagartig verfiel Kukmarda in einen Sprint, wie es selbst gestern keinen hingelegt hatte. Überrascht sog ich die Luft ein, als ich erkannte, dass ich weit weniger Zeit hatte als gedacht, gerade genug, um eine einzelne Anweisung zu rufen: »Spring!«

    Bei unserer ersten Begegnung war Kiesling auf einem Felsen gestanden, oder eher gethront, hatte von dort sein Revier überwacht, in welches ich unerlaubt eingedrungen war. Im nächsten Augenblick, ehe ich wusste, wie mir geschah, war es mit einer Intensität von seiner erhöhten Position herab gesprungen, die ich von einem solch kleinen Gestein-Pokémon, das ich für eher träge gehalten hatte, nicht erwartet hätte. Wenn es sich mit seinen beiden Steinfüßen vom Boden abstieß, konnte es tatsächlich eine Sprungkraft aufbringen, die meinem Grillmak Konkurrenz machte – und so erstaunt ich damals darüber gewesen war, noch verdutzter musste nun Aloe Libra sein, als sich Kiesling auf einmal gut eineinhalb Meter über ihrem Kukmarda befand, dessen Tritt damit ins Leere ging.

    »Kopfnuss!« Meine Hand fegte durch die Luft, als ich meinen Herzschlag nicht mehr zu zügeln vermochte und den verlockenden Duft des nahenden Sieges wahrnahm. Kiesling stürzte hinab und zielte dabei explizit auf Kukmarda, welches jedoch erneut auf geschickte Weise auswich und dabei seine überlegene Geschwindigkeit ausspielte. Als das Gestein-Pokémon in den betonierten Boden krachte, zogen sich knackend einige Risse durch diesen, doch Kiesling steckte den Aufprall ein wie eine von Picochillas schwachen Normal-Attacken und sprang sogleich wieder auf. »Katapult! Nutze die Lehmbrocken!«

    Ich ließ Kukmarda nun keine Ruhe mehr. Kiesling holte aus und hieb mithilfe seiner Felsnadel einen der Lehmbrocken, die durch den wiederholten Einsatz von Lehmschelle nun überall in der Halle verteilt lagen, in Richtung des hamsterähnlichen Pokémon, das erneut zum Ausweichen gezwungen war.

    »Scanner!«, befahl Aloe, woraufhin nach einem kurzen Aufblitzen in Kukmardas Augen plötzlich jedes Geschoss meines Partners weit fehlging, als das bisher eher mühsame Ausweichen in fließende, gekonnte Bewegungen überging, durch welche es Kukmarda ein Leichtes war, den Katapultgeschossen zu entgehen und sich Kiesling wieder zu nähern, um noch einmal Fußkick einzusetzen. Wieder wollte Kiesling sich durch einen Sprung retten, aber dieses Mal war die Leiterin darauf gefasst. »Richte deinen Fußkick nach oben, du kannst es in der Luft treffen!«

    Tatsächlich gelang es, und so war es nun mein Pokémon, das getroffen wurde, anstatt des Gegners. Das rechte Knie von Kukmarda, welches ebenfalls nach oben gesprungen war, um mitten in der Luft mit Kiesling zu kollidieren, traf dieses mitten in seiner Schwachstelle, dem Loch vorne im Körper. Trudelnd flog Kiesling davon und wurde alsbald von seinem steinernen Gewicht wieder zu Boden gezogen, wo es dieses Mal unkontrolliert aufkam und ein Stück weit über den harten Grund rollte.

    Kukmarda dagegen landete auf elegante Weise und verschränkte wie zu Beginn des Kampfes die Arme vor der Brust, um ein keckerndes Kichern von sich zu geben, das eine deutliche Provokation und Herausforderung darstellte – man musste nicht die Stimme der Pokémon verstehen wie ein gewisser grünhaariger Junge, um das zu erkennen. Kiesling war noch nicht geschlagen. Es rappelte sich wieder auf, wenn auch schon wesentlich schwerfälliger als noch am Anfang. Es war nur selbstverständlich, denn selbst bei einem widerstandsfähigen Pokémon wie diesem Kiesling musste ein langer Kampf wie dieser irgendwann seinen Tribut fordern, und nun schien es so weit zu sein, dass es am Rande des Zusammenbruchs stand. Ich meinte sogar, seinen rasselnden Atem zu hören, obwohl ich mir nicht sicher war, wie genau es eigentlich atmete. Hören, sehen, einige andere Dinge, für die wir Menschen und viele andere Pokémon mehrere Sinnesorgane benötigten – das alles schien bei Kiesling durch dieses eine, dunkle Loch zu funktionieren. Es war faszinierend und wäre einer genaueren Betrachtung wohl wert gewesen, hätte ich mich nicht inmitten meines zweiten Arenakampfes befunden.

    Ich befand mich noch immer im Vorteil – auch Kukmarda hatte schon Schaden genommen, wenn auch nur wenig, doch es war Aloes letztes Pokémon. Ich dagegen hatte noch zwei vollkommen ausgeruhte Pokémon in der Reserve. Ich wollte Kiesling den gesamten Kampf übernehmen lassen, sie mit nur einem einzigen Pokémon besiegen, um zu zeigen, dass ich wahrlich besser als Cheren war. Die Versuchung war groß, es einfach zu wagen, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und weiterzumachen, wie erschöpft mein Kiesling auch sein mochte.

    Der alte Black hätte das sicherlich getan.

    Aber als ich sah, wie mitgenommen Kiesling inzwischen wirkte, obwohl seine Entschlossenheit nicht gebrochen war, zuckte ein Bild von Zurrokex durch meinen Kopf. Zurrokex, das bis zuletzt gekämpft hatte. Auch sein Wille war nie gebrochen worden. In dieser Hinsicht war es enorm stark gewesen. Aber am Ende hatte es dafür alles verloren. Ich wusste, die Situation war hier nicht annähernd so ernst, aber dennoch… dennoch…

    Ich nahm den Superball, mit dem ich Kiesling gefangen hatte, und öffnete ihn per Knopfdruck. »Das reicht, Kiesling. Komm zurück.«

    Ein blauer Strahl erfasste mein neuestes Pokémon und holte es in die Kapsel zurück. Es war besser so. Ich hatte noch genug andere Chancen, diesen Arenakampf für mich zu entscheiden. Chancen in Form meiner beiden anderen Pokémon, zwischen denen ich mich nun entscheiden musste. Grillmak hatte hervorragende Arbeit in meinem ersten Arenakampf geleistet, aber ich wollte diese Sache nur noch zu einem raschen Ende bringen. Kukmarda würde nicht mehr allzu viel widerstand leisten können, jedenfalls nicht, wenn ich mein stärkstes Pokémon einsetzte.

    »Du bist gefragt, Zwottronin«, raunte ich, während ich meinen ersten, teuersten Partner aus dem gewöhnlichen Pokéball entließ, in dem es aufbewahrt wurde.

    Kaum in der Arena erschienen, zog der Otter-Samurai auch schon seine beiden Muschelklingen und stellte sich mit einem herausfordernden Lächeln in einer kampfbereiten Pose auf, was sich Kukmarda selbstverständlich nicht lange gefallen ließ. Ohne dass Aloe es ihm erst sagen musste, begann es erneut, den Einsatz von Hypnose einzuleiten. Aber auch ich musste kein Kommando geben, denn mein Zwottronin wurde mit solcherlei Situationen auch selbst fertig. Es hielt sich schlichtweg die beiden Muscheln vor die Augen, sodass es immer noch genug von der Umgebung sah, um nicht völlig blind zu sein, aber dennoch nicht in die einschläfernden Spiralen blickte. Zusätzlich streckte es auf provokante Weise die Zunge heraus.

    Ist das alles? Das war es, was Zwottronins Gestik und Mimik ausdrückten. Damit willst du mich besiegen?

    In Momenten wie diesen hätte ich mir kein besseres Pokémon wünschen können, das selbst in einem Arenakampf so gelassen und cool blieb und zeigte, wie viel Spaß es an seiner Überlegenheit hatte. Es ließ mich alle Zweifel vergessen. Nennt es von mir aus Übermut, ja, vielleicht war es sogar genau diese Art von Übermut, die dazu geführt hatte, dass ich Zurrokex verloren hatte, aber in Zwottronins Fall machte ich mir da irgendwie nur wenige Sorgen. So sehr vertraute ich ihm. So sehr vertraute es mir. So sollte die Beziehung eines Trainers zu seinem Pokémon wirklich aussehen.

    Ich fasste mir schmunzelnd an die Kappe und spürte zum ersten mal seit sechs Wochen wieder dasselbe Selbstvertrauen wie vor jener Nacht. Und zugleich beschloss ich, die Zügel in diesem Kampf abzugeben und mich nicht länger einzumischen. »Zwottronin, übernehme du das. Du hast mein vollstes Vertrauen. Mach es fertig!«

    Wir waren ein Team. Und doch verfügten wir alle über unsere individuellen Stärken. Ich war der Stratege, doch manchmal musste man einfach die Muskeln spielen lassen. Unser Training hatte uns alle vorangebracht, nicht nur mich oder nur meine Pokémon. Was wir in der Grundwassersenke gelernt und erarbeitet hatten, war für diesen Moment gewesen, das erkannte ich jetzt. Nun, da wir endlich zurück in der Wirklichkeit waren, den Albtraum hinter uns ließen und keine Zurückhaltung mehr üben mussten, würden wir unsere ganze Macht demonstrieren, und das tiefe Band, das uns zu einer Einheit formte.

    Zwottronin stieß eine Art zustimmendes Bellen aus und setzte sich unmittelbar darauf in Bewegung. Kiesling, das langsam gewesen war und die meiste Zeit über nur auf einer Stelle verharrt hatte, war es nicht möglich gewesen, viel gegen die flinkeren Pokémon der Arenaleiterin auszurichten, solange diese nicht zu ihm kamen. Aber Zwottronin hatte es nicht nötig, darauf zu warten… es konnte die Distanz ganz einfach selbst verringern.

    Doch noch ehe es auch nur die halbe Strecke zwischen sich und Kukmarda überwunden hatte, feuerte es bereits die erste Aquaknarre, zunächst auf eine Stelle direkt vor sich, ehe es den Wasserstrahl blitzschnell über den Boden in Richtung Gegner wandern ließ, der zu verdutzt war und nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte, sodass er frontal getroffen wurde. Während Kukmarda das nasse Fell schüttelte, warf Zwottronin eine seiner Kalkmuscheln vor sich, um darauf zu surfen, allerdings nur einbeinig, denn die andere Muschel hielt es noch immer fest umklammert.

    »Lass es nicht noch näher kommen!«, rief Aloe, und wieder war es wie gestern: Ihre Stimme strotzte nur so vor Autorität, um ihr Pokémon wieder zur Konzentration zu zwingen. »Hypnose!«

    Sie versucht es noch immer auf dieselbe Weise. Ich war versucht, dem schlanken Otter doch noch ein Kommando zuzurufen, aber ich hielt an meinem Beschluss fest, mich aus dem Rest dieser Konfrontation herauszuhalten. Zwottronin schafft das auch ohne mich. Ich weiß es.

    Und ich sollte mich nicht in ihm täuschen. Bevor Kukmarda dazu kam, ein weiteres Mal seine mächtige Hypnose zu verwenden, feuerte Zwottronin eine weitere Aquaknarre auf es ab, dieses Mal direkt ins Gesicht, sodass es die Augen zusammenkneifen musste und seine Sicht dadurch für wenige Augenblicke deutlich getrübt wurde. Als hätte Zwottronin es genau so geplant, waren es genau diese wenigen Augenblicke, in denen es mit perfektem Timing auf seiner Muschel an seinem Kontrahenten vorbei schlitterte und die andere Muschel schlagartig in aquamarinfarbenen Schimmer hüllte.

    Eine blaue Linie fuhr durch die Luft, ein Geräusch wie von rieselndem Wasser, dann ging Kukmarda mit einem tiefen Schnitt in der Seite in die Knie, nur um schließlich, als es sich gerade wieder zu erheben versuchte, von einer letzten Aquaknarre, die es direkt in den Rücken traf, gnadenlos niedergestreckt zu werden. Zwottronin sprang von seinem improvisierten Surfbrett ab, bückte sich dabei nur kurz nach diesem, um es sich zu schnappen, steckte beide Muscheln in einer fließenden Bewegungen zurück in sein gehärtetes Beinfell und kam dann, nachdem es noch ein paar Schritte weit über den Boden gerutscht war, in einer eleganten, knienden Position zum Stillstand.

    »Kukmarda kann nicht mehr weiterkämpfen!« Ohne einen einzigen Treffer zu kassieren. Ohne einer Anweisung seines Trainers zu bedürfen. Zwottronin hatte das stärkste Pokémon einer Arenaleiterin wahrlich alt aussehen lassen. Es war ein erbarmungsloser Sieg – drei zu null für mich. »Zwottronin gewinnt die Runde! Der Herausforderer gewinnt damit den Kampf um den Grundorden!«

    Während Zwottronin überglücklich zu mir lief und mein Bein umarmte, wie es das auch als Ottaro schon oft getan hatte, rief Aloe seufzend ihr besiegtes Kukmarda zurück. »Zweimal in Folge, was? Vielleicht werde ich inzwischen wirklich zu alt dafür.«

    Wir begaben uns beide in die Mitte der Arena, wo nun auch mir wie einen Tag zuvor meinem Rivalen Cheren der Grundorden überreicht werden sollte – der metallene Anstecker, der sich problemlos in der Ordensbox befestigen ließ, sah genau identisch zu dem aus, den ich gestern gesehen hatte, wirkte in meinen Augen aber dennoch glänzender. Vermutlich, weil ich ihn mir selbst verdient hatte. Das ist Nummer Zwei. Ich brauchte kurz, um wirklich zu verstehen, was das bedeutete. Ich hatte bereits ein Viertel der Zahl an Orden, die ich benötigte, um für die Liga zugelassen zu werden. Das ging irgendwie schneller als erwartet. Zwei Monate, hm? Wenn ich tatsächlich einen Orden pro Monat verdiene, wird meine Reise nicht einmal ein Jahr dauern.

    Aber ich wusste genau, dass es nicht so einfach war. Von jetzt an würden die Kämpfe nur noch schwieriger werden, die Gegner härter, erfahrener und talentierter. Ich war noch weit davon entfernt, mich mit den stärksten Arenaleitern Einalls messen zu können, geschweige denn den Top Vier. Doch ich befand mich wenigstens auf einem guten Weg, und das war ein Erfolg für sich. Ich war zurück auf dem richtigen Pfad. Ich konnte noch immer kämpfen. Ich konnte noch immer siegen. Nach all den Zweifeln, die mich nach der schrecklichen Niederlage vor sechs Wochen gequält hatten… es war wie eine Art Offenbarung.

    »Stimmt etwas nicht?«, fragte mich Aloe plötzlich. »Geht es dir nicht gut?«

    »Hm, wie bitte?« Ich verstand im ersten Moment nicht, wovon sie sprach, bis ich die feinen Tropfen auf den beiden Orden in der noch immer geöffneten Schatulle in meinen Händen sah, leicht glitzernd im Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster der Halle schien. Und es fielen noch mehr Tropfen hinab… über meine Wangen… von meinen Augen… »Hu… was…?«

    Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, doch es kamen nur Neue nach. Ich weinte. Warum weinte ich? Eine Traurigkeit hatte mich ergriffen, die ich mir zuerst nicht erklären konnte. Ich starrte auf die Orden… vor allem auf den, den ich soeben erst erhalten hatte, und plötzlich traf mich die Erkenntnis mit ganzer Wucht. Ich presste die Box fest an mich und senkte den Kopf, ließ die Tränen laufen, während sich einige tiefe Schluchzer meiner Kehle entrangen.

    »Was ist los?« Aloe war völlig verwirrt, streckte eine Hand nach mir aus, zögerte dann jedoch, unsicher, was genau sie tun sollte.

    »Ich… ich…« Es fiel mir schwer, zu sprechen. Mein Hals schmerzte, meine Augen brannten, aber am meisten litt meine Seele. »Ich habe nur daran gedacht… dass es ein Pokémon gibt… gab… ein kleines, unheimlich mutiges Pokémon… das diesen Orden… niemals zu Gesicht bekommen wird. Niemals. Niemals.«

    Plötzliches Begreifen trat in Aloes Blick, ehe sich ihre Miene verdüsterte. Dann auf einmal, sodass es mich völlig unvorbereitet traf, schloss sie mich in die Arme. Sie hielt mich fest in ihrem Griff, strich mir dabei jedoch sanft über den Rücken, und auf eine mir unerklärliche Weise strahlte sie dabei eine vertraute, warme Aura aus, die meinen Widerstand bröckeln ließ und mich dazu brachte, mich in die Geborgenheit dieser mütterlichen, tröstenden Umarmung zu flüchten.

    »Es ist in Ordnung, deine Trauer rauszulassen, wenn du sie bis jetzt zurückgehalten hast«, sagte sie leise. »Dieses Pokémon wäre sicher glücklich, dass du gewonnen hast.«

    Nein. Sie hatte unrecht. Zurrokex musste mich hassen. Aber mir fehlte im Augenblick die Kraft, ihr zu widersprechen. Mir fehlte scheinbar die Kraft zu allem. Ich hatte nicht erwartet, von so starken Gefühlen übermannt zu werden… ich war ein cooler, gelassener Trainer, wie Cheren… das war das Bild, das Andere von mir haben sollten. Nicht… nicht das hier. Ich hatte kein Recht dazu, um Zurrokex zu weinen. Ich hatte es im Stich gelassen. Ich verdiente es nicht, auf solche Weise getröstet zu werden.

    Doch warum… warum fühlte es sich dann so befreiend an? Als würde ein Teil dieses verdienten Schmerzes von mir genommen werden? Es war alles widersprüchlich, ich verstand mich selbst nicht mehr, war nur noch ein Wirbelsturm der Emotionen.

    Und bis dieser Sturm abflaute, vermochte ich nichts zu tun, als zu weinen.

    107716-bd8fa1b4.pngIch kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.
    - Bilbo Beutlin -


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    Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, entschuldigte ich mich vielmals bei Aloe für diesen Moment der Schwäche, obgleich sie abwinkte und meinte, es wäre kein Problem, ehe ich mich schließlich auf den Rückweg zum Pokémon-Center machte.

    Ich rief Zwottronin nicht in seinen Ball zurück. Mir war bewusst, dass Pokémon in der Bibliothek nicht gerne gesehen waren, dazu befand sich eine unübersehbare Notiz am Eingang, weil es anscheinend mal einen Vorfall gegeben hatte, bei dem ein paar wertvolle Bücher beschädigt worden waren, aber ich hatte meine Pokémon gut genug unter Kontrolle, dass so etwas nicht passieren würde. Und nach der hervorragenden Leistung, die Zwottronin in diesem zurückliegenden Kampf vollbracht hatte, war ich nicht in der Laune, es schon wieder in seine Kapsel zu sperren. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass ich momentan nicht allein sein wollte.

    Ich fragte mich, wie es jetzt weitergehen sollte. Klar, das nächste große Ziel auf meiner Liste war nun Stratos City, die Hauptstadt Einalls, es war endlich so weit, die östliche Meerenge zu überqueren. Aber… das war es nicht, was ich meinte. Wie sollte es weitergehen mit mir und meinen Pokémon… und meinen Freunden? In diesen letzten sechs Wochen hatte sich mehr verändert, als ich zunächst geglaubt hatte, und der kurze, aber heftige Streit mit Cheren drückte mir noch immer aufs Gemüt. Bell und Cheren… sie hatten mit einer Selbstverständlichkeit zusammengehalten, die mich erstaunte und mich zugleich dazu brachte, mich ausgeschlossen zu fühlen.

    Was ich damit sagen wollte, war, dass ich nicht mehr wusste, wie genau ich zu den beiden stand. Irgendwie wurde ich das unbestimmte Gefühl nicht los, dass meine Freundschaft mit ihnen, obgleich sie noch immer bestand, einige feine, kaum merkliche Risse erhalten hatte. Ich war ratlos. Sollte ich vielleicht einen anderen Weg einschlagen als meine beiden Kindheitsfreunde, mit denen ich bislang mein ganzes Leben verbracht hatte? Sollte ich komplett allein durch Einall ziehen, ohne mich regelmäßig mit ihnen zu treffen?

    Nachdem ich die Grundwassersenke endlich verlassen hatte, hatte ich geglaubt, die Fragen hätten ein Ende. Ich hatte geglaubt, endlich alle Lösungen für meine Probleme gefunden zu haben. Aber das Wiedersehen mit Cheren und Bell sowie mein emotionaler Zusammenbruch gerade eben in der Arena hatten das Gegenteil bewiesen. Ich wusste nicht mehr weiter.

    Vielleicht also war es Schicksal, dass in diesem Augenblick, in dem ich so tief in Gedanken versunken war über all die möglichen Pfade, die einer unsicherer als der andere wirkten, mein Leben erneut eine unvorhersehbare Wendung nahm, die sich am Ende als eine der wichtigsten aller Wendungen entpuppen sollte. Denn als ich die Bibliothek mit Zwottronin an meiner Seite verließ, erwartete mich vor deren Eingang niemand geringerer als N.

    Diese unverwechselbaren grünen Haare, das weiße Hemd, der Planeten-Anhänger an seiner Halskette, sowie der an der Hose befestigte Würfel und die seltsamen Armbänder – es bestand kein Zweifel. Ich senkte instinktiv den Blick, als ich ihn sah, während Schuldgefühle in mir empor sprudelten. Und unerwünschte Erinnerungen. Warum konnte mich Zurrokex nicht loslassen? Und warum musste ich immer wieder diesem Kerl über den Weg laufen?

    Ich wollte an ihm vorbeigehen, wobei ich mir meine Cap tief ins Gesicht zog, sodass er mich nicht bemerkte, aber wie es aussah, befand er sich nicht auf dem Weg zur Bibliothek, wie ich ursprünglich angenommen hatte. Stattdessen sprach er mich direkt an, wobei er wie damals auf Route 1 so schnell redete, dass man ihn nur mit viel Konzentration verstehen konnte. »Black Averon aus Avenitia, auf ein Wort.«

    Seufzend hob ich den Kopf und sah ihm in die blau-grauen Augen, die mich mit solcher Intensität musterten, dass ich eine Gänsehaut bekam. Er war seltsam. Ich hatte es schon bei unserer ersten Begegnung bemerkt, aber irgendetwas an ihm verursachte ein unangenehmes Kribbeln in mir. In manchen, kurzen Augenblicken wirkte er nicht hundertprozentig… menschlich, in anderen wiederum wirkte er mehr wie ein Mensch als all die Passanten, die zur Bibliothek strömten und von ihr kamen. Es war auf eine bizarre und zugleich faszinierende Weise unheimlich.

    »Ich habe dich endlich gefunden«, sagte N, ohne den Blick von mir zu nehmen. Fast fühlte es sich so an, als könne er durch mich hindurchsehen. Als wüsste er genau, was ich getan hatte… dass ich der Trainer des Zurrokex war, welches er in seinen letzten Sekunden begleitet hatte. Konnte er es wissen? Konnte er es wirklich wissen? Er hatte mich dort nicht gesehen, davon war ich überzeugt. »Ich sehe, dieses Pokémon ist noch immer bei dir. Hallo, mein kleiner Freund. Wie geht es dir?«

    Die letzten beiden Sätze waren unverkennbar an Zwottronin gerichtet, das ihn jedoch mit einem misstrauischen Blick bedachte, ehe es sich dazu äußerte. »Zwott-ott. Ronin?«

    »Haha! Eine gute Frage, wahrlich gewitzt.« Er richtete sich wieder auf, nachdem er sich ein wenig zu dem Wasser-Pokémon hinuntergebeugt hatte, welches er erkannt hatte, obwohl es kein Ottaro mehr war. »Black. Du möchtest sicher wissen, was ich von dir will.«

    »Vielleicht möchte ich das, vielleicht nicht«, erwiderte ich abweisend, obwohl er vollkommen recht hatte. »Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, hat unsere letzte Begegnung nicht gerade auf freundliche Weise geendet. Du sagtest, dass alle Trainer weichen müssten, damit du dein Ziel erreichen kannst, auch solche wie i… solche, die ihre Pokémon gut behandeln.«

    Beinahe hätte ich mich selbst in diese Kategorie eingeschlossen wie damals auf Route 1. Aber das konnte ich nicht mehr guten Gewissens tun. Trainer, die ihre Pokémon gut behandelten… ich war damals wütend geworden, weil N keinen Unterschied gemacht hatte zwischen ihnen und jenen, die ihre Pokémon wahrlich quälten. Doch vielleicht existierte tatsächlich kein Unterschied, oder er war zu gering, um von Belang zu sein. Ich ließ meine Pokémon nicht unnötig leiden, so viel stand fest, aber wenn selbst jemand wie ich eines seiner Pokémon in den Tod trieb… vielleicht hatte N dann nicht ganz Unrecht.

    »Das sagte ich, und dazu stehe ich«, gab er unumwunden zu. »Ich habe noch immer vor, die Pokémon zu befreien. Aber es hat sich etwas ergeben… ich habe etwas erfahren, das mich zutiefst nachdenklich stimmt. Deshalb habe ich dich gesucht, Black Averon. Du bist der eine Trainer, bei dem ich das Gefühl hatte, er könnte mich vielleicht verstehen… oder mir zeigen, was ich übersehe. Ich brauche Gewissheit, und um diese zu erlangen, musste ich dich finden.«

    »Wo lernt man das?«, fragte ich kopfschüttelnd. »So schnell zu sprechen und dabei auch noch so sehr in Rätseln, dass es einfach unmöglich wird, den Sinn dahinter zu erkennen?«

    »Ich werde dir alles erklären, wenn du dich als würdig erweist«, entgegnete er darauf lediglich, indes er die Arme zu den Seiten hin ausstreckte. Eine seltsame Geste, sie wirkte theatralisch, aber dadurch unterstrich sie zugleich seine nächsten Worte. »Ich habe dich abgepasst, um dich einzuladen. Wenn dir das Wohl der Pokémon am Herzen liegt, wenn du der Trainer bist, den deine Pokémon in dir sehen, dann komme zum Feld der Besinnung im Ewigenwald. Erreichst du einmal diesen Ort, würde ich gerne ausführlicher mit dir und deinen Pokémon sprechen.«

    Er nickte mir nur noch einmal knapp zu und drehte sich dann um, wollte mich offenbar mit dieser kryptischen Nachricht zurücklassen. Ich streckte die Hand nach ihm aus und wollte etwas sagen, um ihn aufzuhalten. Doch ich verharrte mitten in der Bewegung, ergriff mit der linken Hand meinen rechten Arm, der leicht zu zittern begonnen hatte. Denn auf einmal wurde mir klar, dass N in mir noch immer den Trainer sah, dem er auf Route 1 begegnet war. Der vernünftige, seine Pokémon liebende Trainer, der ihm dabei helfen konnte, seinem Traum von der perfekten Welt ohne gequälte Pokémon näherzukommen. Aber dieser Trainer war ich nicht mehr.

    N… ich bin mir nicht sicher, was genau du von mir willst, was du dir erwartest. Aber wenn du wüsstest, was wirklich mit dem Zurrokex geschehen ist, das du in den Armen gehalten, um das du geweint hast… du würdest sicher nicht zu mir kommen, um nach Antworten zu suchen, oder nach der Gewissheit, von der du sprichst.

    Aber so sehr ich es auch versuchte, mein Mund vermochte diese Worte nicht zu formen, stattdessen blieben sie in meiner Kehle stecken. Und N verschwand inmitten der zahlreichen Passanten auf dem zentralen Platz von Septerna City, fast so, als wäre er nie dort gewesen.

    Nur eine Illusion im seichten Winde, ein Hirngespinst, dessen Aufforderung – oder Einladung, wie er es genannt hatte – jedoch weiterhin durch meinen Kopf spukte. Komme zum Feld der Besinnung.

    Seufzend sah ich in den Himmel. »Ich schätze, gegen einen kleinen Umweg ist nichts einzuwenden.«


    Ich kehrte daraufhin so bald wie möglich ins Pokémon-Center zurück und gab Kiesling ab, damit es sich unter medizinischer Aufsicht ausführlich ausruhen konnte, auch wenn es im Kampf nicht wirklich verletzt worden war. Zwottronin war nicht einmal getroffen worden, deshalb hielt ich es nicht für nötig, es behandeln zu lassen. Ich setzte mich mit ihm in die Lobby und sah ein wenig fern, während ich über meine nächsten Schritte nachdachte.

    Cheren und Bell waren beide schon nicht mehr hier. Letztere hatte anscheinend nur auf ein Lebenszeichen von mir gewartet und wäre ansonsten schon lange gen Stratos aufgebrochen, wo sie schon immer mal hatte hin wollen, vor allem wegen der berühmten Shoppingmeile dort mit all den riesigen Kaufhäusern, die sich viele Stockwerke über den Boden erhoben. Cheren dagegen hatte wohl einen Teil der letzten Wochen auf die Suche nach mir verwendet und einen anderen Teil auf sein Training, um schließlich gegen Aloe anzutreten und sie zu besiegen – nachdem er dieses Ziel nun erreicht hatte, hatte auch ihn nichts mehr hier gehalten.

    So war ich also wieder einmal allein, doch um ehrlich zu sein war mir das momentan sogar lieber. Mit allem, was mir im Kopf herumschwirrte, nicht zuletzt auch wegen der unerwarteten erneuten Begegnung mit N, war es gut, dass ich nicht abgelenkt wurde und mich voll und ganz auf das konzentrieren konnte, was vor mir lag.

    Das Feld der Besinnung – jener Ort, von dem N gesprochen hatte, ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich hatte diesen Begriff irgendwo schon einmal gehört… nein, gelesen. Gestern erst, in der Bibliothek zu Septerna, von der ich soeben gekommen war. Bei meiner Recherche über die legendären Pokémon, um genauer zu sein bei einigen der Berichte und Erzählungen über die Ritter der Redlichkeit. Wenn ich mich recht entsann, sollte das Feld der Besinnung eine Art verborgene Lichtung im Ewigenwald gleich westlich von Septerna City sein.

    Aber genau hierin lag das Problem: Diese Lichtung war verborgen, und zwar nicht in einem Sinne, dass sie lediglich schwer zu finden war, sondern in einem Sinne, dass ein jeder, der auf rationales und beweisorientiertes Denken baute, ihre Existenz unweigerlich anzweifeln musste. Denn wie es hieß, konnte das Feld der Besinnung nur von jenen betreten werden, die von Viridium, Wächter des Feldes und einer der Ritter der Redlichkeit, anerkannt wurden. Was genau hierbei jedoch mit anerkannt gemeint war, darüber hielten sich die meisten Quellen vage, wenn sie sich nicht gerade direkt gegenseitig widersprachen.

    Es war ein Rätsel, davon war ich überzeugt. Wie gesagt, N liebte es, in Rätseln zu sprechen. Er wollte mich testen, und dieser Test beinhaltete, einen Ort zu finden, der vielleicht gar nicht existierte. Was also wollte er wirklich von mir? Es war, als würde er mich herausfordern. Als würde er zu mir sagen, dass ich ihn doch in seinem eigenen Spiel schlagen sollte, wenn ich es wirklich herausfinden wollte.

    Es hätte mich vielleicht verärgern sollen. Aber es entlockte mir stattdessen nur ein Lächeln und gab mir ein Gefühl, endlich wieder eine richtige Aufgabe vor mir zu haben, zu deren Lösung es Scharfsinn und Stärke brauchte. Nicht jeder kann die Lichtung betreten… um von einem legendären Pokémon anerkannt zu werden, muss man stark sein, aber auch klug. Man muss beweisen, dass man die Eigenschaften besitzt, ein Held zu sein.

    Das musste es sein. Das war wahrscheinlich die Lösung.

    Ich hielt mich nicht für qualifiziert, ein Held zu sein, aber ich war auch zu starrsinnig, einfach klein beizugeben. Etwas an N brachte mich dazu, selbst das Unmögliche zu wagen, um seinen Erwartungen zu widersprechen. Er glaubte, ich würde an so etwas scheitern? Ich würde dieses Feld der Besinnung finden! Ich nahm seine Herausforderung an!

    Nachdem ich das also beschlossen hatte, wartete ich geduldig darauf, dass Kiesling wieder bei Kräften war. Solange versuchte ich mich durch das aktuelle Programm des offiziellen Liga-Kanals abzulenken, welches in den meisten Pokémon-Centern fast rund um die Uhr lief. Es war eine kontinuierliche Aneinanderreihung von Reportagen über erfolgreiche und aufsteigende Trainer, Live-Übertragungen spannender Kämpfe in den Arenen oder gegen die Top Vier oder auch Aufnahmen früherer Kämpfe, zwischendrin unterbrochen durch kurze Informationssendungen bestimmter Forschungsinstitute, die auf diese Weise neue Erkenntnisse über Pokémon und deren Fähigkeiten verbreiteten. Alles in allem bot der Liga-Kanal gute Unterhaltung und hielt einen zugleich auf dem Laufenden über die Geschehnisse in der Welt des Pokémon-Kampfes.

    Der neueste Herausforderer der Top Vier, über dessen Scheitern beim ersten Anlauf berichtet worden war, als ich gerade Orion erreicht hatte, schien nach einigen Wochen ausführlichen Trainings nun einen zweiten Versuch unternommen zu haben, nur um erneut an der Geist-Expertin Anissa zu scheitern. Es wurden ein paar Ausschnitte aus dem Kampf gezeigt, aber um ehrlich zu sein sah dieser Kerl für mich nicht nach etwas Besonderem aus. Er hatte nicht einmal ein sonderlich einprägsames Gesicht.

    Nur einer von hunderten, schoss es mir durch den Kopf. Leider gab es genug Trainer, die meinten, es würde reichen, sich die acht schlechtesten Arenaleiter herauszupicken und sich deren Orden zu holen, aber wer mit solch geringer Entschlossenheit an die Sache heranging und es nicht einmal fertigbrachte, einige der stärkeren Arenaleiter zu bezwingen, der erlebte dann in der Liga bei den Top Vier ein böses Erwachen. Ich wusste wirklich nicht, was in den Köpfen solcher Leute vorging. Wofür hielten sie die Top Vier denn? Ein paar Grünschnäbel, die nicht wussten, wie man wahre Grünschnäbel in die Schranken wies?

    Ich entschied, nicht so naiv zu sein, sollte ich eines Tages dort auf jenem Berg angelangen, auf dem der tempelartige Komplex stand, der Einalls Pokémon-Liga war. Und ich hatte auf jeden Fall vor, den Arenaleiter von Twindrake zu besiegen, den Drachenmeister Lysander, der gemeinhin als einer der erfahrensten und am schwersten zu bezwingenden Arenaleiter der Region galt. Twindrake lag ohnehin auf direktem Weg zur Liga, denn von dort ging die Route 10 aus, die zur Siegesstraße führte. Wie in dem Bericht gezeigt wurde, besaß dieser Herausforderer Lysanders Orden nicht. Wie ich es mir gedacht hatte.

    Ich ertappte mich dabei, wie ich in Gedanken meine Pokémon gegen die seinen abwog und überlegte, wie ich ihn am besten besiegen konnte. Mit meinem jetzigen Team wäre das zugegebenermaßen unmöglich, aber stellte man sich vor, ich besäße bereits ein Admurai und vielleicht ein Brockoloss – allein mit diesen beiden, davon war ich überzeugt, würde ich ihn schlagen können. Möglicherweise war das zu arrogant für den Anfänger, der ich im Grunde noch war, aber ich schaffte es schlichtweg nicht, auch nur einen Funken Respekt für diesen Trainer aufzubringen.

    »Man könnte N fast beipflichten, wenn man diesen da sieht«, murmelte ich vor mich hin. »Er kämpft, ohne viel Ahnung zu haben. Seine Pokémon werden in der Liga keinen Sieg kosten, nur leiden, weil er nicht weiß, wann genug ist. Eigentlich… ein Pokémon zu quälen, das bedeutet nicht nur, es übermäßig grausam zu behandeln. Solche Dummheit kann ebenfalls eine Qual sein. Vor allem für mich als Zuschauer.«

    Seufzend erhob ich mich. Bevor ich komisches Zeug redete, konnte ich auch einen kleinen Spaziergang unternehmen, um mir die Stadt anzusehen. Vielleicht das Museum besichtigen, vielleicht dem Café Lagerhaus noch einmal einen Besuch abstatten, bevor ich Septerna hinter mir lassen und mich gen Ewigenwald aufmachen würde. Ja, das klang nach einer guten Idee.

    Ich sagte der zuständigen Schwester Bescheid, dass ich Kiesling später abholen würde, und verließ das Poké-Center, allerdings nicht, ohne einen letzten Blick auf einen der Bildschirme zu werfen, wo nun über eine Trainerin berichtet wurde, die es sich anscheinend in den Kopf gesetzt hatte, nur mit Feuer-Pokémon zum Champ zu werden.


    Noch ehe die Sonne ihren langen Sinkflug antrat, brach ich gen Ewigenwald auf.

    Nachdem der Arenakampf relativ früh am Vormittag gewesen war, war Kiesling gegen Mittag wieder fit und erholt, nichts mehr erinnerte an den erschöpften Zustand, in dem es sich vor wenigen Stunden noch befunden hatte. Ich aß im Pokémon-Center zu Mittag, nachdem ich mir nur kurz die aktuelle Ausstellung im Septerna-Museum angesehen hatte, und ließ mich dann nicht mehr länger aufhalten. Mit meinen drei Pokémon sicher in ihren Kapseln untergebracht und meinem wenigen Gepäck verstaut in meiner schwarz-blauen Umhängetasche, stand der nächsten Etappe meiner Reise nichts mehr im Weg.

    Während ich am alten Bahngleis entlang in Richtung Stadtrand wanderte und dabei ein letztes Mal die bunten Fassaden der Lagerhallen bewunderte, in deren stets expandierenden Bildern ich immer wieder Neues entdeckte, was ich vorher nicht bemerkt hatte oder was vielleicht auch noch gar nicht dort gewesen war, schrieb ich per Viso-Caster meinen beiden Kindheitsfreunden kurz, dass auch ich mich nun aus Septerna aufgemacht hatte.

    - Bin unterwegs zum Ewigenwald. Wir sehen uns in Stratos.

    - Hast du den Orden bekommen?

    Es war Bell, die als Erste zurückschrieb.

    - Würde ich Septerna schon verlassen, wenn ich ihn nicht hätte? Der Orden, den Cheren verdienen kann, ich aber nicht, muss erst noch hergestellt werden.

    - Angeber. Soll ich irgendwo auf dich warten? Wir könnten wieder gemeinsam reisen. Ich denke, das hätten wir von Anfang an tun sollen. Wir können uns alle drei irgendwo treffen.

    - Sorry, aber das geht leider nicht. Ich habe noch etwas zu erledigen, bevor ich nach Stratos weiterziehe.

    Eine Zeit lang versiegte der digitale Austausch, Bell schien wohl über ihre nächste Nachricht genauer nachzudenken. Als sie schließlich weiterschrieb, konnte ich nur schwer ein Stöhnen unterdrücken.

    - Du begibst dich doch nicht wieder in Gefahr, oder? Wir werden doch nicht wieder über einen Monat lang nichts von dir hören? Wenn du irgendwelche Probleme hast, dann sag es mir bitte! Ich mache mir Sorgen.

    Wie sollte ich denn bitteschön darauf antworten? Hatte ich Probleme? Ja, ein Problem, das ich gerade hatte, war, dass meine beste Freundin mir diese Frage stellte. Ich meine, das klang ja irgendwie so, als hegte sie den Verdacht, ich würde Drogen nehmen. Oder schwer depressiv sein. An der Formulierung hätte sie ruhig noch ein wenig feilen können, wenn sie sich schon so viel Zeit für ihre Nachricht nahm. Rasch tippte ich eine Antwort in die moderne Handy-Armbanduhr ein.

    - Nein, dieses Mal wird es nicht so lange dauern. Denke ich. Es ist alles in Ordnung. Ich treffe mich nur mit einem…

    An dieser Stelle zögerte ich und überlegte, was ich schreiben sollte. Was war N für mich? Ein Feind? Das konnte ich wohl kaum schreiben, zumal es ohnehin nicht stimmte. Team Plasma war mein Feind. N teilte manche ihrer Ansichten, aber das setzte ihn nicht mit den Mitgliedern dieser Verbrechergruppe gleich. Ein Freund also? Ich hatte das Gefühl, wir konnten vielleicht Freunde werden, wenn wir es schafften, unsere Differenzen bezüglich unserer Ansichten über Pokémon-Trainer und Pokébälle beizulegen oder zumindest zu ignorieren, aber noch waren wir das ganz sicher nicht.

    entfernten Bekannten. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen.

    - Du weißt schon, Black, wenn du Wörter wie »wirklich« in solchen Sätzen verwendest, mache ich mir nur noch mehr Sorgen. Aber ich lasse es dir durchgehen, dieses eine Mal. Bitte lass mich das nicht bereuen.

    Der Austausch mit Cheren fiel im Gegensatz dazu überaus kurz aus. Es dauerte ein paar Minuten, bis er auf meine ursprüngliche Nachricht antwortete.

    - Gute Arbeit, Rivale.

    Dass er gar nicht erst fragte, ob ich den Grundorden tatsächlich erhalten hatte, sprach Bände. Zudem brauchte er keine sinnlosen Versicherungen wie Bell, dass bei mir alles in Ordnung war und er sich nicht sorgen musste. Cheren war klar, dass ich zurechtkam, und er vertraute darauf, dass wir uns irgendwann im Laufe unserer Reise wieder über den Weg liefen. Und dann, diese Aussage steckte in jener kurzen Antwort verborgen, würden wir uns endlich wieder einen spannenden Pokémon-Kampf liefern und sehen, wer von uns mit seinem Training tatsächlich weiter gekommen war.

    Um zum Ewigenwald zu gelangen, gab es im Großen und Ganzen zwei Wege, die einem offenstanden: Zum einen die breite Straße, die von Septerna aus bis zur Himmelspfeilbrücke führte, direkt durch den Wald hindurch, zum anderen konnte man aber auch an der alten Eisenbahnstrecke entlang gehen, welche am südlichen Saum des Waldes ihr Ende bei einem alten Bahnhofsgebäude fand, wo einst die Lastzüge be- oder entladen worden waren. So viel ließ sich über die Kartenapp feststellen, doch wie man durch den Ewigenwald selbst kam, da wurden die Angaben schon ein wenig vager.

    Hielt man sich an die Straße, so kam man binnen weniger Stunden zu Fuß bis zur Himmelspfeilbrücke, aber da ich mich fürs Bahngleis entschied und zudem den Forst erkunden wollte, um das Feld der Besinnung zu finden, musste ich wohl oder übel selbst einen Pfad durchs Dickicht finden. Ich gab vorsichtshalber Feld der Besinnung ins Suchfeld ein, wer wusste schon, vielleicht klappte es ja auf diese Weise, doch am Ende wurden mir keine Ergebnisse angezeigt. Eine Obenansicht des gesamten Waldes gab auch nicht viel mehr Aufschluss – man konnte meinen, eine angeblich solch große Lichtung sollte von oben zu sehen sein, aber sie war es nicht.

    Vielleicht existierte sie tatsächlich nicht. Ich war langsam geneigt, es zu glauben. Aber hätte N mich dann dorthin eingeladen? Ich hielt ihn nicht für jemanden, der sich derlei unnötige Späße erlaubte.

    Nun, ich würde ja sehen, wie es lief, sobald ich dort war. Vorerst genoss ich aber die Wanderung am alten, verwitterten Gleis entlang, welches sich in einer annähernd geraden Linie durch die Landschaft zog. Innerhalb weniger Minuten wichen die Geräusche der Stadt und machten einer natürlichen, nur von Wind und Vogel-Pokémon-Schreien durchbrochenen Stille Platz. Die Sonne sandte sanfte Sommerstrahlen auf mein Gesicht hinab, sodass mich eine wohlige Wärme umschloss, während ich meinen leisen Schritten im hoch wuchernden Gras lauschte.

    Dieses Bahngleis hatte etwas seltsam Nostalgisches an sich. Es war ein deutlicher Einschnitt in die Umgebung, doch wirkte es dabei keineswegs fehl am Platze, eher erschien es mir, als gehörte es schon immer hierher. Die Natur hatte sich zu eigen gemacht, was ursprünglich nicht hier gewesen war, hatte sich mit Moos und Farn das rostige Eisen erobert und den Pokémon ein Habitat bereitet, in dem sie ungestört leben konnten, während sie den gelegentlich vorbeiziehenden Naturbeobachtern und Trainern einen wahrlich friedlichen Anblick gewährten.

    Wie in einem Traum schlenderte ich dahin und vergaß die Zeit, sodass ich später erstaunt in den Himmel aufblickte, als ich bemerkte, wie dieser sich langsam rötlich zu färben begann. Vor mir erhoben sich die Silhouetten der Bäume vor einer im Westen untergehenden Sonne, die mit ihrem letzten Tageslicht auch den verfallenen Bahnhof beschien, der nun nur noch wenige dutzend Schritte vor mir lag und mit seinen zerbrochenen Fenstern und bröckeligen Wänden der Szenerie einen Hauch von Verfall und Vergänglichkeit verlieh, doch zugleich den Flair des Lebens, das sich in Ranken am Mauerwerk empor wand und seine Stärke in Form einer Tanne verkörperte, die aus dem Dach des Gebäudes hinauswuchs.

    Es war ein solch wunderschönes Bild, dass ich meine ungeschickten Finger dafür verfluchte, nicht über größeres künstlerisches Talent zu verfügen, um es in einem Gemälde wie jenen in den Lagerhallen-Ateliers festzuhalten. Trotzdem war ich glücklich, denn meine Reise ermöglichte es mir, solche Dinge zu sehen.

    Wenn doch nur Zurrokex ebenfalls… nein, jetzt nicht. Jetzt wollte ich mir den Augenblick nicht durch derartige Gedanken trüben. Stattdessen ließ ich meine drei Pokémon aus ihren Bällen und setzte mich an den Rand des einstigen Bahnsteigs, um zu rasten und etwas zu essen.

    Ich hatte den Ewigenwald erreicht. Jetzt galt es nur noch, irgendwo in seinen düsteren Weiten den seltsamen Jungen namens N zu finden.


    Einige Zeit später sprang ich, nachdem ich meinen restlichen Proviant wieder in der Tasche verstaut hatte, vom Bahnsteig und schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen zum Waldrand. Meine Jacke hatte ich ausgezogen, denn obwohl sich der Sommer nun langsam dem Ende neigte und es von Tag zu Tag kühler wurde, war der heutige Abend ein unerwartet warmer, sodass ein T-Shirt meiner Meinung nach genügte. Im Wald würde es sicherlich frischer sein, aber ich konnte die Jacke ja jederzeit wieder anziehen, wenn es mir zu kalt wurde.

    Prinzipiell befand ich mich bereits im Ewigenwald – denn eigentlich gab es keinen wirklichen Waldrand, es war eher ein fließender Übergang, inmitten dessen sich der alte Bahnhof befand, nebst einer überwucherten, nicht sehr breiten, gepflasterten Straße, die von dort aus vermutlich zur größeren Straße führte. Je weiter man entlang des Bahngleises kam, desto dichter wurde der Pflanzenbewuchs, und wandte man sich vom Ende der verlassenen Strecke schließlich gen Norden, ließ sich wohl sagen, dass man dann den wahren Ewigenwald betrat, in gewisser Weise das Zentrum, das dichtbewachsene Heiligtum, wo es vor Pokémon nur so wimmeln musste.

    Tatsächlich wurde es bald ziemlich schattig. Ich hielt mich nicht an den gepflasterten Weg, sondern wählte meinen eigenen Pfad, wobei ich hauptsächlich einigen offenbar häufig genutzten Wildwechseln folgte, sodass es nicht lange dauerte, bis ich mich inmitten von Bäumen befand, die ihre weiten Kronen über mir ausbreiteten. Es war ein Mischwald, mit Nadeln wie auch Laub, aber definitiv kein sehr lichter Ort, zumindest nicht hier, abseits aller Wege.

    Wie ich so durch den weiten Forst wanderte, der sich beinahe über die gesamte Fläche zwischen Septerna und der östlichen Meerenge erstreckte, was ihn zu einem der größten Wälder Einalls machte, erspähte ich manch ein wildes Pokémon, hauptsächlich der Typen Käfer und Pflanze, von denen sich die meisten allerdings von mir fernhielten. Einige jedoch, das bemerkte ich durchaus, belauerten mich mit glühenden Augen aus der Finsternis des Unterholzes heraus. Selbst ein wenig schreckhafter Trainer wie ich bekam dabei eine Gänsehaut.

    »Es wird nicht schaden, ein wenig Gesellschaft zu haben«, raunte ich, als das Gefühl, beobachtet zu werden, immer drängender wurde, und rief Zwottronin aus seinem Pokéball. Dadurch fühlte ich mich gleich wesentlich sicherer – sollte es jetzt eines dieser Pokémon wagen, mich anzugreifen, würde es sein blaues Wunder erleben.

    Als wäre die Anwesenheit des kriegerischen Otters genug, dass sie von ihrer vermeintlichen Beute abließen, nahm die feindselige, lauernde Präsenz schon kurz danach deutlich ab, obwohl noch immer ein Rest von ihr verblieb und ich manchmal ein verdächtiges Rascheln hinter mir zu hören glaubte, das nicht zu den restlichen Geräuschen des Waldes passte. Außerdem schien dort etwas zu sein, das sich nicht so leicht abschrecken ließ und mir weiterhin hartnäckig folgte. Als hätte sich mein eigener Schatten an meine Fersen geheftet. Unauffällig beschleunigte ich meine Schritte.

    Ich erfuhr nie, was genau es gewesen war, das mich dort für sicher eine gute halbe Stunde jagte, letztlich entschied es sich nie dazu, mich anzugreifen, und ehe ich mich versah, erforderte auch schon etwas Anderes meine Aufmerksamkeit… oder eher jemand.

    Ein Stück voraus hörte ich plötzlich Stimmen, die scheinbar angeregt miteinander diskutierten. Ich hielt zuerst inne, kam dann allerdings näher. Vermutlich waren das nur ein paar Trainer oder Ranger, obwohl ich nicht verhindern konnte, kurz an Team Plasma und Violaceus zu denken. Aber wie groß war schon die Wahrscheinlichkeit, diesen Schurken zwei Mal innerhalb von zwei Monaten in einem dunklen Wald über den Weg zu laufen… obwohl der Wald bei der Grundwassersenke nur dunkel gewesen war, weil es Nacht gewesen war. Der Ewigenwald dagegen war selbst unter Tage allenfalls dämmrig. Und die Sonne war nun beinahe untergegangen. Ich überlegte, die integrierte Taschenlampe meines Viso-Casters zu benutzen, entschied mich allerdings dagegen.

    Die beiden Männer, die ich kurz darauf ausfindig machte, scheuten sich jedenfalls nicht, mitten im tiefsten Walde Licht zu machen, auch auf die Gefahr hin, ganze Schwärme von Käfer-Pokémon anzulocken. Die beiden waren deutlich älter als ich und wirkten auf den ersten Blick nicht wie Trainer, doch die Pokébälle, die einer von ihnen am Gürtel trug, in ähnlichen Halterungen wie bei mir, bewiesen das Gegenteil. Ihre Kleidung war größtenteils grau und mutete wie eine Art Uniform an, zudem trugen sie silberne Armbinden, auf denen ein goldenes Tauboss innerhalb eines ebenso goldenen, spiegelverkehrten C abgebildet war. Scheinbar gehörten sie irgendeiner Gruppierung an. Aber Team Plasma war es nicht, so viel stand fest.

    »…nur ein paar verdammte Freaks. Ich habe gehört, die stehlen Pokémon, nur um sie freizulassen.« Da ich nun nahe genug heran war, vermochte ich zu verstehen, was diese Männer sagten. »Wenn du mich fragst, verschwinden die bald wieder von der Bildfläche. Spätestens wenn sie kapieren, dass sich keiner für ihre albernen Ansichten interessiert.«

    »Was kümmert es uns?«, entgegnete der Andere. Ich vermutete, dass sie gerade über Team Plasma gesprochen hatten. Inzwischen verbreiteten sich die Gerüchte über die Plasmas in ganz Einall. »Ist doch denen ihr Problem, wenn sie aus ihren Raubzügen keinen Profit schlagen wollen. Da bleibt mehr für uns.«

    »Stimmt auch wieder«, stimmte er Erste dem zu. »Die Auftraggeber werden zunehmend ungeduldiger, da ist es besser, wenn ein paar potentielle Konkurrenten sich diesen Idioten anschließen. Konkurrenz ist nie gut fürs Geschäft.«

    »Wo wir schon vom Geschäft sprechen, irgendetwas Neues von Tillia? Ich möchte nicht länger in diesem verfluchten Wald bleiben als unbedingt nötig. Hast du auch das Gefühl, dass uns hier irgendetwas beobachtet? Und überall krabbelt und raschelt es, dass es wirklich unheimlich ist.«

    »Verlier jetzt nicht die Nerven.« Sein Kumpane seufzte und lehnte sich mit verschränkten Armen an einen Baum. »Oder hast du etwa Schiss vor ein paar Käfer-Pokémon? Das sind gemeinhin die schwächsten. Oder glaubst du, so ein winziges Toxiped könnte uns was anhaben?«

    »Du weißt schon, zu was sich Toxiped am Ende entwickelt, oder?«, grummelte derjenige, der sich scheinbar beobachtet fühlte, ließ es jedoch darauf beruhen. »Jedenfalls, sobald wir das verlangte Objekt haben, gehen wir zurück zur Basis. Du weißt ja, der Boss mag keine Verzögerungen. Und außerdem bedeuten Verzögerungen eine geringere Bezahlung.«

    »Aber mal im Ernst, diese steinreichen Schnösel sind schon echte Trottel.« Der Mann, der sich an den Baum gelegt hatte, lachte trocken auf. »Statt dass sie selbst mal rausgehen, um ein Pokémon zu fangen, überlassen sie die Drecksarbeit lieber uns und blättern dann ein vermögen für die Beute hin. Unser momentaner Auftraggeber ist ein Sammler, oder? Ich habe gehört, er sammelt seltene Pokémon und stopft sie dann lebendig aus. Kranker Bastard.«

    »Durch kranke Bastarde wie diesen verdienen wir unseren Lebensunterhalt«, entgegnete der Andere. »Also bete lieber, dass es solche Typen noch viele Jahre lang geben wird und dass die Polizei ihnen nicht auf die Schliche kommt. Wo bleibt denn jetzt Tillia? Sie sagte, sie hätte ein Matrifol gesehen und würde es verfolgen, aber jetzt hat sie sich seit einer Stunde nicht mehr gemeldet.«

    »Die kommt schon noch, und dann sollte sie es lieber tatsächlich gefangen haben, sonst setzt es was. Der Boss war letztes Mal schon nicht zufrieden mit unserer Ar…«

    Ich glaubte, genug gehört zu haben. Ich hatte recht und auch wieder Unrecht gehabt. Es handelte sich definitiv nicht um Mitglieder des Team Plasma, aber das bedeutete nicht, dass es keine Schurken waren. Wenn ich die Konversation richtig interpretierte, waren das sogenannte Pokémon-Jäger, also Menschen, die sich auf den Verkauf seltener Pokémon an interessierte, meist sehr gut zahlende Abnehmer spezialisiert hatten. In anderen Worten, es waren Kriminelle, die Pokémon nur als Verkaufsobjekte ansahen und sie nicht einfingen, um sie zu trainieren, zu erforschen oder zu züchten, sondern nur, um sie an den Höchstbietenden zu verschachern, was hier in Einall höchst illegal war. Pokémon durften miteinander getauscht oder aber verschenkt werden, nicht jedoch verkauft.

    Ich hätte diesen Kerlen gerne das Handwerk gelegt, aber nachdem das letztes Mal nicht gut ausgegangen war, gegen eine Gruppierung, in der zumindest manchen das Wohl der Pokémon am Herzen lag, mochte es dieses Mal noch gefährlicher sein, denn ich bezweifelte nicht, dass diese beiden Männer und die Gefährtin, die sie erwähnt hatten, skrupellos sein konnten, wenn es um ihren Profit ging – denn Profit war alles, worum sich Pokémon-Jäger scherten.

    Auf einmal hörte ich ein vernehmliches Klicken hinter mir, wie ich es sonst nur aus Filmen kannte, ehe etwas leicht gegen meinen Rücken drückte. Im nächsten Moment erklang eine bedrohliche, weibliche Stimme. »Ganz ruhig, Trainer. Tu jetzt nichts Unüberlegtes, dann verteile ich auch nicht dein Gehirn auf dem Laub. Verstanden?«

    Ich hob langsam die Hände, während mein Herz zu rasen begann. Das musste ein schlechter Scherz sein. Das musste ein ganz schlechter Scherz sein. Das konnte einfach nicht wahr sein. Nachdem ich Team Plasma entkommen war, jetzt das…

    »Steh auf und geh auf die Lichtung«, befahl die Frau, die sich weiterhin hinter mir hielt. Hatte sie wirklich… eine Waffe? Vielleicht war es nur ein Stock, den sie mir in den Rücken drückte. Aber Zwottronin wirkte so ernst. War es nur besorgt, weil es meine Angst spürte, oder erkannte es tatsächlich, was dieses Ding in der Hand der Pokémon-Jägerin war? »Die Hände schön dort lassen, wo ich sie sehen kann.«

    Ich trat auf die kleine Lichtung hinaus, auf der ihre Kumpanen auf sie warteten, indes ich fieberhaft überlegte, was ich jetzt tun konnte. Aber mein Kopf war wie leergefegt. Die beiden Pokémon-Jäger bedachten mich zunächst mit alarmierten Blicken, doch als sie sahen, wer mir dichtauf folgte, entspannten sie sich sichtlich.

    »Da bist du ja endlich, Tillia«, sagte einer von ihnen nicht sehr freundlich. Besonders gut zu verstehen schienen die sich ja nicht. »Hast dir reichlich Zeit gelassen. Und was soll das hier? Dieser Trainer hat hoffentlich ein Matrifol, sonst…«

    »Ich hab den Jungen nur dabei erwischt, wie er euch beide belauscht hat«, entgegnete Tillia und gab mir einen Stoß, der mich ein paar Schritte nach vorne taumeln ließ. »Ihr solltet eure Umgebung besser im Auge behalten.«

    Nachdem ich mich wieder halbwegs gefangen hatte, wagte ich es, mich umzudrehen, sodass ich die Frau, die mich bedrohte, zum ersten Mal sah. Im hellen Licht der Taschenlampen ihrer Komplizen wirkte ihre Haut gespenstisch blass, ihr Haar war dafür umso dunkler und glänzender. Sie trug eine eng anliegende Hose und eine braune Lederjacke über einem grünen Top, und an ihrem linken Arm war dieselbe Armbinde mit dem Tauboss-C-Wappen befestigt wie bei den anderen beiden. Die rechte Hand dagegen hielt eine schwarze, moderne Pistole, wie man sie für gewöhnlich bei Polizisten sah. Der Lauf war direkt auf mein Gesicht gerichtet.

    Als ich in dieses dunkle Loch starrte, aus dem jederzeit eine tödliche Kugel kommen konnte, schwand mir der Mut. Ich hätte mir niemals ausgemalt, im Laufe meiner Reise einmal mit einer Schusswaffe bedroht zu werden. Ich kannte mich mit diesen Dingern nicht aus, aber es wirkte verdammt echt. Bei der Konfrontation mit Team Plasma hatte ich um meine Zukunft gefürchtet, aber nicht um mein Leben… das war jetzt anders. Diese Jäger waren Kriminelle durch und durch. Sie kannten kein Mitleid, keine Gnade. Ich hatte sie belauscht, also würden sie mich beseitigen, oder?

    Mein Atem beschleunigte sich und mir wurde unangenehm heiß. Das konnte nicht sein… nein… ich war nicht hierher gekommen, um zu sterben! Warum war ich so dumm gewesen, mich auf Ns Einladung einzulassen? Ich hätte es einfach ignorieren und jetzt schon auf halbem Wege zur Himmelspfeilbrücke sein können! Stattdessen… stattdessen… ich hatte keine Ahnung mehr, was ich tun sollte… was ich sagen konnte, um diese Frau irgendwie davon zu überzeugen, nicht abzudrücken. Ich war vor Angst wie gelähmt.

    »Musstest du gleich eine Waffe auf ihn richten?«, beschwerte sich jedoch derjenige, der angeblich Angst vor Käfern hatte. »Er ist noch fast ein Kind, was hätte er schon tun können?«

    »Er hat eure Gesichter gesehen, ihr Hohlköpfe«, entgegnete Tillia. »Und jetzt auch meins.«

    »Ich bitte dich, dein Gesicht kennt jeder, der in den letzten Jahren regelmäßig Zeitung gelesen hat«, kam sogleich die Erwiderung, bevor er sich an mich wandte. »Hey, Junge, hast du das verstanden? Du hast nichts gesehen und nichts gehört, dann lassen wir dich ziehen.«

    Ich nickte eifrig und hoffte inständig, dass sie mich tatsächlich gehen ließen. Und dass Zwottronin nicht auf dumme Ideen kam. Bis jetzt hatte es sich still an meiner Seite gehalten, aber ich kannte mein erstes Pokémon gut genug, um zu wissen, dass es sich wahrscheinlich schon Gedanken darüber machte, wie es diese Gegner am besten besiegen konnte. Doch dabei verstand es nicht, dass es sich nicht um Gegner wie die handelte, mit denen wir es für gewöhnlich zu tun hatten. Trotzdem… ich sollte ebenfalls über einen Fluchtweg nachdenken, aber… ich kann nicht.

    »Hast du jetzt ein Matrifol oder nicht?«

    Kurz reagierte Tillia nicht auf die Frage, dann nahm sie seufzend die Pistole runter, woraufhin mir ein gewaltiger Stein vom Herzen fiel, und gab eine Antwort. »Ja, natürlich habe ich eins, für wen hältst du mich? Der Auftrag ist erfüllt, wir müssen es nur noch bei Caligo abliefern.«

    »Ich habe auch nichts anderes von einer ehemaligen Pokémon-Rangerin erwartet«, behauptete der erste ihrer Kumpanen grinsend. »Der Boss wird zufrieden sein. So schaffen wir es vielleicht sogar noch innerhalb des Zeitlimits.«

    »Vielleicht könnten wir uns noch einen kleinen Bonus verdienen«, meinte der Zweite jedoch, wobei seine Augen ohne jeden Zweifel auf meinem ersten Pokémon lagen. »Das ist ein Zwottronin, oder? Ich habe gehört, solche gibt es nur an wenigen Stellen in ganz Einall. Das bringt uns sicher eine hübsche Summe ein.«

    Plötzlich hob Tillia ihre Pistole wieder. »Du hast ihn gehört, Trainer. Gib ihm den Pokéball deines Zwottronin, aber ruf es zuerst zurück. Und wenn wir schon dabei sind, gib uns gleich noch deine restlichen Bälle. Na los, bevor ich ungeduldig werde.«

    Im nächsten Augenblick geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Ich senke die Hände, um nach meinen Pokébällen zu greifen, während mein Verstand endlich wieder in Schwung kam, elektrisiert durch den bloßen Gedanken an den Verlust sämtlicher meiner Pokémon. Zugleich wanderten die Augen der angeblichen früheren Rangerin mit einem überraschten Ausdruck zu einem Punkt an meinen Füßen, ein eindeutiger Hinweis, dass Zwottronin irgendetwas im Schilde führte. Dann plötzlich schien sich die Zeit zu verlangsamen, als sich ihr Finger am Abzug zu bewegen begann, während gleichzeitig ein heftiger Wasserstrahl in Richtung ihrer Hand schoss und ich versuchte, mich so schnell wie möglich zur Seite zu hechten.

    Ein ohrenbetäubender Knall erklang.

    Holz splitterte und flog über die Lichtung, ich stürzte auf den feuchten Waldboden und schlug mir dabei das Knie an einer Wurzel an, Tillia fluchte lautstark, als ihr die Pistole durch Zwottronins Aquaknarre aus der Hand gerissen wurde und ein Schwarm Dusselgurr, die offenbar in der Nähe geschlafen hatten, stob aufgeschreckt in den Himmel auf und bedeckte für kurze Zeit den Mond über uns, sodass es finster wurde, als mein verlässlicher Partner auch noch kurzerhand mit Kalkklinge die Taschenlampen der Jäger zerstörte.

    Alles ging so schnell, dass ich kaum dazu kam, darüber nachzudenken, was als nächstes zu tun war. Ich glaubte im ersten Moment, getroffen zu sein, doch der pochende Schmerz in meinem aufgeschürften Knie rüttelte mich umgehend wach und ließ mich aufspringen, um das Weite zu suchen. Dieses Mal jedoch achtete ich genau darauf, dass Zwottronin bei mir war – ich würde nicht noch einmal eines meiner Pokémon zurücklassen. Nie wieder.

    »Verfluchte Scheiße!«, hörte ich die weibliche Pokémon-Jägerin hinter mir. »Aus dem Weg, ihr Hohlköpfe! Dieser kleine Mistkerl gehört mir!«

    Ein weiter Schuss hallte peitschend durch den Forst, dass es in meinen Ohren klingelte, aber die Kugel schlug meterweit entfernt in einen Baum ein. Bis sie ihre Pistole wieder aufgehoben hatte, hatte ich bereits eine gute Distanz zwischen mich und die Jäger gebracht, und in der Dunkelheit würde ihr das Zielen schwer fallen. Dennoch raste mein Herz noch immer wie wild und pumpte reine, fast in Panik mündende Furcht durch meinen Körper. Es brauchte nur einen unglücklichen Schuss, einen zufälligen Treffer… ich verfluchte meine lebhafte Fantasie, als sie mir ein Bild von mir selbst zeigte, wie ich verblutend im Ewigenwald lag, während die Käfer-Pokémon bereits begannen, sich über mich herzumachen.

    Ich rannte – oder eher humpelte –, so schnell mich meine Beine – oder eher mein verletztes Knie – trugen, doch kniff ich jedes Mal, wenn wieder ein Schuss krachte, die Augen zu und zuckte zusammen, in ständiger Erwartung, irgendwo einen stechenden, unerträglichen Schmerz zu spüren, der das Ende meiner halsbrecherischen Flucht markieren würde. Doch nach einiger Zeit versiegte das stetige Knallen, dennoch konnte ich deutlich die wütenden Rufe und die hastenden Schritte hinter mir hören. Vielleicht war dieser Tillia die Munition ausgegangen, aber aufgegeben hatte sie trotzdem noch lange nicht.

    Aber wenn die Pistole jetzt tatsächlich aus dem Spiel war, dann war ich nicht mehr im Nachteil, nicht mehr machtlos. Ich hatte meine Pokémon, und das bedeutete, ich konnte gewinnen und diese Verbrecher vielleicht sogar dingfest machen. Ich geriet tatsächlich in Versuchung, auf der Stelle stehenzubleiben und es zu wagen, doch dann schalt ich mich einen Narren und lief weiter. Ich kann nicht wissen, ob sie wirklich keine Munition mehr hat oder sie nur aufspart, bis sie eine klare Schusslinie hat – jetzt umzukehren und zu kämpfen wäre dieselbe Art von Dummheit, die mich Zurrokex gekostet hat.

    Schlagartig öffnete sich der Wald vor mir zu einem schmalen Bach hin.

    Ich sah das steile, wenn auch niedrige Ufer zu spät und stolperte. Wankend lief ich ins kühle Nass hinein und rutschte auf den glitschigen Steinen am Grund des Baches aus, sodass mir das Fußgelenk umknickte und ich platschend ins Wasser fiel. Ich biss mir auf die Lippe und schmeckte Blut, als mir der Schmerz ins Bein schoss, doch ich zwang mich dazu, nur ein gedämpftes Stöhnen von mir zu geben und mich auf der anderen Seite wieder aufs Ufer zu wuchten. Durchnässt lag ich im Gras, bis Zwottronin sich mit besorgtem Blick über mich beugte und mich daran erinnerte, dass ich drei Pokémon hatte, die ich um jeden Preis verteidigen musste. Auf keinen Fall durfte ich sie in die Hände von Pokémon-Jägern fallen lassen, die sie an verrückte Sammler verkauften.

    Ich quälte mich wieder auf die Beine, obwohl sowohl mein rechtes Knie als auch mein rechtes Fußgelenk mit aller Macht dagegen protestierten und mir die Tränen in die Augen trieben, aber… ich… durfte… jetzt nicht aufgeben! Mit einem Schrei trat ich einen Schritt nach vorne… und stürzte erneut.

    »Verkrüppeltes Deponitox!«, fluchte ich und drehte mich auf den Rücken, mein rechtes Bein schien nur noch aus Feuer zu bestehen. Ich sah über den Bach hinweg, wo nun die drei Pokémon-Jäger aus dem Dickicht traten, angeführt von der Frau, die noch immer ihre Pistole umklammert hielt, nun mit beiden Händen, da sie wohl auf keinen Fall mehr danebenschießen wollte. Es sah nicht so aus, als hätte sie keine Munition mehr. Das war es also, das Ende. Nicht nur meiner Reise, sondern meines Lebens.

    »Wo ist er hin?«, fragte der Käferhasser. »Siehst du ihn irgendwo?«

    »Schhhh!«, zischte Tillia. »Halt die Klappe. Er versteckt sich irgendwo. Vielleicht kann ich ihn hören.«

    Ich starrte die drei perplex an, als sie damit anfingen, sich umzusehen und die Ohren zu spitzen. Ich… lag vor ihnen. Nur wenige Schritte vor ihnen. Die Frau… Tillia… sie sah direkt in meine Richtung. Ich konnte das Weiß in ihren Augen sehen. Einzig und allein der Bach trennte uns voneinander. Dennoch zeigte sie keinerlei Anzeichen davon, mich gefunden zu haben. Als wäre ich unsichtbar. Aber das war unmöglich. Völlig unmöglich.

    »Sie können nicht sehen, was sich innerhalb des Feldes befindet, weil sie nicht würdig sind«, erklang auf einmal die Stimme, die ich in diesem Augenblick am allerwenigsten erwartet hatte, und die doch wie ein Hauch von Erlösung in meinen Ohren erklang – die Stimme eines jungen Mannes mit langem, zu einem losen Zopf gebundenem, grünem Haar. »Pokemon-Jäger. Menschen wie diese sind es, die ich am meisten verabscheue.«

    N trat neben mich, direkt ans Ufer des Baches. Fast zeitgleich setzte auch die Jägerin auf der anderen Seite ihren Fuß direkt an die Kante des Bachbettes. Es war, als würden sich die beiden direkt in die Augen sehen, und doch zeigte sich kein Erkennen im Antlitz der Frau mit der Pistole.

    »Sie wird den Bach nicht überschreiten«, sagte N mit einer ruhigen Stimme, als würde er nicht gerade einer Kriminellen mit einer tödlichen Waffe gegenüberstehen. »Sie wird nicht wissen, warum, sie wird nicht einmal auf den Gedanken kommen, du könntest dich auf der anderen Seite des Baches befinden. Der Bach ist die Grenze. Jenseits der Grenze liegt das Feld der Besinnung. Nur jene, die Viridium als würdig erachtet, können das Feld wahrnehmen und es betreten. Alle anderen werden von einer Macht verjagt, die sie nicht verstehen und auch nicht erkennen können.«

    Staunend sah ich dabei zu, wie sich Tillia schließlich abwandte und sich frustriert schnaubend zurückzog. Zwottronin, welches noch immer nicht von meiner Seite gewichen war, gab einen zufriedenen Ton von sich. Ich schüttelte jedoch nur ungläubig den Kopf und warf dann einen Blick über die Schulter, wo sich mir nun wahrlich der Anblick eines Feldes bot.

    Nein, weniger ein Feld, mehr eine Blumenwiese. Es war eine gewaltige Lichtung inmitten des Ewigenwaldes, auf welcher Blumen aller nur erdenklichen Farben im Mondenschein leuchteten. Hatte die Szenerie des alten Bahnhofs mich schon mit ihrer Botschaft von Vergänglichkeit und neuem Leben in ihren Bann geschlagen, so war es hier allein die unvergleichliche Schönheit der Natur, die ihren Zauber auf mich legte und mir das Gefühl gab, einen sicheren Hafen erreicht zu haben.

    Da endlich fiel alle Anspannung und Furcht von mir ab und ich sank erschöpft, aber unendlich erleichtert ins weiche, wohlige Gras.


    107716-bd8fa1b4.pngIch kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.
    - Bilbo Beutlin -


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    Sanfter Wind streichelte mein Gesicht, angenehmer Sonnenschein wärmte meinen Körper. Ich atmete die Luft, so frisch und rein wie in der Grundwassersenke, wenn auch nicht so kühl und feucht, tief ein und wieder aus. Dann, endlich, schlug ich meine Augen auf.

    »Du bist wach«, stellte eine Stimme nicht weit von mir fest, doch keine männliche, sondern eine wohlklingende weibliche. »Du hast dir damit ja reichlich Zeit gelassen.«

    Verwirrt runzelte ich die Stirn… das letzte, woran ich mich erinnerte, war, wie N sich lächelnd über mich gebeugt hatte, ehe ich in einen traumlosen Schlaf gesunken war. Wo war N nun? Ich drehte den Kopf zur Seite und stellte fest, dass ich inmitten jener Blumenwiese lag, die ich kurz vor meiner Ohnmacht gesehen hatte, doch anstelle silbernen Mondlichts wurde die weite Lichtung nun von hellsten Sonnenstrahlen beschienen, die ihr eine warme, bunte Atmosphäre verliehen. Neben mir saß auf den Knien ein Mädchen mit hellblauer Bluse und gelbem Rock. Ihr Haar glänzte golden, und in ihren großen, braun-grünen Augen lag ein Lächeln, das mir das Herz erwärmte.

    »Wer bist du?«, fragte ich dieses wunderschöne Mädchen, das so zart wie die Blumen wirkte, die uns hier umgaben. Ich beschloss, dass das definitiv nicht der schlechteste Anblick war, zu dem man aufwachen konnte.

    »Mein Name ist Elfriede«, stellte sie sich vor. »Ich bin… nun, man könnte sagen, ich bin Ns Schwester. Ich heiße dich auf dem Feld der Besinnung willkommen, Black Averon.«

    Es war nicht verwunderlich, dass sie meinen Namen kannte, wenn sie tatsächlich Ns Schwester war und vermutlich mit ihm hierher gekommen war. Ich musste zugeben, dass ich N eher für ein Einzelkind gehalten hatte. Die beiden sahen sich auch nicht sehr ähnlich. N hatte etwas Zielstrebiges an sich, und etwas Düsteres, diese Elfriede dagegen wirkte… sanfter, runder, lieblicher.

    Nachdem ich mich in eine sitzende Position aufgerichtet und mich ausführlich gestreckt hatte, wurde ich des pochenden Schmerzes in meinem rechten Bein gewahr und mir fiel wieder ein, dass ich mich auf der Flucht vor den Pokémon-Jägern ja verletzt hatte. Aber etwas fühlte sich seltsam an. Ich krempelte das rechte Hosenbein ein wenig nach oben und stellte fest, dass sowohl mein Fußgelenk als auch mein Knie von weißen, bei Letzterem stellenweise ein wenig rötlich gefärbten Bandagen bedeckt wurden.

    Ehe ich jedoch dazu kam, Elfriede danach zu fragen, wer sich um meine Wunden gekümmert hatte, nahm ich Schritte war, die sich näherten, und wandte mich in die entsprechende Richtung, aus der ich nun N näherkommen sah, in Begleitung eines weiteren Mädchens etwa im selben Alter wie Elfriede, allerdings mit hellrotem Haar und weiß-grüner Kleidung im selben Stil. Vor ihnen her lief Zwottronin, das sich mir nun mit freudigen Lauten in die Arme warf. »Ro-oni-nin!«

    »Guten Morgen, Black«, grüßte mich N mit einem Lächeln und setzte sich kurzerhand neben mich auf die Wiese. »Wie hast du geschlafen?«

    »Erstaunlich gut«, teilte ich ihm mit und fing an, Zwottronin zu kraulen. Ich fühlte mich tatsächlich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr. »Man könnte meinen, mir würde es miserabel gehen, nachdem ich verletzt bin und so, aber ich kann mich tatsächlich nicht beklagen.«

    N lachte ausgelassen und breitete die Arme aus, wie um diese ganze Lichtung zu umfassen. »Das liegt am Feld der Besinnung. Viridiums Segen liegt auf diesem Ort. Das Feld ist nur jenen zugänglich, die würdig sind, doch wer es einmal betritt, wird feststellen, dass hier die Lebensgeister freudvoll tanzen und allzeit Wärme und Glückseligkeit herrschen.«

    Dann war das hier also wahrlich… das Feld der Besinnung. Nicht, dass ich es wirklich bezweifelt hätte, nachdem die Jäger mich hier drinnen, innerhalb der Grenze, von der N gesprochen hatte, nicht hatten sehen können, aber es kam mir trotzdem ein wenig wie ein Traum vor. Surreal und fantastisch. Es war also doch etwas an den Gerüchten dran gewesen. Und ich hatte es tatsächlich gefunden, obwohl ich in dem Moment, als ich über den Bach gestolpert war, nicht einmal wirklich danach gesucht hatte. Mir war es nur darum gegangen, mein eigenes Leben und das meiner Pokémon zu retten.

    Nun war ich hier, lebendig und halbwegs gesund, weil Viridium mir Zugang gewährt hatte, wohingegen es meinen Verfolgern selbigen verwehrt hatte. Weil ich würdig war. Doch was genau bedeutete das? Ich hatte noch immer Schuldgefühle wegen Zurrokex… nur wegen mir war es gestorben, wegen mir hatte N diese bitteren Tränen vergossen. Warum also war ich würdig? Warum wurde es mir erlaubt, diese wundersame Lichtung zu erblicken und mit den Menschen hier zu sprechen, wo ich deren Erwartungen doch vermutlich bereits enttäuscht hatte, ohne dass sie davon wussten?

    Ich sah das legendäre Pokémon nicht, es war vermutlich nicht hier, und selbst wenn ich die Möglichkeit hätte, es zu fragen, würde es mir antworten? Würde mir die Antwort gefallen? Es war müßig darüber nachzudenken. Viridium hatte mich für würdig befunden, also akzeptierte ich es. Wer war ich schon, über die Entscheidung eines der Ritter der Redlichkeit zu urteilen?

    »Wer hat meine Wunden verbunden?«, fragte ich schließlich.

    »Elfriede hat sich um dich gekümmert«, antwortete N. »Ihre Bekanntschaft hast du ja bereits gemacht. Und dieses andere bezaubernde Mädchen an meiner Seite ist Minna.« Das rothaarige Mädchen machte einen Knicks, sagte jedoch nichts… sie wirkte etwas schüchtern. »Die beiden sind meine Schwestern.«

    Ich wandte mich noch einmal an Elfriede, um mich zu bedanken, aber sie winkte nur ab und meinte, dass es selbstverständlich sei. »Jene, die Fuß auf das Feld der Besinnung setzen, sind Brüder und Schwestern im Herzen. Wir helfen uns gegenseitig. Hier gibt es keine Feindschaft, alles Leben steht in perfekter Harmonie. Pflanzen, Pokémon, sogar Menschen. Es ist ein Eindruck, ein traumhaftes Bild der Welt, die N erschaffen wird.«

    Das hatte ich fast vergessen. Ns erklärtes Ziel war es, die Verbindung zwischen Pokémon und Menschen zu durchtrennen, die durch die Erfindung des Pokéballs entstanden war – er wollte die Pokémon befreien, wie er es ausdrückte, was bedeutete, dass er nach einer Welt strebte, in der es keine Pokébälle, keine Trainer, keine Pokémon-Kämpfe in Arenen, Ligen oder Meisterschaften gab. Alles, was Trainer und ihre Pokémon erreicht hatten, würde dadurch nichtig, und diese Welt würde um Jahrzehnte zurückversetzt werden. Wie es aussah, standen seine Schwestern Minna und Elfriede auf seiner Seite.

    »Ich weiß, was du jetzt denkst«, behauptete N, als er meinen zweifelnden Blick sah. »Menschen. Pokémon. Sie sind von Grund auf verschieden und können deshalb nicht zusammenleben. Das habe ich zu Anfang gedacht. Ich hörte die Stimmen meiner Freunde, die verzweifelt nach mir schrien… und ich wusste, ich muss ihnen helfen, ganz egal, was dazu notwendig ist. Ich muss der Held werden, der für sie einsteht und diese korrumpierte, falsche Welt vernichtet, um aus ihrer Asche eine neue entstehen zu lassen, in der die natürliche Harmonie und Ordnung, wie sie auf dieser Lichtung herrschen, wiederhergestellt sind. Ich bereise Einall, um diesen Weg zu beschreiten, der mir vorherbestimmt ist – aber manches ist nicht, wie ich erwartet hatte. Meine Berechnungen beinhalten Fehler, das habe ich erkannt, als ich einige Trainer beobachtet habe, mit ein paar von ihnen sogar gesprochen habe. Dann lud mich einer von ihnen sogar ein, mich neben ihn ans Ufer eines Flusses zu setzen und ein wenig die Beine ins Wasser taumeln zu lassen, um den Goldini beim Schwimmen zuzusehen.«

    Oh ja, ich erinnerte mich, dass ich etwas in die Richtung von mir gegeben hatte. Er sprach wohl tatsächlich von mir, aber worauf genau wollte er hinaus? Hatte unsere Begegnung damals auf Route 1 tatsächlich einen so großen Eindruck bei ihm hinterlassen, dass er sich so deutlich daran erinnerte? Nun, warum sollte es nicht so sein? Ich hatte immerhin danach auch oft daran gedacht, nur hatte ich bis gestern vermutet, dass das eher einseitig war und er mich schon kurz danach wieder vergessen hatte.

    »Du irritierst mich, Black«, fuhr der grünhaarige Junge fort. »Ich bin noch nie jemandem begegnet, der mich so sehr irritiert hat. Du bist ein Trainer durch und durch, du liebst das Kämpfen, nicht wahr? Das spürt man, wenn man dich sieht. Aber du liebst auch deine Pokémon, und sie mögen dich. Ich verstehe es nicht. Dein Zwottronin ist dir treu ergeben. Ich habe ausführlich mit ihm gesprochen, als du geschlafen hast. Ich hielt es nicht für möglich, aber das Band zwischen dir und Zwottronin ist stärker als mein Band zu all den Pokémon, die hier auf dem Feld der Besinnung ein freies, ungestörtes Leben führen.«

    Er sah in den Himmel hinauf und schien mit den Augen dem Flug einiger Vogel-Pokémon hoch oben in windigen Lüften zu folgen. Doch zugleich wirkte es, als reiche sein Blick bis zu den Sternen. Seine Haltung hatte etwas Erhabenes, aber auch etwas überaus Nachdenkliches an sich. Es dauerte eine Weile, bis er weitersprach, doch ich wartete geduldig.

    »Ich bin verwirrt. Ich bin hinausgezogen, um meine Entschlossenheit zu stärken, doch nun wanke ich. Ich kann Leute wie diese Pokémon-Jäger nur hassen, sie müssen aus dieser Welt getilgt werden, ein für alle Mal. Aber ist es der richtige Ansatz, dabei auch alle Trainer zu entfernen, die vielleicht wie du sind? Denn ich glaube nicht, dass du ein schlechter Mensch bist, weil ich den Worten deiner Pokémon vertraue. Aber wie soll ich Spreu von Weizen trennen? Die Pokébälle zu vernichten, erscheint mir noch immer die effektivste Methode zu sein. Trotzdem… ich sagte es dir schon in Septerna: Ich brauche Gewissheit. Und nur du kannst sie mir geben, Black Averon aus Avenitia.«

    Nun endlich hatte seine Rede anscheinend ihr Ende gefunden. Ich war beeindruckt. Seine ausgefeilte Rhetorik hatte mich in ihren Bann geschlagen, dabei hatte er offenbar lediglich aus seinem Herzen gesprochen. Doch wer seine sehnlichsten Wünsche in solche Worte zu kleiden vermochte, um ihnen Nachdruck zu verleihen, der musste wahrlich entschlossen sein, diese Wünsche wahr werden zu lassen. Ich glaubte, ihn nun ein klein wenig besser zu verstehen. Zwar war mir noch immer nicht klar, warum er Pokémon-Trainer oder im Speziellen Pokébälle so sehr verabscheute, aber ich verstand, dass er unsicher war. Dass er Fragen hatte, nach deren Antworten er verzweifelt suchte.

    Darin waren wir uns ähnlich, denn auch ich befand mich auf der Suche nach Antworten. Antworten über Zekrom, über die Ungerechtigkeit von Zurrokex' Tod, über meinen Einlass auf diese Lichtung. Jedenfalls fühlte ich mich N auf eine seltsame Weise verbunden. Zugleich aber schreckte ein Teil von mir vor ihm zurück und warnte mich, mich nicht mit ihm einzulassen. Das wiederum vermochte ich mir nicht zu erklären.

    »Schön und gut«, erwiderte ich schließlich. »Aber was genau ist es jetzt, was du von mir willst? Gewissheit? Ich weiß nicht, wie ich dir Gewissheit geben kann. Ich verstehe manches von dem, was du sagst, nicht einmal wirklich.«

    »Es ist simpel«, meinte N jedoch und stand auf, bevor er den Planetenanhänger an der Kette um seinen Hals an einer bestimmten Stelle berührte, woraufhin dieser aufklappte und den Blick auf einen komprimierten Pokéball freigab, den er nun aus diesem portablen Geheimfach nahm und per Knopfdruck auf die gewöhnliche Größe ausweitete. »Ich will verstehen. Und um zu verstehen, muss ich es selbst ausprobieren. Ich will versuchen, ein Trainer zu sein, und du, Black, hast dich würdig erwiesen, hierher zu kommen und somit mein erster Gegner zu werden.«

    »Verstehe ich das richtig?«, vergewisserte ich mich, während ich mich ebenfalls erhob und dabei zuerst nur vorsichtig mein rechtes Bein belastete, das jedoch kaum noch schmerzte. »Du forderst mich zu einem Pokémon-Kampf heraus?«

    Ich hatte vieles erwartet, aber nicht das. N, der auf Route 1 mit mir in Streit darüber geraten war, ob es in Ordnung war, Pokémon in kleinen Kapseln aufzubewahren und gegeneinander kämpfen zu lassen, forderte mich heraus – als Trainer. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, welch Überwindung es jemanden wie ihm gekostet haben musste, tatsächlich ein Pokémon mit einer dieser von ihm so gehassten Kapseln einzufangen und nun diese Herausforderung zu äußern. Allein schon aus dem Respekt, den ich dieser Willensstärke entgegenbrachte, konnte und wollte ich nicht ablehnen.

    »Ja, ich fordere dich heraus. Ich würde das nicht tun, wenn es mir nicht wirklich wichtig wäre. Ich habe dieses Pokémon hier im Ewigenwald gefangen, nachdem ich es gefragt habe, ob es mir gestattet, an seiner Seite gegen dich anzutreten. Es ist in gewisser Weise freiwillig hier, aber ich will es nicht länger als unbedingt nötig in diesem Ding einsperren. Nur dieser eine Kampf. Mehr brauche ich nicht.«

    »Einverstanden«, nickte ich. »Wenn es das ist, was du benötigst, um Gewissheit zu erlangen, dann werde ich dir helfen. Aber ist es okay, auf dem Feld der Besinnung zu kämpfen? Äh… wird Viridium da nicht wütend oder so?«

    »Es ist in Ordnung.« Erstmals nun meldete sich die schüchterne der beiden Schwestern zu Wort, Minna. Allerdings flüsterte sie fast, sodass es schwer war, sie zu verstehen. »Solange es keine feindselige Auseinandersetzung ist und ihr es nicht übertreibt, wird der Hüter es gestatten… das denke ich zumindest.«

    »Bei solchen Dingen kann man sich auf Minna verlassen«, versicherte Elfriede, die sich neben ihre Schwester stellte. »Sie weiß um die Gefühle der Pokémon.«

    Einer kann ihre Stimmen hören, eine ihre Gefühle wahrnehmen… und was kann die Dritte im Bunde? Ich beäugte Elfriede auf abschätzende Weise, achtete jedoch darauf, nicht direkt in ihre Richtung zu schauen, damit es nicht auffiel. Dann ging mir jedoch etwas Anderes auf. Moment mal! Bedeutet das, Viridium ist hier irgendwo, jetzt, in diesem Moment? Nein. Sie hat nur eine begründete Vermutung geäußert. Ich sollte bei diesen Dreien lieber nicht zu viel hinterfragen, sonst zweifle ich womöglich am Ende noch an meinem eigenen Verstand.

    N und ich entfernten uns ein Stück voneinander, um genug Platz für den Kampf zu haben, und auch Minna und Elfriede begaben sich in sichere Distanz. Zwottronin trat mit einem kampflustigen Gesichtsausdruck nach vorne, aber ich legte ihm eine Hand auf den Kopf und hielt es dadurch zurück. »Heute nicht, mein Freund. Du und Kiesling, ihr habt euer Können im Arenakampf unter Beweis gestellt. Heute ist Grillmak an der Reihe.«

    Es verstand und nickte, indes ich den Pokéball zur Hand nahm, in dem sich der kleine Feueraffe befand, und ihn nach einem kurzen Drücken des Knopfes an der Vorderseite ohne langes Zögern in die Luft warf. »Auf geht’s, Grillmak!«

    Auch N entließ sein Pokémon aus dem Ball. »Bitte leihe mir deine Stärke, damit wir gemeinsam gewinnen können.«

    Das daraufhin vor ihm erscheinende Pokémon war genauso groß wie Grillmak und von humanoider Gestalt. Beigefarbene Haut, die von roten Erhebungen durchzogen war, welche wie verdickte Sehnen oder Muskelstränge wirkten, zog sich über seinen Körper. Unter dem linken Arm geklemmt trug es scheinbar mühelos einen grob behauenen Holzbalken, den es mit Sicherheit als Waffe benutzen würde, darauf wettete ich.

    Ich hatte ein solches Pokémon schon einmal gesehen, nicht nur im Fernsehen, sondern tatsächlich auf meiner eigenen Reise, um genau zu sein erst gestern, am Saum des Waldes. Das Exemplar dort hatte versucht, eine der rostigen Schienen des alten Bahngleises anzuheben, natürlich erfolglos. Es hatte keinen Balken gehabt wie dieses, vielleicht hatte es also seinen verloren gehabt und nach einem Ersatz gesucht. Und dann lag da dieser riesige, eiserne Balken direkt vor ihm – was für ein Fund! Nur hatte sich das kleine Kerlchen dabei wohl ein bisschen selbst überschätzt. Es war irgendwie niedlich gewesen.

    Kurzum, es handelte sich um ein sogenanntes Praktibalk, ein Kampf-Pokémon, was bedeutete, dass keiner von uns beiden etwaige typmäßige Vor- oder Nachteile besaß. Es würde also tatsächlich darauf hinauslaufen, welches Pokémon sich als das bessere erwies, und welcher Trainer.

    N mochte keinerlei Erfahrung haben, aber das hieß nicht, dass ich mich zurückhalten würde. Wenn er einen aufschlussreichen Kampf wollte, dann wäre ihm nicht gedient, wenn ich nicht mein Bestes gab. »Grillmak, setze Einäschern ein!«

    Ich konnte sehen, wie Ns Augen sich überrascht weiteten, als das Gefecht so unvermittelt begann, doch er fing sich sogleich wieder und reagierte schneller als viele der Trainer, denen ich entlang meines Weges zwischen den Städten begegnet war. »Ausweichen, bring dich in Sicherheit!«

    Praktibalk sprang umgehend zur Seite und entging dadurch dem Flammenschwall, der aus Grillmaks Mund auf es zugeschossen kam und nun stattdessen einige der Blüten auf dem Feld versengte, was meinem Herzen einen Stich verpasste. Ich hatte die Schönheit dieses Ortes bereits liebgewonnen und bedauerte es sofort, als das Feuer einen winzigen Teil dieser Schönheit zerstörte. Dennoch – Kampf war Kampf, und ich hielt daran fest, keine Zurückhaltung zu üben, um N das zu geben, was er verlangte.

    Genau deshalb hatte er mich ja hierher eingeladen. »Kratzfurie!«

    Grillmak begann unverzüglich, auf seinen Gegner zuzusprinten. Dieser wiederum nahm nun seinen Balken mit beiden Händen, um ihn wie eine Keule zu schwingen. N rief ihm zu, es solle damit die Attacke meines Grillmak abwehren, was es daraufhin auch tat. Statt weicher Haut fuhren die Krallen des Feueräffchens in hartes Holz, wo sie kurz stecken blieben, was Praktibalk dazu ausnutzte, es durch einen weiten Schwung davon zu schleudern. Grillmak ruderte in der Luft mit den Armen, doch hier inmitten des Feldes waren keine Bäume in unmittelbarer Reichweite, an denen es sich festhalten konnte – insofern fehlte ihm ein wichtiger Vorteil, aber ich konnte eben nicht immer darauf zählen, dass es irgendetwas gab, das es zum Klettern benutzen konnte. Ich musste auch so gewinnen können.

    »Noch einmal Einäschern!« Mein dritter Angriff erfolgte wieder aus der Ferne, sodass ein zweites Mal ein kleiner Strahl heißen Feuers auf Praktibalk zuschoss, das erneut auswich. Danach versuchte ich es noch einmal mit Kratzfurie, was N ebenfalls auf die gleiche Weise wie zuvor kontern wollte, aber dieses Mal waren mein Partner und ich darauf gefasst. Geschickt wich Grillmak dem Balken aus und verpasste dem gegnerischen Pokémon zwei Kratzer quer über das Gesicht, bevor es sich wieder in sichere Distanz begab, als dieses wütend mit seinem Holzbalken nach ihm schlug.

    Doch damit ließ ich ihm noch keine Ruhe. Erneut zwang ich es mithilfe von Einäschern, die Position zu wechseln, um Grillmak dann unvermittelt aus der Nähe zu attackieren zu lassen. N, der offenbar vermutete, dass ich es mit einem ähnlichen Trick wie gerade eben versuchte, befahl dieses Mal den Rückzug, sodass Praktibalk mit einem Sprung nach hinten die Flucht vor Grillmak ergriff. Ich schüttelte seufzend den Kopf.

    »N!«, rief ich über die teils leicht angesengten Blumen zwischen uns hinweg. »Ich weiß, dir liegt das Wohlergehen der Pokémon am Herzen, aber wenn du wirklich gewinnen willst, kannst du nicht immer nur ausweichen oder verteidigen. Du darfst die Initiative nicht so leicht aus der Hand geben. Du musst zurückschlagen!«

    Zuerst hatte es den Anschein, als reagierte er nicht darauf, doch dann erkannte ich, wie er die Hände zu Fäusten ballte. Es kostete ihn also noch immer Überwindung, seinem Pokémon zu befehlen, auf seinen Kontrahenten loszugehen, obwohl er sich bereits entschieden hatte, diesen Kampf durchzuziehen. Aber mit dieser halbherzigen Einstellung würde er nichts von dem erreichen, was er sich von dem Ganzen hier erhoffte. Ich musste ihm das klar machen, indem ich ihn nun endgültig in die Enge trieb.

    Die Zeit für Spielchen war vorüber. Jetzt machte ich Ernst.

    »Grillmak, du erinnerst dich an unser Training in der Grundwassersenke, oder?«, stellte ich meinem Pokémon eine rein rhetorische Frage. »Zeig N, was du dort gelernt hast. Funkenflug!«

    »Gri-gri!« Grillmak nickte nur kurz und hielt sich dann beide Hände vor den Mund, als würde es diese durch seinen Atem wärmen wollen – und in gewisser Weise war das tatsächlich der Fall. Es atmete einmal kräftig aus und erzeugte dadurch einige kleine Flämmchen, die es nun in seinen Händen zu einem Feuerball von der Größe eines Tischtennisballs formte. Es sah aus, als wäre das Feuer in einer Art Energiekugel gefangen, in welcher es zornig umher wirbelte. Diese Kugel in der rechten Hand, holte Grillmak nun weit aus und setzte zu einem Wurf an, der sie mit Sicherheit bis hinüber zu Praktibalk katapultieren würde.

    Einen winzigen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen, ehe Grillmaks Hand nach vorne schnellte und den Feuerball mit unerwarteter Geschwindigkeit auf das gut zehn Meter entfernte Kampf-Pokémon schleuderte, welches davon völlig unvorbereitet erwischt wurde. Die Kugel detonierte auf seiner Haut und sprühte einen Funkenregen in sämtliche Richtungen, worunter zwar leider noch mehr der umliegenden Blumen litten, dafür aber auch Praktibalk, welches sogar seinen Balken fallen ließ, um sich hastig die getroffenen Stellen abzuklopfen, während es schmerzerfüllte Laute von sich gab.

    Ein Blick zu N zeigte mir, dass eine ungewöhnliche Blässe in seinem Gesicht lag, als er mit entsetzter Miene das Geschehen verfolgte. Vielleicht war ich doch zu weit gegangen, aber er hatte einen Kampf gewollt, also sollte er auch einen Kampf bekommen.

    Was folgte, war ein unerbittlicher Flammenregen. In hohem Bogen warf Grillmak Kugel für Kugel, sodass Praktibalk den stetigen Detonationen ausweichen musste, ohne jedoch verhindern zu können, immer wieder von den umherfliegenden Funken getroffen zu werden. Wenn das so weiterging, würde es nicht mehr sehr lange dauern. Was würde N tun? Oder war er damit schon am Ende seiner Fähigkeiten angelangt? Für jemanden mit seinen Ambitionen war das nicht gerade beeindruckend.

    »Stemm den Balken vor dir in den Boden!«, befahl er schließlich, nachdem er sich anscheinend wieder von seinem Schreck erholt hatte. Zufrieden stellte ich fest, dass er wohl doch noch nicht aufgegeben hatte. Andernfalls wäre ich auch sehr enttäuscht gewesen. Nur würde dieser hölzerne Balken seinem Pokémon nicht lange Schutz gewähren.

    »Dir hat wohl nie jemand erklärt, dass Holz brennbar ist«, kommentierte ich diesen nicht gerade durchdachten Versuch. Funkenflug war nicht die beste Attacke, um Dinge so richtig in Brand zu stecken, aber es war ja auch nicht die einzige Feuer-Attacke meines Grillmak. So stiegen wir also wieder auf die andere um. »Einäschern! Verarbeite dieses Stöckchen zu Kohle!«

    Da Einäschern keine ganz so große Reichweite besaß wie Funkenflug, musste sich Grillmak nun wieder näher heranwagen, doch es konnte noch immer aus der Distanz angreifen. Praktibalk besaß diese Möglichkeit dagegen nicht. Zu Beginn meines Trainer-Daseins hätte ich diesen Kampf wahrscheinlich schon für entschieden erklärt, aber der bisherige Verlauf meiner Reise hatte mich gelehrt, dass alles möglich war, solange es nicht wirklich geendet hatte. Und irgendetwas sagte mir, dass das noch lange nicht alles gewesen war, was N auf dem Kasten hatte. Oder hoffte ich nur darauf, um nicht jetzt schon enttäuscht zu sein?

    So oder so ergoss sich nun erneut ein Schwall von Flammen über Praktibalk, doch bevor dieser das Pokémon tatsächlich traf, geschah etwas Unerwartetes. N rief laut und klar: »Jetzt wirble die Erde auf!«

    Praktibalk benutzte den Balken, den es kräftiger in den Boden gerammt hatte, als ich gedacht hatte, daraufhin wie eine Schaufel, um einen Schub an Erde auf diesen zu häufen und danach direkt vor sich in die Luft zu schleudern – für einen Augenblick war es, als bildete sich ein undichter Erdwall vor dem Kampf-Pokémon, an welchem ein Teil der Flammen abprallte. Doch N war noch nicht fertig.

    »Steinwurf!«, schallte schon Sekunden später sein nächstes Kommando über die weite Lichtung, woraufhin Praktibalk ohne zu zögern ein paar der Steine aufsammelte, die es mit der Erde aus dem Boden gehebelt hatte, sie nach oben warf und dann mit dem Balken nach ihnen schlug, sodass sie in Richtung des Feueräffchens geschmettert wurden, welches vollkommen unvorbereitet von dem steinernen Sprühregen getroffen wurde und dadurch einen sehr effektiven Treffer einsteckte.

    Gestein-Attacken waren von Vorteil gegen Feuer-Pokémon, und dem Lächeln in Ns Antlitz nach zu urteilen, wusste er das genau – es war also kein Zufall gewesen, sondern geplant. Ich musste nun ebenfalls lächeln, ich konnte nicht anders. Er enttäuschte mich nicht, im Gegenteil, er war sogar besser als die meisten der Trainer, gegen die ich seit meinem Aufbruch aus Avenitia gekämpft hatte. Das versprach doch noch, ein spannender Kampf zu werden.

    Innerhalb kürzester Zeit wurde der Spieß umgedreht. Anstatt dass Prakitbalk eine Bombarde aus Feuerbällen über sich ergehen lassen musste, war es nun Grillmak, das einem unablässigen Steinbeschuss ausweichen musste. Praktibalk war erstaunlich präzise, aber dennoch gestaltete es sich schwer für es, den Gegner zu treffen, der zu flink war. Trotzdem war es so nur eine Frage der Zeit, bis Grillmak die Kraft verließ, zumal es hier über keinerlei Deckung verfügte.

    Es gab also nur eine Richtung, die mein Pokémon und ich einschlagen konnten, und diese lautete: nach vorne. Ich wies Grillmak an, bei jedem Ausweichen zu versuchen, die Strecke zwischen sich und Praktibalk weiter zu verringern. N wirkte dem sofort entgegen, indem er das Kampf-Pokémon um dieselbe Distanz zurückweichen ließ, nicht ahnend, dass er mir dadurch direkt in die Hände spielte. Denn befand sich Praktibalk erst einmal außerhalb der Zone, in der es den Grund aufgewühlt hatte, um Stein für Stein zutage zu fördern, würde es ein neues Loch ausheben müssen, um an noch mehr Munition zu gelangen – es sei denn, es wollte sich damit begnügen, Blumen zu werfen.

    »Bleib stehen!« Als Ns Stimme die vorherige Anweisung wieder revidierte, verharrte Praktibalk genau am Rand jener Zone, von der ich gesprochen hatte. Offenbar hatte mein Gegenspieler erkannt, was ich hatte erreichen wollen. Aber das war in Ordnung. So flogen zwar weiterhin kleine Steinchen auf mein Grillmak zu, doch nun konnte es endlich den Abstand Stück für Stück verringern, sodass Praktibalk kurz darauf erneut eine furiose Kratzfurie mithilfe seines inzwischen deutlich durch Krallen wie Flammen beschädigten Balkens abwehren musste.

    »Funkenflug, direkt auf den Balken!« Das Feueräffchen reagierte umgehend auf meine Anweisung, hauchte einmal mehr Flammen in seine Hände, um sie zu einem Ball zu formen und dann aus nächster Nähe gegen das Holz zu pressen. Es gab einen Knall, beide Pokémon wichen zurück. Ns Partner hielt noch immer den kurzen Balken vor sich, bevor dieser schließlich mit einem vernehmlichen Knacken entzwei brach.

    Daraufhin kam es kaum noch dazu, perplex auf die Bruchstücke seiner Waffe zu starren, denn schon war Grillmak heran und fügte den beiden Kratzern von vorhin, die inzwischen bereits verkrustet waren, noch einige mehr hinzu. In blinder Wut schlug Praktibalk nach dem flinken Äffchen, das allerdings agil und geschickt auswich und schließlich mit der Attacke Schlecker das Ende besiegelte, durch welche sein Gegner für einen Moment vor Ekel wie gelähmt war, was Grillmak reichlich Zeit gab, ihm mit einem letzten Einsatz von Einäschern den Rest zu geben.

    Schwankend taumelte Praktibalk von seinem Gegner fort, ehe es erschöpft nach hinten kippte, wo es sanft in Ns Armen landete, der bereits zu ihm gerannt war, als Grillmak noch seinen letzten Angriff ausgeführt hatte. »Praktibalk! Es tut mit leid. Das war nicht deine Schuld. Du warst hervorragend. Ruh dich jetzt aus, ich erlöse dich von deinen Fesseln.«

    Um diese Worte sogleich in die Tat umzusetzen, nahm er den Pokéball, mit dem er dieses kleine Kerlchen gefangen hatte, und brach ihn sauber auseinander, sodass er daraufhin die obere rote und untere weiße Hälfte in jeweils einer Hand hielt. Damit waren alle Bindungen gelöst, die Praktibalk an die Kapsel gebunden hatten und die es zu Gehorsam gegenüber seinem Trainer zwangen. Es war wieder frei. Ich beobachtete diesen Vorgang mit gemischten Gefühlen. Mir war klar, dass es zu N passte, aber es war schade um dieses talentierte Praktibalk, das unter einem guten Trainer sicher eine strahlende Zukunft vor sich gehabt hätte. Ich war versucht, es selbst einzufangen, aber damit würde ich N, Elfriede und Minna hintergehen, die mich in diesem Heiligtum willkommen geheißen und sich um meine Wunden gekümmert hatten. Heute war nicht der Tag, um Pokémon einzufangen.

    »Du hast gewonnen, Black.« Die Feststellung klang so nüchtern und ging dabei doch mit einem so niedergeschlagen wirkenden Gesicht einher, dass ich fast schon ein schlechtes Gewissen bekam, ihn besiegt zu haben. »Ich verstehe nicht, wie ich versagen konnte. Meine Bande zu den Pokémon sollten weit stärker sein als die deinen. In gewisser Weise bestätigt das, was ich vermutet hatte, und das ängstigt mich.«

    »Du warst nicht schlecht«, versuchte ich ihn aufzuheitern. »Dafür, dass es dein erster Kampf war, hast du dich sogar verdammt gut geschlagen. Man könnte sagen, du hast Talent, und zwar nicht gerade wenig davon.«

    »Talent für Pokémon-Kämpfe?« Er lachte bitter auf. »Wer hätte das gedacht? Gerade ich, der ich diesem Tun so wenig abgewinnen kann. Aber weißt du, was mich an alledem am meisten verwirrt? In diesem Moment, als es schien, ich würde gewinnen, als mein Plan aufging und dein Grillmak vom Steinwurf getroffen wurde, da habe ich es genossen. Auf eine mir unerklärliche Weise, irgendwie, habe ich es genossen, und es hat mir Spaß gemacht. Nun im Nachhinein aber frage ich mich, wie das sein konnte. Wie konnte ich mich von solchen Gefühlen übermannen lassen? Wie konnte ich das meinen Freunden antun? Es fühlt sich an wie Verrat. Vielleicht war das hier doch ein Fehler.«

    »Das glaube ich nicht«, widersprach ich ihm. »Es kann kein Fehler gewesen sein, wenn es dir Spaß gemacht hat. Und du hast selbst gesagt, dass Praktibalk freiwillig teilgenommen hat – dasselbe gilt für mein Grillmak. Das war kein Krieg, keine feindselige Auseinandersetzung. Es war nur ein Pokémon-Kampf. Die meisten Pokémon-Kämpfe sind harmlos, und sie machen nicht nur uns Spaß, sondern auch den Pokémon.«

    »Harmlos?«, fragte N, während er den Blick über das Feld der Besinnung schweifen ließ. Erst jetzt wurde ich so richtig der Verwüstung gewahr, die wir hier angerichtet hatten. Aufgewühlte Erde, versengte Blumen… Viridium würde nicht begeistert sein, wenn es das nächste Mal hier vorbeikam. Aber es war nichts, wovon sich die Natur nicht wieder erholen konnte, und dank der Dokumentationen, die ich mir früher immer angesehen hatte, wusste ich, dass es genug wilde Pokémon gab, die noch größere Zerstörung anrichteten, ganz ohne den Einfluss von Trainern.

    »Das sind wohl unvermeidbare Nebenwirkungen«, meinte ich daher schulterzuckend. »Bald werden neue Blumen an Stelle der alten blühen. Es ist immerhin das Feld der Besinnung, der Ort, an dem die Lebensgeister freudvoll tanzen und auf dem Viridiums Segen liegt. Das hast du selbst gesagt.«

    »Meine eigenen Worte gegen mich zu verwenden…« N schüttelte den Kopf, aber dann lächelte er, und es sah ehrlich aus, nicht gezwungen. »Ich glaube, ich fange an, dich zu mögen, Black. Ich weiß nicht, ob das eine gute Entwicklung ist.«

    »Mir geht es genauso.« Ich reichte ihm die Hand. Es erschien mir in diesem Moment schlichtweg richtig. »Du bist gar nicht so übel, N. Trotz deiner Abneigung gegen Pokémon-Trainer.«

    »Gleichfalls.« Er ergriff die Hand. Es war ein respektvoller Händedruck, zwischen Gegnern, die sich gegenseitig anerkannten. »Trotz deiner Vorliebe für Pokémon-Kämpfe.«

    Inzwischen waren auch Minna und Elfriede wieder näher gekommen. Erstere hielt Grillmak nur kurz die Hand hin und schon war das Feueräffchen drauf und dran, an ihr Hochzuklettern und ihre Schulter zu seinem neuen Aussichtspunkt zu erwählen. Mein Grillmak war nie sonderlich scheu gewesen, aber es so schnell Vertrauen zu einer Fremden fassen zu sehen, kam unerwartet. Diese drei Geschwister hatten wirklich einen guten Draht zu den Pokémon, daran hegte ich mittlerweile nicht mehr den geringsten Zweifel.

    »Dein Grillmak«, sagte Elfriede plötzlich. »Ich denke, es ist im Großen und Ganzen akzeptabel. Seine Geschwindigkeit ist fantastisch.«

    »Ist das dein Ding?«, fragte ich sie. »N spricht mit ihnen, Minna spürt ihre Gefühle, und du bewertest die Pokémon?«

    Das blonde Mädchen widersprach mir jedoch. »Ich bewerte sie nicht einfach nur. Ich sehe ihr Potential. Die Möglichkeiten, die tief in ihnen allen verborgen liegen. Doch ob sie diese Möglichkeiten letztlich ausschöpfen oder nicht, das obliegt allein ihnen selbst, oder ihren Trainern. Ich sehe, dass die Verbindung zwischen dir und deinen Pokémon erstaunliche Kräfte in diesem Grillmak geweckt hat. Ich finde das interessant. Ich würde gern mehr darüber erfahren.«

    Nun, wir hatten Zeit, die Sonne schien, der Tag war jung, was also sprach dagegen, ihr ein wenig davon zu erzählen, was Pokémon-Trainer taten, was sie ausmachte, was sie gemeinsam mit ihren Pokémon nach Höherem streben ließ? Nicht nur ihr, sondern auch ihrer Schwester und ihrem Bruder. Ich hatte das vage Gefühl, die drei hatten in ihrer Kindheit nicht viel von der Welt gesehen, die ich kannte. Orte wie dieser hier, wie das Feld der Besinnung, das war die Welt, in die sie wahrlich zu gehören schienen. Doch N hatte den Schritt aus seiner Komfortzone heraus gewagt. Das galt es zu würdigen.

    Bevor ich ihnen jedoch von der Wirklichkeit erzählen konnte, mit der ich aufgewachsen war, kniete ich mich vor N, der noch immer Praktibalk in den Armen hielt, was mich schmerzlich an Zurrokex erinnerte, welches er auf ähnliche Weise gehalten hatte, und kramte ein kleines Fläschchen aus meiner Tasche, das eine grüne Flüssigkeit enthielt. »Hier, sprüh das auf seine Brandwunden. Es ist Medizin, das wird helfen.« Plötzlich spürte ich sechs überraschte Augen auf mir ruhen. »Was? Warum schaut ihr denn so? Darf ich etwa keine Tränke und so dabei haben, weil ich ein böser Trainer bin, der Pokémon quält? Ich habe ein Feuer-Pokémon in meinem Team, also ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ich immer ein paar Feuerheiler dabei habe, genau für Fälle wie diesen.«

    »Danke.« N neigte in aufrichtiger Dankbarkeit den Kopf und nahm den Feuerheiler entgegen, um die medizinische Flüssigkeit wie angewiesen auf die verbrannten Stellen auf Praktibalks Haut zu sprühen. Dieses verzog dabei zuerst das Gesicht, entspannte sich aber kurz darauf sichtlich. Die Sorgfalt, mit der N das Arzneimittel verwendete, zeugte von seiner tiefen Sorge um dieses Pokémon, welches er als seinen Freund betrachtete, obwohl er es erst vor Kurzem getroffen hatte.

    Insofern unterschieden wir uns gar nicht so sehr voneinander. Auch ich schloss schnell Freundschaft mit den Pokémon, die ich fing, ob nun Ottaro, Grillmak, Kiesling… oder Zurrokex. Sie alle lagen mir am Herzen. Der Unterschied zwischen uns lag darin, dass N wirklich alle Pokémon für seine Freunde hielt, dabei musste es bestimmt auch solche geben, die sich ihm widersetzen und ihn angreifen würden, ob er nun mit ihnen sprechen konnte oder nicht. Es war eine naive Einstellung, und eines Tages würde er das einsehen müssen.

    Ein Freund sämtlicher Pokémon zu sein… das war genauso unrealistisch wie die Befreiung der Pokémon durch die Zerstörung der Pokébälle. Wie sollte ihm das gelingen? Ich hatte keine Ahnung. Und ich wollte auch nicht, dass es ihm gelang.


    Der Rest des Tages verging wie im Flug.

    Ich machte mich noch nicht gleich wieder auf den Weg zum nächsten Halt auf meiner Reise, denn obwohl Cheren und Bell mir nach wie vor ein Stück voraus waren, verspürte ich nicht den Drang, mich zu beeilen. Viel mehr wollte ich so lange wie möglich die friedliche, wohltuende Atmosphäre des Felds der Besinnung auskosten und blieb daher für diesen einen Tag bei den drei Geschwistern.

    Sie zeigten mir, dass Viridiums gesegnete Lichtung noch weit mehr bereithielt als nur ein paar schöne Blumen, da auch ein kleiner Teil des Waldes noch innerhalb der Grenze des Feldes lag. Man konnte sich im Schatten ausruhen, wenn einem der Sonnenschein zu heiß wurde, und die leckeren Beeren genießen, die an den Sträuchern des Feldes wuchsen, oder aber sich an dem unwahrscheinlich klaren Wasser erquicken, mit welchem der Bach, über den ich hierher gekommen war, die umliegende Natur nährte. Tatsächlich floss dieser Bach einmal um fast das ganze Feld herum, nur im Westen öffnete es sich auch zum Land hin, doch N versicherte mir, dass es auch dort eine unsichtbare Barriere gab.

    Nun, es war wohl weniger eine Barriere und mehr eine Illusion, die unwürdige Blicke von außen abschirmte und das Innere des Feldes verbarg. Es war, wie ich es bei den Jägern am Vortag selbst bezeugt hatte: Wer zu Nahe kam, ohne die Erlaubnis des Ritters der Redlichkeit zu haben, der verspürte den Drang, eine andere Richtung einzuschlagen, ohne dabei wirklich zu bemerken, dass es nicht die eigene Entscheidung war. Irgendwie war es beängstigend, dass ein Pokémon über die Macht verfügte, das Verhalten von Menschen über solcherlei Illusionen zumindest bis zu einem gewissen Grad zu beeinflussen, aber bedachte man die Pokébälle, die heutzutage ein Teil des Alltags waren, konnte man es wohl als ausgleichende Gerechtigkeit bezeichnen. Außerdem käme ich nicht im Traum auf den Gedanken, mich über die Truggrenze zu beschweren, hatte sie mir immerhin das Leben gerettet. Dafür war Viridium mein ewiger Dank gewiss.

    Einen Teil des Tages verbrachte ich damit, mit N und seinen Schwestern zu sprechen, einen anderen dagegen verwendete ich auf das Training meiner Pokémon, damit die drei eine Vorstellung davon bekamen, was Training in diesem Fall bedeutete. N zeigte sich zwar nach wie vor wenig begeistert, das machte dafür aber Elfriede mit einem unerwarteten Interesse wieder wett, während Minna sich größtenteils heraushielt.

    Schließlich kam jedoch der Moment, da der Abend graute und ich es an der Zeit hielt, wieder aufzubrechen, so schön dieser kurze Traum von ewigem Frieden auch gewesen sein mochte. Mein Knie und mein Fußgelenk fühlten sich schon wieder viel besser an und ließen sich gut belasten, gebrochen war dort ganz sicher nichts, und ich konnte ja schlecht für immer hier bleiben. Zumal mir mein Herz sagte, dass es besser war, die Gastfreundschaft eines legendären Pokémon nicht zu sehr auszureizen. N, Elfriede und Minna konnten sich das vielleicht erlauben, aber sie waren eben… anders. Sie gehörten hierher. Ich dagegen war ein Fremder, und so musste ich gehen. Diesen einen Tag würde ich jedoch auf immer in Erinnerung behalten – eine Erinnerung, die ich wie einen Schatz hüten würde.

    Nachdem wir zu Abend gegessen hatten – es kam mir fast vor wie bei einem Picknick, mit Gerichten aus Beeren und sonstigen Früchten, die Minna zubereitet hatte –, rief ich meine Pokémon, die ich den ganzen Tag über frei auf der Lichtung hatte umherstreifen lassen, in ihre Bälle zurück und packte meine Sachen, um meinen Abschied von N und seinen Schwestern zu nehmen.

    Bevor ich allerdings dazu kam, erhob sich N von der Decke, die wir in Ermangelung eines Esstisches auf dem Boden ausgebreitet hatten, und nickte entschlossen. »Ich habe mich entschieden.«

    »Das… ist gut, schätze ich.« Ich sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Darf man fragen, wofür du dich entschieden hast?«

    »Unser Kampf heute hat mir mehr neue Fragen aufgegeben, als er alte beantwortet hat«, erklärte der grünhaarige junge Mann daraufhin. »Die Gewissheit, die ich zu erlangen gedachte, scheint in noch weitere Ferne gerückt zu sein. Dennoch sehe ich meinen Pfad nun noch klarer vor mir. Also habe ich mich entschieden: Ich werde dich auf deiner Reise begleiten, Black.«

    »Mich begleiten?« Das kam unerwartet. Doch dem Blick nach zu urteilen, der in seinen blau-grauen Augen lag, meinte er es todernst. Nun, ich hatte nicht unbedingt etwas dagegen, solange er mich nicht allzu sehr aufhielt oder vor jedem meiner Kämpfe seine Bedenken äußerte, dennoch war dies keine Entscheidung, die er leichtfertig treffen sollte. »Bist du dir sicher? Ich meine, was genau erhoffst du dir davon?«

    »Wenn ich das nur wüsste«, seufzte er und zuckte mit den Schultern. »Ich denke, ich will sehen, was du siehst, und dieselben Erfahrungen machen, die du machst. Ich will mehr über Pokémon-Trainer und ihre Beziehung zu den Pokémon lernen, mehr über diese Welt erfahren, die so gar nicht in meine Berechnungen passt. Ich glaube, das ist es, was ich tun muss, um zum Helden zu werden, der die Pokémon befreit.«

    »Dabei will ich dich nicht unterstützen«, lehnte ich ab. »Für manche wärst du vielleicht ein Held, für mich wärst du jedoch nur ein Schurke.«

    Seine Miene nahm einen teils erstaunten, teils bestürzten Ausdruck an. »Warum sagst du so etwas, Black? Ich nahm an, du könntest einen Teil meiner Beweggründe nun nachvollziehen. Habe ich mich geirrt?«

    Ich schüttelte den Kopf. »Das hast du nicht, N. Aber das bedeutet auch nicht, dass du mich überzeugt hast. Wenn du willst, komm mit mir, aber erwarte nicht, dass ich mich auf deine Seite stelle, solltest du eines Tages tatsächlich diesen verrückten Plan in die Tat umsetzen wollen. Es ist unmöglich und töricht.«

    Klare Worte, vielleicht auch zu harte Worte, aber ich wollte, dass es zwischen uns keine Unklarheiten gab, wenn er sich mir tatsächlich auf meiner Reise durch Einall anschloss. Ich sah ihn noch immer nicht als Freund. Er war noch genau derselbe Sonderling wie bei unserer ersten Begegnung auf Route 1, mit seinen unrealistischen Ansichten und Wünschen. Ich respektierte seine Liebe zu den Pokémon – aber den Unsinn von wegen, ein Held zu werden und die Pokémon vom Joch der Trainer zu befreien, das klang für mich zu sehr nach Team Plasma, und deshalb konnte und wollte ich es nicht gutheißen.

    »Ich denke, das ist nur fair«, lenkte er tatsächlich ein. Ich musste gestehen, ich hatte eigentlich das Gegenteil erwartet. »Ich werde nicht verlangen, dass du mir hilfst. Wenngleich ich doch hoffe, dass zu dem Zeitpunkt, da ich mein Ziel erreiche, deine Meinung eine andere sein wird.«

    Damit war dann wohl alles zwischen uns gesagt, es gab nichts mehr zu ergänzen. Wir wussten, wo wir standen, und wir wussten, wo wir am Ende sein wollten – er an der Spitze eines Einall ohne Pokébälle und Pokémon-Kämpfe, ich dagegen an der Spitze der Pokémon-Liga, als Champ, der von ebenjenen Kämpfen lebte. Konnten zwei solch widersprüchliche Persönlichkeiten auf Dauer miteinander klarkommen? Oder würden sie unweigerlich miteinander kollidieren? Das würde sich zeigen.

    N verabschiedete sich von seinen Schwestern. Es sah nicht so aus, als hätte er eine Umhängetasche wie ich oder einen Rucksack, wollte er also einfach so reisen? Nun, ein Naturbursche wie er kam sicher auch ohne Proviant, Zelt und Schlafsack zurecht, aber ich beschloss trotzdem, daran so bald wie möglich etwas zu ändern. Vielleicht fanden wir ja in der Shoppingmeile von Stratos eine Tasche, die ihm gefiel.

    Minna und Elfriede blieben hier zurück, sie würden uns offenkundig nicht begleiten. Ich bedankte mich noch einmal bei ihnen, auch im Namen meiner Pokémon, und begab mich dann zum Rand der Lichtung, um N kurz mit seinen Schwestern alleinzulassen.

    Ich trat von der sonnenbeschienenen freien Fläche hinein ins kühle Schattenreich des Ewigenwaldes. Wie von selbst hatte ich mich in Richtung Norden gewandt, wo irgendwo die Himmelspfeilbrücke liegen musste, die sich über eine der Engstellen der östlichen Meerenge spannte und uns somit bis fast zur Hauptstadt bringen würde. Ich hatte bisher nur Bilder von ihr gesehen, und die waren schon erstaunlich genug gewesen. Man konnte sich also denken, wie gespannt ich auf den Anblick war.

    Ich hielt inne, als ich das leise Plätschern des Baches hörte. Wenige Schritte vor mir lag das niedrige Ufer. Es war kein breiter, reißender Strom, im Grunde kaum mehr als ein Rinnsal, doch ich kannte nun die Macht dieses unscheinbaren Gewässers. Ich ging in die Knie und schöpfte mit den Händen ein wenig Wasser, um ein letztes Mal die Reinheit auf der Zunge zu spüren. Das Feld der Besinnung war wahrlich eine Oase des Lebens. Selbst wenn der gesamte Ewigenwald niederbrannte, das Feld würde bestehen bleiben, oder wenigstens innerhalb kurzer Zeit wieder aufblühen, davon war ich überzeugt.

    Als ich den Kopf hob, meinte ich, für einen Moment die Silhouette eines eleganten, vierbeinigen Pokémon zwischen den Bäumen zu erspähen, doch nach einem Blinzeln war sie wieder verschwunden. Dennoch war ich mir fast sicher, dass es sich nicht um eine optische Täuschung gehandelt hatte. Ich entbiete dir meinen Dank, Viridium.

    Wenig später schloss N zu mir auf. Wir nickten uns wortlos zu und traten dann gemeinsam über die Schwelle. Sofort schien ein Teil der Wärme aus meinem Inneren zu weichen und die Welt wieder ein klein wenig dunkler zu werden, doch es bekümmerte mich nicht sehr, denn in meinen Erinnerungen strahlte noch immer das Licht der letzten Stunden.

    Und was am wichtigsten war, ich lebte, und dasselbe galt für meine Pokémon. Ja, womöglich war mein Blick in letzter Zeit zu sehr auf den Tod fixiert gewesen. Womöglich war dieser Tag, den mir das legendäre Pokémon geschenkt hatte, genau die Medizin gewesen, die mein verwundetes Herz gebraucht hatte. Ich fühlte mich jedenfalls bereit für jedwede Herausforderung, die da draußen auf mich warten mochte.

    Ich konnte endlich weiter voranschreiten, mit neu erwachter Motivation und einem neuen Gefährten an meiner Seite.

    107716-bd8fa1b4.pngIch kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.
    - Bilbo Beutlin -


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    ZWuW - Kapitel 16.epub



    »Sieh dir das an! Sieh dir das nur an, Black!«

    Ein lachendes Kind lief mit federnden Schritten auf die Aussichtsplattform hinaus, umklammerte das stählerne Geländer und beugte sich darüber hinaus, als zählte jeder Millimeter, den seine Augen näher an das herankommen konnten, was vor uns lag. Der Wandel vom nachdenklichen jungen Mann, der vielleicht nur ein oder zwei Jahre älter war als ich, wenn überhaupt, zum ungeduldigen Kind, das seine Aufregung nicht zu zügeln vermochte, war binnen eines Wimpernschlags erfolgt, kaum dass wir den Wald verlassen hatten und eines der eindrucksvollsten Bauwerke Einalls ins Sicht gekommen war.

    Zugegeben, mir selbst war vor Staunen ebenfalls der Atem gestockt, als ich die gewaltige, majestätische Himmelspfeilbrücke zum ersten Mal erblickt hatte.

    Nachdem wir das Feld der Besinnung hinter uns gelassen hatten, waren wir erst einmal eine Zeit lang damit beschäftigt gewesen, uns einen Weg durchs dichte Gestrüpp am Waldboden zu bahnen, fernab jeglicher Straßen oder sonstiger von Menschenhand angelegter Pfade. Wenig überraschend hatte sich N dabei als wesentlich findiger erwiesen als ich, dennoch waren wir nicht sehr schnell vorangekommen, und da wir ohnehin abends aufgebrochen waren, hatten wir nach ein paar Stunden unser Lager aufgeschlagen und auf einer kleinen Lichtung unter freiem Himmel übernachtet.

    N hatte sich einfach auf den Boden gelegt und leicht zusammengerollt, und hatte scheinbar auf derartige Weise schlafen wollen, ich hatte es mir jedoch herausgenommen, zumindest eine Plane an einigen Ästen zu befestigten, die in die Lichtung hineingeragt waren, um wenigstens ein bisschen geschützt zu sein. Und natürlich hatte ich auch nicht auf meinen gemütlichen Schlafsack verzichten wollen. Es war mir ein Rätsel, wie N die Wurzeln und Steinchen hatte ignorieren können, die ich teilweise sogar durch das flauschige Polster gespürt hatte. Nicht einmal meine Zeit in der Grundwassersenke war genug gewesen, um mich derart abzuhärten.

    Nun, wie auch immer, wir waren nach dieser für mich wenig erholsamen Nacht recht früh aufgestanden und hatten unseren Weg fortgesetzt, um schließlich erst nachmittags die Straße zu erreichen, kurz vor deren Ende, und bei einer Gaststätte dort zu rasten. Zu meiner Überraschung wusste N tatsächlich, was eine Dusche war, und war auch bereit, sie zu nutzen. Als er meinen erstaunten Blick gesehen hatte, hatte er eine indignierte Miene aufgesetzt und gemeint, er sei kein Tölpel, der fernab jeglicher Zivilisation aufgewachsen sei, obwohl er im selben Satz auch gestanden hatte, einen Teil seiner Kindheit tatsächlich in einem Wald fernab jeglicher Menschen, nur in Gesellschaft von Pokémon verbracht zu haben. Das erklärte einiges.

    Und nun waren wir hier. Der Morgen des zweiten Tages, seit wir vom Feld der Besinnung aufgebrochen waren, hatte uns erneut mit warmem Sonnenschein begrüßt, während wir uns zum nördlichen Saum des Ewigenwaldes begeben hatten, wo Schritt für Schritt das Rauschen des Meeres lauter wurde, welches ich von meinem Geburtsort Avenitia gewohnt war. An der Stelle, an der die Straße den Forst verließ, fiel das Land in kurzer Entfernung über gute dreißig Meter steil zum Meer hin ab, welches ohne Unterlass gegen die Felswand brandete. Der Weg verlief eine Zeit lang an dieser Klippe entlang in Richtung Nordosten, ehe er in die Himmelspfeilbrücke mündete. Diese war jedoch bereits vom Rande des Ewigenwaldes aus zu sehen, wo eine erhöhte Aussichtsplattform errichtet worden war, von der man einen wundervollen Ausblick auf die Brücke und das Meer hatte. Für einen halben Pokédollar konnte man eines der schwenkbaren Ferngläser benutzen, die auf dem Geländer angebracht waren.

    Die Himmelspfeilbrücke war gigantischer, als ich sie mir ausgemalt hatte. Getragen von vier riesenhaften Stützpfeilern, jeweils zwei in einigem Abstand auf jeder Seite, erstreckte sich diese helle, weiß-blaue Brücke geradewegs über die Meerenge, die an dieser Stelle gerade schmal genug war, eine solche Konstruktion zu ermöglichen. Die Sonne blendete mich, als ich zu den Spitzen der Stützpfeiler aufsehen wollte, von denen dicke Drahtseile ausgingen, um die zwei Etagen der Himmelspfeilbrücke zu tragen, die untere Straßenebene, wo man stetig Autos und Lastwagen vorbeifahren sah, wie auch den erhöhten Fußweg, von dem aus man sicherlich eine noch fantastischere Sicht hatte als von hier.

    Wenn es in Einall eine Sehenswürdigkeit gab, die jeder Bewohner und auch jeder Besucher in seinem Leben mindestens einmal gesehen haben musste, dann war es ohne Zweifel die Himmelspfeilbrücke, die meines Wissens sogar zu den größten Brücken der Welt zählte. Mir war nur bisher nicht klar gewesen, wie groß sie tatsächlich ausfiel, wenn man sie aus solcher Nähe zu Gesicht bekam, nicht durch einen Bildschirm hindurch oder nur auf Fotos. Ich gesellte mich zu N ans Geländer der Aussichtsplattform und genoss den Anblick dieses erstaunlichen Bauwerks, der Flug-Pokémon, die darüber hinweg zogen, und der Schiffe und Wasser-Pokémon, die darunter hinweg fuhren beziehungsweise schwammen. Jetzt konnte ich wahrlich behaupten, auf der nächsten Etappe meiner Reise angekommen zu sein.

    »Haha, es ist unglaublich, massiv, großartig!« N lachte mit ausgebreiteten Armen und konnte seine Augen scheinbar gar nicht mehr von der Brücke losreißen. »Es ist ein Meisterwerk der Architektur. Ich beneide denjenigen, der diese Brücke errichten durfte! Ich meine, kannst du dir das vorstellen? Welche Kalkulationen dazu nötig gewesen sein mussten, wie viel Zeit es gekostet hat, oh, und die Materialien muss man auch in die Formel mit einbeziehen, nicht wahr? Es muss wundervoll gewesen sein, ein solches Denkmal der Baukunst zu erschaffen.«

    »Äh… sicher.« Ich zuckte nur die Schultern und nahm diese Seite an N einfach hin. Um ehrlich zu sein, hatte ich es bereits aufgegeben, mich über solche Eigenarten an ihm zu wundern. Er mochte also Architektur? Das war nichts annähernd so Besonderes, wie mit Pokémon zu sprechen. Nur die fast kindliche Aufregung, mit der er davon schwärmte, sollte er vielleicht etwas zurückhalten.

    Dennoch verstand ich irgendwie doch, was er meinte. Ich interessierte mich nicht so sehr für das, was der Entstehung der Brücke zugrunde lag, für die Details, warum sie so errichtet worden war und warum sie hielt und nicht einstürzte, damit kannte ich mich nicht aus, und Mathematik war auch nicht unbedingt eine meiner Stärken. Doch ich erkannte, was so faszinierend an der Himmelspfeilbrücke war, denn ich verspürte diese Faszination ebenfalls.

    »Komm!« Schneller als erwartet wandte sich N wieder ab und lief zurück zum Treppenaufgang der Aussichtsplattform. »Ich muss dort hoch! Na los, Black, wir müssen zur Himmelspfeilbrücke! Ich will es unter meinen Füßen spüren, dieses Magnum Opus eines Ingenieurs, dessen Namen ich leider nicht kenne. Sobald ich die Brücke überquert habe, werde ich mich darüber erkundigen!«

    Er ließ mir keine Zeit zum Antworten, denn schon Sekunden später verschwand sein grüner Schopf außer Sicht, als er, mit jedem Schritt mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter hastete, zurück zur Straße, die direkt zum neuesten Objekt seiner Begeisterung führte. Ich seufzte und beeilte mich, ihm zu folgen.

    Hätte mir nur mal jemand gesagt, dass eine Reise mit N einem so vorkam, als müsste man sich um ein hyperaktives Kind kümmern. Ich fing langsam an zu begreifen, warum Elfriede und Minna ihren Bruder so bereitwillig an mich abgegeben hatten.


    Zu Fuß dauerte es nicht länger als eine halbe Stunde bis zu dem Durchgangshaus, das sich am Fuße des südöstlichen Endes der Himmelspfeilbrücke befand, wir schafften es jedoch in der Hälfte der Zeit. Ich wusste nicht, woher N diese Energie nahm, aber ich war fix und fertig, als wir dort ankamen. Ich drückte N nur ein bisschen Geld in die Hand und überließ es ihm, an der Rezeption die Chips für das Drehkreuz zu kaufen, während ich mich selbst auf eine Bank sinken ließ und mich von dem Sprint hierher ausruhte.

    Hier konnte man sich entscheiden, ob man einen Bus nahm oder den hohen Weg zu Fuß beschritt. Obwohl ich bereits erschöpft war, wollte ich mir das Erlebnis, einmal mit eigenen Füßen die Himmelspfeilbrücke zu überschreiten, nicht entgehen lassen, und so befanden wir uns schon bald auf der gewundenen Treppe, die dort hinauf führte. Es gab auch einen Aufzug für Fahrradfahrer, was mich wünschen ließ, ich hätte tatsächlich ein Fahrrad bei mir. Ich hatte meines in Avenitia zurückgelassen.

    Oben angelangt vergaß ich jedoch all meine Beschwerden sofort und konnte nur mit Mühe verhindern, dass mir vor Staunen die Kinnlade herunterklappte. Schweigend trat ich an die Brüstung, an der N bereits stand, und ließ meinen Blick über das Land schweifen, welches man von hier oben nach allen Richtungen hin schier unbegrenzt weit zu erblicken vermochte. Im Süden erstreckte sich der Ewigenwald, aus solcher Höhe nur eine dunkelgrüne Fläche mit zahlreichen Hebungen und Senkungen. Unter uns rauschte das Meer und dröhnten die schwer beladenen Frachter. Hinter uns lag Ost-Einall, und vor uns Zentral-Einall, an dessen südlichstem Ende sich Stratos City befand. Ich meinte sogar, die Spitzen der höchsten Wolkenkratzer blass am Hoizont zu erkennen, doch ob das eine Täuschung war, nur Einbildung, oder aber real, vermochte ich nicht zu beurteilen.

    Ich erwischte mich dabei, wie ich zwischen den tausenden Baumkronen des Forstes, den wir hinter uns gelassen hatten, nach jener freien Stelle suchte, die von hier oben gut erkennbar sein sollte. Der Ewigenwald wirkte jedoch so dicht bewachsen, dass es mir unmöglich vorgekommen wäre, dort eine solch große Lichtung zu finden, hätte ich sie nicht bereits mit eigenen Augen gesehen.

    »Das Feld der Besinnung ist aus der Luft nicht erkennbar, selbst nicht für uns«, steuerte N ungefragt eine Erklärung bei, da er vermutlich erraten hatte, wonach ich suchte. »Sonst hätte es schon längst jemand per Helikopter lokalisiert und auf einer Karte markiert. Selbst Viridiums Illusion könnte dem Ansturm einer ganzen Horde von Menschen vielleicht nicht standhalten. Und selbst wenn wir es sehen könnten, läge es doch hinterm Horizont.«

    »Ich dachte mir schon fast, dass es so etwas ist«, murmelte ich und bemerkte erst ein paar Sekunden später, dass mein selbsternannter Begleiter schon weitergegangen war.

    Ich schloss wieder zu ihm auf und genoss die frische Meeresbrise, die über die Brücke strich und den vertrauten salzigen Geruch mitbrachte. Wären Pokémon auf der Brücke nicht verboten gewesen, hätte ich Zwottronin, Grillmak und Kiesling hinausgelassen, damit ich diese Aussicht und luftige Ruhe mit ihnen teilen konnte, dieses Gefühl, abgehoben zu sein und all seine Sorgen weit unter sich zurückzulassen. Es verlockte einen fast, seine Schwingen auszubreiten und zu fliegen, bis man sich wieder daran erinnerte, dass Menschen für gewöhnlich nicht des Fliegens mächtig waren, sondern nur des Fallens. Was mich daran erinnerte, dass ich lieber auf N achten sollte, bevor der noch auf dumme Gedanken kam, wenn es sogar mir schon so erging.

    Doch meine Sorgen diesbezüglich stellten sich schnell als unbegründet heraus. N war viel zu beschäftigt damit, die Konstruktion aus nächster Nähe zu bewundern, als dass er darauf gekommen wäre, zu fliegen wie ein Vogel-Pokémon. Er schwärmte nach wie vor von der Meisterleistung des Ingenieurs und seiner Helfer und konnte scheinbar gar nicht genug von dieser Brücke bekommen. Das ging sogar so weit, dass er ein paar Mal wieder ein Stück zurückging, um den Augenblick, da er wieder Fuß auf festes Land setzen musste, so lange wie möglich hinauszuzögern. Wahrlich, wie ein kleines Kind. Aber wenigstens brachte er mich damit zum Schmunzeln.

    Dennoch konnte er letztlich nicht verhindern, dass dieses Erlebnis ein Ende fand. So erreichten wir einige Zeit später die andere Seite der Himmelspfeilbrücke, das andere Ufer, ein neues Drittel von Einall. Dass das Land gerade in drei Teile aufgespalten war, hatte mich schon immer gewundert. Geologen machten einzig die Natur dafür verantwortlich, Plattentektonik und dergleichen, aber in den alten Mythen hieß es, diese Aufspaltung sei eine direkte Folge des Krieges von Schwarz und Weiß gewesen. Zwei Drachen, zwei Helden. Aber drei Segmente Einalls. Vielleicht hatte das nichts zu bedeuten und es hatte sich durch die Zerstörung, die die beiden Drachen angerichtet hatten, einfach so ergeben und war später nicht von ihnen korrigiert worden. Vielleicht steckte aber auch ein tieferer Sinn dahinter, der sich mir nur nicht erschloss.

    Jedenfalls kam es mir vor, als erfasste mich kurz ein unsichtbarer, aber drängender Sog, sobald ich wieder an Land war, und ein kurzer Schwindel erfasste mich. Dieses Gefühl schwand jedoch so schnell wieder, wie es gekommen war. N hatte offenbar nichts bemerkt, er sah nur wehmütig zur Himmelspfeilbrücke zurück und wünschte ihr in Gedanken vermutlich Lebewohl.

    Da es nun bald Mittag war, beschlossen wir, in der Siedlung haltzumachen, die sich am Fuße der Himmelspfeilbrücke erstreckte. Wir speisten im dortigen Pokémon-Center und erfuhren von einigen Einwohnern, dass diese Kleinstadt, die den Namen Oyessa trug, nach dem Bau der Brücke entstanden war, als ein paar ehrgeizige Kaufleute hier zunächst ihre Stände und dann ihre Häuser errichtet hatten, um von den zahlreichen Passanten zu profitieren, welche den neuen Übergang nutzten. Erst vor ein paar Jahren war dann auch das Pokémon-Center zu der rasch wachsenden Stadt hinzugekommen, als immer mehr Trainer aus Ost-Einall über die Himmelspfeilbrücke nach Startos City hatten gelangen wollen. Heute war Oyessa ein florierender Rastort für Pokémon-Trainer und sonstige Reisende auf dem Weg in die Hauptstadt oder umgekehrt nach Septerna. Das zeigte sich auch durch die zahlreichen Gaststätten und Restaurants, und angeblich hatte der Bürgermeister auch schon einen Antrag auf ein zweites Poké-Center beim Liga-Komitee gestellt.

    »Pokémon-Trainer gibt es inzwischen überall, was?«, stellte N murmelnd fest, während wir im Pokémon-Center zu Mittag aßen, wobei er sich teils interessiert, teils verdrossen umsah. Vielleicht hätten wir woanders essen sollen, nicht hier, wo es fast nur Trainer gab. Aber er hatte ja gesagt, er wolle mehr über das Trainer-Dasein erfahren. »Diese ganze Stadt profitiert von den Pokémon-Trainern. Ich frage mich, was hier geschehen wird, sobald ich mein Ziel erreicht habe.«

    Es entging mir nicht, dass er sich so ausdrückte, als gäbe es keinen Zweifel daran, dass ihm sein wahnwitziges Vorhaben am Ende tatsächlich gelang. Ich ließ meine Gabel sinken und fixierte ihn mit einem ernsten Blick. »Es würde den wirtschaftlichen Zusammenbruch für Oyessa bedeuten. Dieser Ort lebt von zwei Dingen: Tourismus und Pokémon-Trainern. Letztere bilden den größeren Teil, weil auch viele der Touristen Pokémon trainieren. Es wäre eine Katastrophe für die Stadt, wenn es keine Trainer mehr gäbe.«

    »Ein geringfügiges Opfer«, spielte mein Gegenüber die Angelegenheit jedoch herunter. »Die Einwohner werden sich erholen. Wie du schon sagst, sie haben trotzdem noch den Tourismus. Und die Brücke. Ich habe nicht vor, das Reisen zu unterbinden. Nur Trainern wird keine Einreise nach Einall mehr erlaubt sein, sobald ich hier das Sagen habe.«

    »Mal ganz abgesehen davon, dass du gerade wieder kurz davor stehst, mich tierisch zu verärgern: Willst du nicht die ganze Welt reformieren? Du hast eine solch gewaltige Vision, warum beschränkst du dich nur auf Einall?«

    »Tue ich nicht«, behauptete N. »Einall ist nur der erste Schritt. Der Grundstein. Ich habe wirklich vor, diese Welt zu verändern, nicht nur einen Teil von ihr. Aber ich bin nicht annähernd so größenwahnsinnig, wie du vielleicht denkst, Black. Ich weiß, wozu ich fähig bin, und ich weiß, dass ich Geduld brauche. Warte es nur ab. Ob Monate, Jahre oder Jahrzehnte – eines Tages wirst du erkennen, dass ich recht habe. Und dass es nicht unmöglich ist. Dass ich es tatsächlich bewerkstelligen kann. Ich werde ein größerer Held sein als die Zwillinge von Schwarz und Weiß.«

    Ich hob mein Glas, als wollte ich darauf anstoßen, doch triefte meine Stimme vor Sarkasmus. »Auf den großen Helden, der besser weiß, was gut für uns ist, als wir selbst. Ich freue mich auf den Tag, an dem ich dich scheitern sehen werde.«

    Nach dieser Unterhaltung wechselten wir eine Zeit lang kein Wort mehr miteinander und beendeten schweigsam unser Mahl. Wie damals bei unserer ersten Begegnung war es uns gelungen, uns gegenseitig zu verärgern, aber wenigstens hatten wir es nicht in einen sinnlosen Streit ausarten lassen. An unseren Positionen hatte sich nach wie vor nichts geändert, und ebenso wenig hatte ich es aufgegeben, ihn verstehen zu wollen. Dasselbe galt für ihn, so wissbegierig, wie er trotz allem noch manche der Vorgänge hier im Center beobachtete, als könne er sich kaum zurückhalten, in einen der OP-Säle zu stürmen und aus nächster Nähe bei der Heilung eines seiner Freunde zuzusehen.

    Die Medizin, die dank der Erfindung des Pokéballs und der dadurch schneller voranschreitenden Pokémon-Forschung entwickelt worden war, musste selbst die Anerkennung eines solch verschrobenen Pokéball-Hassers wie ihm finden. Hier im Pokémon-Center wurden tagtäglich die Krankheiten und Verletzungen zahlreicher Pokémon geheilt – Verletzungen, die allerdings erst durch die ebenfalls durch jene Kapseln ermöglichten Kämpfe verursacht worden waren, wie N wohl argumentieren würde.

    Ganz unrecht hatte er damit nicht. Aber es bräuchte schon weit mehr, um mich von seinem Standpunkt zu überzeugen.

    Wir hielten uns daraufhin jedenfalls nicht mehr lange in Oyessa auf und setzten unseren Weg bald fort. Es war unwahrscheinlich, dass wir Stratos heute noch erreichen würden, aber solange wir noch den halben Tag übrig hatten, war es besser, wir nutzten die Zeit, um unserem Ziel näherzukommen. Es gab nun genug Raststätten am Rande der Straße, sodass wir nicht mehr im Freien übernachten mussten, selbst wenn wir nicht in Oyessa blieben.

    Der Abend kam und ging, und ebenso die Nacht, ein neuer Morgen brach heran. Und als auch der Vormittag sich wieder dem Ende neigte, kamen sie endlich in Sicht: Die Wolkenkratzer von Stratos City.


    Als diese unverwechselbare Skyline am Horizont erschien, die ein jeder Bürger Einalls zumindest von Bildern her kannte, beschienen von der aufsteigenden Sonne in unserem Rücken, konnte ich nicht umhin, kurz anzuhalten, tief ein- und wieder auszuatmen und den Anblick in aller Ausführlichkeit in mir aufzunehmen. Die Himmelspfeilbrücke mit ihren riesigen Stützpfeilern war eine Erstaunlichkeit für sich gewesen, aber das hier, das war ein Meilenstein auf meiner Reise, und zwar ein weit größerer als Orion oder Septerna. Stratos – das war nicht einfach nur die Stadt, in der ich hoffentlich meinen dritten Orden verdienen würde, nein, es war die größte Stadt Einalls, der Sitz der Regierung und zahlreicher bekannter Unternehmen, die in diesem Land etwas zu sagen hatten, und vor allem war es ein Knotenpunkt für Pokémon-Trainer und sonstige Reisende, das Zentrum, in dem sie alle zusammenkamen, aus Avenitia, Eventura, Abidaya und Ferrula wie auch aus weniger entlegenen Gebieten.

    Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich nur davon träumen können, hier zu stehen, mit meinen eigenen Pokémon, nachdem ich mir bereits zwei offizielle Arenaorden erkämpft hatte. Dass dieser Traum nun war geworden sein sollte, musste ich erst einmal verarbeiten.

    »Beeindruckend«, stellte auch N fest, wobei er weniger enthusiastisch klang als bei der Brücke, obwohl die Hochhäuser, die sich vor uns gen Himmel reckten, als wollten sie tatsächlich die Unterseite der vereinzelten Wolken kratzen, zweifellos ebenfalls als Meisterwerke der Architektur durchgehen mussten.

    Vielleicht war es aber das vergleichsweise doch eher… schlichte Design, das N daran hinderte, seine volle Begeisterung für diese Wolkenkratzer aufzubringen. Ihre Höhe war erstaunlich, so erstaunlich, dass ich mir kaum vorstellen konnte, wie es sein mochte, sich dort oben auf einem der Dächer zu befinden, doch bei alledem waren es doch zumeist nur gerade hinauf ragende, meist rechteckige Gebäude, mit sehr vielen Stockwerken zwar, aber ansonsten nicht weiter außergewöhnlich. Dennoch – wie der Sonnenschein sich auf tausenden Fenstern spiegelte und die Stadt somit in ein glitzerndes Meer verwandelte, stellte einen einzigartigen Anblick dar.

    Auf unserem restlichen Weg nach Stratos wurde die Besiedelung stetig dichter, das Straßennetz verzweigter, die Menschen zahlreicher, indes sich der vielfältige Charakter dieser Metropole offenbarte: Von Pokémon-Trainern über Straßenkünstler und Geschäftsleute bis hin zu Touristen fand man alle nur erdenklichen Menschen verschiedenster Herkunft, die alle ihren eigenen Zielen entgegenstrebten. Schon in den Vororten, ehe wir ins Zentrum mit den Wolkenkratzern kamen, bestand kein Zweifel mehr daran, dass es sich tatsächlich um eine Weltstadt handelte, wo sich tausende Lebenswege fernster Ursprünge überkreuzten.

    Meine Aufregung wuchs mit jedem Schritt. Bald schon befanden wir uns tatsächlich in der Stadt: Auf einem Schild, das wir passierten, stand in großen Buchstaben Stratos City – Hauptstadt der Republik Einall. Ich hob meinen Blick zu den gigantischen Hochhäusern, zwischen denen wir uns nun endlich befanden, und fühlte mich kleiner als ein Wattzapf.

    »Hier trennen sich unsere Wege«, riss mich Ns Stimme auf einmal aus meinen Gedanken.

    Verwundert drehte ich mich zu ihm um. »Nach nicht einmal drei Tagen? Oder wie meinst du das jetzt? Ich dachte, ich würde dich noch länger ertragen müssen.«

    »Ertragen?«, fragte er mit erschrockener Miene.

    »Das war nur ein Scherz«, beeilte ich mich, ihn zu beschwichtigen. Er hatte das viel zu ernst genommen, was vielleicht auch unserer gestrigen Auseinandersetzung zu verschulden war. Ich musste ihm beizeiten mal beibringen, wie man Scherze erkannte. Oder zumindest hätte ich das gerne getan, wenn er nicht gerade gesagt hätte, dass unsere gemeinsame Reise hier schon ihr Ende fand. »Also… wie meintest du das jetzt? Dass sich hier unsere Wege trennen?«

    »Nicht für immer«, ergänzte er. »Es ist nur… diese Stadt. Sie ist mir unangenehm. So viele Menschen, so ein Gedränge, ein Lärm, ein Gestank. Ich war schon einmal hier. Ich weiß, weiter drinnen wird es nur noch schlimmer. Ich kann Stratos nicht leiden.«

    »Ich verstehe.« Das überraschte mich tatsächlich nicht. Es hätte mich sogar eher gewundert, wenn N große Städte wie diese gemocht hätte. Ich für meinen Teil genoss es zwar, mich hin und wieder an ruhigeren, gemütlicheren Orten wie dem Feld der Besinnung zu entspannen, aber ich hatte auch nichts gegen geschäftige Metropolen wie diese. N dagegen gehörte in die Natur, die Wälder, Felder und Berge Einalls. Hier war er nur fehl am Platz.

    »Ich werde die Stadt umgehen und auf Route 4 auf dich warten«, erklärte mir grünhaarige junge Mann. »Wir sehen uns dann dort.«

    »Ich weiß nicht, wie lange ich hier brauche«, gab ich allerdings zu bedenken. »Die Arena wird hier wahrscheinlich gut besucht sein, es könnte eine Zeit lang dauern, bis ich einen Termin bekomme. Und ich werde nicht gehen, bevor ich nicht den Orden habe.«

    Er nickte. »Das geht in Ordnung. Ich habe ohnehin etwas im Wüstenresort nahe der Route 4 zu erledigen. Ich weiß auch nicht, wie lange das dauern wird, daher trifft sich das gut. Ich werde meine Freunde bitten, nach dir Ausschau zu halten und mich zu informieren, sobald du die Hauptstadt verlässt. Dann werde ich wieder zu dir aufschließen. Einverstanden?«

    »Nun…« Ich kratzte mich am Hinterkopf, aber damit hatte N effektiv sämtliche meiner Bedenken ausgehebelt. »Ja, ich denke, ich bin einverstanden. Dann bis… demnächst, schätze ich.«

    »Viel Glück«, wünschte mir N im Gegenzug. »Bei deinem Arenakampf, meine ich. Ich weiß, ich kann dich nicht vom Kämpfen abhalten, also kann ich genauso gut auch zu dir halten. Zeige diesem Leiter dieselbe Stärke, die du mir gezeigt hast, dann wirst du gewinnen.«

    »Ich brauche dich nicht, um das zu wissen«, entgegnete ich, konnte mir aber ein Lächeln nicht verkneifen. »Aber trotzdem Danke. Ich weiß deine Unterstützung zu schätzen.«

    Wir zögerten es nun nicht mehr länger hinaus, das hätte auch keinen Sinn gemacht. Immerhin würden wir uns schon bald wiedersehen. Ich konnte mich in Ruhe auf das Verdienen meines dritten Ordens konzentrieren, und N konnte sich solange dem widmen, was auch immer er im Wüstenresort vorhatte. Es war ganz gut so. Außerdem würde ich mich nicht erklären müssen, wenn ich Cheren oder Bell begegnete, die N ja beide noch nicht kannten. Ich hatte ihnen nicht einmal von ihm erzählt. Es wäre seltsam geworden, wäre ich plötzlich mit ihm im Schlepptau vor ihnen erschienen und hätte gesagt, dass er mich auf meiner Reise begleitete. Wobei ich es ihnen natürlich sowieso irgendwann sagen musste.

    Nun, unsere Wege trennten sich hier jedenfalls tatsächlich, wenn auch nur vorläufig. N wandte sich sogleich gen Norden, wohingegen ich mich in Richtung Pokémon-Center begab, oder zumindest eines davon, denn natürlich verfügte eine Großstadt wie Stratos über mehrere, insgesamt über zehn, wenn ich mich nicht irrte. Ich schrieb nur kurz Bell an, in welchem Center sie und Cheren für die Dauer ihres Aufenthalts wohnten, und markierte dieses dann auf der Karte in meinem Viso-Caster, um es schnellstmöglich zu finden.

    Nicht einmal eine Woche war seit meinem Aufbruch aus Septerna vergangen. Und doch kam es mir fast vor wie ein anderes Leben. Auf jeden Fall war es ein neuer, wichtiger Abschnitt, den ich genießen würde. Das nahm ich mir fest vor.

    107716-bd8fa1b4.pngIch kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.
    - Bilbo Beutlin -


    Meine Anime-Liste: MAL -Azaril-

  • Hi lieber Azaril, ich dachte, du freust dich bestimmt mal wieder über einen kleinen Kommentar. Wer denn nicht?


    Oyessa hast du erfunden, oder? Als ich das Kapitel gelesen hab, war ich auf mobilen Daten und konnte den Namen nur flüchtig in Pokéwiki eingeben, um danach zu suchen. Heraus kam dann eben nichts. Da würde mich interessieren, wie du darauf kamst, denn ich hätte zuerst auf den Anime getippt, schließlich werden da dauernd neue Städte erfunden (hallo, Rayono-Stadt).

    Was N im Wüstenresort will, darüber kann ich ja auch mal kurz spekulieren. Dort war ja in den Spielen ursprünglich ein Drachenstein begraben, aber der wurde vor der Haupthandlung ins Museum gebracht. Jetzt würde es mich aber wundern, wenn er jetzt schon danach suchen geht. Immerhin war es im Spiel ja immer so, dass er den Stein von der Drachenstiege bekommen hat und man selbst dann den im Alten Palast gesucht hat, wo Team Plasma schon zur Stelle war. Aber vielleicht willst du es ja so handhaben, dass der eine Stein gar nicht auf der Drachenstiege ist, sondern beide im Palast. Und ich könnte mir auch vorstellen, dass er den Lichtstein findet und, während er weiter mit Black reist, versucht, Reshiram zu erwecken, was ihm schließlich auf dem Turm gelingt.

    Da die beiden auf dem Feld der Besinnung waren und man während der Hauptstory auch an den Orten der anderen Ritter vorbeikommt (nur nicht reinkann), erscheint es mir auch gar nicht so abwegig, dass sie da auch noch Halt machen werden. Und sogar Keldeo hat ja eine eigene Location, den Schwurhain. Da wird Black zwar wahrscheinlich nicht vorbeikommen, aber dann gibt es ja auch noch den weiblichen Hauptcharakter, der noch eingeführt wird.

    Die hast du ja vor kurzem auch schon wieder angeteasert. Ich denke, entweder kommt sie aus Südwesteinall und hat wirklich was mit der Pokémon-Schwester und G-Cis zu tun, oder sie kommt aus Stratos City. Hm, dort traf man ja zum ersten Mal auf Lilia. Aber für sie sprechen halt so gar keine Indizien.


    So, jetzt hab ich mal ein bisschen meine Gedanken zur Geschichte schweifen lassen. Bin gespannt, wie es weitergeht.

  • Oyessa hast du erfunden, oder?

    Ja, habe ich. :smile:

    Es werden im Lauf der Fanfiction noch ein paar andere Orte vorkommen oder erwähnt werden, die es in den Spielen nicht gibt. Die Spielstädte allein sind meines Erachtens nicht genug für eine ganze Nation, hier und da gibt es eben auch ein paar kleinere Städte oder auch nur Dörfer, die nicht so wichtig sind, aber halt trotzdem existieren. Soll sozusagen zum Realismus beitragen.


    Was N im Wüstenresort will, darüber kann ich ja auch mal kurz spekulieren.

    Da kannst du von mir aus auch noch etwas länger spekulieren, es wird nämlich noch eine Weile dauern, bis man mehr darüber erfährt. :woot:

    Dass ich das Museum in Septerna nur kurz erwähnt habe und nicht näher drauf eingegangen bin, hast du ja wahrscheinlich bemerkt. Das Museum ist für diese Geschichte auch nicht wirklich wichtig, dort ist jedenfalls keiner der Steine zu finden, aber mehr werde ich darüber nicht verraten.


    Was die wichtige Charakterin angeht, die noch ihres ersten Auftritts harrt, sage ich nur: Sie wird jetzt sehr bald die Bühne betreten. Auf jeden Fall noch bevor Black Stratos City wieder verlässt. :wink:

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    Stratos City war in seinen Anfängen zuvorderst eine Hafenstadt gewesen. Ehe die Wolkenkratzer in die Höhe gesprossen waren oder der Sitz der Regierung von Twindrake hierher verlegt worden war, hatten die Bewohner der heutigen Millionenmetropole von Fischerei und dem Handel auf See gelebt. Auch heute noch war der Hafen von Stratos einer der größten Einalls, auch wenn der Fokus sich in Richtung luxuriöser Kreuzfahrtschiffe verschoben hatte. Dennoch gab es auch einen abgegrenzten Teil, bei dem riesige Frachter be- oder entladen wurden.

    Nach meiner Ankunft hier war der Hafen eine der ersten Sehenswürdigkeiten – sofern man ihn als solche bezeichnen konnte –, die ich mir ansah, was auch daran lag, dass Bell mir kurz nach meiner Ankunft im Pokémon-Center geschrieben hatte, dass sie und Cheren hier auf mich warten würden. Also hatte ich nur kurz eingecheckt und mir den Schlüssel für mein Zimmer geben lassen, und war dann auch schon wieder auf und davon, um mich mit meinen beiden Schulfreunden am Hafen zu treffen.

    Im Vorbeigehen betrachtete ich die breiten, gut besuchten Piers, die genug Platz für eine Vielzahl an Schiffen boten. Wie auch auf den Straßen wimmelte es hier von Menschen, vor allem Touristen, die entweder von einem der Kreuzer kamen oder soeben einen bestiegen, aber auch nicht wenige Schaulustige, die diesen bei der Abfahrt oder Ankunft zusahen. Ich selbst hatte mich nie wirklich für Kreuzfahrten interessiert, bis auf eine einzige, auf einem besonderen Schiff.

    Einem Schiff, das nun langsam in Sicht kam, an einem der längsten Piers: Der Luxuskreuzer MS Einall Royal, oder, wie es unter Fans von Pokémon-Kämpfen genannt wurde, das Champion-Schiff.

    Nachdem der Geschäftsführer einer in Stratos ansässigen Reederei vor einigen Jahren die Idee gehabt hatte, die rapide ansteigende Zahl an Pokémon-Trainern zu nutzen, um Kreuzfahrten explizit für Trainer anzubieten, auf welchen diesen hochspannende Kämpfe, manchmal sogar in Turnier-Form, mit der Aussicht auf tolle Preise geboten werden sollten, hatten solche Trainerschiffe bald einen enormen Aufschwung in der Hauptstadt erfahren und erfreuten sich bis heute großer Beliebtheit bei den Pokémon-Trainern.

    Doch es hatte ein Problem gegeben: Starke und schwache Trainer nahmen gleichermaßen an diesen Kurzkreuzfahrten teil, sodass viele keinerlei Aussichten auf einen Sieg hatten. Um dem entgegenzuwirken, hatten ein paar der Schifffahrtsunternehmen, die zu der Zeit führend auf dem Markt der Pokémon-Kampf-Schiffe gewesen waren, einen Vertrag mit dem Liga-Komitee geschlossen, der es ihnen erlaubte, die Orden von Trainern zu überprüfen und die Kreuzfahrten somit nach deren Stärke einzuteilen. Von den zehn offiziellen Liga-Schiffen, die aufgrund dieses Vertrags gebaut worden waren, dienten die ersten neun für schwächere Trainer, angefangen bei keinem Orden bis hin zu acht Orden. Das letzte jedoch war das wahre Ziel für jeden Trainer, der sich für diese Schiffe interessierte.

    Jener zehnte Kreuzer war die MS Einall Royal, auf der nur solche Trainer zugelassen waren, die mindestens zwei der Top Vier besiegt hatten, in anderen Worten also die Stärksten der Stärksten. Diejenigen, zu denen auch ich eines Tages gehören wollte. Und dort lag sie im Hafen, in all ihrer Pracht, auf dass sie im Abendgrauen Segel setzen konnte.

    Sie war ein Dampfer mit zwei schwarzen Schloten, die über mehreren Stockwerken ohne Zweifel höchst luxuriöser Kajüten aufragten. Auf dem Vorderdeck, welches ich erkennen konnte, da die Straße, auf der ich mich befand, ein gutes Stück höher lag als das Meer und die Anlegeplätze, befand sich ein markiertes Feld für Pokémon-Kämpfe, und so weit ich wusste befanden sich auch im Inneren ganze drei Kampf-Hallen mit modernsten Sicherungsmaßnahmen, sodass selbst jene starken Pokémon, über welche die Trainer auf diesem Schiff verfügten, sich nicht in Zurückhaltung üben mussten. Insgesamt war das Design der MS Einall Royal in edlem Schwarz und Weiß gehalten, in Anlehnung an die Mythologie Einalls, doch wurde das ganze Unterstützt von gut dazu passenden blauen Elementen, als wollten die Erbauer auch das Wasser ehren, welches das Champion-Schiff unermüdlich trug.

    Ich ging die Treppe hinab zum Pier und stellte mich an die Kaimauer, um es aus nächster Nähe zu betrachten. Das Schiff schwankte leicht in den Wellen, die einige Meter unter mir gegen den steinernen Steg klatschten. Einige Piccolente und Swaroness hatten es sich auf der Reling gemütlich gemacht und beobachteten von dort aus die Menschen auf dem Pier, von denen die meisten unverkennbar Pokémon-Trainer waren, oder aber Fans von starken Pokémon-Trainern, die sich vielleicht erhofften, hier einen Blick auf ihr Idol erhaschen zu können.

    Als ich mich umdrehte, sah ich, wie Bell und Cheren auf mich zu kamen. Wie sie geschrieben hatten, hatten sie hier am Anlegeplatz der MS Einall Royal auf mich gewartet. Grünchen grüßte mich wie üblich mit einer überschwänglichen Umarmung, Cheren dagegen zeigte sich zurückhaltender, obwohl er sich offensichtlich freute, mich wohlbehalten zu sehen.

    »Du hast dieses Mal nur einen Tag Verspätung, das ist gut«, stellte er in sachlichem Ton fest, als hätte er erwartet, hier wieder Wochen auf mich warten zu müssen. »Ich wollte, dass wir uns hier alle noch einmal treffen, da wir uns in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr so häufig begegnen werden. Wir haben gerade erst Fuß ins wahre Einall gesetzt, von nun an werden die Strecken zwischen den großen Städten länger und weitläufiger.«

    »Ich dachte, das ging von Bell aus«, erwiderte ich. »Sie hat mir die ganze Zeit geschrieben, du kein einziges Mal.«

    »Nun…« Er rückte seine Brille zurecht. »Man muss eben Prioritäten setzen. Grünchen beschäftigt sich sowieso den ganzen Tag mit ihrem Viso-Caster.«

    »Hey!«, kam ein kurzer Protest von der Seite, den mein Rivale jedoch geflissentlich ignorierte. »Jedenfalls sollten wir die Zeit hier genießen. Man bekommt immerhin nicht alle Tage die Hauptstadt zu sehen. Aber vorher muss ich dir noch etwas Wichtiges sagen, Black. Du solltest so schnell wie möglich zur Arena gehen.«

    »Das hatte ich auch vor«, nickte ich. »Ich brauche immerhin einen Termin. Und N…« …wartet auf mich, wollte ich fast schon sagen, hielt mich aber gerade noch zurück. Ich hatte jetzt gerade keine Lust, ihnen das zu erklären.

    »Die Sache ist die«, fing Cheren an. »Ich war gestern schon bei der Arena, um einen Termin auszumachen, und hatte Glück. Anscheinend hat kurz bevor ich gekommen bin jemand abgesagt, also konnte ich dessen Termin übernehmen. Dann habe ich auch gleich noch einen für dich ausgemacht.«

    »Tatsächlich?«, fragte ich überrascht, aber erfreut, ehe mir jedoch aufging, dass das für ihn gar nicht hätte möglich sein sollen. »Moment mal… du bräuchtest meinen Trainerpass und eine unterschriebene Vollmacht, um für mich einen Termin auszumachen.«

    »Das ist es ja, was ich gerade zu erklären versuche. Ich habe der Frau am Schalter gesagt, dass du bald kommst und wir gute Freunde sind, aber du hast recht, ohne Trainerpass und Vollmacht geht es nicht. Aber ich habe sie wenigstens so weit gebracht, dass sie einen Termin vorläufig reserviert hat, damit du ihn bekommst, wenn du innerhalb eines Tages in der Arena aufkreuzt. Was bedeutet…« Er warf einen Blick auf den Viso-Caster an seinem linken Handgelenk. »…dass du noch etwa eine Stunde hast, dir diesen Termin zu schnappen, oder du bekommst erst einen späteren. Deshalb musst du sofort zur Arena gehen.«

    »Das sagst du mir erst jetzt?«, beschwerte ich mich entgeistert und überschlug im Kopf, wie lange ich zu Fuß oder mit dem Bus zur Arena brauchen würde, von der ich allerdings nur ungefähr wusste, wo sie lag. Noch dazu kam, dass ich mich in Stratos City kaum auskannte, wenn ich mich also verlief… nun, dann bedeutete das wohl, dass N ein bisschen länger warten musste. Trotzdem bedachte ich meinen Kindheitsfreund mit einem missmutigen Blick. »Du hättest mir schreiben können, dann wäre ich gleich nach meiner Ankunft hier zur Arena gegangen und nicht erst hierher in den Hafen gekommen.«

    »Cheren und ich waren gerade hier«, mischte sich Bell ein. »Und wir dachten uns eben, es wäre schon, wenn wir alle drei hier die MS Einall Royal ansehen könnten. Gemeinsam. Ich weiß, wie viel es euch beiden bedeutet, eines Tages auf diesem Schiff mitzufahren. Du hast noch genug Zeit, wenn du den Bus nimmst.«

    Gemeinsam die MS Einall Royal ansehen? Ich wandte mich wieder zu dem Luxuskreuzer um, bei dessen Anblick mein Herz tatsächlich ein wenig höher schlug. Sie hatte recht, Cheren und ich hatten davon geträumt, hier zu sein und dem Schiff beim Auslaufen zuzusehen, um dann irgendwann später zurückzukehren und selbst auf dem Deck zu stehen, wenn es den Hafen von Stratos verließ. Nachdem wir die Top Vier bezwungen hatten, würde unsere Reise dort oben, auf diesen Planken, diesem Deck ihr glorreiches Ende finden.

    Das war zu der Zeit gewesen, als ich es mir noch erlaubt hatte, solch optimistische Träume zu hegen. Versteht mich nicht falsch, ich wollte noch immer Champ werden, ich wollte noch immer auf der MS Einall Royal mitfahren, am besten mit Cheren, aber wer wusste schon, was bis dahin noch alles passieren konnte. Zwei Mal war ich bereits fast am Ende angelangt. Zwei Mal im Laufe meiner bisher erst so kurzen Reise – Team Plasma und die Pokémon-Jäger mit dem gold-silbernen Tauboss-Wappen hätten all diesen hoffnungsvollen Träumen fast einen endgültigen Riegel vorgeschoben.

    Ich wollte allerdings meinen Freunden nicht die Laune vermiesen, indem ich ihnen von meinen schlechten Erfahrungen erzählte. Obgleich es vielleicht besser wäre, damit sie vorbereitet waren, sollte ihnen etwas Ähnliches geschehen.

    So aber seufzte ich nur und schwieg. »Ja, es ist wundervoll, sie endlich mit eigenen Augen zu sehen. Die MS Einall Royal.« Ich sah erst Cheren an, dann Bell. »Danke, dass ihr mich hergerufen habt.«

    »Wir sollten gemeinsame Erinnerungen machen, wann immer wir können!«, meinte Grünchen mit dem Enthusiasmus, der mir im Moment fehlte. »Dafür sind wir ja gemeinsam auf diese Reise gegangen. Darum habt ihr mehrere Monate auf mich gewartet. Deshalb… will ich mich auch bedanken. Ohne euch hätte ich diese Reise niemals begonnen.«

    Wortlos streckte Cheren seine rechte Hand aus, sodass sie zwischen uns drei in der Luft hing. Nachdem wir ihn daraufhin erst nur fragend ansahen, räusperte er sich verlegen. »Eure Hände… na los, es ist peinlich, wenn ich der einzige bin.«

    »Ach so!«, schien Bell zu verstehen und legte ihre Hand auf seine, und auch ich steuerte meine rechte Hand bei, sobald ich erkannte, was die beiden wollten. Wir sahen einander an, und irgendwo tief in unseren Herzen wussten wir wahrscheinlich alle drei, dass wir schon jetzt nicht mehr dieselben waren wie damals bei unserem Aufbruch aus Avenitia. Wir standen nun hier, vor der MS Einall Royal, hatten einen wahrhaftigen Meilenstein unserer Reise erreicht. Vielleicht würden wir uns von nun an nicht mehr so häufig begegnen, ohne uns abzusprechen. Das Land jenseits dieser Stadt schien unendlich, und es gab unzählige Wege, die jeder von uns einschlagen konnte. Vielleicht würde einer von uns langsamer sein und hinter den anderen zurückfallen, vielleicht würden wir gänzlich andere Orte aufsuchen und unterschiedlichen Menschen begegnen.

    Aber das hatte auch etwas Gutes: Denn wenn wir dann wieder zusammenkamen, sich unsere Pfade irgendwo in der Zukunft erneut kreuzten, würden wir uns sehr viel zu erzählen haben, vielleicht über aufregende Abenteurer, vielleicht aber auch nur über gemütliche Abschnitte unserer Reise. Doch wie Bell gesagt hatte, manch eine gemeinsame Erinnerung hatten wir bereits gemacht, und dieses Treffen hier vor dem Champion-Schiff war mit Sicherheit eine davon. Auch wenn ich einen Moment gezögert hatte, meine Hand auf die meiner Freunde zu legen. Der feine Riss in unserer Freundschaft, den ich schon in Septerna bemerkt hatte und der sich unter Umständen zum Bruch zwischen uns ausweiten konnte, war trotz allem präsent, wie ein lauernder Schatten in meinem Hinterkopf.

    »Jetzt aber schnell, Black«, spornte mich Grünchen schließlich an, nachdem wir unsere Hände wieder voneinander gelöst hatten. »Du willst doch nicht erst in einer Woche deinen Arenakampf haben, oder?«

    »Definitiv nicht«, stimmte ich ihr zu, schlang meine Umhängetasche fester um mich und rannte umgehend zur Treppe, die zur Straße hinauf führte. An der untersten Stufe drehte ich mich jedoch noch einmal um. »Wir sehen uns dann später im Center, oder?«

    »Ja, natürlich.« Bell winkte mich mit einer herrischen Geste in Richtung Innenstadt. »Nun geh schon!«

    Cheren nickte mir nur kurz zu, ich erwiderte das Nicken, und dann beeilte ich mich wirklich, um ja keine Zeit mehr zu verlieren.


    Als ich einige Zeit später die Arena verließ, die sich an einer der belebtesten Straßen in Stratos befand, war es schon fast drei Uhr, und ich hatte noch immer kein Mittagessen gehabt. Dafür hatte ich den Termin, den Cheren für mich reserviert hatte, tatsächlich noch bekommen, obwohl die Sekretärin ihn mir nur widerwillig gegeben hatte. Es war offenbar eine andere als gestern, daher hatte sie nichts von dem gewusst, was ihre Kollegin Cheren versprochen hatte, obwohl es auf einem Zettel vermerkt war, deshalb hatte ich noch ein wenig Überzeugungsarbeit leisten müssen, doch es hatte sich gelohnt. Mein Kampf gegen den Leiter, einen Mann namens Artie, der nebenbei Künstler war, würde dennoch erst in vier Tagen stattfinden, was in Anbetracht der Vielzahl an Trainern hier allerdings noch recht früh war. Ich konnte mich wirklich nicht beschweren.

    Wie man hörte, hatten Arenaleiter in Großstädten wie diesen meist weit mehr als nur die sechs für ein volles Team üblichen Pokémon, weil es so viele Herausforderer gab und sich die Pokémon ja auch irgendwann von ihren Kämpfen erholen mussten. Es gab sogar ein eigenes, an die Arena angeschlossenes Pokémon-Center, das sich exklusiv um Arties Pokémon und in dringenden Fällen um die seiner Herausforderer kümmerte.

    Wie fast alles in Stratos City hatte auch das hier eine völlig andere Größenordnung, als ich es gewohnt war. Ich sah ein paar Trainer, von denen ich glaubte, sie vorher mal im Fernsehen gesehen zu haben, und Kamerateams verschiedener Sender, die offenbar auf Interviews mit vielversprechenden Pokémon-Trainern hofften und diese fragten, ob sie deren Arenakampf filmen und später ausstrahlen durften. Verglichen mit Orion und Septerna ging es hier überaus hektisch zu, und es war laut – es gab Publikum sowohl vor Ort als auch zuhause vor den Bildschirmen. Obwohl ich bereits bei meinem Kampf gegen Benny einige Zuschauer im Arenarestaurant gehabt hatte, war das hier doch etwas völlig anderes.

    Ob ich gewann oder aber verlor, spielte hier eine viel größere Rolle, da viel mehr Menschen dabei zusahen. Wie ich mich hier präsentierte, mochte darüber entscheiden, ob ich bald als aufgehender Stern am Trainer-Himmel betrachtet werden würde oder aber als gescheiterter Anfänger. Cheren hatte recht gehabt. Wir hatten das wahre Einall gerade erst betreten.

    Für heute schaffte ich es jedenfalls, neugierigen Reportern noch zu entgehen, was vielleicht daran lag, dass ich nur zur Rezeption gegangen war und nicht in Richtung des Warteraums für die Herausforderer, die heute gegen Artie antreten durften. Anscheinend bestand zurzeit ein noch engerer Zeitplan als sonst, da der Arenaleiter wegen einer neuen Museumsausstellung immer wieder nach Septerna musste, manchmal recht kurzfristig. Ich meinte, mich tatsächlich zu erinnern, dass Aloes Ehemann bezüglich der Ausstellung den Namen Artie erwähnt hatte, hundertprozentig sicher war ich mir allerdings nicht.

    Jedenfalls atmete ich erleichtert auf, als ich die Arenastraße schließlich hinter mir ließ, ohne interviewt worden zu sein. Mir war bewusst, dass ich auf Dauer nicht darum herumkommen würde, und ich hatte auch nichts dagegen, ins Fernsehen zu kommen oder so, immerhin wollte ich Berühmtheit als einer der stärksten Trainer Einalls erlangen, aber ich hatte mich heute nicht dafür bereit gefühlt. Ich wollte erst einmal richtig in Stratos ankommen und mich mental auf meinen nächsten Arenakampf vorbereiten, bevor ich mit Selbstvertrauen die durchlöchernden Fragen beantwortete, deren Antworten womöglich tausende von Menschen im ganzen Land hören würden, vor allem auch Konkurrenten in all den Pokémon-Centern, wo fast durchgehend der Liga-Kanal lief. Gerade bei diesen musste ich Eindruck schinden, um zu zeigen, dass sie in mir einen Gegner hatten, den zu bezwingen kein Zuckerschlecken werden würde.

    Zum Trainerdasein gehörte auch ein gutes Stück Selbstpräsentation. Ein souveränes Auftreten sowohl innerhalb als auch außerhalb von Pokémon-Kämpfen war essentiell. Niemand sah gerne stotternden Idioten dabei zu, wie sie einen Orden nach dem anderen verdienten. Letztlich war das Trainieren von Pokémon eben nicht nur ein Hobby, sondern auch ein Beruf, für den auch eine gewisse Professionalität vonnöten war, sowie eine Reputation, die es zuerst aufzubauen und dann aufrechtzuerhalten galt. In manchen Fällen wurden Firmen auf starke und beliebte Trainer aufmerksam und schlossen Werbeverträge und ähnliches mit ihnen. Nur genügte es nicht, nur stark zu sein, ohne bei den Fans Beliebtheit zu genießen, und umgekehrt war es ebenso unnütz, sich beliebt zu machen, ohne seinem Ruf mit entsprechenden Erfolgen gerecht werden zu können. Nur wer die Balance zwischen diesen beiden Eigenschaften erhalten konnte, vermochte wahren Ruhm zu erlangen.

    Natürlich gab es auch Trainer, denen es gelang, unterm Radar zu bleiben, bis sie ihren achten Orden hatten, und dann wie aus dem Nichts bei den Top Vier aufzutauchen, indem sie ausschließlich die entlegensten Arenen aufsuchten, auf welche die Medien keinen Fokus legten, aber diese Pokémon-Trainer scheiterten meist an zwei grundlegenden Problemen: Erstens fehlte ihnen wichtige Kampferfahrung gegen die stärksten Arenaleiter, die sich meist in den größten Städten befanden, zweitens hatten sie nie gelernt, mit der Aufregung umzugehen, die mit Publikum und Fernsehübertragung einherging. Ich konnte mir nicht erlauben, mich vom Lampenfieber bezwingen zu lassen, also beschloss ich, mich von nun an bei so vielen Gelegenheiten wie möglich vor laufender Kamera zu zeigen.

    Einall sollte wissen, dass ich hier war. Dass ich mich auf direktem Weg zur Liga befand. Dass ich entschlossen war, der nächste Champ zu werden.


    Nach meinem kurzen Abstecher zur Arena kehrte ich jedenfalls vorerst ins östlichste Pokémon-Center der Stadt zurück, um mich wieder mit Cheren und Bell zu treffen, ehe wir uns gemeinsam auf den Weg machten, einige der Sehenswürdigkeiten von Stratos anzusehen. Als verspätetes Mittagessen musste mir daher eine Waffel genügen, die ich an einem Stand nahe des Poké-Centers kaufte, aber wir hatten ohnehin vor, abends ausführlich in einem guten Restaurant essen zu gehen.

    Nachdem wir die MS Einall Royal schon gesehen hatten, gingen wir nicht mehr zurück zum Hafen, stattdessen begaben wir uns unter anderem ins Stratos-Atelier, für welches sich überraschenderweise Cheren interessierte und das in der Trend Street lag, entlang derer es verschiedenste Läden gab, darunter spezielle Trainer-Shops mit neuartigen Balldesigns und allerlei im Kampf nützlichen Gegenständen, sodass ich etwas hatte, worauf ich mich freuen konnte, solange ich das Atelier über mich ergehen lassen musste.

    Ein Gemälde gab es dort jedoch, das mein Interesse weckte – es befand sich in einem Raum mit Bildern unbekannter Künstler, die zumeist in alten Beständen gefunden worden waren, ohne sie klar zuordnen zu können. Das Bild, um das es mir ging, zeigte zwei Drachen, einen weißen mit blau entflammten Augen und einen schwarzen mit rot glühenden Augen, die unverkennbar Reshiram und Zekrom darstellen sollten. Die beiden hatten einander auf eine Weise umschlungen, die an das Symbol von Yin und Yang erinnerte, doch in ihrer Mitte befand sich ein graues Etwas, das sich nicht genau identifizieren ließ, mir allerdings einen eiskalten Schauer über den gesamten Körper jagte. Ich wusste nicht, warum, aber irgendetwas an diesem Gemälde empfand ich als extrem verstörend. Es kam mir vor, als müsste ich erkennen, was es war… als würde mir irgendetwas entgehen, aber ich konnte es nicht ganz erfassen. Der entscheidende Gedanke entging mir immer wieder um Haaresbreite.

    »Hey, bist du mal fertig, Black?«, fragte mich Cheren schließlich. Ich blinzelte und wandte mich ihm zu. Ich hatte doch nur kurz dieses Gemälde angesehen… so war es mir jedenfalls vorgekommen. »Es wird schon Abend, und wir wollten doch noch in die Trainer-Shops. Du starrst dieses Bild jetzt schon eine ganze Weile an.«

    »Eine ganze Weile…?«

    Ich drehte mich noch einmal zu dem Bild, aber plötzlich verstand ich nicht mehr, was mich daran so fasziniert hatte. Ja, es zeigte Zekrom, aber darüber hinaus war es nicht außergewöhnlicher als die meisten Bilder hier. Nur was war das dort in der Mitte? Etwas graues, undefinierbares, das mir…

    »Kommst du jetzt?«, riss mich mein Rivale erneut aus meinen Gedanken, die beinahe wieder abgedriftet wären. Ich schüttelte die Benommenheit ab, die mich kurz erfasst hatte, und folgte meinen beiden Kindheitsfreunden zum Ausgang des Stratos-Ateliers. Schon bald war ich wieder zu abgelenkt, um noch groß an das seltsame Bild zu denken.


    »Ernsthaft, wessen bescheuerte Idee war es, nicht in eines der Restaurants in der Trend Street zu gehen?«

    In der finsteren Enge zwischen den Hochhäusern hallte Grünchens Stimme überraschend laut wider, sodass ich kurz zusammenzuckte. Ich warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, begleitet von einem zurückhaltenden Lächeln. »Du hast doch gesehen, wie voll es dort überall war. Da hätten wir Jahre auf einen Platz warten müssen, geschweige denn drei.«

    »Pah!«, schnaubte sie, blieb stehen und stemmte die Arme in die Hüfte. »Sag mir bitte, wie das hier besser sein soll!«

    Cheren und ich blieben ebenfalls stehen, während ich mich in der schmalen Gasse umsah, in die wir irgendwie geraten waren. Nun, sie hatte nicht ganz unrecht. Nachdem wir uns ein paar Pokébälle mit interessanten Funktionen gekauft hatten, hatten wir uns auf die Suche nach einem Lokal gemacht, in dem wir gemütlich zu Abend essen konnten, aber dabei hatte sich schnell herausgestellt, dass die meisten Wirtschaften entlang der Trend Street überaus gut besucht waren, sodass man ohne vorherige Reservierung vermutlich kaum Chancen hatte, dort tatsächlich essen zu können.

    Deshalb hatte ich kurzerhand vorgeschlagen, uns einfach ein schönes Restaurant in einem etwas ruhigeren, abgelegeneren Stadtteil zu suchen, nur fragt mich bitte nicht, wie wir dann letztlich hier gelandet waren. Die Karte im Viso-Caster war, was das verwirrende Straßennetz von Stratos anging, nicht gerade sehr genau, und so hatten wir uns unweigerlich verlaufen. Aber anstatt meinen Fehler in der Navigation frühzeitig zuzugeben und einfach umzukehren, hatte ich meine Freunde und mich nur noch weiter ins Schlamassel und somit in diesen Irrgarten hineingeführt.

    Und nun waren wir hier… Slim Street stand auf einem der Straßenschilder. Es war kaum mehr als eine dunkle Gasse, die mit Mülltonnen vollstand, in denen ein einsames Yorkleff gerade nach etwas Essbarem wühlte. In einiger Entfernung standen ein paar übel aussehende Kerle mit schwarzen Lederjacken und tätowierten Armen in einem Hauseingang und warfen immer wieder Blicke in unsere Richtung. Noch dazu war es fast gespenstisch still.

    Das war nicht unbedingt eine Gegend, in der man auf gute Restaurants mit guter Gesellschaft hoffen konnte, eher auf heruntergekommene Spelunken voller betrunkener Raufbolde. Ich konnte es Bell nicht verdenken, dass sie sich nervös umsah. Sie musste unglaublich wütend auf mich sein. Aber wir würden schon unseren Weg wieder hier hinaus finden, und sollte tatsächlich einer dieser Typen dort auf die Idee kommen, uns ausrauben zu wollen, konnten wir uns notfalls mit unseren Pokémon verteidigen. Wir waren immerhin drei Trainer, von denen zwei schon mehr als einen Orden besaßen – das musste doch für irgendetwas gut sein, oder? Wenn sie allerdings eine Schusswaffe hatten wie diese Pokémon-Jäger… ich wollte jetzt nicht an so etwas denken.

    »Also gut, ich gebe es zu, ich habe keine Ahnung mehr, wo genau wir uns befinden, mein Viso-Caster kennt keine Slim Street, und der Empfang ist hier ohnehin schlecht«, gestand ich schließlich seufzend ein. »Wir hätten wohl wirklich darauf warten sollen, dass in der Trend Street irgendwann ein paar Plätze frei werden. Tut mir leid.«

    »Ein tut mir leid ist nicht annähernd genug, um das wiedergutzumachen«, teilte Bell mir entschieden mit und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich gehe jedenfalls keinen einzigen Schritt weiter, bevor nicht einer von euch einen Weg zurück in die Zivilisation gefunden hat.«

    »Also sollen wir ohne dich gehen?«, schloss Cheren daraus und setzte sich in Richtung der nächsten Nebengasse, die noch schmaler und düsterer wirkte, in Bewegung.

    »W-Warte, s-so habe ich das nicht gemeint!« Nun wirkte sie auf einmal, als sei sie den Tränen nahe. Ich hatte ganz vergessen, wie ängstlich sie oftmals sein konnte, in letzter Zeit hatte sie entschlossener und weniger unschlüssig gewirkt als üblich, aber das hier musste zu viel für sie sein. Vermutlich wollte sie einfach nur noch zurück ins Pokémon-Center. »S-So habe ich mir das nicht vorgestellt! Das sollte e-ein schöner… Abend werden, mit euch beiden.«

    Jetzt fing sie tatsächlich an zu weinen! Ich warf Cheren einen gehetzten Blick zu, den er nur kurz erwiderte, bevor er sich noch einmal umsah und seine Augen schließlich auf einer nahen Tür verharrten, während ich versuchte, Grünchen irgendwie zu trösten. Über der Tür stand in orangenen Buchstaben anscheinend der Name eines Cafés oder kleinen Lokals oder etwas Ähnlichem geschrieben, aus den Fenstern links und rechts von ihr drang warmer Lichtschein und erhellte zumindest einen Teil der finsteren Slim Street.

    »Die Melodie der Ruhe«, las mein schwarzhaariger Rivale vor. »Das klingt doch gar nicht so schlecht. Vielleicht sollten wir…«

    »Macht doch, was ihr wollt!«, schrie Bell mit zu Fäusten geballten Händen. »Es interessiert mich nicht mehr!«

    Wir sahen uns noch einmal gegenseitig an, ehe ich mit den Schultern zuckte und als Erster an die Tür trat. Wir konnten ja wenigstens mal einen Blick hineinwerfen, mein grummelnder Magen würde sich jedenfalls inzwischen auch mit einem Mahl zufrieden geben, das weit unter meinen üblichen Standards lag. Ich hatte seit dem Frühstück kaum noch etwas zwischen die Zähne bekommen. Ich drückte vorsichtig die Klinke nach unten, um die Leute im Inneren nicht auf uns aufmerksam zu machen. Nur ein kurzer Blick, dann würden wir wieder gehen. Dieser Plan wurde jedoch zunichte gemacht, als wie beim Café Lagerhaus in Septerna beim Öffnen der Tür eine helle Glocke erklang.

    Verdammt.

    Jetzt war es auch schon egal, also trat ich vollends ein, dicht gefolgt von Cheren und einer höchst widerwilligen Bell. Die Luft, die mir entgegenschlug, war nicht halb so stickig, wie ich erwartet hatte, und als meine Augen sich an die neuen, zwielichtartigen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, wurde ich von einem erstaunlich sauber wirkenden Raum überrascht, der durch warme Farben und eine fast schon heimelige, auf jeden Fall eher gemütliche Atmosphäre bestach.

    Rote Fliesen bedeckten den Boden, auf dem in regelmäßigen Abständen niedrige, quadratische Tische standen, bei denen offenbar orangene Kissen als Sitzplätze dienten. Im hinteren Teil des Raumes gab es eine Bar, hinter der mehrere Regale voller alkoholischer Getränke standen. Ein gelangweilt wirkender Kellner schlug offenbar durch das Polieren von Gläsern die Zeit tot. An der linken Wand hing ein Bild nicht unähnlich denen, die wir heute im Atelier gesehen hatten, allerdings mit passenden orangenen, gelben und roten Tönen, die sich gut mit der restlichen Gestaltung des Raumes vertrugen.

    In einer Ecke saß auf einem Sitzkissen ein Mann mit langem Haar, Sonnenbrille und einer Gitarre, auf der er ein ruhiges, aber dennoch stimmungsvolles Lied spielte, dessen sanfte Klänge durch das Lokal schwebten und das Ohr eines jeden Gastes erfreuten. Alles in allem war das hier nicht annähernd so schlimm, wie ich erwartet hatte.

    »Das sieht doch recht gemütlich aus«, meinte auch Cheren neben mir, was Bell nur ein wortloses Grummeln entlockte. Er beachtete das blonde Mädchen nicht weiter und ging zur Bar, wohin ich ihm folgte. Ohne große Umschweife sprach er den Barkeeper an. »Entschuldigen sie, aber wird hier auch etwas zu Essen serviert? Und alkoholfreie Getränke?«

    Der Mann hob nur kurz den Blick und wandte sich dann wieder dem Glas zu, das er gerade polierte, vergaß dabei aber nicht, die Frage zu beantworten. »Natürlich. Setzt euch, dann bringe ich euch gleich eine Speisekarte.«

    Cheren drehte sich wieder zu Bell und mir um. Die Frage, die in seinem Antlitz geschrieben stand, war eindeutig. Ich zuckte mit den Schultern. »Ich sage, wir bleiben und versuchen es. Ich sterbe vor Hunger.«

    Da Bell es offenbar inzwischen aufgegeben hatte, sich zu beschweren und zu wehren, fast wie damals auf Route 1, als wir sie gezwungen hatten, ein Pokémon zu fangen, war es somit beschlossene Sache. Wir suchten uns einen der Tische aus, etwa auf mittlerer Höhe zwischen Bar und Tür, aber näher an der Wand mit dem Gemälde, und nahmen auf den orangenen Sitzkissen Platz. Auf der roten Tischdecke stand eine Vase, in der einige Rosen steckten.

    Tatsächlich legte der Kellner kurz darauf das nun überaus saubere Glas zur Seite und kam mit drei Speisekarten zu uns. Die Auswahl war nicht sehr groß, aber ausreichend, sodass wir bald schon unsere Getränke vor uns stehen hatten und auf das Essen warteten. Ich lehnte mich entspannt zurück, wobei ich mich in Ermangelung einer Rücklehne auf meine Hände stützte, und atmete tief durch. »Das ist wirklich nicht übel hier. Wenn jetzt noch das Essen gut ist… und dieses kleine Restaurant ist nicht einmal im Viso-Caster vermerkt.«

    »Wir hätten trotzdem nicht herkommen sollen«, murmelte Bell, die sich zwar geschlagen gegeben hatte, mit der Situation aber noch immer alles andere als zufrieden war. »Seht ihr diesen Mann da drüben? In dem schwarzen Anzug und mit den blau gefärbten Haaren? Der hat eindeutig Dreck am Stecken, das sag ich euch. Wer weiß, mit was hier alles gedealt wird.«

    »Sieht für mich nach einem gewöhnlichen Geschäftsmann aus, der sich nach der Arbeit ein wenig entspannt«, gab ich meine Meinung kund, nachdem ich mit nur einem offenen Auge den Verdächtigen kurz gemustert hatte. »Du solltest dich auch ein bisschen entspannen. Die Leute hier scheinen nicht schlimm zu sein.«

    »Du hast doch gesehen, wie es da draußen ausgesehen hat«, beharrte sie jedoch. »Kein Geschäftsmann, dem seine Börse lieb ist, kommt hierher, nicht einmal tagsüber. Der Typ ist ein Gangster.«

    »Es ist nicht höflich, so über die anderen Gäste zu sprechen«, stellte sich Cheren auf meine Seite. »Ich gebe Black recht, entspann dich. Wir haben ein Restaurant gefunden, es ist warm und gemütlich, der Mann dort drüben spielt schöne Musik auf seiner Gitarre. Ich glaube, wir haben alles richtig gemacht.«

    »Der Schein trügt«, meinte sie daraufhin nur, beließ es aber dabei.

    Kurz darauf kam auch schon das Essen, das wie nicht anders zu erwarten nichts Besonderes war, aber auch nicht schlecht und definitiv mehr als ausreichend, um meinen leeren Magen zu füllen. Cheren und ich taten uns jeweils an einem deftigen Steak gütlich, Bell dagegen begnügte sich mit einem gemischten Salat und brummte dabei, dass sie nicht viel Appetit hatte. Was das Trinken anging, hatte sie sich jedoch als einzige von uns für etwas Alkoholisches entschieden, wenn auch nur ein Glas Bier, angestoßen wurde natürlich trotzdem, immerhin war das das erste Mal seit unserem Aufbruch aus Avenitia, dass wir gemeinsam essen gingen, und vielleicht auch das letzte Mal auf unserer Reise, oder zumindest auf dieser Etappe.

    Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, stellte der Gitarrist plötzlich sein Spiel ein und nahm unaufgefordert auf dem letzten freien Sitzkissen an unserem Tisch Platz. »Nun, meine jungen Freunde, wie gefällt es euch hier? Ich bin der Besitzer dieser bescheidenen Gaststätte, der Melodie der Ruhe. Zace Snider mein Name.«

    Dieser Mann sollte der Besitzer sein? Es fiel mir nicht schwer, das zu glauben. Er hatte diese lockere Ausstrahlung und trug eine Sonnenbrille im Halbdunkel seines Lokals, irgendwie passte das zu dem Charakter, den dieser Raum vermittelte. Er legte die Gitarre neben sich ab und lehnte sich leicht über den Tisch, aber es wirkte trotzdem nicht störend, dazu fügte er sich zu sehr in den Hintergrund ein.

    Cheren reagierte als Erster auf den unerwarteten Gesprächspartner. »Das ist eine sehr nette Bar, die sie da haben, Mr. Snider. In dieser Gegend erwartet man das gar nicht. Darf ich fragen, was sie dazu bewegt hat, ihre Gaststätte gerade hier zu eröffnen?«

    Der Mann, der den ungewöhnlichen Vornamen Zace trug, gab mit einem Lachen seine Antwort. »Diese Gegend ist nicht halb so schlimm, wie sie aussieht, glaubt mir. Ihr habt bestimmt ein paar der Jungs draußen gesehen. Sehen übel aus, man könnte richtig Angst vor ihnen bekommen, aber meistens sind sie völlig harmlos.«

    »Meistens?«, quiekte Bell.

    »Nun ja, sie machen sich manchmal einen Spaß daraus, Passanten zu erschrecken«, meinte Mr. Snider. »Ihr braucht euch jedenfalls keine Sorgen zu machen, hier seid ihr sicher.« Er beugte sich noch ein wenig weiter vor und schlug einen Flüsterton ein. »Seht ihr den Mann dort drüben, mit den blauen Haaren und dem schwarzen Anzug? Der ist ein Pokémon-Trainer, und ein ziemlich guter noch dazu. Stammt aus Kanto, kommt aber hin und wieder nach Einall. Ich habe noch ein paar solche Stammgäste, mit denen sich keiner anlegen würde. Solange ihr also keinen Ärger macht, habt ihr nichts zu befürchten.« Die unterschwellige Warnung, die in diesen Worten mitschwang, entging mir nicht. »Nebenbei bemerkt, ihr seid doch auch Trainer, oder? Ich mag Pokémon-Kämpfe, deshalb bin ich jedes Mal interessiert, wenn junge Trainer hierher kommen, und ihr könnt euch vorstellen, dass das nicht oft passiert.«

    »Ja, wir sind Trainer«, antwortete ich. Jeder, der zwei Augen im Kopf hatte, konnte das erkennen. Wir trugen unsere Pokébälle immerhin offen bei uns.

    »Habt ihr schon irgendwelche Orden?«, wollte Zace daraufhin wissen.

    »In der Tat«, nickte Cheren. »Wir haben den aus O…«

    »Wir haben ein paar«, fuhr ich ihm schnell über den Mund. Ich genoss zwar die unbeschwerte Stimmung hier, aber das ließ mich nicht sämtliche Vorsicht in den Wind schlagen. Selbst wenn dieser Mann behauptete, es sei keine so schlechte Gegend, konnten wir das nicht mit Sicherheit wissen, er konnte uns immerhin irgendetwas erzählen. Und dank der Erfahrungen, die ich auf meiner Reise bisher gemacht hatte, fasste ich scheinbar nicht so leicht vertrauen wie meine beiden Kindheitsfreunde. Besser also, Zace wusste nicht genau, wie viele Orden wir hatten.

    »Ein paar, soso.« Er legte lächelnd den Kopf schief. Mein misstrauischer Blick war ihm bestimmt nicht entgangen. »Ich habe zwar noch nicht von euch gehört, aber ich hoffe, ihr kommt groß raus. Und kommt doch bitte mal wieder. War nett, mit euch zu plaudern.«

    Damit stand er ebenso abrupt auf, wie er sich zu uns gesetzt hatte, nahm seine Gitarre und zog sich wieder in seine Ecke zurück, nahm sein Spiel jedoch nicht wieder auf. Er hatte vorhin ja auch lange genug musiziert, das musste auf Dauer anstrengend sein. Meine Gedanken kreisten jedoch eher darum, dass er das Gespräch beendet hatte, sobald ich ihm gesagt hatte, dass wir ein paar Orden besaßen. Auf einmal kam mir dieser Laden doch nicht mehr so gemütlich vor. Irgendetwas war hier faul. Ich bekam dasselbe ungute Gefühl wie damals bei der Grundwassersenke und vor ein paar Tagen nahe des Felds der Besinnung.

    Ich drängte Bell und Cheren daraufhin, so bald wie möglich zu zahlen und uns auf den Weg zurück zum Pokémon-Center zu machen. Die beiden verließen den Raum vor mir, ich bildete das Schlusslicht und bekam daher noch mit, wie sich Mr. Snider von dem Mann in dem schwarzen Anzug verabschiedete.

    »Sie gehen schon, Mr. Asimel? Bleiben sie noch eine Weile im Lande oder geht es schon zurück nach Kanto?«

    »Mein Flieger geht in ein paar Stunden, ich werde also eine Zeit lang nicht mehr kommen«, entgegnete eine tiefe, jedoch samtene Stimme. »Wie immer danke für alles.«

    »Nicht doch.« Zace lachte verlegen auf. »Kommen sie unbedingt wieder vorbei, wenn sie ihre Geschäfte noch einmal nach Einall führen. Ich bestehe darauf.«

    Der Mann verbeugte sich knapp vor dem Inhaber des Lokals und kam dann plötzlich auf mich zu. Erst jetzt ging mir auf, dass ich unerlaubt gelauscht hatte, und ich beeilte mich, meinen Freunden zu folgen, aber bevor ich die Tür öffnen konnte, legte sich eine kräftige Hand auf meine Schulter und übte dabei einen leichten, aber unverkennbaren Druck aus, der auf eine Weise bedrohlich wirkte, die sogar den Anblick der Pistole der Jägerin direkt vor meinem Gesicht in den Schatten stellte.

    »Du hast gute Instinkte, Junge«, flüsterte mir eine Stimme ins Ohr, die weiche, aber unerbittliche Stimme des blauhaarigen Mannes, der vom Besitzer Mr. Asimel genannt worden war. »Zace hätte dich und deine beiden Freunde überfallen und eure Pokémon gestohlen, hättet ihr ihm genau gesagt, welche Orden ihr habt, und wären es nicht genug gewesen. Jetzt ist er sich unsicher und wird es deshalb sein lassen. Es sei denn, ich empfehle ihm, es dennoch zu tun.«

    »Ist das… eine Drohung?«, hauchte ich entsetzt. Wie gelang es mir nur immer wieder, auf solche Typen zu stoßen?

    »Keine Drohung, eine Warnung«, entgegnete der Fremde allerdings. »Ich bin nicht an euren Pokémon interessiert, und außer mir ist gerade kein potentieller Käufer in der Nähe.«

    Er nahm die Hand von meiner Schulter und ging an mir vorbei, wobei er so tat, als hätte er mich nur kurz darum gebeten, zur Seite zu gehen. Er nickte mir zu und verschwand dann durch die Tür, hinter der Cheren und Bell schon auf mich warteten. Falls ihnen auffiel, wie blass ich war, bis wir uns wieder wohlbehalten im Center befanden, sprachen sie mich nicht darauf an. Für mich hatte sich dieser Abend jedenfalls als eine weitere wertvolle Lektion auf meiner Reise entpuppt.

    Nach und nach begann ich zu verstehen, wie viele Menschen es dort draußen gab, die Pokémon nur als Gegenstände ansahen, an denen sie Geld verdienen konnten. Mehr und mehr vermochte ich nachzuvollziehen, warum N Pokébälle und Pokémon-Trainer so sehr verabscheute. Auch dieser Mr. Asimel war angeblich ein Pokémon-Trainer gewesen, und er zählte sicher nicht zu der Sorte, die ihre Pokémon gut behandelte.

    Es machte mich krank, daran zu denken, wie viele Pokémon tagtäglich unter Menschen wie ihm litten. Unter Verbrechern, gegen die die Polizei kaum etwas auszurichten vermochte. War es also so falsch, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu wollen wie N, wenn man die Macht dazu besaß?

    Macht. Ich lag in meinem Bett und betrachtete von dort aus eingehend die beiden Pokébälle und den Superball, die ich auf meinem Nachtkästchen abgelegt hatte. Ich werde noch viel mächtiger werden. Falls ich eines Tages tatsächlich die Stufe der Top Vier erreiche, oder darüber hinaus… könnte ich dann etwas an diesen Umständen ändern? Oder sollte ich es jetzt schon versuchen?

    Heute erreichte ich keine Antwort mehr auf diese Fragen. Stattdessen begleiteten sie mich bis weit in meine Träume hinein.

    107716-bd8fa1b4.pngIch kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.
    - Bilbo Beutlin -


    Meine Anime-Liste: MAL -Azaril-

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    Ich schlief in dieser Nacht nicht gut. Bilder von N und den Pokémon-Jägern spukten mir durch den Kopf, und einmal wachte ich sogar schweißgebadet auf, nachdem ich davon geträumt hatte, wie der blauhaarige Mann im schwarzen Anzug mein Zwottronin erschoss. Als schließlich das erste Sonnenlicht durch die Vorhänge des Fensters in mein Zimmer fiel, fühlte ich mich nicht sehr ausgeruht.

    Da ich aber genauso wenig wieder einschlafen konnte, stand ich auf, nahm meine Pokébälle und ging mit meinen Pokémon ein bisschen draußen spazieren, solange Bell und Cheren noch nicht wach waren. Es war kühl, der Himmel wie gestern Abend größtenteils von Wolken bedeckt, und die wenigen Bäume, die in der Innenstadt von Stratos ihre Wurzeln geschlagen hatten, waren in ein rot-gelbes Kleid gehüllt, das vom Herbst kündete. Der Sommer hatte sich endgültig verabschiedet, während ich in der Grundwassersenke trainiert hatte, in etwa zwei Wochen begann der November und mit ihm die kälteste Zeit des Jahres.

    Ich störte mich jedoch nicht sonderlich an den sinkenden Temperaturen, sie waren ganz gut, um im wahrsten Sinne des Wortes einen kühlen Kopf zu bekommen, nachdem die Albträume dieser Nacht mich so sehr ins Schwitzen gebracht hatten. Heute kam mir die Stadt auch schon wesentlich trister und uninteressanter vor als noch gestern, vielleicht hatte meine Laune sich aber einfach noch nicht von dem Dämpfer erholt, den sie gestern nach dem Abendessen erhalten hatte.

    Der Heimweg war zum Glück vollkommen problemlos verlaufen. Wir hatten bald eine Straße wiedergefunden, die wir schon kannten, und von dort aus schnell die Trend Street erreicht. Ich glaubte nicht, dass meine Freunde bemerkt hatten, wie ich immer wieder nervöse Blicke nach hinten geworfen hatte, um zu sehen, ob uns jemand verfolgte, womöglich hatte sich dieser Mr. Asimel auch nur einen üblen Scherz mit mir erlaubt. Ich hoffte es. Ich wollte jedenfalls nichts mehr mit ihm und dem Besitzer der Melodie der Ruhe zu tun haben.

    »Ich habe mir das alles ganz anders vorgestellt«, murmelte ich verdrossen und trat einen kleinen Stein zur Seite, der vor mir auf dem Weg gelegen hatte. Ich spürte, wie etwas mehrmals leicht an meinem rechten Hosenbein zog und wandte mich daraufhin dem neben mir herlaufenden Zwottronin zu, das ein fröhliches Lachen im Gesicht trug und beide Arme in die Luft schreckte, einen lustigen Laut von sich gebend. Offenbar wollte es mich aufmuntern, und es gelang ihm tatsächlich, wenn auch nur ein wenig. »Du wirst immer bei mir bleiben, oder, Zwott? Wir werden zusammen stärker werden, damit niemand mehr uns trennen kann.«

    Es nickte eifrig, bevor wir beide weitergingen. Ich grübelte und sprach dabei mit meinem ersten Pokémon. »Weißt du, wir Pokémon-Trainer besitzen eine Macht, die sich in Pokémon wie dir begründet. Starken Pokémon mit noch mehr Potential. Ich glaube, die besten Pokémon-Trainer müssen sich vor nichts fürchten. Trainer wie Blau und Rot, die beim Finale der Weltmeisterschaft das halbe Stadion in Schutt und Asche gelegt haben… Team Plasma, die Pokémon-Jäger, diese Diebe in der Slim Street, keiner von ihnen könnte diesen beiden das Wasser reichen. Sie haben keine Waffen. Aber sie haben ihre Pokémon. Und das macht sie weit gefährlicher als jeden Verbrecher oder Polizisten mit einer Pistole.«

    Das Pokémon-Center kam wieder in Sicht, ich war einmal um den Block gelaufen. »Was ich damit sagen will, Zwottronin, ist, dass wir uns ebenfalls nicht mehr fürchten müssen, wenn wir so stark werden. Ich könnte sie besiegen, Leute wie diese. Sie hinter Gitter bringen. Oder einfach… beseitigen. Ich frage mich inzwischen, ob es das ist, was ich wirklich tun will.« Ich ballte die rechte Hand zur Faust, öffnete sie wieder, ballte sie noch einmal. »Es liegt nicht viel Kraft in diesen Fingern, aber als Pokémon-Trainer könnte ich zu einem der mächtigsten Menschen der Welt werden, mit meinen Pokémon an meiner Seite. Ich könnte eine bessere Welt erschaffen… jetzt klinge ich schon fast wie N, was? Er übt wohl einen schlechten Einfluss auf mich aus.«

    Nur war dieser Einfluss wirklich so schlecht? Oder lag eine Wahrheit in den Ansichten meines Begleiters verborgen, die ich erst nach und nach zu begreifen begann? So oder so veränderte ich mich, das war offensichtlich. Diese Reise ließ mich Dinge hinterfragen, an denen ich vorher nie gezweifelt hatte, und stellte meine bisherigen Ideale auf eine harte Probe. Woran ich mein Leben lang geglaubt hatte, drohte mehr und mehr zu zerbrechen, doch ich war zu sehr daran interessiert, was darunter zum Vorschein kommen würde, als dass ich mich wirklich dagegen wehren wollte.

    Ich setzte mich nun in die Lobby, wenig später kam auch schon Cheren die Treppe aus dem ersten der insgesamt fünf Stockwerke dieses Pokémon-Centers hinab, das größte, in dem ich bisher gewesen war. Es nahm den unteren Teil eines Hochhauses ein, welches sich noch weit über das Center hinaus erhob und über mehrere weitere Eingänge verfügte, über die man in die Büroräume weiter oben gelangte, wo eine Busfahrtgesellschaft ihren Sitz hatte, die auch Fahrten direkt vom Pokémon-Center zu einigen der Sehenswürdigkeiten von Stratos anbot.

    Nachdem sich schließlich auch Grünchen mit einem verschlafenen Ausdruck im Gesicht zu uns gesellt hatte und wir gemütlich gefrühstückt hatten, fuhren wir mit einem dieser Busse zum Regierungsgebäude, das wir uns heute ansehen wollten. Es war zwar nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, konnte aber aus der Ferne betrachtet werden. Obwohl es eines der vergleichsweise eher niedrigeren Gebäude der Stadt war, was allerdings nicht so sehr auffiel, weil es nicht inmitten der Wolkenkratzer lag, war es durchaus beeindruckend. Es war in einem altertümlich anmutenden Stil errichtet, der an einige der Ruinen erinnerte, die man in Einall fand, und war zudem dem vorherigen Regierungssitz in Twindrake nachempfunden, um sich der Wurzeln dieses Landes zu besinnen, trotzdem verfügte es ohne Zweifel über modernste Sicherheitssysteme.

    Allerdings blieben wir nicht allzu lange dort, denn für den heutigen Tag hatte Bell ihren Willen durchgesetzt und dabei eine bestimmte Straße angepeilt: Die Stratos Street, die sich ihren Namen mit der Stadt selbst teilte und ein Paradies für jede einkaufsbegeisterte Frau darstellte.

    »Heute gehen wir shoppen!«, hatte Grünchen am Frühstückstisch verkündet und danach keinen Widerspruch mehr zugelassen.

    In der Stratos Street, der berühmten Shoppingmeile der Metropole, befanden sich mehrere Kaufhäuser, von denen jedes einzelne vermutlich groß genug war, die gesamte Bevölkerung von Avenitia beherbergen zu können, ohne dass sich irgendjemand in seinem Platz hätte eingeschränkt fühlen müssen. Wahrscheinlich bräuchte man Tage, um jede Etage auch nur eines dieser Kaufhäuser mit einem ausführlichen Besuch zu ehren, und am Ende war man vermutlich ein gutes Stück ärmer, wenn nicht sogar gänzlich pleite.

    Ich hatte nichts gegen einen Einkaufsbummel dann und wann einzuwenden, und dass wir einmal hierher kommen würden, war von Anfang an festgestanden, zumal ich ja nach einer Tasche oder einen Rucksack für N sehen wollte, aber der Grund, warum Cheren und ich uns nicht wirklich darauf freuten, lief an diesem Vormittag die meiste Zeit über vor uns her und summte dabei gelegentlich eine fröhliche Melodie vor sich hin – wir kannten Bell, wir wussten genau, wie sie war, wenn sie vom Einkaufswahn gepackt wurde, und deshalb arbeiteten unsere Gehirne seit dem Frühstück auf Hochtouren, um eine Ausrede zu finden, irgendwo anders zu sein als bei ihr. Denn hatten wir erst einmal einen dieser Kaufhauswolkenkratzer betreten, wären wir keine Menschen mehr in ihren Augen, sondern nur noch… Tütenträger.

    Ein Schicksal, dem ich gerne entgehen würde, so hoffnungslos allein der Versuch auch sein mochte. Letztlich half es jedoch alles nichts und wir wurden unerbittlich von Bell überallhin mitgeschleift, wohin sie wollte.

    Es wäre schön gewesen, hatte Grünchen auch außerhalb des Shoppens mal eine Ausdauer an den Tag gelegt wie in den folgenden Stunden, in denen Cheren und ich von Minute zu Minute mit mehr Einkaufsgut beladen wurden, das jedoch fast ausschließlich aus Kleidung bestand, darunter hauptsächlich grüne, mit ein wenig Orange und Weiß. Als sie irgendwann feststellte, dass wir nicht mehr genug Arme zur Verfügung hatten, kam ihr auch noch die sensationelle Idee, unsere Pokémon da ebenfalls mit hineinzuziehen, sodass uns kurz darauf Cherens Navitaub mit schweren Flügelschlägen folgte, jeweils eine Plastiktüte in jeder Klaue.

    Gegen Mittag ließ sich Bell zu einer Pause überreden, um etwas zu essen, wobei sie dieses Mal darauf bestand, es genau dort zu tun, wo wir gerade waren, und nicht erst wieder die halbe Stadt nach einem Restaurant zu durchsuchen, weshalb wir letztlich bei einem nahen Imbiss Halt machten. Danach schaffte ich es tatsächlich, mich auszuklinken, indem ich sagte, dass ich nur schnell nach einer neuen Tasche sehen wollte, was in gewisser Weise ja auch stimmte.

    Endlich aus den Fängen der Furie befreit, streckte ich mich ausgiebig und schlenderte in gemütlichem Tempo durch eine der zahlreichen Einkaufspassagen, wobei ich Zwottronin wieder einmal aus dem Ball ließ. Ich beschloss, die Zeit gut zu nutzen, bevor Bell mich kontaktierte und zu sich zurückrief, und verließ das Kaufhaus, in dem wir zu Mittag gegessen hatten, sobald ich einen Rucksack gekauft hatte, der hoffentlich Ns Geschmack entsprach.

    Die Stratos Street war mit Abstand die vollste Straße, die ich je gesehen hatte – der dichte Verkehr war dabei nur ein Aspekt dieser Fülle an Menschen, die man hier bezeugen konnte, denn auch die Fußwege waren belebt wie scheinbar nirgendwo sonst. Mütter, die mit ihren Kindern unterwegs waren, eilig umher hastende Geschäftsleute, eine Vielzahl an einkaufswütigen Frauen und auch Männern, und natürlich auch nicht wenige Touristen sorgten für ein Stimmengewirr, das sich mit dem stetigen Hupen und dem anhaltenden Motorbrummen auf der eigentlichen Straße vermischte und damit einen Lärmpegel erzeugte, den ich so nicht gewohnt war.

    Avenitia war bei weitem kein bloßes Dorf irgendwo auf dem Land, aber das hieß nicht, dass es nicht klein und entlegen war, jedenfalls verglichen mit Stratos City. Ich konnte nachvollziehen, warum N sich hier nicht wohlfühlte, denn auch für mich wurde es langsam ein bisschen zu viel. Deshalb fand ich mich bald auf dem Weg in Richtung Zentralpark wieder, dem einzigen Flecken Natur in der gesamten Stadt. Dabei kam ich an einer Eisdiele vorbei, vor welcher sich die Menschen nur so tummelten, und erinnerte mich daran, dass es ja irgendwo in der Stratos Street das berühmte Stratos-Eis geben sollte. Ich hatte den Ort wohl gefunden.

    Eigentlich hatten wir geglaubt, so spät im Jahr hätte die Eisdiele schon nicht mehr geöffnet, und daher beschlossen, im Sommer noch einmal herzukommen, aber offensichtlich hatten wir uns geirrt. Obwohl es schon deutlich kälter war als noch vor ein paar Wochen, war dieses Eis offenbar gut genug, dass sich noch immer ein gehöriger Profit daraus schlagen ließ. Gerade löste sich die Schlange jedoch ein bisschen auf, sodass man vermutlich nicht ganz so lange anstehen musste, wenn man jetzt die Gelegenheit nutzte, also zögerte ich nicht lange und reihte mich am Ende der Warteschlange ein. Meine Freunde würden es mir verzeihen, wir konnten uns ja schließlich trotzdem später noch ein Eis holen, auch wenn ich schon eins gehabt hatte.

    So spazierte ich wenig später an meinem Straos-Eis – eine Kugel Schokolade und eine Vanille – leckend durch den Zentralpark im Zentrum der Weltstadt Stratos, wo der Lärm zwar noch immer zu hören war, dafür aber deutlich leiser. Schmale, gepflasterte Wege bildeten ein gewundenes Netz inmitten saftig grüner Wiesen, stellenweise sorgte dichter Baumbewuchs für Sichtschutz von den Straßen, schattige Bänke boten Gelegenheiten, sich zurückzulehnen und die verhältnismäßige Ruhe zu genießen. Als ich den Park betrat, ergriff mich für einen Augenblick die Sehnsucht nach dem Feld der Besinnung, aber das Gefühl verflog so schnell wieder, wie es aufgezogen war.

    Auch Zwottronin gefiel es hier sichtlich besser als in der hektischen Stratos Street. Es lief glücklich umher und warf sich schließlich in einen kleinen Teich, wobei es einige Schallquap und Lilminip vertrieb. Es gefiel mir, dass die Instinkte dieser Pokémon sie zur Flucht vor meinem Partner trieben, denn es bedeutete, dass sie spüren mussten, mit welch einem starken Pokémon sie es zu tun hatten. Einem Räuber, dem sie hilflos ausgeliefert waren. Ich setzte mich auf eine Bank in der Nähe des Teichs, verputzte auch noch den Rest meines Stratos-Eises und sah dem Otter beim Planschen zu.

    Kurz nachdem ich fertig war und auch noch die Waffel restlos in meinem Magen verschwunden war, erblickte ich auf einmal ein weiteres Pokémon, das gerade zwischen ein paar Bäumen hervor kam – und mich sofort mit offen stehendem Mund aufspringen ließ. Es war ein kleines, nagetierartiges Wesen, nicht größer als ein Ottaro, mit beigefarbenem Fell und großen, runden, hellblauen Augen. Die dreifingrigen Pfoten und die Füße waren dagegen orange-rot, und dieselbe Farbe wies auch die Oberseite seiner langen, spitzen Ohren auf, die wie ein V zueinander standen. Seine zwei Ruten besaßen die Form von Flügeln, obwohl es offenkundig nicht fliegen konnte.

    Kein Pokémon-Trainer in Einall, der etwas auf sich hielt, hatte nicht schon von diesem Pokémon gehört – es zählte zu den seltensten Arten dieser Region, fast so selten wie die legendären Pokémon, und wurde in vielen Quellen auch als eines der mächtigsten Pokémon Einalls beschrieben. Das Triumphstern-Pokémon, das Symbol des Sieges… es war ein Victini, leibhaftig!

    »D-Das ist… unmöglich«, stammelte ich wie ein Idiot, der die allerletzte Oase in einer staubtrockenen Wüste vor sich sah, instinktiv vermutend, dass es sich um eine Fata Morgana handelte. Aber es war keine. Ein Victini, einfach so, inmitten der größten Stadt Einalls – wäre hier und jetzt Kobalium aufgetaucht, oder Voltolos, oder sogar Zekrom, ich hätte nicht erstaunter sein können.

    Der Augenblick, in dem ich es sah und erkannte, was es war, kam mir wie zu einer Ewigkeit ausgedehnt vor, doch tatsächlich dauerte es kaum zwei Atemzüge, bis ich einen Hyperball zückte und beschloss, es einzufangen, bevor irgendjemand mir zuvorkam. »Zwottronin, Schluss mit den Spielchen, wir haben ein Pokémon zu fangen! Siehst du das? Das ist ein Victini. Kannst du es glauben? Ein Victini!«

    Beim Klang meiner Stimme drehte sich der Feuernager – denn Victini war ein Pokémon der Typen Feuer und Psycho – zu mir um und schnupperte neugierig in meine Richtung, indes Zwottronin aus dem Wasser stieg und eine kampfbereite Pose einnahm. Ich hielt mich jedoch nicht lange damit auf, das Victini zu schwächen, weil ich Angst hatte, es könnte jeden Moment wieder verschwinden. Ich konnte mein Glück noch immer kaum fassen, also warf ich den Hyperball einfach, bevor es sich noch tatsächlich aus dem Staub machte.

    »Tini?«, fragte es mit hoher, fiepender Stimme und wirkte zunächst verwirrt, dann schärfte sich jedoch schlagartig sein Blick und es sprang derart flink zur Seite, dass ich ihm im ersten Moment mit den Augen fast nicht folgen konnte. Die schwarz-gelbe Kapsel, die doppelt so effektiv sein sollte wie ein gewöhnlicher Pokéball, ging um Meilen fehl. Ich wollte gerade den nächsten Hyperball aus meinen Beutel kramen, ich hatte immerhin genau für solche Fälle, in denen mir ein seltenes Pokémon über den Weg lief, einen kleinen Vorrat angelegt, als plötzlich eine wütende Stimme nach mir rief.

    »Hey, was denkst du eigentlich, was du da tust?! Lass mein Victini in Ruhe!«

    Verdutzt wandte ich mich in die Richtung, aus der der verärgerte Schrei gekommen war und aus der nun eine junge Frau etwa in meinem Alter gerannt kam. Das Victini eilte zur ihr und kletterte geschickt an ihr hinauf, um schließlich auf ihrer Schulter sitzen zu bleiben, wobei es sich mit einer Pfote an ihrem langen, dunkelbraunen Haar festhielt, nur Sekunden, bevor ich mich mit einem unheimlich zornigen Blick aus azurblauen Augen unter einer rot-weißen Cap konfrontiert sah. Offenbar hatte ich einen Fehler begangen – das Victini war kein wildes gewesen, sondern gehörte anscheinend dieser Trainerin.

    Denn eine Trainerin musste sie zweifellos sein, wenn sie ein so starkes und seltenes Pokémon besaß, auch wenn ich gerade keine Pokébälle an ihr sah. Dabei fiel mir auf, dass sie ziemlich sommerlich gekleidet war, dafür, dass bereits der tiefste Herbst hereingebrochen war. Sie trug lediglich eine ärmellose, schwarze Weste über ihrem weißen Top, und zeigte genug Bein, um mich beim bloßen Anblick zum Frösteln zu bringen… und zum Erröten. Letzteres lag vielleicht aber auch an ihrer schlanken, sportlichen Figur. Würde sie mich nicht gerade so wütend ansehen, hätte ich sie sogar als attraktiv bezeichnen können.

    Nun wich ich allerdings in abwehrender Haltung vor ihr zurück und versuchte, mich zu erklären. »Tut mir leid, ich dachte…«

    »Dass du einfach so mein Victini fangen kannst?«, ließ sie mich nicht ausreden. »So etwas kann als Diebstahl durchgehen! Sei froh, dass ich dich nicht anzeige!«

    »Anzeigen? Mach mal halblang!« Damit hatte sie mich jetzt auch verärgert. Mich dafür zu entschuldigen, voreilige Schlüsse gezogen zu haben, war kein Problem, aber mit Pokémon-Dieben wie Team Plasma oder den Jägern im Ewigenwald wollte ich auf keinen Fall in einen Topf geworfen werden. Dieses Mädchen reagierte völlig über! »Ich habe nicht versucht, dein Victini zu stehlen, kein Grund, gleich so wütend zu werden! Wenn es bereits an einen Pokéball gebunden ist, hätte es ohnehin nicht funktioniert.«

    »Nun…« Sie biss sich auf die Lippe und wandte nur ganz kurz den Blick ab, ehe sie mich jedoch fast noch energischer als zuvor ansah. »Mag sein, aber du hättest dich ja trotzdem erst umsehen können, ob seine Trainerin in der Nähe ist, bevor du Pokébälle auf es wirfst wie ein aggressives Bisofank!«

    »Wer ist denn hier gleich ausgeflippt und hat mit Vorwürfen um sich geworfen wie ein hyperaktives Flampivian?« Wir stierten uns gegenseitig an, genervt und verärgert. Fast wünschte ich mir, bei Bell und Cheren geblieben zu sein, auch wenn das bedeutete, dass ich Einkaufstüten tragen musste. Stattdessen musste ich mich hier mit diesem uneinsichtigen Mädchen herumschlagen!

    »Ich habe zwar keine Ahnung, wer du bist, aber du bist auch ein Trainer, oder?«, lenkte sie das unangenehme Gespräch plötzlich auf ein ganz anderes Thema. Schon bald wurde jedoch offenbar, worauf sie damit hinauswollte. »Dann gibt es eine ganze einfache Möglichkeit, diese Angelegenheit zu klären. Durch einen Pokémon-Kampf!«

    »Hu?« Hatte ich da gerade richtig gehört? Jetzt sprachen wir endlich dieselbe Sprache! Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Soll das eine Herausforderung sein?«

    »Worauf du Gift nehmen kannst, Victini-Dieb!« Sie streckte ihren rechten Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger auf mein Gesicht. »Du bist mein erstes Opfer heute!«

    »Ha! Nur zu, mit jemandem wie dir nehme ich es im Schlaf auf!«

    Und ehe ich michs versah, war auch schon mein Kampfgeist geweckt, sodass ich meinen gesamten Ärger in diesen kanalisieren konnte. Soll heißen, ich war motiviert, ich brannte auf dieses Duell. Sie hatte recht, das war der beste Weg, einen Streit zwischen Pokémon-Trainern zu lösen. Wir entfernten uns ein Stück weit voneinander, um Platz zu haben, und überlegten wahrscheinlich beide bereits, welches Pokémon wir einsetzen würden.

    Ob ich sie nun leiden konnte oder nicht, wenn sie ein Victini besaß, konnte sie nicht allzu schlecht sein, aber das musste nicht unbedingt etwas heißen. Es hatte schon totale Versager gegeben, die mit super-seltenen Pokémon gegen die Top Vier angetreten waren. Ein wahrlich talentierter Trainer gewann mit den Pokémon, die er mochte. Außerdem hatte ich Zwottronin, ein Pokémon des Wasser-Typs, das somit gut gegen das Feuer-Pokémon Victini war. Ich würde das schon schaukeln. Von einer eingebildeten Trainerin wie dieser würde ich mich jedenfalls nicht besiegen lassen.

    »Wir kämpfen eins gegen eins, kein Auswechseln, kein zweiter Versuch, geht das in Ordnung?«, rief sie mir zu, um kurz die Regeln abzuklären.

    Ich hatte nichts dagegen einzuwenden. »Ja, das passt so. Dann weiß ich auch schon, welches Pokémon ich einsetze. Zwottronin, du bist dran!«

    Ich wusste, dass mein erstes Pokémon ebenso motiviert war wie ich, und vermutlich wollte es auch wissen, wie es gegen das Triumphstern-Pokémon abschnitt, das manche auf dieselbe Stufe wie die Ritter der Redlichkeit stellten. Es würde sich schon zeigen, wie weit her es mit seiner Stärke war – Forscher konnten sich irren, vor allem bei Pokémon, die so selten waren, dass kaum jemand jemals eines zu Gesicht bekam.

    Doch anstatt ihr Victini in den Kampf zu schicken, holte meine Gegnerin stattdessen einen dunkelgrünen, mit einem schwarzen Muster versehenen Pokéball aus ihrer roten Umhängetasche – einen Finsterball, der in der Dunkelheit am besten wirkte – und warf diesen in die Luft. »Zeit für ein Sandsack-Training, Laternecto!«

    Das Pokémon, das sich daraufhin im blauen Licht materialisierte, erinnerte auf den ersten Blick ans obere Ende einer Straßenlaterne, sodass ich belustigt blinzelte. Hinter dem Glas – oder dem, was bei einer Laterne das Glas gewesen wäre, hier jedoch eine Art Plasmaschicht zu sein schien – brannte eine blaue Flamme, neben der zwei gelbe Augen glühten. Es hatte zwei schwarze, dünne Arme und schwebte gut zwei Meter über dem Boden.

    Ich zog meinen Pokédex zurate, der das Pokémon per visuellem Scanner erkannte und als Laternecto identifizierte, wie auch die Trainerin es genannt hatte. In der Folklore wurde es offenbar mit dem Verschlingen von Seelen kürzlich Verstorbener in Verbindung gebracht und galt als Unheilsbringer. Was mich aber vor allem interessierte, war der Typ – Geist und Feuer, das passte irgendwie. Eine interessante Kombination, und vorteilhaft für mich.

    »Bist du dir sicher?«, fragte ich vorsichtshalber nach. »Ein Feuer-Pokémon gegen ein Wasser-Pokémon? Solltest du nicht vielleicht zurück auf die Trainerschule gehen und dir die Typentabelle noch einmal ansehen?«

    »Kein Auswechseln, kein zweiter Versuch«, wiederholte sie nur, wobei sie nicht im geringsten verunsichert wirkte. »Das sind die Pokémon, mit denen wir kämpfen. Bereit?«

    Nun, wenn das so war. Ich würde mich nicht über einen geschenkten Sieg beschweren. »Jederzeit. Greif ruhig an, Ladies first.«

    »Ganz wie du willst«, hielt sie sich daraufhin nicht zurück und streckte eine Hand aus. »Irrlicht!«

    Sofort erschienen drei blaue Flämmchen vor Laternecto, die es sogleich in Zwottronins Richtung schoss. Ohne meiner Anweisung zu bedürfen, wich der hellblaue Otter geschickt aus, erst der einen Flamme, dann der nächsten, und schließlich brachte er sich mit einem gekonnten Rückwärtssalto auch vor der dritten in Sicherheit, die genau dort einschlug, wo er soeben noch gestanden hatte. Dann stieß Zwottronin sich umgehend nach vorne hin vom Boden ab und schnellte auf seinen Gegner zu, wobei ich ihm befahl, Kalkklinge einzusetzen, woraufhin es seine blau glühenden Muscheln zückte und in die Luft sprang, um dem Laternengeist zu zeigen, wie schmerzhaft eine Schneide aus Kalk und Wasser sein konnte.

    »Ausweichen.«

    Das gelassene Kommando kam nur Augenblicke vor dem Aufeinandertreffen der beiden Pokémon. Zuerst drehte sich Laternecto nur zur Seite, blitzschnell zwar, aber nicht so, dass es außer Reichweite war. Zwottronins erster Hieb ging fehl, doch es drehte sich sogleich, den Schwung dieses Fehlschlags nutzend, in der Luft um und ließ binnen eines Wimpernschlags den nächsten Schnitt folgen. Doch wieder kein Treffer – der Flammengeist wich nur minimal nach hinten, doch es war haargenau genug, um dem Angriff zu entgehen. Entweder war dieses Pokémon erstaunlich präzise, oder aber es hatte ein unverschämtes Glück.

    »Irrlicht!«, befahl die Trainerin erneut, und dieses Mal wurde der Otter mit den Klingenmuscheln auf voller Front erwischt. Da sich mein Partner noch immer in der Luft befand, konnte er nicht ausweichen und war seinem schwebenden Gegner somit hilflos ausgeliefert, als dieser erneut drei flackernde Flämmchen heraufbeschwor und sie auf Zwottronin hetzte. Blaues Feuer züngelte über die Haut des Wasser-Pokémon, während es zu Boden fiel, und verursachte einige üble Verbrennungen.

    Sie ist gut, stellte ich mit zusammengebissenen Zähnen fest. Oder zumindest ist ihr Laternecto nicht schlecht. Es ist schneller, als es aussieht.

    »Aber es ist noch nicht vorbei«, zischte ich leise, sodass sie mich nicht hören konnte, und fuhr dann lauter fort: »Greife aus der Distanz an! Aquaknarre! Lösche dieses armselige Flämmchen von einem Feuer-Pokémon aus!«

    Zwottronin knurrte zustimmend und sprang augenblicklich wieder auf. Das Feuer-Pokémon, gegen das es verlieren würde, musste erst noch geboren werden! Schon Sekunden später schoss ein Strahl kühlen Wassers mit hohem Druck auf Laternecto zu. Dieses Mal gelang es ihm nicht, vollends auszuweichen, stattdessen wurde einer seiner Arme getroffen, als es ein Stück nach unten schweben wollte. Dadurch wurde es unkontrolliert herumgewirbelt und stellte ein leichtes Ziel für die nächste Aquaknarre dar – das dachten mein Pokémon und ich zumindest.

    Doch als der zweite Wasserstrahl auf das scheinbar aus dem Gleichgewicht gebrachte Geist-Pokémon zu raste, fing es sich schlagartig wieder, nachdem seine Trainerin ihm zurief, sich näher an Zwottronin heranzuwagen, und segelte dann elegant um die Säule aus Wasser herum, als sei sie das Zentrum einer Wendeltreppe, die es hinabstieg, bis es sich direkt vor dem Gesicht seines Kontrahenten befand.

    »Und jetzt, Bürde!«, erfolgte auf der Stelle der nächste Befehl meiner Widersacherin, woraufhin Laternecto explosionsartig eine Art schwarzes Pulver in der Umgebung verstreute, das sich auf Zwottronins Verbrennungen absetzte und den Schmerz, den diese verursachten, anscheinend um ein Vielfaches intensivierte. Gepeinigt quiekend sank der Otter auf die Knie und rieb sich wie wild die Stellen, an denen das Pulver haftete, während der Feuergeist mehr als genug Zeit bekam, sich wieder in sichere Höhen zurückzuziehen.

    Verdammt!, schoss mir ein kurzer Fluch durch den Kopf, doch insgeheim fing mein Herz vor Aufregung an zu rasen. Mein Blick wanderte wie von selbst zu der jungen Frau mit dem Victini, das noch immer auf ihrer Schulter saß. Sie hatte ein Lächeln im Gesicht und wirkte unglaublich cool, wie sie ihr Pokémon mühelos durch den Kampf dirigierte und mich dabei wie einen kompletten Anfänger aussehen ließ. Ich erkannte nun, woher ihre Selbstsicherheit kam, trotz des Typnachteils. Diese Angelegenheit entpuppte sich als weit spannender, als ich erwartet hatte.

    Doch das spornte mich nur noch mehr an, mich auf keinen Fall geschlagen zu geben. Hier fing es gerade erst an – ich hatte noch viel mehr drauf!

    »Bürde ist effektiver, wenn der Gegner bereits durch Verbrennungen geschwächt wurde oder von Elektroattacken paralysiert oder ähnliches«, nahm sie sich nun sogar die Zeit, mir den Effekt ihrer vorherigen Attacke über das Feld hinweg zu erläutern. Sie stemmte die Hände in die Hüften, indes ihr Grinsen noch weiter anwuchs. »Na, was sagst du nun? Gibst du auf?«

    Ich erwiderte das Lächeln, behielt dabei aber aus den Augenwinkeln mein Pokémon im Auge, das sich langsam an die Schmerzen zu gewöhnen schien. Zwottronin war noch lange nicht besiegt. »Das heißt, ich muss einfach nur dieses Pulver loswerden, um die Effekte dieser Attacke aufzuheben? Nichts leichter als das. Zwottronin, in den Teich!«

    »Oh nein, so nicht!«, reagierte sie sofort. »Feuerwirbel!«

    Fast gleichzeitig setzten sich die Pokémon in Bewegung. Zwottronin schüttelte die Schmerzen ab, oder ignorierte sie wenigstens für kurze Zeit, um einen geradezu waghalsigen, jede Vorsicht in den Wind schlagenden Sprint in Richtung des kleinen Weihers hinzulegen, in dem es vorher geplanscht hatte. Laternecto dagegen begann, auf der Stelle zu rotieren, erst langsam, dann immer schneller, indes seine Arme rotes Feuer absonderten, das durch seine rapiden Drehungen um es herumzuwirbeln begann. Dann sackte es, schaurige Laute von sich gebend, schlagartig ab und sank dabei bis ins Wasser hinein, genau im selben Augenblick, als Zwottronin in den Tümpel hechtete.

    Keine Sekunde später erfüllte ein Zischen die Luft und kurz schlug mir ein heißer Luftzug entgegen, als der Feuerwirbel sich plötzlich ausbreitete und einen guten Teil des Wassers im Teich binnen weniger Momente verdampfen ließ, sodass sich dichter Nebel zwischen uns ausbreitete und unser Sichtfeld einschränkte. Doch ich vertraute meinem allerersten Pokémon, vertraute darauf, dass es diese Attacke unbeschadet überstanden hatte und nun aus dem Wasser heraus anzugreifen vermochte, nachdem ihm dieses die Linderung verschafft hatte, die es dringend benötigt hatte.

    »Noch einmal Kalkklinge!«, rief ich daher in die dichten Schwaden des Wasserdampfs hinein, darauf setzend, dass es mich hörte. »Bring es zu Ende!«

    Tatsächlich erklang daraufhin ein Geräusch, als würde etwas mit großer Wucht durch die Wasseroberfläche dringen, und keinen Wimpernschlag später wurde der Dampf zur Seite gefegt und gab den Blick auf Zwottronin frei, das mit seinen beiden aquamarinblauen Kalkmuscheln auf Laternecto zu schnellte, welches dieses Mal direkt von der sehr effektiven Attacke getroffen und zurück in die Luft geschleudert wurde, aus der es sich unbedachterweise hinab gewagt hatte.

    »Yeah, hervorragend!«, rief ich erfreut und streckte triumphierend einen Arm in die Höhe. »Jetzt hast du`s ihm gezeigt!«

    »Wusstest du, dass Verbrennungen die physischen Kräfte eines Pokémon deutlich einschränken können?« Synchron zu den ruhigen Worten seiner Trainerin drehte sich der Feuergeist in der Luft wieder um und fixierte Zwottronin aus seinen gelben Augen heraus. Es wirkte weder angeschlagen noch erschöpft. Wie in Zeitlupe hob meine Gegnerin einmal mehr ihre Hand in Richtung ihres Pokémon, noch immer die Gelassenheit in Person. Danach bedurfte es nur noch eines einzelnen Wortes. »Spukball.«

    Ich konnte nichts mehr tun. Ich wollte eine Anweisung rufen, aber es war bereits zu spät, sodass ich nur noch zusehen konnte – mein letztes Kommando in diesem Kampf brach halb ausgesprochen ab, als eine schwarze Kugel, die Laternecto blitzartig vor sich erschaffen hatte, mein Zwottronin so heftig von den Beinen fegte, dass es sogar seine geliebten Muscheln losließ. Es schlitterte über das vom kondensierten Wasserdampf befeuchtete Gras, eine Schneise aufgewühlter Erde hinter sich herziehend, und stand nicht mehr auf.

    Es war besiegt. Ich war besiegt. Wir hatten verloren.

    Zuerst verspürte ich einen Stich der Niedergeschlagenheit, dann aber, unmittelbar danach, einen der Sorge um mein erstes Pokémon, zu welchem ich nun hastig lief. Doch die Trainerin, der das Victini gehörte, wegen dem das alles überhaupt erst begonnen hatte, war zuerst dort. Sie hob Zwottronin sanft auf, das flackernd die Augen öffnete, und flößte ihm, ohne vorher meine Erlaubnis abzuwarten, ein wenig Pokémon-Medizin ein, die der Otter jedoch gehorsam schluckte, obwohl er für einen Moment ob des vermutlich bitteren Geschmacks das Gesicht verzog. Er kannte das schon und wehrte sich nicht, auch wenn es nicht ich war, der ihm den Trank verabreichte.

    »Hier«, sagte sie schließlich und drückte mir mein Pokémon vorsichtig in die Arme. »Es braucht jetzt vor allem Ruhe, denke ich, aber du solltest es trotzdem heute noch in ein Pokémon-Center bringen.«

    »Danke«, brachte ich etwas perplex hervor und berührte mit dem Pokéball kurz Zwottronins Kopf, um es in die Kapsel zurückzurufen. Es war ein seltsames Gefühl, als plötzlich das Gewicht von meinen Armen schwand. Danach musterte ich mit gerunzelter Stirn meine Gegnerin, die jetzt ihr Laternecto ebenfalls zurück in den Finsterball beorderte. Ich hatte sie für arrogant gehalten, aber sie hatte sich ohne zu zögern zuerst um das schwerer verletzte Pokémon gekümmert, obwohl es nicht ihr eigenes gewesen war. Sie war freundlicher, als sie aussah.

    »Und du dachtest wirklich, du könntest Victini fangen?«, meinte sie grinsend. »Netter Versuch.«

    Vergesst, was ich gesagt habe, sie war mir doch unsympathisch. Aber sie hatte gewonnen, offen und ehrlich, und ich hätte es wahrscheinlich auf ähnliche Weise ausgekostet – der Sieger hatte immerhin ein Recht darauf, seinen Triumph zu genießen, auch wenn es meist auf die Kosten des Verlierers ging. Seufzend kratzte ich mich am Hinterkopf. Es war mein erster Kampf im zentralen Drittel Einalls gewesen, und ich hatte kläglich versagt, ihr Laternecto hatte kaum Schaden genommen. Kein Wunder, dass sie mich nicht für fähig hielt, ein seltenes Pokémon wie Victini einzufangen.

    Auf einmal reichte sie mir die Hand. »Wir haben uns noch gar nicht gegenseitig vorgestellt. Mein Name ist Kyra. Kyra Estia. Du hast es vielleicht schon bemerkt, aber ich bin Pokémon-Trainerin.«

    Ich betrachtete ihre dargebotene Hand einen Augenblick lang skeptisch, ergriff sie dann aber. »Black Averon. Ebenfalls Pokémon-Trainer.«

    »Und noch dazu gar kein so übler«, folgte ein unerwartetes Kompliment. Kyra ging zu der Bank, auf der ich vorhin gesessen hatte, und ließ sich darauf fallen, als sei es das Sofa in ihrer Wohnung. Die Arme breitete sie gemütlich über die Rückenlehne aus. Ihr Victini verließ währenddessen die Position auf ihrer Schulter und fing stattdessen an, munter durchs Gras zu rennen. »Ich habe schon gegen schlechtere gekämpft.«

    »Das klang jetzt irgendwie nicht sehr nett«, grummelte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich war mir nicht sicher, ob sie noch etwas von mir wollte oder nur mit mir plauderte, weil ich eben immer noch hier war. Sollte ich gehen? Für gewöhnlich hielt ich mich nicht lange mit den Trainern auf, denen ich auf meinem Weg begegnete, aber für gewöhnlich wurde ich von denen auch nicht im Kampf derart vorgeführt und sie besaßen kein derart seltenes Pokémon. Ich für meinen Teil wollte jedenfalls mehr über sie und ihren winzigen Begleiter erfahren. Und nein, das hatte bestimmt nichts damit zu tun, dass ich sie attraktiv fand. Vermutlich.

    »Jetzt hab dich mal nicht so, Black.«, meinte sie in einem Ton, als seien wir schon seit Langem befreundet. »Ich darf dich doch Black nennen, oder? Die Sache ist erledigt, es macht keinen Sinn, sich von einer kleinen Niederlage so sehr die Laune trüben zu lassen. Und ich meinte das ernst, ich finde, dass du gut bist, der Kampf war spannend – nicht jeder hält der Irrlicht-Bürde-Kombo meines Laternecto stand.«

    »Du hast leicht reden, Kyra.« Ich entschied mich, das Gespräch noch nicht zu beenden und setzte mich stattdessen unaufgefordert neben sie auf die Bank, ehe ich ihr einen kecken Blick zuwarf. »Ich darf dich doch Kyra nennen, oder? Trittst du immer mit Pokémon mit benachteiligtem Typ an, um deine Gegner zu demütigen?«

    Sie zuckte daraufhin nur mit den Schultern. »Das hatte nichts mit dir zu tun. Alle meine Pokémon haben eine Schwäche gegen Wasser.«

    »Alle?«, wiederholte ich verdutzt. Meine Augen schweiften zu Victini, dann zu der roten Tasche, in der sie ihren Finsterball wieder verstaut hatte. »Du willst damit doch nicht etwa sagen…«

    »Dass sämtliche meiner Pokémon vom Typ Feuer sind?« Sie hob eine Augenbraue und lachte. »Genau so ist es! Ich trainiere ausschließlich Feuer-Pokémon. Und ich werde ausschließlich mit Feuer-Pokémon die Top Vier und den Champ besiegen.«

    Das ist unmöglich. Das war es, was mir als erstes durch den Kopf schoss. Mit nur einem einzigen Typen kam man niemals gegen sämtliche Top Vier an, aber ich hatte gesehen, dass sich zumindest ihr Laternecto auch gegen Pokémon behaupten konnte, gegen die es im Nachteil war, und selbst besagte Top Vier hatten sich allesamt nur auf eine Art von Pokémon spezialisiert. War es also tatsächlich möglich, auf diese Weise Champ zu werden? Nein, ich glaubte es nicht, denn letztlich wurden einzelne Mitglieder der Top Vier immer wieder von Trainern mit gemischten Teams besiegt, und der seit Jahren amtierende Champ, Lauro Selvaro, nutzte ebenfalls verschiedene Typen.

    »Ich kenne diesen Blick«, meinte Kyra, obwohl sie mich nur aus den Augenwinkeln ansah. »Du hast gerade selbst erlebt, wie wunderschön und gefährlich das Feuer sein kann, aber trotzdem zweifelst du an seiner Macht. Zweifelst daran, dass ich Champ werden kann. Was macht dich so sicher, dass man nicht mit nur einem einzigen Typ gewinnen kann?«

    Sie hatte recht, ich hegte Zweifel, obwohl ich gesehen hatte, wozu sie imstande war. Aber eine gute Trainerin zu sein und die Top Vier zu besiegen, das ging nicht unbedingt miteinander einher. Es gab genug gute Pokémon-Trainer, die schon gescheitert waren, ehe sie überhaupt Fuß in die Siegesstraße gesetzt hatten. Aber Leute wie sie, die sich nur auf eine bestimmte Auswahl von Pokémon beschränkten, sei es nun ein Typ oder irgendeine andere Eigenschaft, machten sich die Dinge nicht gerade leichter.

    »Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich auf dich herabblicke. Außer den Arenaleitern und meinem Rivalen bin ich auf meiner Reise noch keinem so starken Pokémon-Trainer begegnet wie dir.« Das sagte ich zwar, aber ihrer Miene war deutlich zu entnehmen, dass sie nur auf das Aber wartete, welches ich dann auch ohne weitere Umschweife lieferte. »Nur legst du dir damit nicht selbst unnötige Einschränkungen auf?«

    »Sag mir eines, Black Averon«, entgegnete das braunhaarige Mädchen darauf. »Befinden sich in deinem Team Pokémon, die du nicht ausstehen kannst? Oder würdest du eher behaupten, all deine Pokémon sind solche, die dir gefallen, die du vielleicht niedlich oder cool findest, oder elegant? Was ist also der Unterschied? Du benutzt deine Lieblingspokémon, ich die meinen. Nur sind sie bei mir eben alle Feuer-Pokémon. Weil ich das Feuer liebe.«

    »Nun ja… das ist ein Argument, schätze ich.« Ich dachte kurz darüber nach und stellte fest, dass ich exakt nachvollziehen konnte, was sie damit meinte. »Wenn ich es also zum Beispiel ablehne, ein Branawarz einzusetzen, weil es mir nicht gefällt, obwohl es ein starkes Pokémon ist und zudem eine gute Option gegen Feuertrainer wie dich… dann schränke ich mich selbst ebenfalls ein, weil ich bestimmte Pokémon bevorzuge. Du hast recht, es macht im Grunde keinen Unterschied.«

    »Siehst du?«, sagte Kyra in selbstzufriedenem Ton und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, um den wohligen Sonnenschein zu genießen, der momentan durch eine Lücke in der Wolkendecke fiel.

    »Trotzdem ändert das nichts daran, dass du nur einen Typen benutzt und damit im Nachteil bist, wenn du mal auf jemanden mit zum Beispiel einem wirklich starken Wasser- oder auch Gestein-Pokémon triffst«, gab ich mich dann doch nicht so leicht geschlagen. Ich fing an, Spaß an dieser kleinen Diskussion zu haben. »Außerdem besteht da noch immer das Problem, dass ich vor dir Champ werde und damit all deine Aussichten auf den Titel dahin sind.«

    Sie öffnete nur ein Auge. »Du hast schon bemerkt, dass ich dich vor nicht einmal fünf Minuten erst gründlich fertiggemacht habe? Wie viele Orden hast du überhaupt?«

    »Zwei«, gab ich zu. Es war nicht die höchste Zahl, aber es war immerhin ein Anfang. »Ich arbeite dran. In drei Tagen habe ich einen Termin in der hiesigen Arena.«

    »Ha!« Ein kurzer Handgriff in ihre Umhängetasche, und schon förderte sie eine Ordensbox nicht unähnlich der meinen zutage, allerdings in rot-schwarzer anstatt blau-schwarzer Färbung, und ließ sie aufklappen, sodass ich ihre Orden sehen konnte. Ganze fünf metallene Abzeichen funkelten im Sonnenschein, von denen ich vier noch nicht kannte, lediglich den Grundorden aus Septerna besaß ich ebenfalls. »Was sagst du jetzt?«

    Ich pfiff erstaunt durch die Zähne. Kein Wunder, dass sie so stark war. Sie hatte bereits mehr als die Hälfte der benötigten Orden, um gegen die Top Vier anzutreten. Ihr Selbstbewusstsein war kein bloßes Schauspiel, es war berechtigt. Dass ich noch nicht einmal halb so viele Orden besaß, zeigte nur, dass ich mich von Anfang an mit einer Gegnerin eingelassen hatte, die sich weit über meinem jetzigen Niveau befand. Hätte sie mir gleich gesagt, dass sie schon fünf Orden erkämpft hatte, hätte ich es mir wahrscheinlich zweimal überlegt, gegen sie anzutreten. Allerdings… wenn ich so recht darüber nachdachte, hätte ich es womöglich nur als Herausforderung angesehen, die es zu bewältigen galt, und es dennoch versucht.

    Nun, es wurde mir jedenfalls mehr und mehr bewusst, auf was für eine erstaunliche Trainerin ich da gestoßen war. Sie verfügte über fünf Orden, hatte eines der seltensten Pokémon Einalls gefangen und mir die wahrscheinlich gravierendste Niederlage meines bisherigen Trainerdaseins eingebracht – innerhalb weniger Minuten war mir nun in aller Ausführlichkeit vor Augen geführt worden, wie weit ich noch davon entfernt war, an der Spitze der Pokémon-Trainer dieses Landes zu stehen.

    Dennoch erhob ich mich mit neu erwachter Entschlossenheit und zu Fäusten geballten Händen. »Das ist nur noch ein Grund mehr, nicht aufzugeben. Bald hole ich mir meinen dritten Orden, und dann werde ich schneller zu dir aufgeschlossen haben, als du Hydragil sagen kannst!« Abrupt drehte ich mich zu der jungen Frau um, die noch immer lässig auf der Bank lümmelte und nur mit mäßigem Interesse in den Augen zu mir aufsah. »Kyra Estia! Ich werde dich besiegen. Darauf hast du mein Wort, ganz egal, wie gut du als Pokémon-Trainerin bist.«

    »Ass-Trainerin, um genau zu sein«, korrigierte sie unbeeindruckt. »Der Titel ist wichtig, ich habe immerhin hart dafür gearbeitet, mich so nennen zu dürfen.«

    »Das auch noch?!« Es wurde immer verrückter mit ihr. Jetzt wollte sie mir also tatsächlich sagen, dass sie auch noch einen Ass-Trainer-Abschluss hatte? Das hieß, dass sie bereits im Alter von Fünfzehn ein Jahr lang unter schulischer Beaufsichtigung durch Einall gereist war, dabei regelmäßige Tests inklusive einer schwierigen Abschlussprüfung mit Theorie- und Praxisteil bestanden hatte, um schließlich bereits mit sechzehn Jahren ihre richtige Pokémon-Reise antreten zu dürfen… und wenn ich ihr Alter richtig einschätzte, dann musste sie nun bereits siebzehn oder achtzehn sein, was bedeutete, dass sie mir in Sachen Erfahrung noch viel weiter voraus war, als ich gedacht hatte, wenn sie tatsächlich schon seit zwei oder drei Jahren ihre eigenen Pokémon trainierte.

    Das war es also. Meine erste Begegnung mit einer echten Ass-Trainerin, und sie wurde diesem Titel, auf den sie bestanden hatte, mehr als gerecht. Kyra Estia. Ich bereute es definitiv nicht, mich von Bell und Cheren davongeschlichen zu haben. Jemanden, der so beeindruckend war wie Kyra, traf man immerhin nicht alle Tage, und allein der Anblick von Victini entschädigte mich ohnehin schon für die Niederlage.

    »Vici-vic?« Wo wir gerade bei Victini waren, es kam soeben näher und schnupperte vorsichtig an meinem Bein. Ich beugte mich zu ihm hinunter und wollte es hinter den Ohren kraulen, doch es ergriff sofort die Flucht und versteckte sich hinter seiner Trainerin. Die schmunzelte milde. »Es fasst nicht schnell Vertrauen zu Fremden. Aber glaub mir, es mag dich. Sonst hätte es sich gar nicht so nahe an dich herangewagt. Du solltest froh darüber sein, nachdem du es ja zuerst mit einem Ball beworfen hat.«

    »Sorry deswegen nochmal.« Ich rieb mir verlegen den Hinterkopf und fragte sie dann nach ihrem kleinen Feuernager. »Darf ich fragen, wo du ein Victini entdeckt hast? Ich meine, nicht einmal anerkannte Pokémon-Koryphäen sind sich sicher, wo genau in Einall man Victini findet. Ich habe mal gelesen, dass es wahrscheinlich nur wenige Exemplare hierzulande gibt, oder sogar weltweit.«

    Kyra zwinkerte verschwörerisch und stand nun ebenfalls auf, was das momentane Thema der Konversation dazu veranlasste, es sich wieder auf ihrer Schulter bequem zu machen. »Wer weiß, wer weiß? Ich denke, ich habe das Recht, diese Information mein kleines Geheimnis sein zu lassen. Wenn du auch ein Victini haben willst, musst du schon selbst eines ausfindig machen. Aber wie du schon sagtest, es gibt nur sehr wenige. Also dann…« Sie kraulte ihr genüsslich fiependes Victini beiläufig unterm Kinn und wollte offenbar gehen. »War nett, mit dir zu plaudern, Black. Wir sehen uns bestimmt mal wieder.«

    »Äh… ja, auf Wiedersehen«, erwiderte ich, obwohl ich noch viel mehr Fragen an sie hatte, doch sie ging an mir vorbei und würde jeden Moment um die nächste Biegung des schmalen Weges hinter jener Baumgruppe verschwinden, von der sie und ihr Victini zu Beginn gekommen waren.

    Eigentlich war es nicht mehr als eine weitere von zahlreichen Zufallsbegegnungen entlang meiner Reise. Es war nicht das erste Mal, dass ich jemanden getroffen und gegen ihn gekämpft hatte, ehe wir wieder unserer Wege gezogen waren. Nur war dieses Mal irgendetwas anders. Lag es wirklich nur an ihrem super-seltenen Pokémon? War es ihre Stärke, die mich veranlasste, sie auf jeden Fall wiedersehen zu wollen? Ihre Überzeugung, nur mit Feuer-Pokémon zur besten Trainerin Einalls werden zu können? Oder spielten schlichtweg meine Hormone verrückt, weil ich sie hübsch fand? Mehr als nur hübsch…

    Ich vermochte all diese Fragen nicht zu beantworten, aber ich streckte wie von selbst meine Hand nach ihr aus, weil ich plötzlich Angst bekam, sie nicht noch einmal zu treffen, sobald sie aus meinem Sichtfeld verschwand. »Kyra!«

    Sie blieb tatsächlich stehen, als ich nach ihr rief, und drehte sich mit fragender Miene nach mir um. Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Deine Nummer! Ich meine… du hast einen Viso-Caster am Handgelenk. Kann ich… deine Nummer haben?«

    Das Kichern, das sie daraufhin von sich gab, wirkte amüsiert… ich hoffte jedenfalls, dass es nur Amüsement war. »Du sagtest, du hättest in drei Tagen einen Kampf gegen Artie? Wie viel Uhr?«

    »Ähm…« Das war natürlich nicht die Antwort, die ich mir erhofft hatte, aber zum Glück auch nicht die, die ich befürchtet hatte. Und bedeutete das nicht, dass sie in Betracht zog, dort zu erscheinen? Weshalb würde sie sonst danach fragen? »Vier Uhr nachmittags. Warum…?«

    »Vielleicht komme ich vorbei und sehe mir an, ob du hältst, was du mir versprochen hast.« Das war die einzige Erklärung, die ich am heutigen Tag von ihr bekam. »Wenn du Artie auf Anhieb besiegst, dann bin ich vielleicht bereit, dich als meinen Rivalen zu akzeptieren.«

    Sie bildete mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand kurz ein Victory-Zeichen, ihr Victini tat es ihr synchron gleich, dann wandte sie sich wieder um und war kurz darauf verschwunden, sodass einzig die Spuren unseres Kampfes an ihre Anwesenheit erinnerten.


    107716-bd8fa1b4.pngIch kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.
    - Bilbo Beutlin -


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