Der große FanFiction-Neujahrs-Sprint

"Commander, das müssen Sie sehen! Irgendetwas geht auf der Erdoberfläche vor sich!", rief Blixnix und deutete auf den Planeten, in dessen Orbit sich sein Beobachtungsschiff befand.

Der Angesprochene kam näher und blickte hinunter. Tatsächlich, dort in der Atmosphäre in relativer Bodennähe leuchteten viele einzelne, explosionsartige Lichter auf.

"Was passiert dort nur?", fragte der Commander, der genauso wie der junge Offizier erst seit kurzem auf diesem Posten tätig war. "Blixnix, gibt es noch eine intakte Kamera am Boden?"

"Überraschenderweise, ja. Alle unbeschädigt, wie ich sehe." Blixnix schaltete ein Kamerabild aus einer der menschlichen Metropolen auf einen kleinen Bildschirm. Ein dichter Nebel lag über dem Asphalt, so dicht, wie die beiden Beobachter ihn noch nie zuvor gesehen hatten. Immer wieder sahen sie die Lichter von explodierendem Schwarzpulver, während laute Kanonenschläge die Nacht erzittern ließen.

"Hat etwa irgendjemand das interplanetare Abkommen gebrochen?", überlegte Blixnix laut.

Der Commander wusste ebenfalls nicht weiter. "Aber dann müssten die Menschen doch in Panik geraten. Sie stehen seelenruhig da und betrachten die Explosion. Sind unsere Einschätzungen über ihre Lebensweise falsch?"

"So muss es wohl sein", schlussfolgerte Blixnix. "Sie würden doch nicht selbst ihren Planeten sprengen."

Tomomi stieg aus dem Bus und trat hinein in die milde Kälte des Herbsttages. Die Straße, an der er nun stand, war von Bäumen gesäumt, die bereits ihre ersten braunen Blätter verloren hatten. Dann und wann frischte der Wind auf und ließ das am Boden liegende Laub durch die Luft wirbeln.

Tomomi hatte sich während der Busfahrt die Strecke von der Haltestelle zu dem Haus, in dem Alina Prauss bis vor Kurzem mit ihrem Vater gewohnt hatte. Tomomi würde erst Alinas Vater befragen und sich dann um die Familie von Alinas Freundin Kira kümmern. Langsam schritt er voran, mal hierhin, mal dorthin blickend. Es galt wachsam zu sein, denn wie alle sagten: Dies waren unsichere Zeiten. Aber nichts sagte Tomomi, dass jemand von der Gegenseite in der Nähe war, und entsprechend konnte auch niemand hier sein, denn sein Gespür konnte nicht geblockt werden. Trotzdem sagte das nicht viel – ein anderer Aufspürer oder gar Vollstrecker würde ohnehin erst dann für ihn bemerkbare Anzeichen hinterlassen, wenn er in seiner unmittelbaren Nähe war.

Eine Frau mit Hund lief an ihm vorbei und Tomomi fiel auf, dass das Tier – ein Dackel – leicht übergewichtig war. Er überlegte, ob er etwas sagen sollte, doch entschied sich dagegen. Die Leute hörten nie gerne die Wahrheit.

Nach ein paar Minuten kam er an dem Haus an, einem kleinen Bau mit ehemals weißen und nunmehr eher schmutzig-grauen Wänden. Der Vorgarten davor wirkte ungepflegt. Ein alter und leicht verdreckter Volvo stand in der Einfahrt zu einer Garage.

Friedrich Prauss war arbeitslos, das wusste Tomomi. Seine Eltern waren vor einigen Jahren schon gestorben und hatten ihm Einiges hinterlassen, von dem er sich ein relativ angenehmes Leben in diesem ebenfalls geerbten Haus ermöglichen konnte. Und doch wirkte alles hier so vernachlässigt.

Die Türklingel schrillte laut in der Stille des Nachmittages. Tomomi hörte Schritte, unbeständig, fast wankend, dann ein leises Gegrummel und schließlich, wie jemand offenbar eine Türkette vorlegte. Anschließend wurde die Tür so weit geöffnet, wie die Kette es zuließ.

Friedrich Prauss war ein unrasierter Mann Mitte Vierzig, groß und mit einem kantigen Gesicht. Seine Augen wirkten nicht ganz fokussiert, und von ihm ging ein starker Geruch nach Alkohol aus.

„Ja?“, fragte er heiser. „Was wollen Sie?“

Tomomi antwortete nicht gleich, sondern ließ seine Augen einmal rasch über sein Gegenüber huschen. Prauss trug eine fleckige Jeans und ein zerknittertes kariertes Hemd. Er war vermutlich nicht sehr haushaltsaffin.

„Was wollen Sie?“, fragte Prauss noch einmal.

Tomomi griff in die Innentasche seiner Jacke und zog einen gefälschten Ausweis hervor. Wortlos hielt er ihn dem Mann unter die Nase.

„Polizei? Schon wieder?“, fragte Prauss. „Waren doch schon welche hier, also nachdem Alina abgehauen ist.“ Er musterte Tomomi misstrauisch. „Sie waren aber nicht dabei. An ’nen Chinesen würd’ ich mich erinnern.“

„Japaner“, verbesserte Tomomi. „Halb.“

„Wie auch immer. Warum sind Sie hier?“

„Ich wurde jetzt erst mit den Ermittlungen zum Verschwinden Ihrer Tochter und ihrer Freundin beauftragt“, antwortete Tomomi, „und ich möchte mir selbst einen Eindruck von der Lage machen.“ Im Grunde genommen war das nicht mal eine Lüge.

„Was soll das heißen?“

„Dass ich mir gerne das Zimmer ihrer Tochter ansehen würde. Und auch sonst alles, was mir etwas sagen kann.“

Prauss stöhnte, dann fragte er genervt: „Und was, wenn ich das nicht will?“

Tomomi starrte den Mann durchdringend an. Er bekam allmählich einen ganz bestimmten Eindruck, mit was für einer Art Mensch er es hier zu tun hatte.

„Dann müsste ich Ihre mangelnde Kooperationsbereitschaft vermerken“, sagte Tomomi und bemühte sich, seiner Stimme einen entschiedenen Klang zu geben. „Und mit einer gerichtlichen Anordnung wiederkommen.“ Tomomi hatte keine Ahnung, ob das ein realer Ablauf war, den ein Polizist in die Wege leiten würde. Aber er meinte, dass es wichtig klang, und dass Prauss sich nicht widersetzen würde. Zumal er sicher auch nicht den Eindruck machen wollen würde, als sei ihm seine Tochter egal.

Prauss verzog das Gesicht, dann schloss er wortlos die Tür, löste den Geräuschen nach zu urteilen die Kette und öffnete anschließend wieder.

„Kommen Sie rein“, murmelte er.

„Danke“, sagte Tomomi höflich.

Im Eingangsflur schlug Tomomi ein eher unangenehmer Geruch nach Alkohol, Zigarettenrauch und Schweiß entgegen. Zwei leere Bierkästen stapelten sich neben einer alten und ramponiert aussehenden Kommode. Eine Tür ging offenbar zu einem Badezimmer ab. An einigen Kleiderhaken an der Wand hingen drei Jacken, zwei offenbar in Prauss Größe und eine in der Größe seiner Tochter. Letztere war eine eher dünne Übergangsjacke, die vielleicht leichte Schauer abhalten konnte und eine Kapuze hatte. In heftigem Regen würde sie aber schnell durchweicht werden.

Tomomis Blick wanderte zu der Kommode. Auf ihr stand ein Aschenbecher, der geradezu überquoll mit Zigaretten. Einige Kippen lagen daneben. Tomomi täuschte ein Stolpern vor und fiel hin, wobei er einen Blick unter die Kommode warf. Auch darunter lagen Zigaretten, und eine Bierflasche ebenfalls, die wohl irgendwann mal daruntergerollt sein musste. Die Tatsache, dass auf ihr bereits eine Staubschicht zu sehen war, ließ vermuten, dass es länger her sein musste.

„Alles okay?“, fragte Prauss, ohne Anstalten zu machen, Tomomi aufzuhelfen.

„Ja“, versicherte Tomomi hastig. „Bin bloß gestolpert, Entschuldigung.“

Prauss schnaubte nur und führte Tomomi vorbei an einer Küche zu einer Treppe, die in ein oberes Stockwerk führte. Neben der Treppe ging es offenbar in ein Wohn- sowie Esszimmer und von da aus in einen Garten, der hinter dem Haus lag. Auf dem Esstisch stand ebenfalls ein gut gefüllter Aschenbecher. Der Fernseher lief und zeigte irgendeine Sitcom, die Tomomi nicht kannte. Der Boden der Wohnung war nicht geputzt und schmutzig, die Wände mit einer ebenfalls nicht mehr ganz weißen Raufasertapete verkleidet, die sich in einigen Ecken abzulösen schien.

„Die Schlafzimmer sind oben“, meinte Prauss und führte Tomomi die Treppe hoch. Prauss Gang war leicht schwankend, beim Hochgehen hielt er sich am Geländer fest. Seine Hand schien dabei leicht zu zittern.

Oben angekommen war der Treppe gegenüberliegend offenbar ein weiteres Badezimmer. Ein Flur führte entweder nach links oder nach rechts in jeweils ein Zimmer. Unmittelbar gegenüber der Treppe war eine offenstehende Tür, hinter der ein Badezimmer lag. Der Untergrund hier war ein hellbrauner und fleckiger Teppichboden. Eine Klappe in der Decke des Stockwerks führte offenbar zu einem Dachboden.

Prauss führte Tomomi nach links zu einer Tür, an der außen ein Plakat von irgendeiner Band klebte. Tomomi machte ein Foto davon mit seinem Smartphone, auch wenn er nicht glaubte, dass es relevant würde.

„Ihre Kollegen kamen mit Kameras. Also echten, nicht nur Handys“, meinte Prauss.

„Ich gehe mit der Zeit“, sagte Tomomi nur.

„Das ist jedenfalls Alinas Zimmer“, erwiderte Prauss überflüssigerweise. „Sehen Sie sich ruhig um, ich bin unten.“

„Augenblick“, sagte Tomomi.

Widerwillig blieb Prauss stehen.

„Was genau ist passiert, als Alina abgehauen ist?“, fragte Tomomi. „Meine Kollegen erzählen etwas … Merkwürdiges.“

„Merkwürdig, allerdings“, gab Prauss zurück und fuhr sich durch das zerzauste Haar. „Weiß ja selbst gar nicht, was passiert ist. Ich habe mich mit Alina … gestritten, wissen Sie? Und plötzlich – ich weiß gar nicht wie oder warum – fliegt alles durch die Gegend und es ist überall – naja, Wind. Wie im Inneren von so einem Tornado oder so. Und das nächste, was ich weiß, ist, dass ich aufwache und mir alles wehtut.“

Luft.

„Aha“, meinte Tomomi und versuchte sich dabei den Klang einer Person zu geben, die die Geschichte nicht wirklich glaubte, aber den Eindruck zu erwecken tut, als würde sie alles ernst nehmen.

„Sie glauben’s mir auch nicht“, sagte Prauss verstimmt. „Aber naja, wie gesagt, ich weiß ja auch nicht, was los war. Und vielleicht hab ich ja auch Halluzinationen gehabt. Vielleicht hatte ich an dem Tag einfach ein bisschen zu viel …“ Er verstummte. „Ein bisschen zu wenig Schlaf gehabt“, schloss er lahm.

Was er eigentlich hatte sagen wollen, war offensichtlich, und Tomomi hakte nicht weiter nach, sondern nickte einfach nur und sagte Prauss, dass dieser jetzt gehen konnte, wenn er wollte.

Dieser nickte und verschwand die Treppe hinunter. Tomomi ahnte, dass er zur nächsten Flasche rennen würde, aber es war ihm eigentlich ganz recht, wenn er dadurch selber ungestört war. Er öffnete die Tür von Alinas Zimmer und trat ein.

Der Raum bildete einen angenehmen Kontrast zu der sonstigen Wohnung. Zwar war die Tapete hier ebenfalls stark angegraut, doch waren einige große rote Muster darauf gemalt worden – die unsauberen Ränder deuteten darauf hin, dass es keine Profis gewesen waren, die das getan hatten, und gemessen an der Leuchtkraft der Farbe konnte es nicht allzu lange her sein, vielleicht ein Jahr. Wahrscheinlich war Alina es selbst gewesen, die das getan hatte.

Rot.

An den Wänden hingen außerdem ein paar Poster von der gleichen Band wie an der Tür, und eine gerahmte Pinnwand aus Kork, an die mit Reißzwecken Notizen und vereinzelte Fotos geheftet worden waren. Das Zimmer enthielt ein paar einfache Möbel, wie man sie erwarten würde – ein großes Bett mit einem Nachttisch, ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch mit einem Computerbildschirm darauf, ein Bücherregal. Kein Fernseher. An der Decke, die an den Seiten bedingt durch das Hausdach schräg abfiel, hing eine Schirmlampe mit einer trübe und alt aussehenden Glühbirne.

Tomomi stellte sich in die Mitte des Zimmers, schloss die Augen und öffnete sie dann wieder.

Die Pinnwand.

Die Notizzettel an der Pinnwand sagten Tomomi nichts. Sie erinnerten zum Teil an Termine, die schon vor ein paar Wochen gewesen waren. Von den Fotos hatte möglicherweise die Polizei schon einige mitgenommen. Die verbliebenen zeigten praktisch ausschließlich Alina mit einer anderen Person, die Tomomi als Alinas Freundin und das andere verschwundene Mädchen Kira Rexing erkannte. Auf den Hintergründen der Fotos war nichts Auffälliges zu sehen – vermutlich waren sie hier in der Gegend aufgenommen worden.

Der Schreibtisch.

Alinas Arbeitsplatz zierte ein mittelgroßes Chaos. Einige Bücher und Hefte waren sauber gegen das neben dem Schreibtisch stehenden Regal gelehnt, ein paar mit Schulaufgaben bekritzelte Zettel aber lagen verstreut auf der Platte. Darüber lag ein Mathematikbuch.

Tomomi besah sich die Bücher und Hefte auf dem Schreibtisch. Alina hatte jeweils ihren Namen und ihre Klasse darin eingetragen. Als Tomomi alles durchblätterte, fand er jedoch nichts, was von Interesse gewesen wäre.

Das Regal.

In dem Bücherregal standen hauptsächlich – der eigentlichen Funktion gemäß – Bücher. Lediglich auf einem Regalbrett lagen ein paar glitzernde Steine und Muscheln. Zwischen ihnen war nicht viel Staub, jedenfalls nicht mehr, als sich seit Alinas Abwesenheit hier hätte bilden können.

Tomomis Blick wanderte über die Buchrücken. Es waren einige Schulbücher, ein paar Krimis, die er selbst kannte und diverse andere Romane unterschiedlicher Genres. Tomomis Blick blieb an zwei Lücken hängen. Er nahm das Mathematikbuch vom Schreibtisch und schob es probehalber in die breitere davon hinein – es passte perfekt. Anschließend durchsuchte er die Schreibtischschubladen nach dem Buch, das in die andere Lücke passen könnte. Nichts. Er durchwühlte das Bett und drehte das Kopfkissen um. Nichts. Er legte sich auf den Boden und schaute unter den einzelnen Möbeln nach, doch außer einem alten Flummi und jeder Menge Staub fand er auch hier nichts.

Ein Buch fehlt.

Zuletzt warf er einen Blick in den Kleiderschrank.

Keine Regenjacke.

Tomomi schloss die Augen und dachte kurz nach. Er musste noch gucken, ob das fehlende Buch vielleicht woanders im Haus war. Aber vorher war da noch etwas, das … Er ging wieder zum Bücherregal.

Der Atlas.

Er zog das große Buch hervor, nahm es in die Hand und schlug es vorsichtig auf. Es öffnete sich fast automatisch auf einer ganz bestimmten Seite, die offenbar öfter aufgeschlagen worden war.

Nordfrankreich.

Tomomi besah sich die Seite genauer. Dort, auf dem roten Symbol, das Paris darstellte, war ein kleiner schwarzer Punkt, ganz so, als hätte jemand mit einem Kugelschreiber darauf getippt. Vielleicht Zufall, vielleicht …

Tomomi blätterte einmal durch den Atlas, schnell, aber jede Seite genau betrachtend. Nichts anderes hieran war auffällig. Er stellte das Buch wieder ins Regal und verließ das Zimmer, um das Badezimmer und den anderen Raum des oberen Stockwerks anzuschauen. In ersterem lag kein Buch, und was das zweite Zimmer hier oben betraf, so glich dieses mehr einer Rumpelkammer mit alten Regalen, einem Tisch und einem alten Babybett sowie einem angerosteten Wäscheständer, doch auch hier war kein Buch.

Tomomi ging hinunter und fand Prauss vor dem laufenden Fernseher, eine Bierflasche in der Hand.

„Herr Prauss?“

„Hrhm?“, machte der Mann.

„Wissen Sie zufällig, ob hier unten irgendwo ein Buch von Alina liegt?“

Prauss sah ihn missmutig an. „Ne, weiß ich nicht. Allerdings hab ich Alina immer gesagt, sie soll hier nichts von ihrem Zeug rumliegen lassen. Daran hat sie sich normal immer gehalten, weil sonst … Naja, ich hab mit ihr … geschimpft.“

Tomomi zog die Augenbrauen hoch, sagte aber zu dem letzten Teil nichts. Dafür war er nicht hier. „Ich bräuchte kurz Ihre Hilfe oben. In Alinas Bücherregal fehlt ein Buch und ich wollte sie fragen, ob sie erkennen können, welches.“

„Ich kenn doch nicht alle von Alinas Büchern“, erwiderte Prauss verächtlich.

„Nichtsdestoweniger muss ich Sie trotzdem darum bitten, es zu versuchen. Es wäre den Ermittlungen dienlich und ich glaube auch nicht, dass ich Sie danach noch länger werde belästigen müssen.“

Prauss schnaubte, hustete und stand auf. „Schön“, murmelte er genervt und kam mit, ohne die Flasche wegzustellen.

Wieder im oberen Stockwerk zeigte Tomomi Prauss die Lücke im Regal.

„Es kann kein allzu großes oder dickes Buch gewesen sein“, meinte Tomomi. „Das darüberliegende Regalbrett ist nicht sehr hoch, also kann das Buch selbst nicht höher als etwa eine dreiviertel Din-A4-Seite sein. Und die Lücke selbst ist nicht sehr breit. Außerdem ist es wahrscheinlich kein Schulbuch, denn die anderen stehen alle zwei Regalbretter darunter und wenn Alina die Bücher so sortiert hat, ergibt es keinen Sinn, ein Schulbuch dahinzustellen.“

„Hm“, machte Prauss. „Weiß nicht. Keine Ahnung, also …“ Er stutzte. „Ah. Ja, doch. Natürlich.“

„Was?“, fragte Tomomi.

„Das alte Tagebuch meiner Frau. Meiner verstorbenen Frau, um genau zu sein.“ Er nahm einen Schluck aus seiner Flasche. „Hab’s Alina vor einiger Zeit gegeben. Sie hat’s wahrscheinlich mitgenommen, zumindest seh ich’s hier nirgends.“

„Ein Tagebuch von Alinas Mutter? Was stand da drin?“

„Weiß ich nicht so genau. Amelia hat darin geschrieben, als sie studiert hat und alles Mögliche reingekritzelt, soweit ich weiß. Termine, Notizen, Gedichte, was sie erlebt hat, wenn sie gereist ist … All so was.“

Tomomi horchte auf. „Ist Ihre Frau mal in Paris gewesen?“

Prauss zog die Stirn in Falten. „Hm … Ja, glaube schon. Aber nicht nur da, auch wenn’s ihr wohl besonders gefallen hat damals.“

„Ich verstehe“, sagte Tomomi.

„Sie meinen doch nicht, dass …“ Prauss machte große Augen. „Dass Alina … Ich meine, nach Paris?“

„Ich weiß es nicht“, gab Tomomi zurück. „Noch nicht.“

Wie er Prauss gesagt hatte, hatte Tomomi danach in dem Haus nicht mehr viel zu tun. Er fragte noch, ob Alina andere Jacken gehabt hatte und Prauss bejahte dies, indem er auf eine Regenjacke verwies, die Alina aber offenbar mitgenommen hatte.

„Aber“, sagte er wieder unten im Hauseingang misstrauisch, „das haben Ihre Kollegen doch schon festgestellt.“

Tomomi täuschte ein Seufzen vor. „Und offenbar vergessen, mir mitzuteilen. Ich denke, ich muss ein Wörtchen mit ihnen reden.“

„Hm.“

„Da fällt mir ein“, fuhr Tomomi fort, „man hat mir gesagt, Alina hätte noch Sachen aus ihrem Kleiderschrank mitgenommen. Allerdings hat man mir nicht gesagt, ob sie eine Tasche oder einen Koffer damit gepackt hat oder etwas in der Richtung.“

Prauss lachte heiser. „Scheint, als sei ihr Haufen ziemlich unorganisiert. Ich hab Ihren Leuten gesagt, dass so eine schwarze Sporttasche von ihr fehlte. Von Adidas. Und ihr Schulrucksack.“

„Den Rucksack hat man mir gegenüber erwähnt“, log Tomomi. „Aber ich dachte mir, dass nur ein Rucksack zu wenig Stauraum hätte.“

Prauss zuckte die Achseln und Tomomi wandte sich zum Gehen. „Ich bedanke mich für Ihre Mithilfe“, sagte er zu Prauss.

„Kein Ding“, erwiderte Prauss und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Sie … Sie werden Alina doch finden, oder?“

Tomomi runzelte die Stirn. „Ich kann nichts versprechen“, sagte er ruhig. „Aber normalerweise finde ich, wen ich suche.“

„Ja, also, deswegen …“ Prauss fuhr sich nervös mit der Zunge über seine rauen Lippen. „Wenn sie, also wenn Alina irgendwas erzählt von wegen, ich hätte … Also, ich meine nur, sie erzählt gerne Dinge, wissen Sie?“

„Tatsächlich?“, fragte Tomomi.

„Ja … Was ich sagen will: Man muss nicht alles davon glauben, verstehen Sie?“

Tomomi sagte zunächst nichts. Prauss führte nervös die Bierflasche zu seinem Mund.

„Halt“, sagte Tomomi.

„Was?“, fragte Prauss.

„Lassen Sie das.“

„Was?“, fragte Prauss noch einmal.

„Die Trinkerei. Die ist nicht gut für Sie. Und für Ihnen nahestehende Personen offenbar auch nicht.“

Prauss wirkte verdutzt. Tomomi öffnete die Haustür.

„Ich bedanke mich noch einmal bei Ihnen für Ihre Mithilfe“, sagte er höflich. Er trat nach draußen in den ungepflegten Vorgarten des Hauses.

„Hören Sie“, fing Prauss an, der offenbar etwas Selbstsicherheit wiedergefunden hatte, „das ist nicht …“

Er verstummte, als Tomomi sich umdrehte. „Suchen Sie sich am besten Hilfe“, sagte er ruhig. „Ich bin nicht deswegen hier.“

Tomomi drehte sich um und ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Nach ein paar Schritten hörte er das Geräusch der ins Schloss fallenden Haustür. Es wäre naiv zu glauben, dass Prauss seine Trinkerei wirklich überdenken würde, das wusste Tomomi. Aber letzten Endes spielte es auch keine große Rolle, wenn sich ein einzelner Mensch in seinem Haus zu Tode soff. Seine Tochter würde er wahrscheinlich so oder so nicht wiedersehen.

„Und wir leben in unsicheren Zeiten“, murmelte Tomomi, während er den Gehweg entlangschritt, ohne wirklich zu realisieren, in welche Richtung er lief, auch wenn er trotzdem wusste, dass es die Richtige war.

“Nichts gegen die Knuddelmasse”, sagte Daru mit erhobenem Zeigefinger.

Mayuri kicherte. “Ja, du bist bestimmt ganz weich.”

Daru grinste. “Nicht alles an mir, Mayuri”, teilte er ihr mit einem süßlichen Grinsen mit, das die anderen würgen ließ.

“Stimmt, Daru hier hat einen ganz schön harten Dickschädel”, bestätigte Maho und klopfte ihm auf den Nacken, wo sie Daumen und Zeigefinger so gewaltvoll durch seine Haut zusammendrückte, dass Daru seine Schulter gegen sein Gesicht presste. “Das war es doch, worauf du anspielen wolltest, oder?”

“Ja, Ma’am”, brachte er gequält hervor und rieb sich die verletzte Stelle, als sie ihn endlich freigab. Als etwas seinen Arm streifte, duckte er sich instinktiv weg, doch statt eines feindlichen Angriffs beugte Maho sich nur nach vorn, um den Bildschirm genauer zu inspizieren.

“Hm. Sieht gar nicht mal so schlecht aus. Zumindest was den Code betrifft.” Mit geübtem Blick überflog Maho die Zeilen, bis ihre Augen die Abschnitte entdeckten, die ihr Interesse weckten. “Gib mal her.” Bevor Daru reagieren konnte, griff sie ohne wegzusehen nach der Maus und entriss dem Hacker die Kontrolle über seinen Cursor. Mit zielsicheren Klicks navigierte sie sich zum angezeigten Dateipfad und öffnete die Textdateien, in denen die Dialoge gespeichert waren. Eigentlich hatte sie ihn nur kurz überfliegen wollen, doch erst als die Buchstaben sich beim Drehen des Mausrades nicht mehr nach oben bewegten, kam sie wieder aus der virtuellen Realität des Protagonisten. Sie drehte ihren Blick zu Daru, der die Hände um eine kleine Animefigur gelegt hatte und mit ihr herumspielte, dass ihr beinahe der Kopf abzufallen schien. Ein Lächeln stahl sich auf Mahos Kopf, als sie sich fragte, ob sie wohl auch so war, wenn sie jemandem ihr Projekt präsentierte. Hm, wie drücke ich das jetzt aus…? “Daru, das ist gut. Und ich meine damit nicht ‘besser als der oberflächliche, generische Sex-Trash, der einem sonst so unterkommt’. Die Charaktere haben einzeln mehr Personalität als mancher Cast zusammen und ich habe nicht das Gefühl, dass ich nur einem weiteren Oberstufendchüler dabei zuschaue, wie er sich nicht zwischen seinem Harem entscheiden kann. Allerdings…” Sie sah einen Moment dabei zu, wie Darus unsicheres Lächeln zusammenbrach und die ersten Schweißtropfen sich auf seiner Stirn manifestierten. “Versteh mich nicht falsch, aber… Als ob du dir so etwas Gutes ausdenken kannst.”

Zu ihrer Verwunderung atmete Daru tief durch, als wäre er knapp einem Killing Blow entkommen, nur um daraufhin weiter herumzudrucksen. “Nun, das kann man so nicht wirklich sagen.”

Maho legte den Kopf schief, während sie versuchte, anhand des Textes etwas herauszufinden. “Hast du dich irgendwo bedient?”

“Daru!”, rief Okabe und die beiden zuckten zusammen, als er plötzlich hinter ihnen stand. “Sag bloß nicht, dass du uns in dein Spiel gesteckt hast.”

Maho schnaubte belustigt. “Als hätte irgendjemand Spaß daran, eine Visual Novel zu spielen, bei der es um euer Leben geht.”

Okabe stemmte die Hände auf die Hüften. “Es geht hier nicht um Spaß! Das schamlose Offenlegen unserer Präsenz für die Außenwelt hätte zur Folge, dass unberechtigte Fremde Informationen über unser Labor bekämen. Das könnte der Organisation in die Hände spielen, die unser Verderben plant.”

Daru wartete geduldig, dass er sich wieder beruhigte, wie ein Elternteil bei einem Trotzanfall, bevor er ihn aufklärte. “Das wird wohl eher eine Dating-Sim und da interessiert sich keiner für die Story. Das einzig Wichtige ist da, ob der Protagonist es hinbekommt, sich für ein Mädchen zu entscheiden. Obwohl, seit das Harem-Ending immer legitimer wird…”

“Mayushii hätte gerne ein Ende, in dem alle glücklich sind”, kam es engelsgleich aus der Ecke, was Daru und Maho vor Lachen fast vom Stuhl fallen ließ. Als sich ihre Blicke trafen, meinte Maho, ein wenig Blut aus seiner Nase kommen zu sehen. Währenddessen versuchte Okabe, Mayuri irgendwie zu erklären, was sie gerade gesagt hatte, ohne so auszusehen, als wolle er, dass sie das begriff.

“Na dann verrat mir doch mal, woher du deine Inspiration nimmst, bevor ich dich wegen Plagiarismus’ anzeige.”

Daru seufzte. “Eigentlich ist das nicht wirklich ein Geheimnis. Sie steht sogar in den Credits drin”, erklärte er, während er mit Shortcuts seiner Tastatur seinen E-Mail-Account auswählte. “Da.” Er zeigte auf den Absender einer bereits geöffneten Nachricht.

“Shining Finger, hm?”, murmelte Maho und bevor er sie abhalten konnte, hatte sie schon die Mailadresse angeklickt, um herauszufinden, wer hinter dem Pseudonym steckte.

“Tja, viel Glück dabei. Die versteckt sich besser als der Inkognito-Modus meinen Verlauf.”

“Schwer zu glauben, dass es jemand nötiger hat als du.” Rätselnd schaute sie die Absenderadresse noch etwas an, aber ohne einen Hinweis, wer diese Person war, erkannte sie recht schnell, wie sinnlos es war. “Wie hast du sie dann kennengelernt? Also wenn man überhaupt davon sprechen kann, wenn du nicht einmal ihren Namen weißt.”

Daru zuckte mit den Schultern. “Das ist doch heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr im Internet, vor allem in Foren. Ich hab einfach mal über ein Projekt geschrieben, das ich im Sinn hatte. Ich hab gesagt, dass ich noch jemanden brauche, der mir bei den Dialogen hilft. Daraufhin hab ich ein bisschen ihr Profil gestalkt und gesehen, dass sie echt krass geile Texte schreibt. Und seitdem ist das Ganze fast zu einem Selbstläufer geworden. Sie schreibt sogar schneller, als dass ich den Text implementieren kann.”

“Sie?”, fragte Maho neckend zurück und sah zu, wie Darus Brust vor Stolz anschwellte.

“Jep. Das ist so ungefähr das Einzige, was ich rausbekommen habe. Aber für eine 3D-Frau ist sie wirklich in Ordnung. Bestimmt ist sie auch groß und mit körperlichen Vorzügen gesegnet. Leider scheint sie eine der Personen zu sein, die mit Überschallgeschwindigkeit redet. Manchmal grenzt es fast an Spam, wenn ich bis zu zwölf Nachrichten bekomme, während ich schlafe.”

Okabe lachte laut auf. “Da hast du deine gerechte Strafe, wenn du deine Prinzipien verletzt. Du solltest lieber all deine Energie auf dieses Labor fokussieren.”

“Glaubt ihr, sie hat Interesse beizutreten?”, fragte Mayuri und schaute hoffnungsvoll in die Runde. “Man kann nie genug Freunde haben.”

Okabe runzelte die Stirn. “Irgendwas sagt mir, dass das eine ganz schlimme Idee ist…” Als er die neugierigen Blicke auf sich spürte, räusperte er sich und rief: “Wir können nicht einfach jeder dahergelaufenen Person diesen elitären Titel verleihen. Wir wissen nicht einmal, ob wir ihr trauen können. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie nur mit Daru Kontakt aufgenommen hat, um an Informationen heranzukommen. Vielleicht ist sie ein Spionin der Organisation, die uns umbringen und versklaven will.”

“Mhm, in der Reihenfolge”, murmelte Maho belustigt.

“Dude, not funny. Schon mal überlegt, dass sie mit mir schreibt, weil sie ehrlich an mir interessiert ist?”

Schweigen legte sich über den Raum.

“Okay, gut, das klang jetzt auch in meinen Ohren irgendwie ridic.”

Okabe verschränkte die Arme vor der Brust. “Du weißt nichts über deine Onlinebekanntschaft, nicht mal sicher, welches Geschlecht sie hat.” Er runzelte die Stirn. “Hast du nicht mal gesagt, dass nie ein Mädchen online ist?”

Maho kicherte. “Du willst gar nicht wissen, wie oft ich Kurisu schon in der Mittagspause dabei gesehen habe, wie sie mit einem besessenen Blick auf die Tastatur einhaut und aussieht, als würde sie allem den Tod wünschen.”

“Ja, manchmal jagt sie so eine kleine bunte Figur über eine Dschungellandschaft und feuert wahllos Flüche ab.”

“Vergiss nicht, dass sie dabei schlimmer flucht und beschimpft als zwei möchtegern-coole Grundschüler. Was sie alles über die Mutter ihrer Gegner zu wissen meint…”

“Klingt nach LoL.” Daru seufzte. “Und ich dachte, dein Love Interest wäre etwas weniger Mainstream.”

Okabe grinste, als hätte Daru ihm gerade das eine Wort verraten, mit dem er Kurisu bis zur Besinnungslosigkeit ärgern konnte.

“Aber ich muss schon sagen, der irrsinnige Typ mit den Wahnvorstellungen hier klingt schon nach dir, Okarin.”

Mayuri kicherte. “Ja, der ist wirklich super lustig. Und Daru könnte der Computerspezialist sein. Oh, und ich bringe als gute Freundin die Kekse vorbei.” Euphorisch sprang sie auf der Stelle. “Wenn das ein Hit wird, können wir sie dann auf der Comima cosplayn?”

Daru wollte die gerade darauf hinweisen, dass es bei diesem Medium nicht bei einer platonischen Freundin bleiben würde (weshalb er tatsächlich nichts dagegen hätte, das ausuprobieren), als Maho murmelte: “Und wer bin ich? Das Grundschul-Genie?” Als die Umstehenden mit Mühe versuchten, ihr Grinsen zu verbergen, kapitulierte sie nur seufzend.

“Das ist eine ernste Sache”, rief Okabe plötzlich und die anderen waren sich nicht sicher, ob sie einfach weiter lachen oder wenigstens so tun sollten, als würden sie ihn ernst nehmen. “Wenn sie schon so viel über uns weiß, liegt es nahe, dass sie das Labor ausspäht.”

“Reg dich ab, das sind doch alles nur ganz normale Tropes. Techno Wizard, Genki Girl als Childhood friend, der Chuunibyou - was man auch auf den ersten Blick sehen kann, Okabe - und die Token Mini-Moe.”

Maho knurrte frustriert. “Komm du noch mal an, wenn du Hilfe bei deinem Code brauchst.”

Darus Augen weiteten sich. “Oh? Scheint nicht mehr viel zu fehlen, bis sie zur Tsundere wird, Okabe. Hoffentlich macht sie Kurisu keine Konkurrenz als Best Girl!”

“Das Gespräch ist hiermit beendet!”, rief Maho so vehement, dass der Hacker zusammenzuckte. “Ich hab zwar keine Ahnung, was du von mir willst, aber halt die Klappe, sonst setzt es was!”

Während die beiden Männer vor ihr vor Angst wie versteinert standen, kam Mayuri zu ihr herüber und tätschelte beruhigend ihren Arm. “Keine Sorge, Mahi, Mayushii ist für dich da. Rede einfach mit mir über deine Probleme und dann können wir alle wieder Freunde sein.”

Maho schaute sie peinlich berührt an. “Ach, das ist doch keine große Sache. Natürlich sind wir alle Freunde”, verkündete sie mit einem Blick über ihre Schulter zu den Jungs, als würde sie bereits deren baldigen Tod planen, während diese sich über ihre leidenschaftliche Darbietung amüsierten.

• nicht mehr rauchen
• nicht mehr saufen
• jeden Tag ein bisschen laufen
• nicht mehr so viel Netflix sehen
• nachmittags zum Fitness gehen
• 35 Pfund verlieren
• endlich Yoga ausprobieren
• schlechte Freundschaften beenden
• Arzt nicht meiden
• etwas spenden
• Job finden
• gesünder leben
• nicht mehr so viel Geld ausgeben
• keine Drogen
• nicht mehr lügen
• meine Frau nicht mehr betrügen
• mich nicht mehr für andere schinden
• Lösung für Weltfrieden finden

Flieg hinfort mit Wingull übers Meer hinaus – träum davon im Dämmerlicht

Flieg hinfort mit Wingull übers Meer hinaus – träum davon im Dämmerlicht

Starren Blicks auf die See, meine Tränen sind schnell verschluckt

Sehn ich mich nach der Ewigkeit, die im Flug greifbar nahe scheint

Flieg hinfort mit Wingull übers Meer hinaus – träum davon im Dämmerlicht

Flieg hinfort mit Wingull übers Meer hinaus – träum davon im Dämmerlicht

Aussage von Herbert Wehnlein, dritter Sachbearbeiter der Abteilung Auslandssemester, Untereinheit des Büros für internationale Angelegenheiten, zu seiner Geiselnahme am 11.01.2019 durch den Studenten T. (Datum der Befragung: 14.01.2019)

Anmerkungen: Herbert Wehnlein (43) ist ein mittelgroßer Mann, sitzt stabil, aber leicht gebückt, vermutlich durch die langjährige Arbeit im Büro. Stimme tief, eifrig und selbstsicher. Allgemein kompetenter und fleißiger Eindruck. Keine Anzeichen eines tieferliegenden Traumas oder Beunruhigungen aufgrund des Geiselnahme-Vorfalls. Wegen seiner Kurzsichtigkeit trägt er eine Brille.

Der Befragte gab zunächst die oben erwähnten Daten zu seiner Person an, bevor er aufgefordert wurde, die Ereignisse des fraglichen Tages zu schildern, was er ausführlich und mit detaillierten Angaben zu allem, was geschehen war, tat.

Er sei an dem Morgen dieses Tages wie üblich zur Arbeit gefahren, habe das Büro für internationale Angelegenheiten besucht und sich dort, bevor er seinen Raum aufgesucht habe, in der Küche der Abteilung einen Kaffee gekocht, da es, trotz eines gesunden und ausreichenden Schlafes, angesichts der eigenen Erfahrung über die möglichen Anstrengungen des Tages, immer sinnvoll sei, sich eine hinreichende Dosis des koffeinhaltigen Getränks zu verabreichen, denn man könne ja nie wirklich wissen, was vielleicht an plötzlich zu bewältigenden Herausforderungen auf einen zukommen werde. Es habe sich zum Beispiel einmal, und genauer gesagt, eigentlich erst vor dreieinhalb Wochen, ein derartiger Fall ereignet, in dem er, Wehnlein, sich größere Mühe hatte machen müssen, um einem plötzlichem Ansturm von Studenten standzuhalten, der sich, aufgrund der plötzlich angespannten politischen Lage in dem Land, das sie in zwei Semestern gerne besuchen wollten, gebildet habe, denn aufgrund der Reibereien in diesem Land, das hier aufgrund des Dienstgeheimnisses nicht genannt werden könne – aber schließlich könne sich der Herr Polizist denken, um welches Land es sich handele –, aufgrund dieser Reibereien also seien viele Studenten beunruhigt gewesen und hätten sich sogar aufgrund der vermuteten Dringlichkeit der Sache, denn es sei ja bekannt, dass man alles ein Jahr im Voraus zu planen habe, allzu heftig vor der Tür gedrängt, sodass letztlich ein junger Mann sogar über das Band einer abgestellten Umhängetasche einer Studentin gestolpert und mit dem Kopf auf den Boden aufgeschlagen sei. Das wiederum habe nun natürlich nicht zur Beschleunigung der Angelegenheiten beigetragen, da der Sanitätsdienst hatte kommen müssen, um den Verletzten ordnungsgemäß zu versorgen und in das Krankenzimmer der Abteilung zu bringen, wobei sich die Sanitäter aber auch nur schwer durch die Menge der Wartenden hätten drängen können, die indes natürlich nicht einfach in das Büro hätten gelassen werden können, weshalb sich schlussendlich alles verzögert habe und er selbst, Wehnlein, den Tag mit einigen Überstunden habe beenden müssen und das dementsprechend auch viel später, als eigentlich vorgesehen sei.

Dies erkläre nun also beispielhaft, warum einen Kaffee vor der Arbeit zu machen nicht nur angebracht, sondern geradezu notwendig und auch klug gewesen sei und weshalb es also der Start nicht nur dieses spezifischen Tages, der den Gegenstand dieser Befragung darstelle, sondern auch der Beginn aller anderen Tage gewesen sei und es auch in Zukunft sein würde.

Der eigentliche Tag danach sei recht ereignislos gelaufen, oder vielmehr ereignislos für jemanden, der schon lange in dem Büro für Auslandssemester gearbeitet habe, denn obgleich einige Anträge routiniert zu erledigen gewesen seien, so hätte es doch auch durchaus einige Ungereimtheiten gegeben, deren Auffälligkeit jemanden mit weniger Erfahrung als er, Wehnlein, habe, zweifellos hätten stutzig machen müssen oder, in einigen Fällen, geradezu schockieren. Da wäre etwa der Fall einer Studentin gewesen, die sich für ein Semester an einer ausländischen Universität, deren Name er, also Wehnlein, nicht nennen könne, da es schließlich, er habe es bereits erwähnt, ein Dienstgeheimnis gebe, beworben und allerdings ein Sprachzertifikat mit ihrer Bewerbung eingereicht habe, das keineswegs die in dem fraglichen Land, das aufgrund des Dienstgeheimnisses ebenfalls nicht genannt werden dürfe, gesprochene Sprache betraf, sondern stattdessen eine ganz andere Sprache, sodass er, das heißt Wehnlein, sich also dazu habe durchringen müssen, die Studentin aufgrund ihres Fehlers anzuschreiben, und erst nachdem der Morgen fortgeschritten gewesen sei und der frühe Vormittag Einzug gehalten habe, sei eine Antwort auf elektronischem Wege eingetroffen, der das korrekte Sprachzertifikat angehängt gewesen sei. Wie es sich herausgestellt habe, sei nämlich die Studentin offenbar sehr talentiert im Lernen von Sprachen gewesen und habe sehr viele Dokumente, die ihr das bescheinigten, sodass sie also beim Absenden ihrer Bewerbungsunterlagen für das Auslandssemester die falsche Zertifikation eingesandt habe, ein, wie sie in der Nachricht betont habe, ihr überaus peinliches Versehen, bei dem es ihr nicht ersichtlich gewesen sei, wie es hatte passieren können, wobei es sich aber natürlich nur um eine Floskel handele, denn es sei ja aufgrund ihrer vielfach zertifizierten Vielsprachigkeit sehr wohl ersichtlich, wie das hatte geschehen können, und es sei daher wohl mehr als Ausdruck ihrer eigenen Bestürzung über den Fehler zu sehen als eine aufrichtige Aussage, was natürlich keineswegs etwas Schlimmes sei, sondern im Gegenteil ja durchaus von der Art Selbstkritik zeuge, die eigentlich auch von den Studenten erwartet werde, aber sich ja heute immer seltener zeige, warum das eigentlich nur umso begrüßenswerter gewesen sei, dass sich die Studentin auf diese Art entschuldige.

Jedenfalls sei das also einer der Fälle, die dem Uneingeweihten durchaus aufregend erscheinen mögen, aber ihm, Wehnlein, nun schon lange vertraut waren, sodass sie ihm folglich kaum mehr als ein Achselzucken zu entlocken vermochten, und insofern sei es also gerechtfertigt zu sagen, dass sich eigentlich an dem Tag bis zu dem fraglichen Vorfall der Geiselnahme nichts ereignet habe, das einer besonderen Erwähnung bedürfe, somit also von ihm auch nicht erwähnt worden wäre, wenn es ihm nicht eben um genau diesen Punkt gegangen wäre, dass er es also mit nichts Auffälligem zu tun gehabt habe, bis sich dann das ereignet habe, weshalb er ja schließlich hier sei.

Dieser Vorfall nun also, um den es bei dieser Befragung ginge, habe sich nur wenige Minuten ereignet, nachdem die abschließende Nachricht der Studentin eingetroffen sei, deren Fall er, Wehnlein, eben geschildert habe, und sei damit also wenige Minuten nach Viertel vor Elf geschehen, was er so genau wisse, weil er beim Lesen der Nachricht der Studentin noch auf die Uhrenanzeige in der rechten unteren Ecke des Computerbildschirms gesehen habe, an deren Genauigkeit es im Übrigen ja nicht die geringsten Zweifel geben könne, was zu den Wundern und Annehmlichkeiten der modernen Welt gehöre, obschon diese natürlich auch Risiken und Probleme berge, gerade im Hinblick auf den Datenschutz wisse man ja gar nicht, ob hinter den neuen Technologien nicht vielleicht auch neue Gefahren verborgen wären, und da sei die Euphorie, mit der dem neuen Zeitalter entgegengefiebert werde, letztlich möglicherweise doch ein Dämpfer vorzusetzen, aber er, also Wehnlein, drohe mittlerweile abzuschweifen, und so wolle er, da die Zeit des verehrten Herrn Polizisten sicherlich knapp und kostbar sei, gerne zum Kern der Sache zurückkehren, auch wenn natürlich zu dem eben Erwähnten noch einiges zu sagen gewesen wäre.

Wenige Minuten nach Viertel vor Elf sei also ein junger Student, bei dem es sich, wie er, Wehnlein, nun wisse, also um T. gehandelt habe, in sein Büro gekommen, unangemeldet und ohne Wartenummer, was seltsam genug gewesen sei, denn eigentlich komme ja niemand durch zu einem der Büros, ohne eine Wartenummer zu ziehen, und er, Wehnlein, habe keine Nachricht darüber erhalten, dass ein Student mit Wartenummer sich auf dem Weg zu ihm befinde. Nun aber habe T., was noch viel bemerkenswerter gewesen sei, auch eine Waffe in der Hand gehabt, genau genommen eine Walther P99, was er, Wehnlein, mit Bestimmtheit sagen könne, denn er habe die Schrift am Lauf der Waffe gesehen, als der Student sie ihm, Wehnlein – und das sei wohl das besonders Beängstigende an der Situation gewesen – umgehend nach dem unerlaubten Eintreten in das Büro an den Kopf gehalten und gefordert habe, dass die Angelegenheit mit seinem Stipendium in Plautzbergen nun bitte erledigt werden solle, wobei er Wehnlein auch eine Mappe mit Papieren auf den Tisch gelegt habe, die T. zufolge seine Bewerbungsunterlagen enthalten hätten, mit denen es nicht den geringsten Fehler geben könne, und der einzige Fehler liege darin, dass man T. seit Monaten versichert hatte, dass die Partnerschaft mit der Universität Plautzbergen eigentlich schon längst erledigt, also gewissermaßen „unter Dach und Fach“ gewesen sei, und es gäbe nur noch ein paar kleine Formalitäten, die aber bald erledigt sein würden. Nun habe man diese Antwort aber T. zufolge ihm immer wieder gegeben, all die Monate lang, und nun laufe so langsam ja auch die Bewerbungsfrist ab, weshalb er, T., sich also dazu genötigt gesehen habe, zu diesen drastischeren Mitteln zu greifen, um sein Anliegen, dieses Auslandssemester mit ausreichend finanzieller Hilfe zu nehmen, endgültig durchsetzen zu können.

Wehnlein hingegen habe darauf nur entgegnet, ob das nicht eine Spur übertrieben war, diesen Weg zu gehen und eine Waffe auf ihn, den dritten Sachbearbeiter des Büros für internationale Angelegenheiten, zu richten, denn es gebe doch schließlich Wege, das friedlich zu regeln, zum Beispiel, indem man sich an die höheren Stellen wende, denn Wehnleins Büro sei für so etwas ja ohnehin nicht zuständig, das falle stattdessen in den Aufgabenbereich des Büros für die Organisation der Kooperationen, und er, T., solle sich doch bitte friedlich an diese wenden oder aber, wenn das nicht möglich sei, den Mitarbeitern dort eben die Waffe an den Kopf halten und nicht ihm, Wehnlein, der ja in der Angelegenheit gar nichts unternehmen könne, denn das sei in seinen Aufgaben gar nicht vorgesehen, wenngleich er natürlich, da man immer über alles informiert sein müsse, alles über den Aufbau einer Kooperation wisse und wohl etwas zu tun in der Lage wäre, hätte man ihm nur diesen Aufgabenbereich übertragen.

Darauf jedoch habe T. nur entgegnet, dass er das alles zweifellos wisse, aber man lasse ihn zu dem fraglichen Büro gar nicht vor, ja nicht einmal mit Waffe, da sei man unerbittlich, denn die fraglichen Leute hätten überhaupt keine Sprechstunde für die Studenten, und entsprechend sei es unmöglich, ihn vorzulassen, weshalb ihm lediglich die andere Abteilung – eben die von Wehnlein – übriggeblieben war, die allerdings, sofern sie die Angelegenheit nicht bewältigen könnten, das Recht hätten, ihn, T., an die höheren Stellen zu verweisen, und somit sei T. ja durchaus damit zufrieden, dass Wehnlein ihm das sagte, aber nun müsse er ihn nun einmal auch an die Stellen weiterleiten, denn so sei das Verfahren, das habe man ihm aufwendig und mit deutlichem Nachdruck versichert und er selbst, T., hoffe aufrichtig, seinem Anliegen nun ebenfalls einen solchen deutlichen Nachdruck verliehen zu haben, denn es sei jetzt wirklich sein letzter Ausweg, den er in all dem Chaos aus den diversen Bemühungen, die er in den vorangegangenen Wochen unternommen habe, noch sehen könne. Dies hätte er mit einem, wie Wehnlein der eigenen Aussage nach befunden hatte, „sehr merkwürdigem Augenrollen“, gesagt und es sei ihm, Wehnlein, auch da erst aufgefallen, dass der Student T. in der Tat sehr abgekämpft und ausgezehrt gewirkt habe, mit Ringen unter den rollenden Augen, schlecht rasiert und mit wildem, ungekämmtem Haar, sodass sich sogar der Eindruck mangelnder Zivilisiertheit ergeben hätte, selbst wenn er nicht so wild mit den Augen rotiert und seine Unterlippe nicht so gezittert hätte, wobei Wehnlein Letzteres ebenfalls erst in diesem Moment aufgefallen sei.

Daraufhin habe er, Wehnlein, dem Studenten versichert, dass er das gerne tun würde, und dies nicht nur, weil dieser ihm offenbar eine Schusswaffe, die übrigens eindeutig entsichert gewesen sei, an den Kopf hielte, denn es entsprach ja nicht nur, das habe der Student ganz richtig erkannt, den Vorschriften, die ihm, Wehnlein, nun auch wieder einfielen, und das nicht etwa erst jetzt, weil er sie vollkommen vergessen habe, sondern vielmehr, weil er lediglich in diesem Moment der Aufgewühltheit nicht in der Lage gewesen sei, daran zu denken, so wie man etwa ja auch nicht vergessen könne, dass sich die Erde um die Sonne drehe, wenn man gerade einen Autounfall habe, aber sicher nicht daran denke, wenn sich ein solch schreckliches Ereignis aufgrund unglücklicher Zufälle nun einmal ergebe. Jedenfalls aber, um beim Thema zu bleiben, habe er, Wehnlein, dem Studenten T. also versichert, dass er nicht nur den Vorschriften wegen sein Anliegen umgehend an die Stellen weiterleiten werde, und auch nicht unbedingt, wenn vielleicht auch teilweise, wegen der Angst, die die ihm an den Kopf gehaltene Waffe in ihm entfache, sondern nicht zuletzt und möglicherweise sogar in erster Linie gerade deswegen, weil er, Wehnlein, dies sicher auch einmal als Gefälligkeit tun würde, selbst wenn es nicht den Vorschriften entsprach, denn er tue nun einmal gerne so etwas für diejenigen Studenten, die tatsächliches Engagement zu zeigen bereit waren. Erst letztens aber, so habe er dem Studenten T. erzählt, habe er ein paar Akten bezüglich eines bestimmten Falles bereitwillig an eine andere Stelle, die sich zwei Räume weiter den Gang runter befand, direkt weitergeleitet, indem er sie zu der fraglichen Person getragen habe, anstatt sie, wie eigentlich in solchen Vorfällen vorgesehen, in die Hauspost zu tun, die sich zwei Stockwerke höher befand, und die die Akten dann anschließend an die andere Stelle weitergeleitet hätte, wenn er, Wehnlein, sie nicht selbst und höchstpersönlich dorthin gebracht hätte, um dadurch den Prozess der Bearbeitung dieser fraglichen Akten, über die er übrigens aufgrund des Dienstgeheimnisses nicht auch nur ein Wort verlieren dürfe, erheblich zu beschleunigen, und das aus nichts als reiner Nächstenliebe, Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft.

Diese Begründung allerdings habe den Studenten T. nicht beruhigen können, im Gegenteil, er sei sogar noch aufgebrachter geworden, denn er, also T., ertrage es einfach nicht länger, dass man ihn mit solchen Erklärungen abspeise, und mit Freuden würde er sich den Lauf der Waffe selber an den Kopf halten und den Abzug betätigen, wäre das nicht eine Versündigung gegen sich selbst und eine Bestrafung für die Hinterbliebenen, zumal der Anlass doch zu absurd erscheine. Aber dennoch solle er, Wehnlein, nun also nicht mehr länger reden, sondern sich eben darum kümmern, dass er, T., endlich zu den Verantwortlichen komme, denn es könne doch nicht so schwer sein, das Reden sein und also den Worten auch Taten folgen zu lassen, was er selbst, also T., übrigens demnächst selbst übernehmen würde, wenn Wehnlein es nicht endlich täte.

Obwohl diese offene Unverschämtheit ihn, Wehnlein, sehr verletzt habe, denn so gehöre es sich wirklich nicht, so dürfe man mit ihm, dem dritten Sachbearbeiter der Abteilung Auslandssemester, Untereinheit des Büros für internationale Angelegenheiten, keinesfalls reden und überhaupt sei das sogar sehr unklug, da er ja letztlich mit darüber entscheide, wer jetzt mit einem Stipendium ins Ausland gehen dürfe und wer nicht; obwohl also er, Wehnlein, sich dadurch sehr verletzt gefühlt habe, habe er dazu nur geschwiegen und, auch wenn es sich ja nun wirklich gehört hätte, dem Studenten T. dafür den Kopf zu waschen, stattdessen also bei der fraglichen Stelle auf dem zugehörigen Diensthandy angerufen, und zwar über das bei ihm stehende Kabeltelefon, das zwar alt, aber immer noch voll funktionstüchtig und zuverlässig gewesen sei.

Die Frau Mirna am anderen Ende, die übrigens sehr kollegial sei und meist für die Organisation der von Zeit zu Zeit anstehenden Oster- sowie Weihnachtsfeierlichkeiten verantwortlich zeichne, habe ihm jedoch klar zu verstehen gegeben, dass es nicht möglich sei, sich zu dem Stand der Kooperation zu äußern, denn es handele sich hierbei nun einmal um ein Dienstgeheimnis, und dem Studenten T. sei eigentlich ohnehin schon zu viel mitgeteilt worden, indem man ihm gesagt habe, dass die Formalitäten fast abgeschlossen seien, und daher könne man also nicht mehr dazu sagen und natürlich auch seine Bewerbung nicht annehmen, denn ohne Kooperation sei eine Bewerbung ja nicht möglich, das verstehe sich zweifellos von selbst und bedürfe keiner weiteren Erklärung. Überdies habe sie gefragt, was Herr Wehnlein und der Student T. überhaupt noch im Gebäude täten, denn es laufe offenbar ein gefährlicher Student mit einer Waffe darin herum, und eigentlich sei eine umgehende Evakuierung angeordnet worden, per elektronischer Nachricht, der jeder zu folgen habe und er, Wehnlein, solle ebenso wie T. auf keinen Fall länger in dem Gebäude verweilen, die Polizei sei auch schon da und habe das Haus längst umstellt und versuche, den Studenten irgendwie zu erreichen, um herauszufinden, wer er denn sei und was er mit seinem Vorgehen überhaut beabsichtige.

Daraufhin habe er, Wehnlein, entgegnet, dass er das mit dem gefährlichen Studenten wisse, der Student T. sei ja gerade ebenjener Student mit der Waffe, und tatsächlich sehe er, Wehnlein, jetzt die Nachricht auf seinem Bildschirm, die ihm bisher offenbar aufgrund der angespannten Situation, in der er sich nun einmal befinde, entgangen sein müsse, aber selbst wenn er sie gesehen hätte, so hätte er ja schwerlich der Aufforderung folgen können, da ihn der Student T. ja ohne Zweifel nicht gehen lassen würde, solange die Angelegenheit nicht erledigt sei, wobei er zugeben müsse, dass er das den Studenten T. nicht gefragt habe, und vielleicht zeige sich dieser ja dahingehend einsichtig, sodass er, Wehnlein, das Gebäude möglicherweise verlassen könne, wenn T. es eben zuließe, und daher werde er den Studenten T. also umgehend fragen, ob ihm diese Möglichkeit offenstehe.

Sie stünde ihm nicht offen, wie der Student T. sogleich bemerkte, und nebenbei bemerkt könne er es eigentlich auch nicht fassen, dass Wehnlein daran dachte, jetzt das Gebäude zu verlassen, wo er, also T., doch exakt in diesem Moment eine Waffe auf Wehnleins Kopf richte und jederzeit in der Lage sei, den Abzug zu betätigen und ebenso unausweichlich wie unwiderruflich das Leben des Herrn Sachbearbeiters zu beenden. Überhaupt, so habe T. offenbar hinzugefügt und dabei erneut wild mit den Augen gerollt, sei es ihm absolut unbegreiflich, was für Zustände in diesem, wie er es ausdrückte, bürokratischen Urwald herrschen würden, denn er selbst, T., habe schon seit Wochen versucht, zu einem Sachbearbeiter vorzudringen, aber zunächst einmal hätten die Öffnungszeiten der Büros nicht im Internet gestanden, sodass er sie an der Information hätte erfragen müssen, und danach habe er zwar gewusst, wann er zu kommen habe, aber beim ersten Mal sei niemand da gewesen, obwohl doch eigentlich jemand hätte da sein müssen, und beim zweiten Mal sei es das Gleiche gewesen, während er selbst, also T., die nächsten Tage zu den Öffnungszeiten wegen anderer Termine nicht hatte erscheinen können, und danach sei es so gewesen, dass sich die Zeiten plötzlich geändert hätten, aber die Leute von der Information hätten nicht genau gewusst, wie sie sich geändert hätten, weshalb sie ihm, T., nur einen Zettel mit den alten Öffnungszeiten gegeben hätten, der aber natürlich nutzlos gewesen sei, weshalb T. also gefragt habe, wer denn die neuen Zeiten vielleicht wisse, doch darauf habe ihm keiner Antwort geben können, ja mehr noch, die Informationsleute hätten sich geweigert, in den Büros selbst anzurufen – wo doch die Leute in denselben hätten wissen müssen, wann ihre Türen offen stünden –, aus dem einfachen Grund, dass man ja nicht wissen könne, ob die Büroleute in dem Moment Zeit für ein Gespräch hätten, und möge es auch noch so kurz bemessen sein, da ja nun einmal keine Öffnungszeiten bekannt seien, und es sei schließlich, wie jedermann wisse, eine grobe Unhöflichkeit, außerhalb der fraglichen Zeiten die Sachbearbeiter zu stören, sodass nun er, T., jeden Tag erneut aufgeschlagen war, um vielleicht endlich die Öffnungszeiten zu erfahren, und das komplett vergeblich, bis heute dann, als er bereits den Plan mit der Waffe gefasst und selbige mitgenommen habe, ihm gesagt worden sei, jetzt wisse man die Öffnungszeiten, die übrigens jetzt seien, und insofern könne er problemlos durchgehen, da vor ihm auch keiner warte, denn Geduld zahle sich schließlich aus, wenngleich die höheren Stellen natürlich tabu seien, auch mit Waffe, und irgendwie sei es in diesem Moment geschehen, dass er, T., endgültig das Gefühl gehabt habe, dass ihm der letzte Halt, der ihn vielleicht noch vor dem Fall in den Wahnsinn bewahrt habe, aus den Fingern geglitten sei, und er somit nun endgültig den Entschluss gefasst habe, den Plan mit der Waffe umzusetzen, denn beinahe habe es ja so gewirkt, als ob sich zumindest ein paar Türen ihm geöffnet hätten, allein dadurch, die Waffe dabeizuhaben, einem Talisman gleich, der sein Schicksal zum Guten zu wenden vermochte, und so solle es gefälligst auch weiterhin sein, und erneut, er könne sich nur wiederholen, weise er Wehnlein darauf hin, dass sich dieser ebenso gefälligst um die Angelegenheit zu kümmern habe, wenn er nicht mit einem und durch ein Loch in seinem Schädel zu sterben gedenke.

Daraufhin habe also er, Wehnlein, ihr, Frau Mirna, mitgeteilt, dass der Student T. in diesem Punkt offenbar nicht mit sich reden lasse, ihm also nicht erlaube, das Gebäude zu verlassen, und T. selber wolle offenbar auch jetzt nicht hinausgehen, sondern erst, wenn die Angelegenheit erledigt sei, wegen derer er hier war, welche das nun auch immer noch einmal genau gewesen sei, denn er, Wehnlein, könne sich offen gestanden nicht mehr genau erinnern, was T. bezüglich dessen gesagt habe, und vielleicht habe dieser auch noch gar nicht wirklich etwas dazu gesagt, denn sonst müsste er, Wehnlein, sich ja vielleicht eben doch daran erinnern, denn sein Gedächtnis sei eigentlich noch ganz gut, wenn natürlich auch nicht mehr ganz so gut wie in seiner Jugend, aber das sei ja eben nur eine natürliche Entwicklung während eines Menschenlebens, man lasse eben mit der Zeit ein wenig nach, geistig wie körperlich.

Die Antwort von Frau Mirna jedoch sei daraufhin ausgeblieben, und nicht etwa, weil sie ihn mit Schweigen gestraft oder plötzlich das Gespräch beendet habe, sondern weil T., in einer plötzlichen Bewegung und mit einem Schrei, der nur als markerschütternd beschrieben werden könne, ihm, also Wehnlein, den Hörer aus der Hand gerissen und wütend aufgelegt habe, sofern man in diesem Fall von „aufgelegt“ sprechen könne, denn vielmehr habe er den Telefonhörer auf dessen Halterung geknallt und anschließend drei Schüsse auf den Apparat abgegeben, was er, Wehnlein, durchaus bedaure, denn es sei wie gesagt ein immer noch voll funktionstüchtiges und sehr zuverlässiges Telefon gewesen, und außerdem sei es immer ein enormer Aufwand, ein neues zu bekommen, denn hier sei eine ganze Menge Papierkram notwendig, um überhaupt den Antrag auf ein neues durchzubekommen, und dann müsse man immer noch darauf warten, dass eine Technikerin besagten Antrag auch umsetze, doch das dauere fast immer ewig und meist kämen die Leute ja zu den unpassendsten Zeiten, was er, Wehnlein, bisher zum Glück noch nicht am eigenen Leib habe erfahren müssen, aber er habe schon von anderen Abteilungen gehört, bei denen es so gewesen sei, so sei ihm zum Beispiel einmal während einer Kaffeepause, die übrigens vollkommen notwendig und der Konzentration im Laufe des späteren Tages überaus förderlich gewesen sei, zu Ohren gekommen, dass Herr Fresel, der übrigens noch sehr jung und noch gar nicht lange hier in den Büros arbeite, in der Hinsicht einige Probleme gehabt habe, denn aufgrund verschiedener Vorschriften, die hier nicht näher, aber dennoch grob zu erläutern seien, hätte der Techniker eben nicht während der Öffnungszeiten des Büros von Herrn Fresel kommen können, denn dann wäre er, Herr Fresel, eben von der Arbeit abgehalten worden, jedoch hätte man nun einmal auch nicht außerhalb dieser Zeiten kommen können, denn dann dürfte schließlich niemand das Büro betreten, nicht einmal Herr Fresel selbst, sodass man sich also in einer Zwickmühle befunden hätte, die nur dadurch aufzulösen gewesen sei, dass Herr Fresel sich selbst in seiner Freizeit das erforderliche Handwerkszeug anlernte, um sich dann als Aushilfstechniker beschäftigen zu lassen, sodass er während seiner Arbeitszeit auch arbeiten konnte, indem er das Telefon anschloss, und so also in der Lage gewesen sei, gewissermaßen beides gleichzeitig zu erledigen, womit dann also den Vorschriften Genüge getan worden sei.

Von derartigen Verwicklungen allerdings habe T. aber offenbar keine Ahnung gehabt, ja anscheinend nicht einmal die entfernteste Idee, sonst hätte er wohl kaum auf das Telefon geschossen, das nun natürlich nicht mehr voll funktionstüchtig und zuverlässig gewesen sei, sondern vielmehr auf eine Art zerstört, in der es nicht mehr repariert werden könne. Doch bevor Wehnlein sich selbst darüber habe beklagen können, was er gewiss getan hätte, da es wie gesagt seitens T. ein absolut inakzeptables und obendrein rücksichtsloses Vorgehen gewesen war, habe T. selbst das Gespräch in die Hand genommen und gesagt, dass er, Wehnlein, ihn jetzt gefälligst in die mittlerweile wohl freien Büros für die Organisation der Kooperation führen solle, damit er selbst sich aus allererster Hand darüber informieren könne, wie der Stand bezüglich der Zusammenarbeit mit Plautzbergen sei, wenn ihm schon niemand etwas mitteilen wolle, denn nun sei er ja schon weit genug gekommen, als dass er umkehren und sich da draußen einfach der Polizei ausliefern wolle, was gleichbedeutend damit sei, unverrichteter Dinge abzuziehen und den Kampf verloren zu haben, den er jetzt schon viel zu lange führe, um sich selbst und allen anderen gegenüber die Niederlage einzugestehen. Er, Wehnlein, habe daraufhin schlicht erwidert, dass er nicht autorisiert sei, dies zu tun, tatsächlich solle er eigentlich das Gebäude verlassen, denn es sei ja, und das sollte T. wohl auch mitgehört haben, eine Evakuierung angeordnet worden, und er, Wehnlein, habe immer noch diesem Plan zu folgen und hätte es auch längst getan, wäre er nicht mit der Waffe bedroht worden. Aber nun auch noch nicht nur dem Evakuierungsplan nicht zu folgen, der ihm, Wehnlein, zwar nicht im Detail vertraut, aber doch wohl soweit eindeutig sei, als dass er bestimmt das Verlassen des Gebäudes beinhalte, denn das ging ja aus dem reinen Begriff der Evakuierung schon hervor, sondern auch noch ein Büro zu betreten, das er ganz eindeutig nicht betreten dürfe, das wiederum grenze schon geradezu an Hochverrat, und darauf stehe sicherlich die drakonischste aller Strafen, oder noch schlimmer die umgehende Entlassung, und er, Wehnlein, wolle sicher nicht den Zorn seiner Vorgesetzten auf sich ziehen, das komme überhaupt nicht in Frage und T. solle sich doch selbst in die Büros begeben, wenn denn er, T., so sehr daran interessiert sei, aufzuklären, wie es denn nun um die Kooperation mit dieser Stadt stehe, deren Name Wehnlein im Übrigen entfallen war, beziehungsweise hatte T. ihn möglicherweise noch gar nicht erwähnt, denn sonst würde er, Wehnlein, sich ja wohl daran erinnern, denn obwohl sein Gedächtnis nicht mehr ganz das sei, was es mal gewesen, so müsse es doch hierfür noch ausreichend sein, wie T. ihm sicher auch zustimmen würde, sofern er sich den Schaum vom Mund abwischen würde, um deutlich sprechen zu können, denn im Moment höre er sich doch mehr an wie ein Verrückter, der die Fähigkeit zum Reden verloren habe.

Daraufhin wiederum habe T.s Hand mit der Waffe deutlich gezittert und für einen Moment habe Wehnlein geglaubt, T. würde jetzt, in diesem Moment, abdrücken, was ihm vollkommen unverständlich sei, denn letzten Endes habe er ja nichts gesagt, was ihn, T., hätte aufregen können, sondern nur nüchtern und vollkommen korrekt erklärt, warum er T.s Anliegen nicht habe stattgeben können, und daran könne ja wohl kaum etwas Falsches sein, da es innerhalb der Korrektheit nun einmal nichts Falsches geben könne. T. jedoch habe Wehnleins Erwartung zum Trotz und glücklicherweise die Waffe sinken lassen, sich an die Brust gegriffen und Tränen in den Augen gehabt, ganz so, als habe er heftige Schmerzen, und Wehnlein habe bemerkt, dass es ja vielleicht das sei, dass also er, T., vielleicht einfach krank sei und also deshalb nur hier stand, mit einer Waffe und als Geiselnehmer, der ein Anliegen durchzusetzen suchte, dessen Erfüllung aber nun einmal ein Ding der Unmöglichkeit darstelle, und daher sei es vielleicht das Beste, wenn T. einfach die Waffe senken und sich den Behörden ausliefern würde, wie es jeder Mensch, der nach allgemeinem Dafürhalten als vernünftig bezeichnet werden könne, auch tun würde. T. jedoch habe diese Ausführungen entweder gar nicht vernommen oder überhört, und stattdessen habe er Wehnlein mit einer Hand gepackt und hochgerissen, wobei er eine unerwartete, fast schon unmenschliche Kraft gezeigt habe, was aber insofern nicht verwunderte, als dass er in diesem Augenblick nun wirklich nicht mehr ganz geistig gesund erschienen sei, und wie schließlich jedermann wisse, hätten Verrückte eine Körperkraft, die der eines normalen und vernünftigen Menschen vielfach überlegen sei, was sich aber aufgrund der eben erwähnten Verrücktheit nun einmal leider nicht nutzbar für das Gemeinwohl machen lasse. Jedenfalls habe T. ihn, Wehnlein, mit einer ebensolchen beeindruckenden Stärke an der Schulter gepackt, vom Stuhl gerissen und vor sich hergeschoben, heraus aus dem Raum, den er, Wehnlein, übrigens auch nach den Jahren seiner Arbeit immer noch als ein wenig zu klein empfand, und hinein in den Gang, der zu den Büros für die Organisation der Kooperation führte, die Proteste von ihm, Wehnlein, eindeutig ignorierend und dabei ein Lied pfeifend, das keiner erkennbaren Melodie zu folgen schien, also möglicherweise ein Stück der Zwölftonmusik war, die er, Wehnlein, ja eigentlich nie wirklich hatte leiden können, dafür sei sie ihm dann doch zu unregelmäßig und überhaupt ganz kunstlos, und er, Wehnlein, verstehe offen gesagt nicht, was einige Leute überhaupt daran fänden, doch andererseits füge sich das auch hervorragend in sein Bild von T. ein, der ihm wie gesagt nicht mehr ganz richtig im Kopf erschien, und das von Sekunde zu Sekunde mehr, während er da also ihn, Wehnlein, den Gang entlangschubste und erst vor dem Büro für die Organisation der Kooperation mit europäischen Universitäten innehielt, um ihn, das heißt Wehnlein, zum Aufschließen des Büros aufzufordern, was dieser allerdings, wie er aussagte, eindeutig hatte verneinen müssen, denn natürlich habe er für den fraglichen Raum gar keinen Schlüssel, das sei so in den Vorschriften verankert, dass keine Person Zugang zu den Orten habe, an denen sie nicht zwingend sein musste, was manchmal natürlich ein wenig problematisch sei, insbesondere wenn aufgrund veränderter Aufgabenbereiche jemand eigentlich neue, zuvor nicht besuchte Räumlichkeiten zu betreten habe, wie sich zum Beispiel an einem besonderen Fall gezeigt habe, der, wie Wehnlein gehört habe, seit drei Jahren hier als Gerücht, geradezu als Legende, die Runde machte, auch wenn er, Wehnlein, davon noch nie jemanden wirklich direkt habe reden hören, sondern mehr nur, wie alle darüber redeten, wie alle darüber redeten, und dennoch seien ihm durch diese Art, über den Fall zu reden, die Details desselben nun doch so vertraut, als hätte man nicht diese Ebene dazwischengeschaltet und ihm alles ganz direkt und unmittelbar erzählt, sodass er nun also wisse, dass eine gewisse Frau Steuper, die er selbst nie kennen gelernt habe, die aber wohl eine junge Person mit jedoch schon längst ergrauten Haaren gewesen sei, aufgrund einer Beförderung dringend Zutritt zu drei weiteren Räumen gebraucht habe, namentlich der höheren Kaffeeküche, ihrem höheren Büroraum sowie den höheren Toiletten, während sie allerdings zugleich den Zugang zur normalen Kaffeeküche, ihrem bisherigen Büroraum und den normalen Toiletten verloren habe, was natürlich insofern problematisch gewesen sei, als dass ihr die Benutzung der Letzteren ja nun offiziell untersagt, das Betreten der Ersteren jedoch noch nicht möglich gewesen sei, da die zugehörigen Schlüssel gefehlt hätten. Da nun aber die Anträge für die neuen Schlüssel nun einmal zwar längst abgeschickt, aber noch nicht bearbeitet und entsprechend die besagten Schlüssel auch noch gar nicht gefertigt gewesen seien, habe sich Frau Steuper in einer ansehnlichen Zwickmühle befunden, die aber, wie berichtet wurde, von ihr gelöst worden sei, indem sie sich ihre verbliebenen Urlaubstage nahm, um die Zeit zu überbrücken, wobei sie aber nicht etwa anderswohin wegfuhr, denn sie habe ja einen Urlaub, der einer aufwendigen Vorbereitung bedürfe, weder geplant noch überhaupt planen können, und somit sei sie also in der Stadt verblieben, in dem Glauben, jeden Tag müssten die Schlüssel fertig sein, und sie könne ihren Urlaub abbrechen und die Arbeit wieder aufnehmen, was sich jedoch insofern als ein Irrtum herausstellte, als dass die Schlüssel erst an ihrem letzten Urlaubstag fertig wurden, und somit habe sie also den Urlaub des ganzen Jahres zu Hause verbracht, während sie auf die Schlüssel wartete, und habe nun keine andere Option, als von da an das ganze Jahr ohne Aussicht auf eine Pause zu arbeiten, was natürlich eine unangenehme Situation sei, der er, Wehnlein, sich keinesfalls aussetzen wolle, und dennoch sei nicht auszuschließen, dass sie sich ja doch ergebe, falls mal eine Beförderung ins Haus stehe, jedenfalls aber erkläre das sicher, warum er keine Schlüssel zu diesem spezifischen Raum habe, der ja keineswegs sein Zuständigkeitsbereich sei, und das sowohl im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinne, sodass also er, T., doch unmöglich erwarten könne, dass ihm von ihm, Wehnlein, der Raum nun aufgeschlossen würde, denn es liege nun einmal schlicht nicht im Rahmen dessen, wozu er befähigt respektive autorisiert sei.

T. allerdings habe, und das wohl nun zum wiederholten Male, ihm, also Wehnlein, nicht wirklich zugehört, denn sonst hätte er, wenn ihm die damit verbundenen Unannehmlichkeiten für die hier arbeitende Person bewusst gewesen wären, was sie zweifellos hätten sein müssen, wenn er, T., Wehnleins Worte vernommen hätte, wohl kaum mit seiner Waffe mehrmals auf das Schloss geschossen, das natürlich infolge des Beschusses nachgab, sodass T. keinerlei Mühe gehabt habe, die Tür zu öffnen, ohne Beachtung des Protestes, den er, Wehnlein, dem Handeln des Studenten natürlich entgegengesetzt habe, der aber erneut vergeblich und ohne jeden Effekt gewesen sei, und so sei er, Wehnlein, von dem Studenten in das Büro gezogen worden, obwohl er, das heißt Wehnlein, sich mit den Fingernägeln in das Holz des Türrahmens gekrallt habe, um zu verhindern, dass er das Büro betreten würde, was aber wie so vieles, was er an diesem Tag gegen T. zu unternehmen versucht habe, keinerlei Erfolg gehabt hätte, sodass er also in das Büro hineingezogen worden sei, entgegen seines eigenen Willens, der sich heftigst dagegen verwahrt habe. Dabei habe T. offenbar laut gelacht und gespottet, jetzt hingen sie beide mit drin, es würde alles ihnen beiden gleichermaßen geschehen, was dem einen geschehe, und damit sei nun zumindest etwas erreicht, auch wenn er, T., nicht so genau wisse, was eigentlich, tatsächlich falle es ihm schwer, sich zu erinnern, weshalb er noch einmal genau hierhergekommen sei, und das mit einer Waffe, es entglitte ihm allmählich, aber so in etwa wüsste er es noch, die Kooperation der Universität mit Plautzbergen war es doch, wegen der er hier war, sie müsse auf den Weg gebracht werden, und wenn sie das nicht schon sei, würde er dafür sorgen müssen, dass sie es endlich war, koste es, was es wolle, da es ja ohnehin schon zu viel gekostet habe, und er, Wehnlein, werde ihm nun dabei helfen, die Unterlagen dazu zu finden, damit er, T., endlich überprüfen könne, wie es denn nun um all das stehe, etwas, worauf er, Wehnlein, entgegnet habe, dass er das unter keinen wie auch immer gearteten Umständen tun werde, denn es ginge nun wirklich zu weit, er habe jetzt unfreiwillig den Evakuierungsplan verweigert und sei widerrechtlich in ein anderes Büro als das seine eingedrungen, da werde er nicht – und das müsse T. nun wirklich verstehen – auch noch nach den Unterlagen suchen, die zu sehen ihm verboten sei, auch wenn ihm natürlich alles soweit klar sei, worum es gehe, wenn auch der Stand des Ganzen ihm unvertraut sei.

T., der dementsprechend von ihm, Wehnlein, keinerlei Hilfe zu erwarten gehabt habe, sei aber schließlich selbst in der Lage gewesen, die erforderlichen Akten zu finden, was auch kein Wunder sei, denn natürlich sei hier alles, was mit den Angelegenheiten zu tun habe, für die das Büro zuständig sei, nicht nur auf den Rechnern gespeichert, sondern auch fein säuberlich in Ordnern abgelegt, die nicht schwer zu finden und obendrein sehr übersichtlich seien, eine Praxis, die sich immer als vorteilhaft erwiesen habe, so berichte man sich etwa mal nach Feierabend bei einem alkoholischen Getränk unter Kollegen, das natürlich aber nicht zu viel Alkohol enthielt, sodass man dadurch am nächsten Morgen nicht in der Arbeit beeinträchtigt werden könne, dass es einst einen Fall gegeben habe, bei dem eine mittlerweile entlassene Mitarbeiterin mit Namen Frau Hugg das unglückselige Schicksal ereilt habe, dass ihr Computer den Geist aufgegeben habe, und das in einer so endgültigen Weise, das nichts mehr davon zu retten gewesen sei, einschließlich sämtlicher Daten, die sich auf der Festplatte befunden hätten, sodass sie, also Frau Hugg, auf ihre Ordner hatte zurückgreifen müssen, da die Daten aufgrund des Dienstgeheimnisses natürlich nirgendwo sonst gespeichert gewesen waren, und insofern habe ihre Arbeit also nicht unterbrochen werden müssen, da sie noch immer alles in ausgedruckter Form gehabt habe, wobei man erwähnen müsse, dass es allzu glimpflich dann doch nicht für sie gelaufen sei, da sie, nachdem sie einmal einen neuen Rechner zur Verfügung gestellt bekommen habe, alle Daten der letzten zehn Jahre in das neue Gerät zu übernehmen verpflichtet gewesen sei, was natürlich einen gewissen Aufwand dargestellt habe, den er, Wehnlein, natürlich nicht einmal seinem schlimmsten Feind gewünscht hätte, wenn es denn einen solchen gäbe, was nicht der Fall sei, da er doch glaube, ein eigentlich sehr sympathischer Mensch zu sein, dem niemand etwas Schlechtes wünschen könne und der selbst auch nie jemandem etwas Schlechtes getan hätte. In dem Fall von T. jedenfalls jedoch habe sich die Praxis der archivierten und geordneten Dokumente zweifellos als nachteilig erwiesen, da er, T., dadurch natürlich in der Lage gewesen sei, die Akten zu suchen, die er einsehen wollte, entgegen aller Vorschriften und ohne Rücksicht auf die Unannehmlichkeiten, die das den hier arbeitenden Menschen bereiten würde. Und tatsächlich habe T., wie es ganz den Anschein gehabt habe, die fraglichen Dokumente bald in den Ordnern aufgespürt und eingesehen, woraufhin ihm ein Lachen entfahren sei, begleitet von der Äußerung, die Wehnlein zu überhören sich größte Mühe gegeben habe, aber letztlich leider doch nicht zu ignorieren in der Lage gewesen sei, und der zufolge die Kooperation mit Plautzbergen von Seiten der hiesigen Universität schon längst erledigt worden sei, und man warte nur noch auf eine finale vertragliche Rückmeldung der Universität in der anderen Stadt, das heißt also Plautzbergen, und danach sei alles abgeschlossen, wie aus den Akten eindeutig und unwiderleglich hervorginge, und insofern werde er, T., nun mit dem Zug nach Plautzbergen fahren, um den dort anwesenden Leuten die Waffe an den Kopf zu halten und sie dazu zu zwingen, sich um die Erledigung ihres Teils zu kümmern, denn das sei nun noch notwendig, um seine, also T.s Aufgabe endgültig abzuschließen, etwas, bei dem er, Wehnlein, ihm allerdings nicht mehr helfen könne und somit dürfe er, Wehnlein, jetzt also gehen und von T. aus also gerne jetzt alles tun, was er möchte, denn er selbst werde sich jetzt unverzüglich auf den Weg zum Bahnhof begeben, um seine weitere Reise anzutreten, und mit diesen Worten habe sich also er, T., umgedreht und das Büro verlassen, sodass er, Wehnlein, alleine zurückgeblieben sei, ein wenig orientierungslos und verloren nach allem, was bis zu diesem Zeitpunkt passiert sei, und unschlüssig, was als nächstes zu tun wäre, bis ihm schlussendlich dann doch wieder eingefallen sei, dass immer noch eine Evakuierung angeordnet gewesen sei, sodass er also den Plan fasste, nach draußen zu gehen, wo er dann auch in der Lage gewesen sei zu sehen, wie T., entgegen seiner Proteste, dass er unbedingt nach Plautzbergen müsse, von der Polizei niedergerungen und in Handschellen gelegt worden sei, während er, Wehnlein, von Frau Mirna angewiesen worden sei, zurück in das Gebäude zu gehen, denn die Evakuierung sei hiermit beendet, und die Arbeit könne ihren gewohnten Gang gehen, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen, auch wenn Überstunden vielleicht notwendig wären und dementsprechend sei er, Wehnlein, mit den anderen Arbeitern zurück in das Gebäude gegangen, womit dann also der Vorfall, um den es hier ja in der Befragung ging, aus Wehnleins Sicht zu Ende gewesen sei, und da er glaube, diesen in aller Ausführlichkeit und ohne etwas auszulassen geschildert zu haben, denke er, dass hier von seiner Seite nichts weiter hinzuzufügen sei, vorausgesetzt natürlich, der Herr Polizist habe keine weiteren Fragen und werde ihn dementsprechend gehen und weiter seine Arbeit machen lassen, die natürlich nicht allzu lange ruhen dürfe, denn als dritter Sachbearbeiter der Abteilung Auslandssemester, Untereinheit des Büros für internationale Angelegenheiten, habe man natürlich immer viel zu tun, wofür der Herr Polizist sicher Verständnis habe.

Abschlussnotiz: Herbert Wehnlein wurde wegen des impliziten Geständnisses, dem Geiselnehmer geholfen und Vorschriften gebrochen zu haben (Widerstand gegen Evakuierung, Betreten verbotener Bereiche, Einsicht in dienstgeheime Akten) vom Gericht angeklagt und verurteilt; das Urteil wurde umgehend nach seinem Ausspruch vollstreckt.

Die Gruppe war nun in die Tiefen des Hofgartens vorgedrungen. Mit jedem weiteren Schritt wirkte die Umgebung unwirklicher. Der tiefschwarze Boden verschluckte sowohl jede Spur von Licht als auch jedes Geräusch von Schritten, der weiß strahlende Himmel schien unendlich, doch erdrückend nah und düster, und die violetten Flammen, die den Wegesrand säumten, gingen an irgendeiner Stelle weit in der Ferne scheinbar fließend in ebenjenen Himmel über. Ohne es selbst bewusst zu merken, hatte sich Keksi immer näher an die Seite von Kirika begeben, sodass sie sich nun schon fast berührten. Sie hatten beide große Angst, doch sie weigerten sich in diesem Moment, sie einander zu zeigen. Sie mussten ja möglichst ruhig bleiben.

Vor ihnen öffnete sich der Pfad, sodass sie den tiefsten Punkt dieses Heiligtums erreichten. Es sah dort genauso aus wie auf dem Weg zuvor, nur endete dieser hier in einer kleinen runden Ebene. Einige wachsame Reshiram drehten sich sogleich zu den Fremden um, die hier ihre Heimat betreten hatten, während sich einige Caesurio kampfbereit vor ihnen postierten. Sie alle trugen diese merkwürdigen Farben, die Bianca „schillernd“ genannt hatte.

„Tretet zur Seite“, grollte die Stimme des großen Pokémon, das in ihrer Mitte stand. Es erinnerte an ein Reshiram, doch der Großteil seines Gefieders war schwarz, einzig seine Mähne und sein Schweif waren so reinweiß wie immer. Seine Beine hingegen waren leuchtend blau und statt einigen der Federn, die bei Reshiram besonders lang und prachtvoll waren, besaß dieses Pokémon Klingen, die wie die eines Caesurio aussahen.

Kirikas Mund blieb offen stehen. Sie hatte schon viele künstlerische Darstellungen von Resharp gesehen, doch keine davon hatte es geschafft, tatsächlich das Gefühl einzufangen, wenn man ihm gegenüberstand. Dieses Pokémon war riesig und seine bloße Anwesenheit strahlte eine Macht aus, wie die Abenteurerin sie noch nie erfahren hatte. Voll Ehrfurcht betrachtete sie es, während es langsamen Schrittes auf die Gruppe zu trat.

Einen nach dem anderen begutachtete Resharp die vier Eindringlinge, wobei es Keksi besonders lange im Auge behielt. Diese hingegen senkte ihren Blick zu Boden und wagte es gar nicht erst, den Herrscher dieses Ortes anzuschauen.

„Dies ist nun unser kleines Geheimnis“, sprach der Drache, „niemand soll von diesem Ort erfahren. Waren das nicht meine Worte, Prinzessin?“

Ein fetter Kloß aus Angst bildete sich im Hals dieser und sie kniff die Augen zusammen, wie aus einer kindischen Hoffnung heraus, dass auf diese Art alles wieder normal werden und sie ohne Weiteres heimkehren könnten, wenn sie nur lange genug wegschaute.

„Wie kommst du also dazu, nicht nur selbst wiederzukehren, sondern auch noch all deinen Freunden diesen Ort – meinen Ort – zu zeigen?“ Das riesenhafte Pokémon sprach betont ruhig und langsam, doch es konnte nicht die Wut und den Vorwurf unterdrücken, die in seiner Stimme mitschwangen.

„Es … es …“, murmelte Keksi kaum hörbar.

„Sprich lauter!“, orderte der Drache. „Und schau mir dabei gefälligst in die Augen!“

Die Prinzessin fuhr zusammen, dann öffnete sie ihre Augen und blickte ihr Gegenüber an. Schnell wischte sie sich einige Tränen ab, denn sie fühlte sich erbärmlich dabei, in dieser Situation rein aus Furcht zu weinen. „Es tut mir leid“, sagte sie leise. „Meine Heimat ist in Gefahr und ich … ich weiß nicht, wer mir noch helfen kann. Mein Vater und mein Bruder wurden vielleicht entführt und –“

„Und damit belästigst du mich?“, fuhr das Pokémon dazwischen und blickte abschätzig auf sie herab.

„Sei doch nicht gleich so aggressiv!“, rief Kirika und stellte sich halb vor ihre Freundin, die schon wieder mit den Tränen kämpfte.

„Mit dir habe ich nicht geredet“, knurrte Resharp und fletschte dabei die Zähne. „Du solltest froh sein, dass ich dich für diesen unnötigen Kommentar nicht direkt in Stücke reiße!“

Keksi stellte sich zwischen die beiden. „Bitte, tu ihr nichts!“, rief sie verzweifelt. „Wir wollten dich nicht stören, aber niemand anders kann uns gegen diesen Gegner helfen!“

„Warum glaubst du, dass ich euch bei derart nichtigen Problemchen helfe?“, fauchte der Drache.

„Ich … ich …“, stotterte Keksi und blickte dann entmutigt zu Boden. „Ich bitte dich, Resharp. Hilf uns, Hoopa zu besiegen.“

Das riesige Pokémon hielt kurz inne, als hätten die Worte der Prinzessin es geschockt. Es brauchte einen Moment, um seine Fassung wiederzugewinnen. „Sagtest du Hoopa? Wurde dieser Quälgeist etwa wieder entfesselt?“

Keksi nickte stumm.

Der blanke Hass zeichnete sich auf dem Gesicht des Drachen-Pokémon ab. „Dieser Dämon …“, knurrte es. „Er hat mich schon mit seiner bloßen Anwesenheit gefoltert, lange bevor eure Art überhaupt existierte. Da es sich um ihn handelt – und nur deswegen – werde ich dir helfen.“

Keksi seufzte vor Erleichterung auf. Sie hatte schon geglaubt, diesmal nicht so leicht davonzukommen wie bei ihrem letzten, versehentlichen Besuch in diesem Heiligtum. „Vielen Dank“, hauchte sie. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir dafür danken kann.“

Kirika legte der Prinzessin eine Hand auf die Schulter. Sie war sehr stolz auf sie. Aus dem schüchternen, unschuldigen Mädchen, mit dem sie sich vor Jahren angefreundet hatte, war eine mutige junge Frau geworden, das musste sie sich immer wieder vor Augen führen.

Keksi trat nun vor, um Resharp den Plan, nach dem sie die Hofstadt und das ganze Land retten wollten, in seinen Grundzügen offenzulegen. Der Drache zeigte sich tatsächlich beeindruckt darüber, wie geschickt sich seine Besucher dabei gezeigt hatten, ein neues Banngefäß zu erschaffen. Schließlich willigte es ein, ihnen bei der nächsten Konfrontation mit dem entfesselten Hoopa im Kampf beizustehen. Es bat sie, einen Schritt zurückzutreten, dann konzentrierte es seine Kraft auf eine Stelle vor ihnen. Dort erschien ein Gegenstand, eine matt graue Kugel mit drei golden glänzenden Vertiefungen. Sie strahlte eine warme Aura aus, die selbst Kirika, die eigentlich nichts von derartigem verstand, nicht verborgen blieb. Keksi nahm das Artefakt entgegen und betrachtete es noch einen Augenblick lang.

„Damit kannst du mich herbeirufen, wenn es so weit ist“, erklärte Resharp. „Du musst den Götterstein nur in die Höhe halten, ich werde seine Präsenz spüren.“ Keksi nickte. „Doch bitte verwende ihn nicht unnütz“, fügte der Drache noch hinzu. „Ich bin nicht euer Puppenspieler. Ich bin nicht hier, um euch bei jedem noch so kleinen Problem eine bequeme Lösung zu bieten. Ich mag euch erschaffen haben, aber ich habe euch ebenso die Fähigkeiten gegeben, um mit den meisten Problemen allein klarzukommen.“

„Ich verstehe dich ja“, sagte Keksi und packte den Götterstein, wie Resharp ihn gerade genannt hatte, in ihre Tasche. Ein bisschen tat es ihr leid, dass sie dieses Pokémon so einfach gestört hatte, aber es schien nun ja auch selbst ein Interesse daran zu haben, also war es wohl in Ordnung.

Das mächtige Pokémon erschuf ein Portal hinter sich. „Nun solltet ihr aber gehen“, sprach es und deutete darauf.

„Einen Moment noch“, unterbrach Kirika und erhob eine Hand. „Resharp, kann ich vielleicht eins deiner Caesurios haben? Die sehen so hübsch aus.“

„Ist das hier wirklich der richtige Moment für so etwas?“, schnaubte Corvin, der nach alldem immer noch erschöpft war.

„Wann denn sonst noch?“, antwortete die Abenteurerin mit einer Gegenfrage.

„Ja, du kannst eines mitnehmen“, antwortete Resharp, die Diskussion der beiden ignorierend. Es deutete einem der Caesurio im hinteren Bereich seines Verstecks, zu ihnen vorzutreten.

„Cool“, sagte Kirika und schüttelte dem Pokémon die Hand.

„Zzzzt“, machte das Pokémon.

„Danke, du auch“, sagte Kirika.

Dann gingen sie zu fünft durch das Portal und landeten praktischerweise direkt vor Corvins Festung.

one

Ein weißes Gewand trug sie. Ihr Himmel war wolkenverhangen. Kurz vorher hatte es wild gestürmt. Wind und Nässe. Doch es lichtete sich. "Alles geht einmal vorbei" , sagte sie sich. Sie lächelte. "So wie Tränen trocknen". Auf Sturm folgt stets Sonnenschein, mal greller, mal hinter Wolken verdeckt. Doch diesmal versprach er heller zu scheinen denn je. Und sie freute sich auf dieses stumme Versprechen. Zwar hatte sie Scherben hinter sich gelassen, doch mit kühler Ignoranz kehrte sie dem Scherbenhaufen den Rücken. Sie würde sich nicht mehr an stumpfen Scherben schneiden, sagte sie sich. Und sie glaubte wirklich an ihre Worte.

four

Am Anfang suchte sie das Abenteuer. Das Verlangen, das in ihr brannte, das keine Zurückhaltung verlangte. Alle Nebensächlichkeiten ausblenden. Die Nacht war ihr ewiger Meister. Sie wollte sich dem hingeben. Doch ihr Sonnenschein sollte erneut von Wolken bedeckt werden. Schmerz war sie nicht mehr gewohnt. Doch da war er - und ach, ihr persönlicher Engel nahm den Schmerz und beseitigte ihn. Er schloss sie in die Arme. Leise Atemhauche. Kaum ein Blatt passte zwischen ihren Engel und sie. Ihr Herz war erfüllt. Ihr Leben war voll Licht. Es schien perfekt. Dies war das größte Glück, das sie je empfand.

five

Sie hatte blind ihr Gewand getragen, ungeachtet der dunklen Farbe, die es angenommen hatte. Er jedoch ließ sie dies großzügig ignorieren - bis sie selbst dafür sorgte, dass erneut Wolken aufzogen. Ihr Licht war Zeuge, wie sie erneut beinahe Teil der Dunkelheit wurde. Wie sie sie fast verschlang. Doch Licht verzieh und fast wäre sie zu diesem hellen Schein aufgestiegen. Sie war glücklich ob des Gedanken, Teil des Lichts zu werden und mit ihm zu scheinen. Doch das Licht wusste sich zu rächen. Licht verschlingt Feuer. Sie hätte es ahnen sollen. Und dann, innerhalb dieses Wimpernschlages, begann ihr Zerfall.

ten

Und ihr Wunsch erfüllte sich, langsam. Schlich sich zuerst unerkannt und leise, dann aber ganz allgegenwärtig in ihr Bewusstsein. Sie bekam die Ruhe, die sie sich erhofft hatte. Von der sie hoffte, dass sie sie verdient hatte. Jeden Tag erwachte sie, die Sonnenstrahlen kitzelten ihr Gesicht, es schien, als brächte jeder Tag ein neues Versprechen, der seligste ihres Lebens zu werden. Und doch hämmerte in ihrem Hinterkopf eine kleine Stimme, leise und stetig flüsterte sie Zweifel, die sich unerkannt niederließen. Ihr Blick war nach vorne gerichtet, in die Zukunft. Sie blinzelte der hellen Sonne entgegen. Keine Wolke am Himmel.

Die Hexe und der Drache

Der Krieg, der zwischen den Magiern und den Drachen gewütet hatte, forderte sehr viele Verluste auf beiden Seiten. Die Drachen, seit Anbeginn der Zeit überaus mächtige magische Wesen, hatten aus gutem Grund diejenigen unter den Menschen gefürchtet, die ebenso über die Gabe der Magie verfügten. Am Anfang lebten sie in zwar angespannter, doch friedlicher Koexistenz miteinander. Die Drachen nannten die Berge und Gebirge sowie deren Höhlensysteme ihr Heim, während die Menschen außerhalb dieser lebten. Erst als ein neugieriger Mensch in den Bergen sein Leben verlor, weil er gestürzt war, wurden die Drachen erbarmungslos gejagt. Doch sie schlugen zurück und in dem darauffolgenden Konflikt waren sie - die Drachen und Menschen - einander ebenbürtig. Erst mächtigen Zauberern gelang es, die Drachen zurückzudrängen. Wohl wissend, dass sie nie alle hätten jagen und töten können, zogen sie eine mächtige Barriere um das Heim der Drachen. Fortan war es ihnen unmöglich geworden, ihre Höhlen und Berge zu verlassen. Nur die Menschen waren in der Lage, von außen durch die Barriere zu treten. Doch waren sie erst einmal drinnen, so gab es keinen Weg heraus. Nur ein anderer mächtiger Zauber war imstande, die Barriere von innen zu durchbrechen. Doch dafür müssten sowohl ein Drache als auch ein menschlicher Magier ihre Kräfte vereinen. Doch seit dem Krieg hatten die Drachen die Menschen zu ihren Todfeinden erklärt. Der oberste Drache zur damaligen Zeit hatte verfügt, dass jeder Mensch getötet und seine magische Kraft gespeichert werden müsste. Mit genügend menschlichen Opfern wären die Drache imstande gewesen, sich selber zu befreien.

Doch die Jahre vergingen. Mit den Jahrhunderten, die verstrichen waren, geriet der Krieg zwischen den Magiern und den Drachen in Vergessenheit und auch die Herrschaft der Drachen wechselte. Ein junger Drachenprinz, der zwar die Geschichte kannte aber nicht einsah, dass alle Menschenmagier grausame Drachenjäger sein mussten, verfügte, dass jeder Mensch, der sich in die Berge verirren sollte, wie ein Freund behandelt werden sollte. Den Menschen soll kein Grund mehr gegeben werden, dass sie die Drachen ihrerseits als die Monster betrachteten, die die Geschichte beschrieben hatte. Zwar fügten sich alle anderen Drachen diesem Dekret, doch Unmut machte sich breit. Mit den Jahrhunderten, in denen sie abgeschottet vom Rest der Welt lebten, wurden ihre eigenen Ressourcen knapper. Die Drachen konnten sich noch immer vermehren, doch konnten alle Mäuler nicht mehr zufrieden gestellt werden. Und so kam es, dass die Hoffnung stets gepflegt wurde, dass die Barriere eines Tages brechen und die Drachen wieder frei sein würden.

Die Menschen hingegen schienen in ihrer Sorglosigkeit des gestillten Hungers die Drachen und deren Lage ganz vergessen zu haben. Nur sehr wenige Gelehrte erzählten sich die Sage der Drachen, die in den Bergen leben sollten. Mit der Zeit wurden immer mehr sagenhafte Details dazu gedichtet, sodass in den Köpfen der Kinder, die davon hörten, Fantasien über Goldschätze entstanden, die die Drachen wie ihre Augen hüteten. Einer kleinen Hexe kam die Idee, dass jene magischen Wesen in den Bergen über einen großen Vorrat an Wissen verfügen mussten. Von ihrer Neugier getrieben machte sie sich in ihrem jugendlichen Eifer auf in und sie ignorierte die Warnung der Älteren, die sie eindringlich vor den Gefahren von Seiten der Gebirge selbst und der Drachen warnten. Doch ohne, dass jemand etwas von ihrem Aufbruch erfuhr, hatte sich die kleine Hexe zu den Bergen begeben, ihr Gesicht war rot vor Aufregung angelaufen. Da die Berge für den Flug auf ihrem Besen durchaus tückisch erschienen, ging sie zu Fuß weiter. Sie nahm den majestätischen Anblick, der sich ihr in Form von hohen Bergspitzen und tiefen Schluchten, mit jeder Faser ihres Körpers auf. Sie atmete begierig die klare Bergluft ein, obwohl sie immer dünner wurde je höher sie die Berge hinauf ging. Ebenso aufgeregt horchte sie in den Wind, der in der kalten Höhe heulte. Sie versuchte angestrengt, das Flügelschlagen und das Schnauben eines Drachen zu hören. Sie stellte sich so nah an eine Kante um zu lauschen und sie ließ alle Vorsicht von sich fahren. Das Gefühl, so hoch oben zu sein und all die Jahre nur Lügen von diesem Ort erfahren zu haben, nahm ihr alle Vorsicht. Von Gefahr war hier keine Spur zu sehen. Wären die Drachen wirklich so menschenfeindlich gewesen, hätten sie sich ihr längst offenbart und sie angegriffen. Doch kein Wesen kam. Jetzt packte die Hexe wirklich die Abenteuerlust und mit einem Anflug von Euphorie hielt sie beide Hände an ihren Mund: "Hallo!"

Das Echo ihres Rufen erklang viele Meter von ihr entfernt hinter den Bergspitzen, doch ehe sie ein zweites Mal nach den fantastischen Wesen rufen konnte, brach unter ihr der Wegrand zusammen. Ihr Rufen verwandelte sich in einem lauten Aufschrei sie stürzte mehrere Meter in die Tiefe. Sie wurde ohnmächtig und die Hexe war sich sicher, dass sie tot sein würde.

***

"Hallo?! Wach auf! Hörst du mich?" Ein warmer Strom erfüllte ihren Körper. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, fühlte sie wieder ihre Finger, Arme und Beine. Als sie dann endlich ihre Augen öffnete, bemerkte sie, wo sie sich befand. Sie war in eine kreisrunde Höhle gestürzt und neben ihr kauerte sich ein Wesen, dass bis vor wenigen Sekunden seine roten schuppigen Hände auf ihren Körper gelegt hatte. Es war um ein Dreifaches größer als sie, mit kleinen ledrigen Flügen und einer langen Schnaue, an deren Ende sich Nüstern befanden. "Ein Drache!", rief die Hexe aus. Die schuppige Kreatur vor ihr blinzelte mit seinen stechend gelben Augen, deren Pupillen aber rund wie die ihre waren. Der Drache legte den Kopf zur Seite: "Bist du überrascht mich zu sehen, oder hast du Angst vor mir?"

"Ich schätze es ist eine Mischung von beiden", lächelte die Hexe zögerlich.
"Nun gut, vielleicht bringt es etwas, dass ich mich vorstelle. Papa sagt immer, dass es höflich ist, sich vorzustellen.. Ich heiße Asdral, und wie heißt du?" Der Drache lächelte freundlich. "Mathilda", sagte die Hexe, welche zurücklächelte. Wieder legte der Drache seinen Kopf zur Seite und musterte sie neugierig. "Noch nie habe ich einen Menschen gesehen, falls du einer bist." Mathilda lachte: "Natürlich bin ich ein Mensch, genauer gesagt bin ich eine Hexe!" Erstaunt wich Asdral zurück und seine Augen weiteten sich: "Heißt das, du kannst Magie anwenden?"

Mathilda demonstriete ihm ihre Künster, indem sie ihren Zauberstab schwang. Aus dem Lehrlingsstern, der sich an dessen Spitze befand, stoben mehrere kleine Flammenzungen hervor, die in verschiedenen Farben um Asdral herum tanzten. Dieser klatschte begeistert lachend und als sich seine Hände trafen, traten zwischen Funken hervor, als er sie auseinander zog. Auch Mathilda war erstaunt, dass der Drache augenscheinlich Magie kannte. Er deutete ihren Blick richtig, woraufhin er lächelte. "Jeder Drache kann zaubern!", sagte er und hob stolz seine Schnauze. "Ich habe deine Knochen gerichtet, als ich dich hier gefunden habe. Du scheinst ziemlich gefallen zu sein von oben..." Er blickte zum Loch in der Höhlendecke, durch das das Tageslicht in die Höhle fiel. Mathilda sah ihn mit großen Augen an: "Du beherrschst die Heilmagie?" Asdrals Schuppen liefen noch roter an als sie es vorher schon waren. "Ich will nicht sagen, dass ich sie meisterhaft beherrschen würde... aber..." Verlegen kratzte er sich mit seinen Klauen an seinen Hinterkopf. "Doch für Knochenbrüche und anderen reicht es schon aus, wenn-", doch wurde er von Mathilda unterbrochen, die erregt an ihn trat: "Bitte, bring sie mir bei!"

"Die Heilmagie?", fragte Asdral überrascht darüber, dass ein Mensch das erste Mal in seinem Leben so nah bei ihm war. Er ahnte, dass die Menschen nicht alle übel sein würden, aber war er doch von der Furchtlosigkeit von Mathilda beeindruckt, welche den Kopf schüttelte. "Die Magie, die ihr Drachen beherrscht. Ich will sie so unbedingt lernen!" Sie schüttelte flehentlich seinen schuppigen Arm und Asdral wusste nicht, wie er gerade antworten sollte. Dann holte er einen tiefen Atemzug und atmete lange aus, wobei er einen Funkenschwarm ausstieß, dem Mathilda erschrocken ausweichen musste. Ihre und Asdrals Blicke begegneten sich, dann nickte er: "Komm erst mal mit zu mir nach Hause, ich will dich gerne Papa vorstellen."

Asdrals Vater war jener oberste Drache, der bewirkt hatte, dass alle Menschen als Gäste in ihrer Mitte angesehen wurden. Mathilda war sehr überrascht, aber auch sehr erfreut, dass die Drachen sich allesamt als herzensgute Wesen herausstellten, die sich mit der Zeit an ihre Anwesenheit gewöhnt hatten. Zwar war Mathilda bestürzt, als sie erfuhr, dass sie nicht mehr in der Lage war, die Berge aufgrund der Barriere zu verlassen, die sie umgab. Doch schnell fand sie Trost darin, dass sie unter den Drachen viele Freunde gefunden hatte, als sie bereits ein Jahr bei ihnen gelebt hatte. Und die Zeit, die sie mit ihnen verbrachte, ließ ihre eigenen magischen Fähigkeiten sich immens verbessern. Sowohl von Asdral als auch von anderen Drachen konnte sie eine Menge lernen, auch über Formen der Magie, die menschliche Magier ihr niemals beigebracht hätten. Über die Fusion jedoch wollte Asdral schweigen, der dabei eine sorgenvolle Miene aufsetzte.

Er war ihr bester Freund geworden und sie wurde für ihn zu seiner besten Freundin. Wenn sie nicht zusammen die Magie studierten - Mathilda war entzückt über die vielen Schriften, die die Drachen zum Studium der Magie verfasst hatten -, verbrachten sie die Zeit mit dem Spielen und dem Besuchen ihrer Freunde. Zusammen konnten sie auch einige Streitigkeiten unter den anderen Drachen schlichten und bald war es kein Geheimnis mehr, dass Mathilda von allen gemocht wurde und sie und Asdral die beliebtesten Wesen der Berge waren. Doch eines Tages wurde Mathilda schwer krank. Drachen besaßen einen sehr begrenzten Zugang zu Mitteln, um einem Menschen dauerhaft ein gesundes Leben zu ermöglichen. Höchst widerwillig musste sch Mathilda, deren Körper immer schwächer wurde, sich eingestehen, dass sie trotz der Liebe der Drachen für sie nicht in deren Welt gehörte. Sie musste nach Hause, denn nur dort konnte sie wieder genesen. Asdral, der von der Distanz seiner Freundin beim Leiden zusah, kämpfte sehr lange mit sich. Dann, eines Nachts, als Mathilda schwer hustete, trat er an ihr Bett heran.

"Du musst nach Hause, oder?" Mathilda, die es nie gemocht hatte, sich Schwächen einzugestehen, war besonders nicht erpischt darauf, in das erbleichte Gesicht ihres Drachenfreundes zu blicken. Ohne ihm in die Augen zu sehen drehte sie sich um und hustete in ihre Decke. Asdral wusste, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Es verging eine Zeit, ehe er wieder sprach: "Weißt du noch, als ich dir nichts über die Fusion erzählen wollte?" Mathilda versuchte ein weiteres Husten zu unterdrücken. Damit deutete sie an, dass sie aufmerksam zuhörte. "Die Fusion ist fast schon eine verbotene Form der Magie, doch wenn wir es richtig anstellen, kommt keiner von uns zu Schaden!" Er klang, als als wollte er eilig Mathilda versichern, dass er einen gut durchdachten Plan hatte. Mathilda richtete sich mühsam und bat Asdral darum, ihr mehr darüber zu erzählen, was er auch langsam tat, damit sie verstand.

"Du meinst also", sagte Mathilda nachdenklich, als Asdral geendet hatte, "dass wir unser beider Magie miteinander vereinen können und so wir beide in der Lage wären, die Barriere zu durchschreiten?" "Nur durchschreiten", versicherte ihr Asdral mit einem Nicken. "Unsere Magie ist nicht stark genug, um die Barriere ganz aufzulösen, doch sie sollte uns beiden erlauben, die Berge zu verlassen. Wir können dich in deine Heimat bringen und du wirst wieder gesund!" Aufgeregt nahm er ihre Hand in die seine und Mathilda spürte, wie es ihr Kraft spendete. Sie lächelte und legte ihre freie Hand auf die seine: "Und noch etwas Gutes hat die Sache? Weißt du auch welche?" Asdral schüttelte den Kopf. "Wir können allen Menschen zeigen, dass die Drachen längst nicht mehr so böse und grausam sind, wie es ihnen stets gesagt wurde. Sie werden erkennen, dass die Zeiten des Krieges endgültig vorbei sind und endlich werden die Drachen und die Menschen wieder in Frieden miteinander leben können!"

Beide waren sich einig, dass ihr Vorhaben, wenn es gelang, zu einem guten Ende für alle führen würde. Beide wollten sich nicht darüber Gedanken machen, was sonst passieren würde. Dafür waren sie sich ihrer Sache zu sicher. Mathilda gelang es nur mühsam, den Aufstieg draußen ins Freie zu bewältigen. Asdral war ihr dabei eine hilfreiche Stütze. Gemeinsam durchquerten sie die Schlucht, ehe zur Grenze ankamen. Es war tiefste Nacht und im Lichte des Vollmondes sah Mathilda vor sich die Ausläufe des Waldes, in dem sie in ihrer Kindheit so oft magische Heilpflanzen mit ihrer Lehrerin gesammelt hatten. Sie lächelte melancholisch und blickte hoch zu Asdral. "Wenn ich gewusst hätte, wie nah wir damals schon gewesen waren", sagte sie und erklärte ihm, was es mit dem Wald vor ihnen auf sich hattte, "dann wäre ich viel früher schon den Berg hochgestiegen". "Das will ich doch nicht hoffen!", prustete Asdral halb lächelnd halb ernst. "Damals hätte ich dir deine Knochen bestimmt nicht heilen können!"

"Hihi, stimmt auch wieder", kicherte Mathilda ehe sie ernst wurde. "Also ... wollen wir es versuchen?" Asdral schaute ihr lange in die Augen. "Bist du wirklich bereit?", fragte er sie eindringlich. Mathilda hatte sich schon auf diese Frage im Geiste vorbereitet: "Wenn ich nicht mit dir in mein Dorf zurückkehre, werden die Menschen niemals die Wahrheit erkennen." Sie nahm seine Hände in ihre und senkte den Kopf, um magische Kraft in ihrem Körper zu sammeln. Sie flüsterte: "Du bist mein bester Freund, Asdral, und sie werden es direkt erkennen. Stell dir nur all die Jahre vor, die wir zusammen verbringen werden. Wir zwischen Menschen und Drachen!"

"Das wird wunderbar!", sagte Asdral, der ebenfalls konzentriert den Kopf senkte. Beide verharrten für eine Weile so, dann leuchteten deren Körper auf. Asdral spürte, wie sich ein Strom von Wärme von Mathildas Händen aus in seinem Körper breit machte. Seine Flügel spannten sich so weit wie sie nur konnten. In dem Moment fühlte er sich, als könnte er Berge versetzen. Doch er musste Vorsicht walten lassen. Einem Kichern von Mathilda entnahm er, dass auch sie dieses wohlige Gefühl in ihrem Körper verspürte. Darauf bedacht, seine Magie mit der von Mathilda in Einklang zu bringen, spürte er, wie seine tatsächlich immer mehr anwuchs. Von Mathilda hörte er nichts mehr. Es war als wüchse er um ein paar Meter. Vorsicht, mahnte er sich. Nichts überstürzen. Mathilda schien sehr vertieft in ihren Bemühen, die Verbindung zwischen ihr und Asdral aufrecht zu erhalten. Asdral konnte nicht bestimmen, ob ihre Kraft weiter anwuchs, er spürte nur seine eigene.

Dann war es vorbei. In Asdral hatte sich jede Zelle seines Körper mit Magie gefühlt und mit einem Siegesschrei stieß er einen Flammenstoß hoch in die Luft, der dreißig Meter lang war. "Mathilda!", jauchzte er glückselig. "Wir haben es geschafft! Es hat funktioniert! Es hat-" Mit einem Entsetzen sah er, wie Mathildas Körper vorneweg kippte, ihre Augen waren noch immer fest verschlossen. Ohne zu realisieren, was passierte, sah Asdral regungslos zu, wie sie zu Boden fiel und regungslos liegen blieb.

"Mathilda?". Langsam schüttelte Asdral sich, als glaubte er, sie hätte sich nur schlafen gelegt. Dann rief und schrie er sie an, während er aus Leibeskräften an ihr rüttelte. "Nein!", rief er, als wollte er einer Lüge nicht glauben. Er drehte sie auf den Rücken um und legte seine Hände auf ihren Körper. Seine krallenbesetzten Hände leuchteten auf. Und dann wieder. Immer wieder ließ Asdral schwer keuchend seinee Hände aufleuchten, in der Hoffnung, dass seine Magie ihre Empfängerin fand. Doch sie schien stur nicht in den Körper vor ihr fahren zu wollen. Es gab schließlich keinen Knochen, der zu heilen war. "Komm schon, wach auf! Wach auf!", rief Asdral, die Augen weit aufgerissen und den Tränen nah. Doch ganz gleich was er tat, Mathilda blieb regungslos. Selbst als er eine Kralle in ihren Arm stieß, zeigte sie keine Reaktion auf Schmerzen. Asdral konnte sich nicht erklären, was passiert war. Er hatte sich genau an die Vorgehensweise gehalten, die ihm erzählt wurde. Doch es hatte nicht geklappt. Nicht bei ihr. Dabei hätte es für beide funktionieren sollen.

Die Wahrheit schien von weiter Ferne zu kommen, bis er sie realisierte. Sie brach wie eine Flutwelle über ihn herein. Sie war tot. Sie war ... tot. Und es war sein Fehler. Ein langgezogener Verzweiflungsschrei brach aus Asdral hervor, der die Nachtluft erfülte und von den Bergen widerhallte.Was sollte er vor allem tun? Zurückkehren und allen mit Scham begegnen, da er verantwortlich für Mathildas Tod war, wo sie doch so beliebt bei allen gewesen ist? "Nein", sagte er sich kopfschüttelnd, sichtlich erbittert gegen seine Tränen ankämpfend, die so groß wie Äpfel aus seinen Augen kullerten. Mathildas Wunsch wäre es gewesen, in ihr Dorf zurückzukehren und allen von den Drachen zu berichten. Deswegen waren die beiden überhaupt erst nach draußen in die Nacht getreten.

Mit einem angsterfüllten Blick zum Wald hin richtete er sich auf und hob Mathildas leblosen Körper hoch. Ihre Arme und Beine hingen wie Pendel von ihr herunter, die sich hin und her bewegten, während Asdral schwer atmend sich in Bewegung setzte. Er war nur noch wenige Schritte von der Barriere entfernt, die als immer schwärzer werdender Schleier zu erkennen war, je näher er an sie trat. Er wusste, was passieren würde, wenn seine magische Kraft nicht ausreichte. Er würde genauso direkt tot umfallen wie Mathilda. Doch daran mochte er nicht denken. Er war es ihr schuldig, dass ihr Körper zurück in ihre Heimat gebracht wurde. Er holte tief Luft und dachte an den Traum, den beide zusammen hegten: Die Menschen würden erkennen, was die Drachen waren. Und er tat den letzten Schritt der nötig war und erwartete, wie alles um ihn herum schwarz wurde. Doch als er die Augen öffente, war er bereits durch die Barriere getreten. Freudig erregt blickte er zurück und sah jene schwarze Wand direkt hinter sich. "Wir haben es geschafft...", sagte Asdral schwach und betrachtete Mathildas Gesicht. Zwar war es nachwievor regungslos, doch war er sich sicher, dass sie gelächelt hätte, wäre sie am Leben. Vermutlich hätten die beiden einen Freudentanz aufgeführt. Die Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit schmerzte Asdral und er spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte. Doch er musste diesen Weg zu Ende beschreiten. Er wollte nicht fliegen, obwohl er durch die neue Kraft in seinem Körper durchaus in der Lage gewesen wäre. Mathilda hatte ihm erzählt, dass sie den letzten Weg zum Gebirge zu Fuß tätigte. Er tat es in Gedanken an sie.

Er machte sich Sorgen und Hoffnungen zugleich: Wie würden die Menschen reagieren, wenn ein Drache mit einer toten Person ihresgleichen in seinen Armen trug und inmitten ihres Dorfes auftauchte? Würden sie ihm zuhören und ihn erklären lassen, was passierte? Er hoffte, dass alle Menschen so waren wie Mathilda. Die Zeiten, wo Menschen und Drachen sich bekämpften, sollen für immer vorbei sein. Und mit diesen Gedanken begab sich Asdral auf den langen und erschwerlichen Weg ins Dorf, Mathildas Körper fest und sicher in seinen Armen.

Die laute Musik dröhnt in meinen Ohren und ich merke, wie der Alkohol langsam seine Wirkung zeigt. Wo sie wohl stecken mag? Ich suche das gesamte Erdgeschoss ab, drücke mich zwischen den Leuten hindurch, auf der Suche nach ihr. Weder im Wohnzimmer, noch in der Küche ist sie, auch im Flur stehen nur haufenweise fremde Menschen. Der Geruch von Schweiß und Alkohol vermischen sich und beißen in meiner Nase. Der Bass lässt die Luft regelmäßig vibrieren und ebenso spüre ich den Druck der Musik in meinem Kopf. Ich habe wirklich keine Lust mehr länger hier zu sein, sobald ich sie gefunden habe, verschwinden wir von hier, beschloss ich. Ich weiß zwar noch nicht genau, wie wir nach Hause kommen sollen, denn selbst unsere Freunde, die nüchtern bleiben wollten, konnten dem Alkohol nicht widerstehen, großartige und zuverlässige Freunde, ich weiß.

Die Toilette ist verschlossen, vielleicht ist sie dort drin? Ich klopfe drei Mal kraftvoll gegen die Tür und vernehme wenige Sekunden später ein grimmiges „Verzieh dich“, von der anderen Seite. Definitiv eine Männerstimme.

Dann werde ich oben weitersuchen müssen. Meine leicht wackeligen Füße schaffen es zum Glück noch die Treppe hoch. Ich durchkämme vier verschiedene Zimmer, in denen lauthals gestritten oder rumgemacht wird, wie kann man sich so seinem Rausch hingeben, das verstehe ich wirklich nicht. Meine Freunde meinten schon immer, dass ich etwas zu vernünftig sei, aber besser so, als keine Fucks auf irgendwas zu geben.

„Verdammte Scheiße, wo steckt sie?“ Langsam macht sich Verzweiflung in mir breit, sie kann doch nicht einfach verschwunden sein. Meine kurzen braunen Haare kleben mir am Kopf, es ist verdammt warm hier drin. Ich beschließe kurz nach draußen in den Garten zu gehen um frische Luft zu schnappen, das wird mir sicher dabei helfen, mich zu beruhigen und wieder einen einigermaßen klaren Kopf zu bekommen.

Es sind mehr Leute draußen, als ich vermutet hätte, merken die nicht, wie scheiße kalt es ist? Ich reibe meine Hände an meinen Armen, um die Kälte wenigstens ein bisschen zu vertreiben. Hätte ich doch bloß meine Jacke nicht im Auto gelassen, wobei, vermutlich hätte ich sie mittlerweile verloren.

Ich atme tief die kühle Luft ein und blase sie wieder hinaus in die kalte Nacht. Ich könnte versuchen sie anzurufen und greife in meine Hosentasche - Leere. Das kann doch wirklich nicht wahr sein. Erneut fällt mir nichts besseres ein als „verdammte Scheiße“.

Ich drehe mich um, um zurück ins Haus zu gehen und dort saß sie, zusammengesackt auf einem der grünen Gartenstühle.

„Hey, es ist viel zu kalt hier draußen ohne Jacke, lass uns kurz reingehen, um uns aufzuwärmen, und dann schauen wir, dass wir von hier verschwinden.“

Sie öffnet langsam ihre dunkelbraunen Augen und blickt mir ungläubig entgegen.

„John, bist du’s?“

„Natürlich bin ich ich. Was machst du hier draußen?“ frage ich leicht gereizt.

„Ich, ich wollte mich hier nur kurz ausruhen. Ich konnte dich vorhin nicht mehr finden, ich dachte schon, dass du ohne mich gegangen bist“, flüstert sie mir entgegen.

„Wie könnte ich so etwas tun? Ich würde dich niemals alleine hier lassen, das weißt du doch.“

Leicht enttäuscht blicke ich nach unten.

„Stimmt. Ich weiß. Komm, lass uns fahren!“ langsam richtet sie sich vor mir auf, oder versucht es viel eher und gerät dann leicht ins Schwanken.

„Fahren? Ich glaube du spinnst. Du fährst heute nirgends mehr hin, du bist viel zu betrunken.“

Ich versuche sie so gut es geht zu stützen. „Wir holen jetzt unsere Jacken aus dem Auto und gehen nach Hause, hörst du?“

„Ist gut.“ Bringt sie noch hervor, ehe wir uns auf den Weg machen.

Als würde ich ihr irgendeine Wahl lassen.

Mit den Jacken ist die Kälte gleich viel besser auszuhalten. Ich frage mich, wie lange wir zu Fuß wohl brauchen werden. Eine Dreiviertelstunde mindestens, bei ihrem langsamen Tempo eher anderthalb. Ich seufze. Ganz toll.

Ich habe ein mulmiges Gefühl im Bauch, als wir bei der Hauptstraße ankommen und immer wieder Autos knapp an uns vorbeifahren.

Ich bin in Gedanken, sie erzählt irgendetwas, es wirkt ein bisschen wie ein Monolog.

„Hörst du mir überhaupt zu, verdammt?“ sie ist wütend, ja fast schon hysterisch und reißt sich von mir los.

Sie gerät ins Stolpern - steht auf einmal mitten auf der Straße, blickt mir entgegen, ihre schwarzen Haare umschmeicheln ihr Gesicht.

Helles Licht, ein Knall, das Quietschen von Reifen auf dem Asphalt und ein weiteres dumpfes Geräusch. Es passiert so schnell, ich brauche eine Sekunde, um zu realisieren, was gerade passiert ist. Ich hetze zu ihr, habe bereits Tränen in den Augen, lande auf meinen Knien. Ein schwaches Atmen geht noch von ihr aus.

„John.“

Ich schreie ihren Namen in die Nacht. In die Dunkelheit. Ins Nichts.

Ein Flügelschlag und sanft legten sich ihre Federn um die Bäume. Sie liebte es, wenn sie endlich zeigen durfte, was sie konnte. Wohlwollend sah ihr Vater ihr bei ihrer Arbeit zu. Sein fahles Licht ließ ihre weißen Federn leuchten, während sie sanft auf die Erde segelten. Manchmal war sie neidisch auf ihn gewesen. Er konnte seinen Kristall jede Nacht erleuchten lassen, während sie sich ihre Aufgabe mit ihrem Zwillingsbruder teilen musste und er in ihren Freundschaftskämpfen meistens gewann. Es war aber auch unfair, dass er von Natur aus viel agiler war als sie, wenn sie ihm sowieso schon den ganzen Sommer lang unterlag, weil sie sich in der Hitze kaum bewegen konnte. Bei besonders harten Kämpfen schaffte sie es manchmal, seine Tropfen mit ihren Federn zu umschließen - was nur leider nicht immer bedeutete, dass sie auch die Oberhand gewann.

Heute aber schon und die weißen Kugeln wurden von ihren Federn abgelöst. Sie liebte ihre Brüder, auch wenn sie sie manchmal zur Weißglut trieben, aber sie war schon oft verärgert, wenn sie mal wieder von einem von ihnen übermannt wurde. Umso glücklicher war sie, dass sie nun freie Bahn hatte und sich auch ihr älterer Bruder nirgendwo zeigte. Diese Nacht war ihre Bühne. Sie erschuf ein Kunstwerk, komponierte das Grün der Tannen mit den hellen Federn, mit denen sie die Zweige umfing, und malte Bilder in den kahlen Ästen. Sie bedeckte das welke Laub, das von früheren Flügelschlägen von den Bäumen geweht wurde und besprenkelte das tapfere Gras.

Die ganze Nacht hindurch arbeitete sie an ihrem Werk. Wenn sie das erste Mal in einem neuen Jahr gewann, war sie immer besonders gründlich, versuchte immer eine besonders schöne Landschaft zu gestalten. Sie war so beschäftigt mit ihrer Aufgabe, ihrer Leidenschaft, dass sie zunächst gar nicht merkte, wie ihr Vater sein Licht dimmte und der Himmel im Osten heller wurde.

Gerade als sie die letzten Feder an den richtigen Platz gebracht hatte, spürte sie eine warme Berührung an ihrem Rücken. Lächelnd drehte sie sich um, legte ihren Hals um seinen und umschlang ihn mit ihren Flügeln, während seine Strahlen ihre Federn küssten und sie zum leuchten brachten, als wären die Bäume um sie in einer eisig glühenden Glut gefangen. Seine Aufgabe währte nicht lange, ehe seine Eltern das Licht übernahmen, aber das machte diesen Moment nur noch wertvoller, denn sie hatte das Gefühl, nur in seinem Glanz sei ihr Kunstwerk perfekt. Nur in diesem seinem goldenen Glanz ergab alles einen Sinn. Für diesen Moment lebte sie.

Und sie liebte ihn. Seit sie das erste Mal seine goldenen Schwingen gesehen hatte, war sie von einer Faszination besessen gewesen, hatte ihn kennen lernen müssen. Es war ein Tag wie dieser gewesen. Ihre Mutter hatte sich zurückgezogen und sie zum ersten Mal alleine malen lassen - in der Nacht, damit ihr Vater ein Auge auf sie haben konnte. Es war etwas besonderes gewesen, ihre Federn in seinem Licht erstrahlen zu sehen, aber nichts gegen den Moment, in dem das Gold ihn ablöste. Noch nie hatte sie ein so perfektes Zusammenspiel gesehen. Alles in ihr kribbelte, als sie ihm endlich gegenüberstand. Sie hatte ihn kennengelernt und gewusst, dass sie nie wieder ohne ihn sein wollte.

Manchmal war es die Aufgabe ihrer Mutter, sein Licht zu verdecken. Aber sie war ihr nicht böse, denn sie wusste, dass sie es nur für ihre Kinder tat. Dennoch oder gerade deswegen war dieser Morgen etwas Besonderes. Spielerisch tat er ein paar Flügelschläge und schwebte ein paar Meter über ihr. Er forderte sie zum Tanzen auf. Nur zu gerne kam sie der Bitte nach und in einer unbeschreiblichen Eleganz umkreisten sie sich mit perfekt harmonischen Flügelschlägen. Ab und zu lachte sie vor Glück und ließ aus lauter Freude vereinzelte Federn fallen, die sein Licht zum Leuchten brachte.

Viel zu bald kamen seine Eltern. Sie übernahmen sein Licht, machten es weiß. Ihre Federn glänzten noch immer, aber es würde niemals mit dem goldenen Schein vergleichbar sein. Dennoch zogen sich beide ohne Protest zurück. So war nun einmal der Lauf der Welt. Sie hatten ihre Arbeit getan, nun waren andere an der Reihe. Aber sie wusste, solange er konnte, würde er ihr Werk zum leuchten bringen. Und sie würde mit ihm tanzen. Bis sie nicht mehr konnte. Und vielleicht sogar noch länger.