Willkommen zum ersten Vote der Wettbewerbssaison 2019!
Beim Voting könnt ihr den einzelnen Abgaben zwischen 1 (nicht gut) und 10 (sehr gut) Punkte vergeben. Dabei sind auch halbe Punkte (wie 2.5) möglich. Wichtig ist dabei, dass ihr alle Abgaben bewertet. Da der Wettbewerb anonym ist, vergeben Teilnehmer beim Voten Punkte an alle Abgaben - auch an die eigene. Diese werden bei der Auswertung nicht beachtet. Stattdessen erhaltet Teilnehmer einen Punkteausgleich für ihre Unterstützung. Begründungen sind nicht verpflichtend.
Der Vote läuft bis zum Sonntag, den 03. März 2019, um 23:59 Uhr.
Verwendet bitte folgende Schablone für den Vote:
Abgabe 01: xx/10
Abgabe 02: xx/10
Abgabe 03: xx/10
Abgabe 04: xx/10
Abgabe 05: xx/10
Abgabe 06: xx/10
Abgabe 07: xx/10
Zitat von AufgabenstellungZum ersten Wettbewerb der neuen Saison lassen wir gleich alle Hüllen knallen und fordern euch! Statt eines Textes bzw. einer Form der Umsetzung müsst ihr 2 verschiedene Arten logisch verknüpfen. Sei es ein Romanauszug, bei dem ein lyrischer Text eingefügt wird, ein Einakter der etwas anderen Art oder einfach auch kleine verschiedene Sprünge durch Prosa und Brieftexte. Alle Kombinationen sind möglich, so lange ihr die Aufgabe: "Textart in Textart", umsetzt. Ob ihr dabei zwischen non-fiktionalen und fiktionalen oder nur in einer Kategorie unterwegs seid, ist nicht wichtig.
Hast du schonmal über Römer nachgedacht? Wenn nicht, kannst du dich für einen glücklichen Menschen halten, denn das würde bedeuten, dass sie für dich keine Gefahr darstellen.
Ich dachte öfter mal über die Römer nach. Vielleicht zu viel, wie Gelsa manchmal behauptet, aber sie ist gerade erst eine Frau geworden und hatte mit ihnen noch nie zu tun. Für sie waren die Römer einfach nur etwas, das weit weg im Süden sein Unwesen trieb.
Und ich? Mir waren sie schon begegnet. Sie bewegten sich mit einer unnatürlichen Gleichmäßigkeit, so als hätte man ihnen die Füße zusammengebunden. Ihre Schwerter und Speere sind kurz, aber ihre Schilde sind umso größer und eckig; sie passen perfekt zu dem ihres Nebenmannes wenn ein Kampf ausbricht.
Und das passiert oft, wenn die Römer sind hungrig. Nicht so wie normale Leute, denn keiner hat sie jemals wirklich essen sehen, aber nach Boden und Wasser und Gold. Wo sie hinkommen da folgen ihnen breite Schneisen aus Stein und stets auch ihr angenagelter Gott, der keine Götter duldet außer sich selbst.
Es gab einen Grund, warum ich öfter über die Römer nachdachte.
Seit etwa einem Jahr unternahmen die Vandalen immer wieder kleinere Überfälle auf unser Gebiet. Eigentlich unternahmen sie ständig Überfälle auf jedermanns Gebiet, denn sie waren Vandalen und das war ihre Art.
Die Römer, die sie bis dahin weiter im Süden in Schach gehalten hatten, waren des Streits langsam überdrüssig geworden und hatten sich entschlossen, in geschlossener Stärke nach Norden zu marschieren und der „Barbarei“ ein Ende zu setzen.
Dummerweise unterschieden sie dabei nicht zwischen den Vandalen, die sie geärgert hatten, und uns. Also hatten Ulf, Richard und Hallznar den Thing einberufen.
Verschiedenste Stämme unseres Volkes kamen bei diesen Things zusammen. Chauken, Sigulonen, Cherusker und Kimbrer und viele mehr trafen sich an einem trüben Donarstag kurz nach der Wintersonnenwende an den Klippen des Nordmeeres.
Der Ort, an dem wir uns zusammenfanden, hieß Braemfleot. Es war eine größere Ortschaft mit mehr als einem Dutzend Langhäusern, einer starken Palisade und einem schmalen Kiesstrand. Dank mehrerer Hügel im Süden war Braemfleot sehr einfach zu verteidigen. „Wie zwei Schildwälle von Mutter Nerthus“, so hatte Leofric, der Rüstmeister, sie beschrieben. Die Hügelkette begann etwa zweihundert Schritte südlich des Ortes und markierte zugleich den Beginn des Framenwaldes. Der Wald war der zweite Schildwall, denn größere Heere waren gezwungen, sich darin aufzuteilen, wenn sie Braemfleot angreifen wollten. Wenn man diesen Wald durchqueren wollte, brauchte man zumindest zwei Tage dafür,wenn man gut zu Fuß war.
Die Langhäuser in Braemfleot waren meistens mit Reetgras gedeckt, in manchen Fällen auch mit normalen Erdsoden. Ulfs Festhalle besaß sogar ein Fundament aus Steinen. Sie beherrschte das Dorf, denn sie stand etwas erhöht auf einem Hügel. Und vor diesem Hügel war das Herz des Ortes, der Versammlungsplatz, auf dem normalerweise Handel und Schaukämpfe veranstaltet wurden. Heute hatten die Sklaven dort einen großen Holzring aufgebaut, mit Sitzen darauf. Darauf konnten sich die Anführer der Stämme sich niederlassen. Für den Rest waren normale Bänke und Schemel herangeschafft worden.
Zunächst gab es mal wieder Streit. Olaf legte sich mit Vaelen an, Vanadis keilte gegen einen Kimbrer mit blauen Bemalungen im Gesicht, und für kurze Zeit hagelte es Kopfnüsse auf dem matschigen Versammlungsplatz, weil keiner zu kurz kommen wollte. Es war unser Ritual, um den anderen Stammesführern zu zeigen, dass wir unseren Biss nicht verloren hatten.
Als der Streit beendet worden war, begann der Thing. Ulf und Hallznar konnten sich nicht leiden, also saßen sie an gegenüberliegenden Seiten. Ulf war immer schon unser Thiudan gewesen, wenn es Unruhen gab. Sein Bart war grau und sein Gemüt schwer aber alle verließen sich auf seine Weisheit.
Hallznar auf der anderen Seite war erst vor kurzem von den Cheruskern zu ihrem Feldherren ernannt worden und fiel vor allem durch seinen Jähzorn auf.
Wie auch in dieser Sache.
Ulf trug unser Problem wie gewohnt präzise und trocken vor. Er hatte sich viele Gedanken gemacht, wie wir die Römer daran hindern sollten, den Rhein zu überqueren und so in unser Land vorzustoßen. Sein Vorschlag war so einfach wie schwierig. „Wir werden uns Verbündete suchen“, sagte Ulf. „Es ist unüblich“, fuhr er fort und hob die Hand, um dem Stimmengewirr Herr zu werden, das sich umgehend erhob, „aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Wir sind zu wenige und die Römer kommen dieses Mal in großer Zahl.“
Für jemanden wie Hallznar war das eine Zumutung. „Ich teile keinen Schildwall mit verdammten Friesen.“
Wieder brandete allgemeines Toben auf, in dessen Zuge sich der Cheruskerfürst vom Podest schwang und mit rotem Kopf auf Ulf zusteltzte.
Der zuckte nicht mit der Wimper, als sich Vaelen, Odin und ich vor ihm aufbauten. Odin war ein Riese und ich auch nicht gerade klein von Wuchs. Aber meist war es das mächtige Kreuz von Vaelen, das die Leute daran erinnerte, dass Frieden doch eine ganz schöne Sache war.
Hallznar wurde also von seinen zwei Auguren beruhigt und setzte sich wieder hin. Es ging noch ein wenig hin und her, aber schließlich waren sich alle einig. Wir würden die Friesen, die Goten(aber nur die nichtrömischen) und die Angeln um Unterstützung bitten. Und die Franken.
Das Wort ging wie ein dunkler Schatten durch die Zuhörer, als sich langsam die Abenddämmerung über die Versammlung legte. Wenn es keine Römer geben würde, so würden wir die Franken für die schlimmste aller Plagen halten. Ihr Machthunger erstreckte sich von der Nordsee bis zum Mittelmeer, von Iberien bis nach Worms.
Aber so standen die Dinge nunmal. Wir brauchten unsere Feinde, um noch schlimmere Feinde zu besiegen.
Also sollten wir Botschafter aussenden. Später am Abend, als die Anführer sich in Ulfs große Halle zurückgezogen hatten, kam Geralt zu mir. Man konnte ihn von Weitem an seinen weißen Haaren erkennen, die er zu vielen kleinen Zöpfen geflochten hatte. Zu ihm gingen die Leute, wenn Verletzungen oder die Zähne sie plagten.
„Tyr. Schnapp´ dir Gelsa und dann sattelt ihr eure Pferde. Findet Olaf und brecht so schnell ihr könnt auf.“ Gelsa war eine von Ulfs Enkelinnen. Sie hatte blondes Haar, war gertenschlank und so wild wie ein Habicht.
„Muss Gelsa mitkommen?“, wollte ich wissen.
Leofric kam dazu. Er reichte mir eine kleine Pergamentrolle mit Ulfs Wolfskopfssiegel darauf. „Ja. Ihr seid beide ausgelost worden. Vanadis und Gerfried reiten nach Norden, um mit den Angeln zu reden.“
Er ließ den Blick über den fackelbeschienenen Versammlungsplatz gleiten. „Hallznars Leute übernehmen die Friesen.“ Er schmunzelte. „Und ihr geht zu den Franken.“
Ich steckte die Rolle in meinen Beutel. Ich nickte. Damit war alles gesagt.
Gelsa war wie gewöhnlich anderer Meinung. „Ich glaube immer noch, dass das ein Riesenfehler ist. Das sind Franken. Denen kann man nicht trauen.“
„Das haben wir doch alles schon durchgekaut“, seufzte ich. Wir waren die letzten zwei Tage durch den Osten des Belgerlandes geritten und hatten jetzt unser Lager in Sichtweite einer fränkischen Siedlung aufgeschlagen. Unterwegs hatten Gelsa und ich uns ausgemalt, wieviele Germanen es wohl gab und was für einen überwältigenden Sieg wir gegen die Römer einstreichen würden.
Olaf schlief schon. Seine Rolle war es, als Geisel zu den Franken zu gehen. So würden sie sehen, dass wir es mit der Waffenruhe ernst meinten.
„Und er hat dir ein Pergament gegeben?“ Da es Nacht war, konnte ich Gelsa nicht gut erkennen, aber ihre Augen glitzerten im Halblicht.
„Leofric, ja. Ich denke es ist ein Brief von den Häuptlingen.“
An Hrodbar den Mächtigen
Ulf, der Thiudan der Sachsen, übermittelt Dir seine Grüße. Es hat einen großen Thing gegeben, bei dem alle Sachsenstämme zugegen waren. Sie sind zusammengekommen, um einem fürchterlichen Feind die Stirn zu bieten-den Römern.
Ich war wohl doch weggedämmert und schreckte irgendwann auf, als Olaf aufstand und sich geräuschvoll in die nächsten Büsche erleichterte.
Der Himmel war in ein stählernes Grau getaucht. Die Sonne würde in den nächsten Stunden aufgehen.
Ich schüttelte Gelsa, die sich am Lagerfeuer zusammengerollt hatte.
Sie griff umgehend nach ihrem Speer, ließ ihn aber schnell wieder los. „Tyr. Erschreck mich nicht Morgens.“
„Morgen, Schlafmütze. Moment, das heißt Abends wäre es in Ordnung?“
Sie stöhnte übertrieben. „Ich hab grad davon geträumt, wie einfach es wäre, einfach im Dunkeln dort unten hineinzuschlüpfen, und...“
„Wir brauchen die Franken“, schärfte ich Gelsa ein.
„Jah-Jah.“
Olaf trat zu uns heran. „Wir sollten los.“ Er hatte Recht. Also gingen wir.
Während wir uns dem mächtigen Erdwall näherten, rief ich mir ins Gedächnis, was Leofric mir gesagt hatte. Der Ort hieß Anturf, die Franken sagten Andwerp dazu. Der Thiudan, der hier das Sagen hatte, hieß Hrodbar und war für seine für Franken unübliche Fairness bekannt. Ulf und Geralt verließen sich wohl darauf, sonst hätten wir zu einem der zahlreichen anderen Frankenführer reiten können, die näher am Framenwald lebten.
Wie auch immer es war, hier war Fingerspitzengefühl gefragt. „Überlasst mir das Reden“, erinnerte ich die beiden Anderen.
Gelsa schnitt eine Grimasse. Olaf nickte nur.
Zwei Wachen versperrten uns den Weg, als wir eine Lücke im Erdwall erreichten. Zwei Speere richteten sich auf mich und Gelsa. „Einen Schritt weiter, Sachsen, und speist heute Abend mit Hel.“
Angespitzte Baumstämme waren hier in den Boden getrieben worden, mit den Spitzen nach außen. Aus der Nähe konnte ich sehen, dass auch der Erdwall mit kleinen Ästen und spitzen Stöcken gespickt war. Eine Falle für Reiter, die den Wall als eine billige Gelegenheit auf schnelle Beute sahen.
„Die Speere braucht ihr heute nicht. Wir kommen als Botschafter. Ich würde gern mit Hrodbar sprechen.“
Die Wachen warfen sich einen Blick zu. Die Jüngere, eine Frau mit roten Haaren und vernarbten Lippen, nickte schließlich. „Aber die Schwerter müsst ihr abgeben.“
Gelsas Kiefer zuckte. Ich konnte das verstehen, denn unsere Schwerter waren einzigartig.
Glede, ein reich verziertes, wunderschönes Stück, war ein Anderthalbhänder. Die Klinge war unten so breit wie eine Hand und verjüngte sich nach oben hin, wo sie eine Kurve beschrieb. Die Form ähnelte dem Zahn eines Wolfes. Die Parierstange und das Heft waren aus schimmernder Silberbronze, der Knauf stellte ein Gesicht dar, welches lächelte. Wie gesagt, ein herrliches Schwert.
Mein Schwert Sorg sah mehr aus wie ein gewöhnlicher Sax. Ein dunkles Kreuz aus Eisen mit einer sehr kurzen Parierstange. Das Besondere an Sorg war seine Klinge. Sie war viel schlanker und hatte ein Muster aus Wellen wie Wasser, wenn man darauf hauchte.
Aber Eitelkeit durfte uns nicht von dem Auftrag abbringen, den Geralt uns gegeben hatte. Also händigte ich der Wache Sorg aus, Olaf gab zwei Dolche ab und Gelsa zog widerwillig Glede aus der Scheide. „Mir gefällt es nicht, ohne Waffe direkt in ein Frankennest zu spazieren“, zischte sie mir zu.
„Wir haben ja noch die Speere.“ Wir beide wussten, dass die Speere zu langsam wären, wenn es zum Kampf käme.
Ich will nicht verhehlen, dass wir Sachsen gerne und viel kämpfen. So war es immer schon. Ein Kampf wie dieser verspricht großen Ruhm. Aber dieser Kampf wird nicht allein mit Mut gewonnen.Der Häuptling und seine Getreuen sind zu dem Schluss gekommen, dass sich die Germanen verbünden müssen, um zu bestehen, sonst werden die Römer sich einen nach dem anderen holen.
Wir gingen zwischen einigen Langhäusern und Zelten hindurch, die innerhalb des Erdwalls in einer bunten Mischung aufgestellt waren. Das rötliche Holz und der frische Waldgeruch verrieten mir, dass die Langhäuser erst vor kurzem aufgebaut wurden. Einige davon waren in einem großen Halbkreis angeordnet und hier hatte der Thiudan sein Lagerfeuer entzündet.
Ich erkannte Hrodbar nicht sofort, denn hier hatten sich mehr als ein Dutzend pompös herausgeputzte Franken zusammengefunden. Die Schnurrbärte trugen die meisten nach fränkischer Art zu langen Schnüren geflochten. Ich sah bunte Hosen, Fuchspelze, Zobelpelze, sogar einen Umhang aus Otterfell, zusammengehalten von goldenen Spangen und Fibeln.
Es schien, als wären wir direkt in ein Festmahl hineingeplatzt. Was mir zupass kam, denn betrunkene Franken waren eventuell etwas hilfsbereiter.
Es ist also wichtig, dass Du und deine Franken in dieser Schlacht dabei seid.
Einige der Männer warfen uns misstrauische Blicke zu, als wir der Wache in eines der Zelte folgten.
„Wartet hier.“ Sie ging kurz hinaus und kam mit dem breitesten Franken zurück, dem mit dem Fuchspelz.
Ihm folgten zwei Speerkämpfer und ein Druide in einem dreckig weißen Gewand.
„Sachsen, he? Wer hat euch denn in meine Feste gekotzt?“ Er hatte nicht so eine schwere Aussprache wie die Wache und grinste, um seinen Worten die Spitze zu nehmen. Gleichzeitig umstellten uns seine Speerträger.
„Ich grüße Euch. Mein Name ist Tyr und ich bringe eine dringende Nachricht von Ulf, unserem Häuptling.“ Damit griff ich in meine Tasche und zog die Schriftrolle hervor, die nicht einen Knick davongetragen hatte.
„Tyr. Merk ich mir. Und er?“
„Der hier heißt Olaf“, antwortete ich und wies auf Olaf.
Der große Mann rang sich ein furchterregendes Grinsen ab und winkte in die Runde.
Er war unsere Geisel für die Franken. Ich stellte mir vor, wie jetzt gerade an drei ähnlichen Feuern Tilde, Lothar und Vanadis ihren Wärtern übergeben wurden.
„Olaf, he? Du bist ja ein verflucht großer Bastard. Ich glaube nicht, dass wir einen Käfig haben, in den du reinpasst.“ Hrodbar drehte sich zu mir um und breitete die Hände aus. „Habt ihr den mit Absicht ausgesucht?“
Ich grinste. „Du kannst ihn ja einfach in deinen Palas stecken.“
„Gute Antwort, Welpe!“
Der Häuptling war nach meinem Geschmack. Er war nicht so ein Sauertopf wie Ulf und er hatte mehr Narben im Gesicht als Hallznar. Ein breiter, fröhlicher Mann mit einer scharfen Klinge und einem lockeren Geldbeutel, so schätzte ich das ein. Zweifellos folgten seine Kämpen ihm nicht aus Angst.
„Au weia!“, rief er aus. Sein Blick war auf Gelsa gefallen. Und der Brief war vergessen. „Beim Teutates, was erblicken meine Augen da? Die habt Ihr vor mir geheimgehalten. Dürfte ich wohl Euren Namen erfahren?“
Der war hin und weg, dachte ich ärgerlich.
„Gelsa. Äh, ich grüße Euch auch.“
„Ein schöner Name. Was haltet Ihr davon, wenn wir eure Ankunft gebührend feiern? Mit etwas Glück hat Thoralv, der alte Fettsack, noch nicht das ganze Schwein aufgegessen.“ Er wies einladend hinaus auf den Dorfplatz.
Was soll ich sagen? Einem Häuptling, der dich zu seinem Gelage einlädt, widersprichst du nicht. So auch hier. Ich tröstete mich damit, dass Leofric mir eine ganze Woche zugestanden hatte, um das mit den Franken und eine andere Sache zu erledigen. Wir hatten nur drei Nächte gebraucht und waren bei den Franken relativ gut angekommen. Wir lagen also in Leofrics Zeitplan.
Es wurde gesungen, gegessen und besonders viel getrunken. Der Met floss in Strömen, und die Franken feierten nicht viel anders als wir, fiel mir auf. Olaf erntete fiel Gelächter mit seiner Darbietung als Britannier, der sich auf seiner Insel vor Römern versteckte.
Am späten Nachmittag, als der Himmel sich wieder verdunkelte, drehten sich die Gespräche zunehmend um uns, denn inzwischen war jedem klar, dass diese drei flachshaarigen Jungspunde nicht aus Spaß gekommen waren.
In den Morgenstunden des dritten Donarstags nach der Sonnenwende werden sich die Kriegsfürsten bei Thingau treffen. Wenn alles nach Plan verläuft, kommen dort die Germanenstämme des gesamten Nordwestens zusammen.Franken, Goten, Sachsen, Vandalen, Friesen, Jüten, Thüringer, Angeln und viele mehr. Und sie alle sind beseelt von dem Gedanken, den verhassten Römern eine Lektion zu erteilen, von denen noch in hundert Jahren an den Lagerfeuern erzählt wird.
Ein vierschrötiger Franke namens Puvis hatte soeben die Errungenschaften von altvorderen Germanen aufgezählt. „Denkt ihr, euer Dämmerschrat wäre bei Toke als Bittsteller erschienen? Hätte Alaviv um Hilfe gefleht? Darin liegt keine Ehre.“
Daraufhin war Gelsa aufgestanden und hatte eine kleine Rede gehalten, die auch mich überraschte. Als sie endete, sagte sie: „Jep. Alaviv, Clovis, Scharfzahn Wyk, der Dämmerschrat... sie hatten ihre Kriege. Aber nun sind sie tot und zur Mutter Erde zurückgekehrt und es ist an uns, das, was uns teuer ist, zu verteidigen.“ Gelsa setzte sich wieder hin und nahm einen großen Schluck aus ihrem Becher.
Ich beobachtete die Reaktion der Franken auf ihre kleine Rede. Besonders die Älteren wirkten gereizt. An die Niederlage von Clovis erinnert zu werden schmeckte ihnen nicht. Einige trugen sogar noch die Bernsteinarmbänder aus dem legendären Schatz von Ynys Trebes.
Hrodbar hatte sich jedoch an diesem Abend vorwiegend mit jungen Kriegern umgeben, die wenig Ringgold aber viel Stolz besaßen. Er lächelte leise.
Mir wurde klar, dass er mehr auf die Zukunft setzte als auf die Vergangenheit. Oder er schaute Gelsa einfach gerne an.
„Ihr habt das Mädel gehört. Für ein sächsischen Lämmchen hat sie eine verblüffend starke Stimme“, begann Hrodbar.
„Dieses Lämmchen frisst Füchse zum Frühstück.“ Gelsa murrte leise in den Becher, der wieder leer war.
Hrodbar hatte es nicht gehört. „Ich fürchte die Römer nicht. Das wisst ihr alle. Wir sind stärker als diese Hunde aus dem Süden. Wir kriechen nicht vor den Togaträgern im Staub wie Butilin und Joveta mit ihrer Brut.“ Er machte eine Kunstpause. Inzwischen hing fast der ganze Stamm an seinen Lippen. „Aber die Römer sind zahlreicher als Flöhe auf einem Sachsenpelz.“ Hier erntete er vereinzelt Lacher.
Ich legte Gelsa beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Selbst wenn jeder von uns zehn von ihnen besiegte, würden ihre Legionen noch den Himmel verdunkeln. Darum sage ich, wir helfen dem Welpen und der Schönheit, die heute zu uns gekommen sind. Die Sachsen mögen ein Haufen flohgebissener Hurensöhne sein, aber sie ringen genau so mit dieser rauhen Erde wie wir. Und sie können kämpfen! Beim Teutates, sie können kämpfen. Ich frage euch, wäre es rechtens, wenn sie von diesen geleckten Hanswursten besiegt werden, nur, weil sie zu wenige sind?“
Die Franken brüllten ihre Verachtung gegen die Römer hinaus in die kalte Nachtluft und jubelten dann ihrem Anführer zu, den sie für seine Stärke bewunderten.
Der Jubel folgte mir viele Stunden später noch in den Schlaf.
Am nächsten Morgen standen Gelsa und ich in aller Frühe auf. Wir hatten unsere erste Aufgabe erfüllt und die Franken zu unseren Verbündeten gemacht. Ich war zufrieden.
„Morgen“, murmelte Gelsa. Sie bückte sich nach dem Methorn, dass neben ihrer Matte auf dem Boden lag, und inspizierte es. Mit dem Ergebnis zufrieden, stürzte sie sich das, was da noch drin gewesen war, in den Rachen.
„Mrgn.“ Ich schüttelte mich kurz um die Schläfrigkeit loszuwerden. Geralt hatte mir oft gesagt, dass es normal war, wenn man nicht mit dem ersten Augenaufschlag bereit war, einen Eber zu töten, aber Ulf hatte da eine andere Meinung. Wer länger schläft, gibt dem Feind mehr Zeit für einen Hinterhalt, sagte er dazu. Irgendwie hatten sie beide Recht.
Vor Hrodbars Palas trafen wir zwei Wachen an, die uns in seinem Namen eine gute Heimreise wünschten. „Der wacht erst auf, wenn die Sonne steigt“, meinte der eine.
„Zu viel Met“, kicherte die andere. Sie händigten uns Glede und Sorg wieder aus. „Daran merkt man, dass die nächste Schlacht gut wird.“
„Richtet Olaf noch unsere Grüße aus.“ Wir verabschiedeten uns.
Auf dem Weg aus dem Ort kam uns ein Nachtwächter entgegen, der Gelsa hoffnungsvoll eine Kusshand zuwarf.
„Lass du dir erstmal ein paar Barthaare wachsen!“, rief sie ihm hinterher.
Ich lachte. Die Straße hatte uns wieder.
Nur eine Woche später trafen die Franken in Thingau ein. Geralt und Leofric waren fleißig gewesen, denn der kleine Ort war umgeben von einer waren Stadt aus Zelten und hölzernen Barracken.
Gelsa und ich waren damit beschäftigt gewesen, in einem kleinen Heerhaufen, der von Geralt geführt wurde, durch das Umland zu ziehen und Verpflegung aufzutreiben. An diesem Morgen fanden wir bei unserer Rückkehr die roten und gelben Feldzeichen der Franken neben unserem Blau an der Palisade vor.
„Scheint als hätte Hrodbar sein Wort gehalten“, sagte ich zu Geralt.
Der hagere Mann nickte ernst.
Auf dem Versammlungsplatz von Thingau hatten sich trotz der frühen Stunde einige Heerführer und ihre Berater eingefunden. Ich konnte Ulf und Leofric ausmachen, Vaelen, Siv und Odin standen bedrohlich dahinter. Ein Friese, den ich nicht kannte, umarmte eben Hrodbar zur Begrüßung. Hinter Hrodbar standen drei Speerkämpfer. Das rote Haar einer davon erkannte ich wieder.
„Ulf, alter Knabe! Freut mich, dass ich dich auch mal aus der Nähe erblicke.“
„Seid gegrüßt. Eure Hilfe kommt genau zur rechten Zeit“, sagte Ulf mit krächzender Stimme. Nachdem er Hrodbar und Ulf einen knochenzerquetschenden Handschlag austauschten, trat Leofric vor, ein erleichtertes Lächeln auf dem Gesicht.
Aber diese Toren überschätzen sich. Die Macht der Römer wird niemals gebrochen werden. Wenn wir sie bekämpfen, dann verlieren wir. Wir müssen das Gegenteil tun. Wir müssen ihnen beweisen, dass wir ihnen gute Nachbarn sein werden, dass wir anders sind als die Vandalen.
Hrodbar zog ohne große Hast sein Breitschwert aus dem Rückengurt und teilte Leofrics Kettenpanzer mit einem Hieb in zwei Hälften. Dann sprang er geschmeidig zur Seite und fällte Siv mit einem grausamen Rückhandstreich.
Die dünne Frau setzte zu einem Schrei an, hatte aber keine Zeit mehr, ihn auszustoßen.
Ich fuhr herum. Es war so schnell passiert, dass ich nicht richtig begriff, was hier vor sich ging.
Gelsa hatte ihre Klingen im selben Moment gezogen wie Hrodbar. „Nein!“
„Was ist in dich gefahren?“, donnerte Ulf. Der Platz versank in Aufruhr, als Speerkämpfer aus den Zelten und Langhäusern stürmten, die ihn umrahmten.
Also machen wir ihnen ein Friedensangebot. Wir bringen Unruhe in das Lager der Sachsen. Der erste Schritt wird sein, den Heerführer Ulf aus dem Verkehr zu ziehen. Am Morgen der Zusammenkunft nutzt du die Gelegenheit und tötest ihn. Die entstehende Verwirrung wird dein Vorteil sein.
Du übernimmst mithilfe deiner Mannen das Kommando und befiehlst den Waffenstillstand. Der Sieg Roms rückt in greifbare Nähe ohne dass der Kampf überhaupt begonnen hat.
Gelsa und ich hatten Hrodbars Wachen umstellt, aber der große Franke hatte direkt nach dem Streich gegen Siv sein Schwert gesenkt und stellte es demonstrativ vor sich auf die Spitze, während er noch die Parierstange hielt.
„Ihr wollt sicher wissen, was ich für Absichten hege. Habe ich euer Wort, Gelsa und Tyr, dass ihr mich nicht aufspießt, während ich in meine Tasche greife und einen Brief hervorziehe?“
„Du meinst, wie du es eben mit Leofric gemacht hast? Abgestochen wie eine verdammte Sau bei der Hatz?“, knurrte Gelsa.
Der Franke nickte freudig. „Ganze genau! Also, versprecht ihr, dass ihr mich nicht abstecht, wie eine verdammte Sau bei der Hatz?“
Mir wurde schlecht von seiner ungebrochen guten Laune.
Ulf schien das Gleiche zu denken, aber er ließ den Frieden sprechen. „Wir töten keinen Feind, der sich nicht verteidigt, Franke. Verstanden, Tyr?“
„Vrstndn“, stieß ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Bei Nerthus, ich brauchte all meine Kraft, um nicht zuzustoßen.
„Ich wusste, auf dich ist Verlass, Ulf. Und du kannst einer von den ganz Großen werden, Tyr, vorausgesetzt du überlebst die kommende Schlacht. Glücklicherweise“, sagte Hrodbar und förderte den Brief zutage, den Gelsa und ich ihm überbracht hatten, „habe ich eben dafür gesorgt, dass du wenigstens nicht mit einem Messer im Rücken stirbst.“
Er holte tief Luft, bevor er fortfuhr. „Also sorge dafür, dass deine Mannen nah bei Ulf und seinen Sachsen stehen. Am Morgen der Zusammenkunft nutzt du die Gelegenheit und tötest ihn.“
Wir alle standen mit offenen Mündern auf dem Platz, während Hrodbar den ganzen Brief vorlas. Ich tauschte einen Blick mit Gelsa, die ihren Speer senkte.
Habe keine Sorge, dass der Inhalt des Briefes an neugierige Augen gerät. Die zwei jungen Botschafter, die ich dir geschickt habe, sind des Lesens nicht mächtig, aber ihre Treue gegenüber dem Thiudan ist sicher. Töte sie jedoch nicht bevor sie ihren Auftrag in Ulfs Augen ausgeführt haben, um kein Misstrauen aufkommen zu lassen.
Die kleinen, spitzen Zeichen auf dem Pergament schienen mich zu verhöhnen. Ich hatte mein eigenes Todesurteil in der Tasche getragen?
„Das war übrigens mein Lieblingsstück“, warf Hrodbar ein. „Redet von Treue, während er den Tod seines Häuptlings plant.“
Während du die sächsischen Anführer und ihre Leibwachen dezimierst, achte nur darauf, dass Siv und Vaelen am Leben bleiben-
Der große Franke stoppte. „Oh, da habe ich doch glatt einen übersehen. Wie konnte mir das passieren? Das muss die allerpeinlichste Hundescheiße sein, die mir je passiert ist“, grinste er.
Vaelen war aufgesprungen und wollte Reißaus nehmen, aber Vanadis und zwei von den Friesen hielten ihn auf. Hasserfüllte Schreie wurden laut und lauter.
-und am Ende wird dein Preis gewaltig sein.Die Römer sind nicht geizig ihren Freunden gegenüber, das versicherten mir die Legaten von Confluentes und Camibrium. Du wirst die Länder der Thüringer und der Friesen erhalten, das Gebiet der Sachsen fällt an mich, als dein Vasall. Reichtum und Friede erwarten uns.
Teutates mit Euch.
Leofric von Braemfleot
„Tötet ihn nicht!“, bellte Ulf. Er stand auf. Er legte seinen Bärenpelz ab. Darunter kam ein Lederwams zum Vorschein, das die Arme frei ließ, sowie eine schlichte Hose.
Ulfs Arme waren nicht so baumstammdick wie die von Hrodbar, aber sie waren so sehnig und zäh wie Rinde.
„Dieser Hund gehört mir. Tyr! Bring mir die Waffen.“ Ich beeilte mich zu gehorchen.
„Du willst kämpfen, Ulf? Ich hätte eher gedacht, dass du einen Thing einberufst um die Sache zu besprechen“, höhnte Vaelen. Er hatte sich von dem Schreck erholt und einen überheblichen Blick aufgesetzt. Er riss sich von Vanadis los.
Sie ließ ihn gewähren, achtete aber darauf, dass er keinen Fluchtweg hatte.
Ich hielt kurz Gelsa zurück, die Ulf zur Seite springen wollte, und überreichte dem alten Häuptling Glede und Sorg. Die zwei Schwerter, die der Klolp, Olaf und ich aus dem eisigen Norden mitgenommen hatten, und die, wie man sich sagte, von Priestern des Teutates und des Thor verzaubert waren.
„Können wir ihn wirklich gegen Vaelen kämpfen lassen?“, wollte Gelsa wissen.
Ich warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Schau besser gut hin.“
Ulf hatte Vaelen Glede vor die Füße geworfen. Einige Kämpfer stöhnten auf, denn jeder von ihnen hätte dieses Schwert gern besessen. Einen Speer und ein Schwert zu besitzen eröffnet einem die Welt, aber dieses Schwert zu besitzen bedeutete, dass man unter Königen wandelte.
Einem Verräter mit dieser Geste ein so kostbares Schwert zu geben, zeigte, wie wenig Lebenszeit Ulf ihm noch zugestand.
Und einem Bären von einem Mann einen riesigen Anderthalbhänder auszuhändigen zeigte, welches unerschütterliche Selbstvertrauen Ulf immer noch in seine Schwertkunst hatte.
Sorg hatte er sich in die Armbeuge geschmiegt und hielt es dort als wäre es ein Neugeborenes. Er sah aus wie ein eher ärmlicher Schwertkämpfer, während Vaelen mit seiner breiten Brust und Glede in der Hand beinahe vor Kraft zu strahlen schien.
Die Abendsonne spiegelte sich in der hellen Klinge und brachte die gekräuselten Muster in der Dunklen hervor.
Ulf richtete die Spitze von Sorg auf Vaelen. „Du verrätst uns? Erzählst uns Lügen? An einem Tag wie heute?“
„Du bist ein alter Mann und ein Narr. Deine Tatenlosigkeit hat unser Volk zum Tod verdammt. Bah.Ich schlage dir den Schädel ein und mache einen Becher daraus!“
Ulf verzog die Lippen. „Das scheint mir keine gute Reihenfolge zu sein.“
Darüber musste Hrodbar lachen und viele seiner Franken stimmten ein.
Dann ging es los. Ohne weitere Worte umkreisten sich die beiden Kontrahenten zunächst. Vaelen machte einige Ausfälle, denen Ulf auswich. Der alte Häuptling bewegte sich mit einer Leichtfüßigkeit, die man nicht erwarten würde, während Vaelens schiere Kraft bis in die hinteren Reihen spürbar war.
Die Umstehenden Krieger machten Ahh und Ooh wann immer Ulf dem großen Schwert besonders knapp entging. Er wiegte sich hin und her wie Gras im Wind. Seine eigene Klinge trug Ulf dabei immer noch in die Armbeuge gebettet. So ging das eine Zeit lang, während zwischen den behelfsmäßigen Zelten Ruhe einkehrte.
„Was ist los, alter Mann? Hast du Angst, deine kümmerliche Klinge könnte dich im Stich lassen?“ Vaelen blinzelte sich den Schweiß aus den Augen, während wieder ärgerliches Gemurmel laut wurde.
„Ich weiß nicht, wie er es macht, aber das will ich auch können“, flüsterte Gelsa ehrfurchtsvoll.
Und Ulf ging zum Angriff über. Er hörte nicht auf, um Vaelen herumzutanzen, ließ ihm keine Ruhe, zu Atem zu kommen. Immer wieder stieß die matte Klinge von Sorg vor. Immer wieder war es nur eine Finte und der alte Mann war schon wieder ganz woanders.
Vaelen, der mächtige Kämpfer, sah aus, wie ein Kind, das den Finger seiner Mutter nicht zu fassen bekam.
Schließlich drehte Ulf sich einmal um die eigene Achse, das Schwert zuckte auf und ab. Es klirrte zweimal laut und Glede wurde Vaelen aus der Hand gerissen.
„Du wirst nicht in die Halle des Großen einziehen.“ Ulfs ruhige Stimme wehte über den Platz.
Aus dem Staunen der Menge wurde jetzt ungehemmter Jubel. Friesen, Kimbrer und Sachsen stürmten vor und Ulf wurde emporgehoben. Ein kurzes, ein ganz kurzes Lächeln unterbrach seine verkniffene Miene.
„Warum hat er es nicht angenommen?“, schrie Gelsa mir über den Lärm hinweg zu. „Es wäre wirklich leicht gewesen, und danach wäre er der Herr aller Germanen. Ich verstehe dadas nicht.“
Ich dachte an Hrodbars Fest in Antorf, an den Thing und an all die Stämme, die sich hier versammelt hatten. Und ich glaube, ich verstand e.
Während der Kampf so sein jähes Ende nahm, ertönten hinter uns die Hörner der Späher, die zurückkamen.
Gelsa sah mich an, ich sah Gelsa an. Die wirkliche Arbeit begann erst noch.
An den Legaten von Camibrium
Guten Tag, alter Knabe. Falls du meinen Boten am Leben gelassen hast, weißt du sicher, wer ich bin. Mein Name ist Hrodbar. Ich habe das Vergnügen eine große Heerschar germanischer Recken anzuführen und hier und da ein wenig Handel zu treiben. Inzwischen bin ich sogar mit den Sachsen gut Freund.
Doch einer kam auf die Idee, dass er mich kaufen könnte. Ihr könnt Euch vorstellen, dass mich der Gedanke entsetzt. Immerhin kommt das fast einem Todeswunsch gleich.
Jetzt muss ich mich aber fragen, wer hat ihm diese Idee in seinen Quadratschädel gehämmert?
Da habe ich schon einen Verdacht. Ich glaube, ich werde euch von dem Verdacht erzählen, so von Mann zu Mann. In einem schönen, vertraulichen Gespräch.
Ja, das werde ich wohl tun.
„Morgen soll endlich der Tag sein,
an dem sich mein Leben verändert!
Morgen soll endlich der Tag sein,
an dem mich die Freiheit begrüßt!“
Das Morgen von jenem Gestern
soll nun in diesem Moment sein.
Das Morgen von jenem Gestern,
mein Traum, der sich endlich erfüllt.
Ich werde wieder frei sein
und meine Ziele verfolgen.
Ich reiße mich jetzt los
von allem, was mich hier noch hält.
Der Brief in meinen Händen
soll meine Rettung sein.
Kündigung
Sehr geehrter Herr Schwarz,
hiermit beende ich meinen Arbeitsvertrag, der am 01.09.2015 geschlossen wurde, fristgerecht zum 01.03.2019.
Was ist das, ich zweifle nun?
Nein, ich muss es endlich tun!
Ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit mit Ihnen sowie allen Kollegen. Ich konnte in den vergangenen Jahren vieles lernen, das ich auch für meine Zukunft nutzen können werde. Ich bedauere, diesen Schritt tun zu müssen, und wünsche Ihnen sowie dem Unternehmen weiterhin alles nur erdenklich Gute.
Bitte erstellen Sie mir ein qualifiziertes Arbeitszeugnis und lassen Sie mir dieses an meine oben genannte Adresse zukommen.
Mit freundlichen Grüßen
Zitternd senke ich die Hände,
schließ die Augen, atme tief.
Warum ist das nicht so einfach,
wie's in meinem Kopf ablief?
Unterschreiben und dann schnell zur
Personalabteilung geh'n
und in nicht mal vierzehn Tagen
als ein freier Mann aufsteh'n.
Was kann schiefgeh'n? Was soll schiefgeh'n?
Ist doch alles schon geplant!
Bald erleb' ich Abenteuer,
ich hätt's früher nie geahnt!
Was kann schiefgeh'n? Vieles. Alles!
Ich verliere noch die Welt.
Meine Frau und meinen Sohn und
alles, was im Leben zählt.
Was, wenn „Freiheit“ dann am Ende
nur „nichts zu verlieren“ heißt,
frei zu sein von der Verlustangst,
weil sie alles mir entreißt?
Ist's das wert, dem Traum zu folgen,
niemals mehr zurückzukehren?
Kann mein Traum es wert sein, meinem
Sohn den seinen zu …
Nein, wie konnte ich es wagen,
den Gedanken zuzulassen?
Wäre ich so egoistisch,
meine Frau würd' mich …
Jeder würde mich verlassen!
Warum sollte ich das tun?
Warum sollt' ich sie verletzen?
Für mich selbst?
Für mein Ego?
Für … wen?
Wofür denn?
Um einem alten Traum hinterherzujagen,
einem Traum, der mich am Ende doch nicht weiterbringen wird,
bis ich bemerke, dass das, was ich wirklich wollte,
dass das, was mir wirklich etwas bedeutete,
für immer verloren sein wird?
Ich würde ihnen doch nie wieder in die Augen blicken können.
Ich wäre allein.
Ich hätte die verletzt, die immer für mich da waren.
Ich bin doch kein kleines Kind mehr.
Manchmal …
Verantwortung übernehmen.
Das muss ich.
Und zwar jetzt.
Heute soll nicht der Tag sein,
an dem sich mein Leben verändert,
wenn die Veränderung heißt,
dass ich meine Liebsten verletz'.
Kein einziger Traum meines Lebens
kann diesen Preis jemals wert sein.
Kein einziger Traum auf der Welt
verzeiht, was ich um ein Haar tat.
Mein Sohn, meine Frau, meine Liebsten,
sie brauchen mich, wie ich auch sie brauch'.
Mein Sohn, meine Frau, meine Liebsten
verlassen sich immer auf mich.
Der Brief in meinen Händen,
zerrissenes Papier.
Ein unordentlicher Raum, beleuchtet durch ein offenes grünes Feuer im Zentrum. Die Wände sind mit Regalen bedeckt, vollgestopft mit alten Büchern, verrosteten Instrumenten, getrockneten Pflanzen, Gläsern mit bunter Flüssigkeit. Neben dem Feuer steht ein rundes Marmortischchen, darauf zu findend sind zwei Einmachgläser und ein fussballgrosses, goldenes Schneckenhaus.
Eine hagere Frau mit schwarzer Kleidung und fettigem, grau-schwarzem Haar betritt den Raum (ihr Gesicht und ihre Hände mit Kohle verschmiert).
Bayaba: (schleppt einen schweren Kessel in den Raum, mit jedem Schritt wütend aufstampfend) Heute muss sie dran glauben! Heute bezahlt sie! Heute ist fertig!
Aus dem Schneckenhaus schaut ein schwarzer Schneckenkopf hervor.
Radula: Hm, dem Stampfen zufolge ist jemand nicht so zufrieden von ihrem Familienfest zurückgekommen... Wie ging es denn?
Bayaba: (Hängt den Kessel an einem eisernen Haken über dem Feuer auf und schaut die Schnecke mit einer wütenden Grimasse an) Stell keine dummen Fragen!
Radula: Ui, ui. Dann stelle ich eben eine andere: Wie geht es denn deiner Schwester Theka? Die bringt mir doch immer so schöne Alraunen mit, und ich habe sie so lange nicht mehr gesehen...
Bayaba: (Schnauft) Elend soll‘s ihr gehen! Meinen schönsten Mantel hat sie ruiniert!
Radula: Aber doch nicht Theka!
Bayaba: Aber ihr verdammter Köter eines Lindwurms! Setzt das ganze Ding einfach so in Flammen! Fast zweihunderjährig war der, es war mein Lieblingskleidungsstück! Furchtbar soll es ihr ergehen, und dafür helfe ich gerne nach!
Radula: Aber dafür gleich Theka verfluchen, also nein. Denk doch an die Alraunen! Wie süß die doch sind... Deine schmecken nie so gut!
Bayaba: Vergiss die Alraunen, Gerechtigkeit ist das größere Gut! (Nimmt aus einem der Regale ein Buch heraus, blättert herum und klatscht es vor Radula auf den Tisch) Und jetzt lies!
Radula: Ja warum denn ich?
Bayaba: (wütend gestikulierend) Weil meine Brille in meiner Manteltasche verstaut war! Und nun mach schon!
Radula: Ja so, ja so, ja dann... (Kriecht zurück in ihr Schneckenhaus, man hört wie Gegenstände herum geschoben werden, anschließend kommt sie wieder mit einem Monokel zurück) Ja was haben wir denn da... (Räuspert sich)
Willst du einen Unhold rügen
Musst du nur zusammenfügen:
Federkeil vom Hippogryph
Der Chimära bestes Stück
Nephrolith vom Wendigo
Yetis Magenkarzinom
Bibergeil vom Castorbeutel
Dreizehn Unzen Alpenkräuter
Fafnirs linker Lungenflügel
Wein von Liliths Rebenhügel
Minotaurus‘ Schädelkochen
Alles gut in Säure kochen
Eines Schecken Gmaranam
Und alles kommt erfolgswirksam.
Bayaba: (Die währenddessen mit geübter Hand alle genannten Zutaten in den Topf wirft) Hä, was ist denn ein Gmaranam?
Radula: Ach, das ist so ein moderner Schnickschnack den sich junge Hexen so ausdenken, so ein neues Modelebensmittel, vieeel zu teuer, hm-hm. Dafür kannst du ruhig Hufkleie nehmen!
Bayaba: Aha? (Geht zu einem der Regale und greift nach einer Holzschatulle) Wenn das so ist...
Bayaba schmeißt eine handvoll Hufkleie hinein. Mit einem reibenden Geräusch schwebt neonpinker Rauch aus dem Topf und fließt sachte zu Boden.
Bayaba: (Rümpft die Nase) Hä? Der Rauch hat eine völlig falsche Farbe! Und zu schwer ist er auch! (Steckt ihr Gesicht in den Topf) Und reichen tut‘s wie... (In Schock) Ah!
Als Bayaba den Kopf wieder herauszieht, ist ihr Gesicht von grünen Pusteln überzogen. Sie schreit hysterisch, nimmt auf einem Regal einen Handspiegel hervor, schaut hinein und schreit lauter.
Radula: (Schüttelt den Kopf) Au weh, das ist jetzt aber nicht optimal. Vielleicht hättest du doch zerstoßenes Kronbein nehmen sollen?
Bayaba: Radula, du Verräterin! (Lässt den Spiegel fallen, packt die Schnecke und hebt sie auf; Schnecke löst sich mit einem hörbaren Schnatzen von der Tischplatte) Unnütze Schleimerin! Was hast du gemacht?!
Radula: (Mit zittriger Stimme) V-v-vielleicht lässt sich das noch retten - (auf den bösen Blick Bayabas hin) was rede ich da, es lässt sich retten, nur bitte, bitte bring mich zurück auf meinen Tisch, um der Götter Willen zurück auf meinen Tisch!
Bayaba: (Stellt die Schnecke zurück) Dann löse du mir aber gefälligst! (Verlässt kurz den Raum, kommt mit einer flachen Schüssel zurück)
Radula: (Blättert währenddessen mit den Fühlern im Buch herum) Hm-hm, ja ja... Da haben wir sie ja!
Mach aus deinem Krötengesicht, oder Froschgesicht, oder Mondgesicht, oder überhaupt irgendein Gesicht, eine pläsanten Hagzissen-Fratze!
Man nehme etwas geschmolzenes Neuschneewasser, berührt von einem sehr jungen Vollmond (eine Stunde alt). Trinke drei große Schlücke und leere den Rest in ein versilbertes Gefäß.
Man füge bei das Horn eines jungfräuliche Narwals, zerstoßen mit einem steinernen Mörser unter gleißender Mittagssonne in geeigneter Menge, bis die Mischung bindet.
Man mische darunter etwas wohlriechende Öle der Nereiden, Nixen oder Nymphen (ganz nach eigenem Geschmack!) und rühre die gesamte Masse dreizehnmal im Gegenuhrzeigersinn.
Paste nun ganz sanft und gleichmäßig im Gesicht einmassieren mit einer Bürste aus Pixie-Borsten.
Bayaba: (Mischt energisch alle Zutaten auf dem Marmortisch zusammen, nimmt die Paste auf de bare Hand und schmiert sie großzügig ins Gesicht) So...
Radula: (Noch immer dem Buch zugewandt) Uff, oh je oh je.
Bayaba: (Schaut sie mit zugekleisterten Augen an) Was soll das jetzt wieder heißen?!
Radula: Ich Dummerchen. (Schüttelt sanft den Kopf) Da steht ja „keine Stunde alt“, nicht „eine“.
Bayaba: (Hebt den nun verbrochenen Spiegel vom Boden auf und reibt sich eilig die Creme vom Gesicht) Wehe du hast wieder... (Schreit, als sie ihr lavendelfarbenes Gesicht sieht, packt Radula und hält sie drohend über den Dämpfen des Topfes) Gib mir einen Grund warum ich nicht gleich dein staubiges Haus in den Topf schmeiße!
Radula: (Ängstlich) Wa-wa-weil ich weiß, wie ich auch dieses Hautproblem wieder löse! Im Buch, im Buch, b-bitte bring mich zurück zum Buch, ja, so, vielen Dank...
Bayaba: (Stellt Radula zurück, erlässt den Raum, kommt mit einem dreibeinigen Kessel zurück, den sie über das Feuer stellt) Jetzt solltest du aber aufpassen, Freundchen...
Radula: Nur Geduld, nur Geduld...
1 Stk. Loreleylocke ................................ Verbrennen
1 Tasse Poltergeistspucke .................... Mit Asche mischen
1 Tatzelwurmschuppe (blau) ............... Zerstoßen, hinzufügen
¼ Klabautermann Fingerkuppe ........... Darin einen Moment einweichen lassen
Warten, bis Trunk schäumt. Schaum abschöpfen und innerhalb eines Tages konsumieren, ansonsten kühl bis zu einer Woche lagern. Übrige Zutaten verbrennen (Achtung: Verbrennung mit Höllenfeuer erzeugt gefährliche Gase).
Bayaba: (Stellt Glas mit einem ¾ Finger in Konservationsflüssigkeit auf den Marmortisch und schaut prüfend in den Kessel) Und wenn das nicht schäumen tut?
Radula: Das ist seltsam, so wird das wohl nichts...
Bayaba: (Kickt den Kessel um; türkise, leicht viskose Flüssigkeit verteilt sich über dem Boden) Radulaaa!
Radula: (Schaut sich die Etikette auf dem Glas an) Ah, aber da haben wir‘s ja, so klappt das natürlich nicht...
Bayaba: Was?!
Radula: (Mit amüsiertem Unterton) Haltbarkeitsdatum überschritten!
Bayaba: (Schlägt die Hände vors Gesicht, gedämpfter Schrei) Das darf doch nicht wahr sein, all die Zutaten für die Katz'! ... Und das ist alles deine Schuld!
Bayaba tritt den Marmortisch um. Radula zieht sich mit einem Schreckenslaut rasch in ihr Haus zurück, während die flache Schüssel runter fällt und der Tisch den zweiten Topf umwirft; beide Flüssigkeiten fließen über den Boden. Die Inhalte vermischen sich; mit einem lauten Knall füllt sich den Raum mit Rauchschwaden.
Radula: Huch! Oh je, oh je...
Bayaba: (Hustend) Ärger, nichts als Ärger hab ich mit dir! Eine verdammte Katze hätte ich nehmen sollen, die kann wenigstens -
Man hört ein Telefon klingen. Der Rauch lüftet sich langsam, beide schauen sich verwundert an an. Bayaba verlässt den Raum, kommt mit einem Hörer in den Hand zurück, stellt den Marmortisch wieder auf und legt Radula und den Hörer darauf.
Bayaba: (Flüstert laut) Ich bin NICHT zuhause!
Radula: Ja ja, nicht da... Guten Tag, Grosshexenmeisterin Bayaba ist derzeit nicht verfügbar, hier spricht Radula?... Ja, guten Abend, Theka! (Nickt Bayaba zu) Lang ist‘s her! Wie geht es denn dem Garten? Hmhm? Und deiner Wenigkeit? (Keucht) Nein, ein Unfall?! (Nickt Bayaba immer enthusiastischer zu) Nein, das ist ja schrecklich! Wie kann so was nur passieren? Mit dem Besen in ein Gewitter gesaust! Gut habe ich keinen Pelz, das stellt einem ja alle Haare zu Berge. Glaubst du, dass - nein, du glaubst doch nicht etwa, du wärst... Verflucht worden?
Bayaba: (Gesicht hellt langsam auf, wirbelt mit Fäusten in der Luft herum, flüstert laut) Elend, elend soll‘s ihr gehen! (Kichert böse und verlässt leichten Schrittes den Raum, leicht singend) Elend, elend...
Radula: (schaut Bayaba hinterher, spricht mit gesenkter Stimme) ... Ja, jetzt ist sie weg. Nein, sie hört mich nicht mehr, sie feiert. Wahrscheinlich holt sie - jetzt holt sie die Geige, Achtung, jetzt -
Man hört eine verstimmte Geige spielen und Bayaba jauchzen.
Radula: Jetzt fiedelt sie. Ach, ihre Hände sind ja auch voller Pusteln. Was? Ja, nein, hier gab‘s ein paar fehlgegangene Experimente. Nein, Bayaba vermutet nichts, die hat gerade einen Höllenspass, die denkt doch tatsächlich, das war sie! Haha! Hinke beim nächsten Besuch einfach ein bisschen rum, die bemerkt doch nichts. Ach, keine Ursache, dieser Freundschaftsdienst! Nein, dafür brauchst du dich doch nicht zu revanchieren, schön, hast du mir vorgewarnt, der Plan ist doch wunderbar aufgegangen - nein, du brauchst wirklich nicht - nein - nun - also gut, weißt du - glaubst du, du hast noch ein wenig von deinen Alraunen auf Vorrat? …
mit Verweis auf die Ballade » Erlkönig « von J. W. v. Goethe
„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.“
Es war bereits nach Mitternacht, als jemand klingelte, und, als niemand öffnete, nahezu panisch klopfte. Sam, welcher beim Fernsehen auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen war, lief mit taumelndem Gang zur Tür – die drei bis vier Bierflaschen, die er während des Footballspiels ausgetrunken hatte, standen noch auf dem Laminatboden verteilt.
„Ich komme ja schon!“, rief er durchs ganze Haus.
Auch David wurde vom Lärm geweckt. Der Siebenjährige schliff seinen Teddybären aus dem Zimmer in der ersten Etage und schaute vom Treppengeländer hinunter. Dort standen zwei Polizeibeamte direkt neben seinem Vater, der sich kaum halten konnte.
„Wenn Sie Hilfe benötigen … wenn Sie seelische Unterstützung brauchen, rufen Sie uns einfach an“, erklärte einer von ihnen.
Sam verschloss die Haustür mehrmals, nachdem die Beamten gegangen waren. Als er sich umdrehte und nach oben schaute, bemerkte er seinen Sohn, der immer noch am Treppengeländer stand und doch vollkommen ahnungslos war.
„David …“
„Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht!
Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“
Das Leben musste weitergehen und so versuchten die beiden, das Beste aus ihrem zu machen. Sechs Jahre nach dem Tod seiner Ehefrau bekam Sam einen besserbezahlten Job im mittleren Westen und war gezwungen, gemeinsam mit seinem Sohn umzuziehen. David tat sich mit dieser Entscheidung zu Beginn sichtlich schwer, doch sein Vater war guter Dinge, dass sich das, sobald sie im neuen Heim ankämen, ändern würde.
Eines Abends, als Sam seine weltberühmte Instant-Nudelsuppe in der Mikrowelle warm gemacht hatte, konfrontierte ihn sein Sohn.
„Dad, i-ich“, stotterte David mit gebrochener Stimme, „Kannst du mich morgen bitte krankmelden?“
„Das kommt gar nicht erst in Frage!“, antwortete er.
„Dad, bitte!“
Sam hörte auf der Stelle auf zu essen und legte sein Suppenbesteck an den Tellerrand.
„David, du bist kerngesund!“
David schaute betrübt auf die Tischdecke, während eine einzelne Träne an seiner rechten Wange nach unten floss.
„Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?“
„Dad, i-ich … niemand an der Schule mag mich.“
„David“, begann er, „das wird schon wieder, glaub mir! Du musst einfach nur etwas offener werden, wenn du verstehst, was ich meine.“
Sam stand von seinem Platz auf und klopfte David zweimal fest auf seine Schultern.
„Wird schon wieder Champ, oder?“
„Du liebes Kind, komm geh' mit mir!
Gar schöne Spiele, spiel ich mit dir,
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“
David erzählte seinem Vater nach diesem Gespräch kaum noch etwas von dem, was an der Schule passierte. Es gab nichts zu erzählen, was ihn interessieren würde. Er würde es eh wieder herunterspielen.
Dabei hatte David in der Zwischenzeit Freunde gefunden, wie er meinte. Einer seiner Mitschüler setzte sich eines Tages neben ihn an und berichtete ihm von etwas, was sein Leben auf den Kopf stellen würde. Etwas, was ihn glücklicher machen würde. Etwas, was seine Noten auf der Stelle verbessern würde. Für einen kleinen Preis verstand sich. Der Schüler wurde neugierig und wollte mehr wissen, doch der Typ, welcher zwei Jahre älter war als er selbst, meinte zu ihm, dass das bis Schulende warten müsse.
„Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht?
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind,
In dürren Blättern säuselt der Wind.“
Sam bemerkte, dass sich sein Sohn veränderte. Das machte ihn stolz; er hoffte, dass er sich, wie er immer vermutete, allmählich an das neue Leben gewöhnen würde. Dass er mittlerweile kaum noch mit ihm über seine Angelegenheiten reden wollte, schob er auf die Pubertät – so auch die Tatsache, dass er nicht nur in die Höhe spross, sondern auch in Folge dessen leicht abmagerte und zudem allmählich unangenehm roch.
„Willst feiner Knabe du mit mir geh'n?
Meine Töchter sollen dich warten schön,
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“
David war wie sein Vater kaum noch Zuhause. Sam musste beinahe jeden Tag bis spät abends im Büro sitzen – und dies nutze sein Sohn schamlos aus. Zwar erzählte er seinem Vater, dass er direkt nach der Schule, welche er insgeheim seit mehreren Wochen schwänzte, nach Hause kommen, Mittag essen und dann bis abends Videospiele spielen würde. Manchmal würde er mit ein paar Klassenkameraden Hausaufgaben erledigen oder Basketball spielen. Doch in Wahrheit verbrachte er die meiste Zeit mit seinen neuen sogenannten Freunden im Skatepark, der berüchtigt dafür war, ein wahres Drogenparadies zu sein. Dem nicht genug, denn wenn er drohte pleite zu gehen, klaute er etwas Kleingeld aus der Haushaltskasse, die auf dem Kühlschrank stand und hoffte, er würde niemanden auffallen.
„Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düsteren Ort?
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau.“
Um nicht aufzufallen, verbrannte David insgeheim die Briefe, die wegen seines unentschuldigten Fehlens von der Schule kamen. Doch nachdem nach diesen keine Reaktion kam, sah sich die Schulleitung dazu gezwungen, einen Anruf zu tätigen.
Am Abendtisch – der einzigen Zeit, in der sich Sohn und Vater sahen – klingelte plötzlich das Smartphone des Vaters.
„Hallo?“
Anhand seines Gesichtsausdruckes konnte David bereits erahnen, worum es geht.
„Bitte, was?“, fragte Sam perplex nach und ließ dabei fast das Handy aus der Hand fallen. „Danke für Ihren Anruf. Ich werde mich schnellstmöglich um das Problem kümmern!“
David versuchte im letzten Moment zu flüchten, doch es gelang ihm nicht.
„Du bleibst auf der Stelle stehen!“, rief Sam ihn zu sich. „Du kannst dir denken, wer das war, oder? Was fällt dir eigentlich ein, seit mehr als vier Wochen die Schule zu schwänzen? David, ich rede mit dir!“
„Dad, i-ich …“
„Weißt du was, du kannst dir deine Ausreden sparen! Du hast ab sofort Hausarrest!“
„Ich lieb dich, mich reizt deine schöne Gestalt,
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an,
Erlkönig hat mir ein Leids getan.“
Am darauffolgenden Tag nahm sich Sam nachmittags frei. Er holte seinen Sohn von der Schule ab und fuhr ihn daraufhin sofort nachhause.
„Ich werde bis abends auf Arbeit sein“, sagte Sam. „Du brauchst erst gar nicht versuchen, das Haus zu verlassen.“
Es waren nicht einmal fünf Minuten vergangen, als sein Vater das Haus verlassen hatte, da versuchte David bereits, durch die Haustür nach draußen zu gelangen. Doch es funktionierte nicht. Die Tür war abgeschlossen und nach der vergeblichen Suche nach einem Ersatzschlüssel stampfte er genervt die Treppen zu seinem Zimmer hinauf. Dort wollte er sofort seine Spielekonsole anwerfen, doch auch sie war wie der Schlüssel wie vom Erdboden verschwunden.
Genervt öffnete er den Rollschrank unter seinem Bett und fand dort etwas Medizin, die er am Vortag von seinem besten Freund abgekauft hatte. Er hatte sie noch nie ausprobiert und erhoffte sich, dass sie die Zeit schneller vorbeischleifen ließ.
„Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not,
In seinen Armen das Kind war tot.“
Sam kam wie versprochen erst am späteren Abend nach Hause.
„David“, rief er durchs Haus, als er heimkam, „hast du heute schon zu Abend gegessen?“
Doch er bekam keine Antwort. Sofort spazierte er nach oben; bereitete seine Stimme darauf vor, seinen Sohn anzubrüllen und ihn zur Rede zu stellen, wieso er ihm nicht antworten würde. Er öffnete die Tür und fand seinen Sohn verkrampft am Boden zitternd. Sofort fiel auch er und griff nach seinem Smartphone in seiner rechten Hosentasche.
„Alles wird gut“, sprach nun er mit gebrochener Stimme. „Alles wird gut, David!“
Max‘ Entschluss stand fest. Dieses Mal würde er die aberwitzige und nahezu hinrirssige Tat wagen. Dies war seine letzte Chance. Er fühlte, dass es seine letzte war. Wenn er es heute nicht täte, dann würde er es nie versuchen und seines Lebens nicht mehr wirklich froh sein.
Er war schon in die Straße eingebogen und tat bereits die Schritte auf das Haus zu. Sein Herz pochte mit jedem Schritt aufgeregter und immer lauter. Widersprüchlich, wie es das ganze Jahr über gewesen war, schrie es förmlich „Tu es nicht!“ und doch verlangte es von ihm, dass er dies tun musste. Er hielt inne. Noch wäre tatsächlich die Gelegenheit umzukehren. Es wurde noch kein Schaden angerichtet. Wenn er jetzt ginge, dann hätte er noch immer etwas Schönes, auch wenn es ihn nach mehr verzehrte. Unentschlossen darüber, weiter zu gehen oder umzukehren, raufte Max sich die Haare. Wieso musste es sich als derartig schwierig erweisen? Er hatte es schon in der Schule vollbracht, vor der Menge seiner Klassenkameraden Referate zu halten. Alleine und dazu den Blick von rund zwanzig Personen auf sich gezogen. Und da hatte es ihn nie gestört, auch nicht, dass Julia Mason auch dabei war und ihn – so hoffte er es – aufmerksam dabei zusah, wie er wacker standhielt. Hatte er sie je mit seiner Courage beeindrucken können? Sie kannte ihn von früher, bevor sie für ein paar Jahre nach der Grundschule weggezogen war. Er war ein großer Angsthase, wenn es um solche Angelegenheiten ging, und er war stets froh gewesen, dass sie als seine beste Freundin bei ihm blieb und ihm Mut machte.
Dann vor einem Jahr, als er gerade die Mittelstufe absolviert hatte und sich voller Stolz Oberstufen-Schüler nennen konnte, trafen sie sich wieder. Insgeheim hätte er Julia verfluchen können. Nicht etwa, weil sie ihm etwas Böses tat. Ganz im Gegenteil. Es war, als wäre ein Stück seiner selbst wieder gekehrt und er war freudig überrascht gewesen, sie wieder in seiner Nähe zu haben. Er hätte es gern gehabt, mit ihr wie zu Zeiten der Grundschule die Pause zu verbringen und über andere zu blödeln und ihre Pausenbrote miteinander zu teilen. Doch zwischen diesen Zeitpunkten lagen Jahre, wo sie kaum voneinander was hörten. Es war erstaunlich, wie jemand sich in so einer Zeit verändern konnte. Auch er selbst hatte sich verändert: Er war in die Höhe geschossen und war nun stämmig. Seine einstigen weichen Polster sind zunehmend straffer geworden und auch sein Asthma hatte sich gelegt. Und sie hingegen ...
Max seufzte. Sie tat denselben Schritt wie er und tat dies um ein Hundertfaches besser. Entweder war er in der Grundschule blind gewesen oder er hatte nie wirklich realisiert, wie wunderschön Julia doch war. Nach all den Jahren bis zu dem Tag, an dem er ihr das erste Mal in der Oberstufe wieder begegnete, war es, als wäre ihm all dies mit einem Faustschlag bewusst geworden. Er hatte sofort bemerkt, wie ihr braunes Haar wie ein seidener Vorhang auf ihre Schulter fiel und einzelne Strähnen ihr Gesicht umrahmte. Die großen runden Augen, die von einem herzenswarmen Braun erfüllt waren, wurden kunstvoll von einer einzelnen Schicht Eyeliner umrahmt. Sonst trug sie kein Make-Up, was ihrem runden wohlgeformten Gesicht nur zu Gute kam. Und er war froh und betroffen zu gleich: Noch nie zuvor in seinem Leben war er von so einer natürlichen Schönheit verzaubert. War es denn ein Fluch, der seit jenem Tag des Wiedersehens sein Herz wild pochen ließ, wenn Julia sich in seiner Nähe befand? Oder ihr breites Lächeln, wenn sie mit ihm und deren gemeinsamen Freunden sprach.
Denen war seine Reaktion nicht entgangen. Und als hätten sie alle dasselbe Urteil gebildet, hatten sie ihn eines Tages zur Seite genommen und ihn zur Rede gestellt. „Gib es zu“, hatten sie ihm lachend in die Seite gekniffen, als er es zu leugnen versucht hatte. „Julia gefällt dir!“ Sie mussten ihn nicht daran erinnern. Schon als sie Kinder waren hat sie ihm gefallen. Erst mochte er sie als Freundin, mit der er immer etwas unternehmen konnte. Er konnte sich damals immer auf sie verlassen und sie stand für ihn ein, als er damals aufgrund seiner Pummeligkeit gehänselt wurde. Er konnte nicht anders als sie stets für ihre enorme Größe zu bewundern, obwohl sie zu den Kleineren ihrer Klasse gehörte. Seine Zuneigung ihr gegenüber wurde immer größer und größer, je mehr sie voneinander kennen lernten. Auch sie war eine Art von Nerd, wie er es war. Sie kannte sich mit einigen bekannten Spielereihen und Filmserien aus. Selbstverständlich hatte es sich angeboten, dass sie desöfteren Partnerkostüme für Verkleidungs-Anlässe trugen. Und dafür wurden sie als das Dream-Team ihrer Altersgruppe angesehen.
Wie hatte er sie doch vermisst, als sie getrennt waren und er an die Zeit zurück dachte. Und wie fröhlich es ihn stimmte, dass sie nichts von alldem eingebüßt hatte. In privaten Momenten konnten sie immer noch über etliche Dinge fachsimpeln, für die sich interessierten. Und wie sie hitzig und doch lachend aneinander geraten waren, wenn sie sich in einem Zentralpunkt nicht einigen konnten. Es hätte wirklich wie früher sein können: eine unumstößliche Freundschaft, wo sich beide aneinander Halt gegeben hätten.
Doch, wenn er ganz tief in sich horchte, wusste er es schon immer. Er sah stets die Möglichkeit, dass sich daraus mehr entwickeln könnte. Die Beziehungen, die in ihrer jahrelangen Trennung folgte, vermochten ihn nicht so derartig zu erfüllen wie es die gemeinsame Zeit mit ihr tat. Und als er nach der letzten unschönen Geschichte mit einem verlogenen Miststück wusste, was er von einer Lebensgefährtin erwartete, fielen seine Gedanken seit jenem Tag des Wiedertreffens immer wieder in Julias Richtung. Sie war es, mit der er zusammen sein wollte. Seine Freunde brauchten ihn weder zu drängen noch zu überreden, denn diesen Entschluss hatte er a priori schon gefasst. Doch wusste er das ganze Jahr über nicht, wie er sie hätte darauf ansprechen sollen. Zwar mochte sie es nachwievor, ihre Zeit mit ihm zu verbringen, und sie hatten auch schon sehr oft Zeit miteinander verbracht: Da war der Rummel im Herbst, das Schlittschuhfahren im Winter und der Frühlingstanz ihres Tanzkurses.
Max lächelte zufrieden. Es erfüllte ihn mit großer Glückseligkeit, dass er wieder mit ihr zusammen sein und etwas unternehmen und dabei Spaß haben konnte. Doch was wäre, wenn sie nicht auf dieselbe Art und Weise fühlte wie er? Die Freundschaft wäre dann nicht mehr möglich. Das war die Befürchtung, der fürchterliche Gedanke, der ihm schlaflose Nächte bereitete und ihn immer wieder panisch zurückziehen ließ, wenn er sich ihr offenbaren wollte. Er war froh, dass er es stets geschickt verbergen konnte, dass ihn etwas bedrückte, wenn sie in seiner Nähe war. Doch er konnte es nicht mehr aushalten. Allein um seiner Willen, aber auch weil er immer ehrlich zu ihr sein wollte, musste er nun den entscheidenden Schritt wagen. Ein Schritt, der so groß sein sollte wie eine Schlucht breit und die Chinesische Mauer lang war.
Es musste mittlerweile komisch aussehen, wie ein Junge von siebzehn Jahren wie angewurzelt auf dem Gehweg stand, während ihr Haus und zu seiner schreckhaften Überraschung das Fenster ihres Zimmers in Sichtweite war. Wenn Julia in dem Moment hinausschaute und ihn wie angewurzelt dort versteift stehen sah, dann würde sie sich zurecht Gedanken darüber machen, was mit ihm los sei. Obwohl sein Körper vor Anspannung bebte, atmete er tief ein und aus und schritt mechanisch an die Haustür ihres Hauses. Sein Klopfen bemerkte er fast nicht, denn es hallte in weiter Ferne in seinen Ohren.
Die Tür öffnete sich und Julias Vater öffnete. Er blickte ihn von oben herab an. Zwar kannten sie sich genauso lange und waren an sich gut befreundet, doch war Herr Mason stets fürsorglich, wenn es um seine Prinzessin ging. Das Gesicht des älteren Herren wirkte wie versteinert, als könnte er sehr gut ansehen, weswegen Max da war. „H... Hi...“, sagte er zaghaft. „Ist-“, doch Herr Mason rief hinter sich nach seiner Tochter, die auch antwortete. Als er ihr zurief, dass sie Besuch hätte, blickte er wieder zum Zwerg hinunter; zumindest fühlte Max sich kleiner als zuvor, als er ihre Schritte näher kommen hörte. Herr Mason zwinkerte ihm zu. Offenbar mochte er Max gern genug, dass er seinen Segen gab. Er ging zurück ins Wohnzimmer, sodass Max nun für kurze Augenblicke alleine dastand. Nun trat Julia an die Stelle ihres Vaters.
„Hi!“, sagte sie freudestrahlend und schloss ihn fest in ihre Arme. Er atmete mit Wonne den Duft von Lavendel ein, der von ihrem Haar ausging. Nach einer von ihm gefühlten Ewigkeit, die er auch so lange genossen hätte, ließ sie von ihm ab und blickte ihn an. „Willst du nicht reinkommen?“, sagte sie lächelnd und trat zur Seite, um ihn hineinzulassen. Wie in Trance hätte er fast mit „Ja, sicher doch“ geantwortet, doch er fühlte, dass er weiterhin Mut beweisen sollte. Er zwang sich kurz vor dem Ja mit einem Räuspern dazu, den Kopf zu schütteln. „Liebend gern, aber tatsächlich wollte ich dich eher fragen, ob wir nicht zusammen etwas spazieren gehen sollten.“
„Oh?“, sagte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und sah auf ihre Armbanduhr. Gewiss, Acht Uhr abends in der Dämmerung ließ sie schon erahnen, dass etwas besonderes in der Luft lag. Und ganz, wie seine Befürchtungen es ihm vorgaben, erwartete er, dass sie ablehnte, da sie noch aufgeschobene Hausaufgaben zu erledigen hätte oder es ihr Vater nicht guthieße, dass sie noch so spät unterwegs wäre. Doch zu seiner größten Freude jedoch nickte Julia lächelnd und während sie ihre Schuhe und eine dünne Jacke gegen die etwas frische Abendluft anzog, kam sogleich auch der nächste Schauer von Angst, die seinen Rücken entlang lief. Nun war die Zeit gekommen, es entweder zu wagen oder nicht. Jetzt konnte er sich noch entscheiden, ob er über ein vorgeschobenes Ausweichthema reden wollte oder halt mit ihr reden wollte. Doch er war froh, dass er zunächst Smalltalk mit ihr führen konnte. „Wie war dein Tag?“, fragte er sie. Sie verdrehte die Augen und selbst das sah an ihr einfach schön aus. „Du ahnst es nicht, ich komme mit dem Stoff von Mathe wirklich nicht klar! Ich frage mich wirklich, warum wir Miss Gebralga haben müssen, wo jeder weiß, dass sie Unterrichtsmethoden wie Professor Umbridge hat!“ Er lachte. Seine Brust schien sich dabei zu lockern und er fühlte, wie sein Körper sich etwas entspannen konnte.
Auf dem Weg zogen sie über andere Lehrer her; beide waren erstaunt, dass sie noch bei klarem Verstand waren. Als Julia von Coach Scourge sprach, durchfuhr ein Schmerz Max‘ Bauch. Er erklärte ihr, dass ihn Coach Scourge vor wenigen Tagen in Fußball als Torwart drillen ließ und Max etliche Bälle abbekommen hatte, unter denen sich eine wahre Kanonenkugel befand, die seinem Bauch eine Kuhle verpasst hatte. Ohne zu fragen, fuhr Julia mit ihrer weichen Hand über seine Jacke. „Fühlt sich aber noch immer normal an“, sagte sie, während sie ihm aufmunternd zuzwinkerte. Sein Körper war wie taub, so toll fühlten sich ihre Berührungen an, dass dieser gänzlich damit überfordert war und sich abgeschaltet hatte. Erst als Julia vom Theaterkurs sprach, den sie beide besuchten, kehrte Gefühl in seinem Körper zurück. Vom aktuellen Stück, eine klassische Tragödie, die sie in wenigen Tagen aufführen sollten, sprach sie mit Begeisterung. Julia war auch ein schauspielerisches Talent, doch das überraschte Max nicht. Er war sich dessen sicher, dass sie vor lauter ungeahnten Möglichkeiten strömte. Letztlich sprachen sie von ihrem Kurs-Leiter, Herr Lyr, der immer eine Manier á la Shakespeare anlegte und geschwollen daher redete. „Es war eine gute Idee von uns beiden, den Kurs zu machen!“, sagte sie lachend und knuffte ihn mit ihrem Ellbogen in die Seite. Er spürte Wellen der Freude von der Stelle seinen Körper durchströmen. Und da war der Moment. Eine Chance, entweder die erste oder einzige, zu seinem Anliegen zu kommen. Bevor sie von der Nebenrolle, die sie im Stück letztes Jahr gespielt hatte, in glückseliger Erinnerung reden konnte, drehte er sich zu ihr um: „Ich habe übrigens selber eine kleine Szene geschrieben!“
Er hätte sich dafür ohrfeigen können, dass er diesen Satz rausschoss wie eine Gewehrkugel und dabei seine Stimme wesentlich höher klang als üblich. Vor allem hätte er auf diese Alternative gern verzichtet. Viel lieber hätte er ihr direkt sagen wollen, was und wie er ihretwegen fühlte. Doch jedes Mal, wenn er in Gedanken geübt hatte, kam ihm stets das Würgen, da er jedes Mal zu direkt zur Sache kam und sie derartig verschreckt hatte, dass sie die Freundschaft nicht mehr erhalten wollte. Nein, er musste es subtiler angehen und indirekt darüber reden, weswegen Max sich zu Hause ein paar Verse überlegt hatte. Doch graute es ihm, mit so einer hohen Stimme diese vorzutragen. Gerade als die Peinlichkeit und die Furcht seine Stimme versagen lassen wollte, schaute sie ihn überrascht an. „Ich wusste nicht, dass du selber schreibst“, sagte sie und auf ihren Mundwinkeln formte sich bereits ein neugieriges Lächeln.
„Du weißt so einiges von mir nicht“, sagte er mit leicht brüchiger Stimme, da Julia tatsächlich etwas Großes nicht wusste. Etwas, das er gleich entfesseln würde, und er hoffte, dass er sie nicht derartig damit überfiel wie er es befürchtete. Er holte mit zittriger Hand zwei Blätter Papier hervor, und Julia hielt schon die Hand hin um es zu lesen, da hielt er sie fest an sich gedrückt. Auf ihren überraschten Blick hin sagte er nervös: „Ich würde es dir gerne vortragen ... wenn es dir recht ist, natürlich!“ Sie nickte und schien ihn dabei aufmerksam mit ihren mandelbraunen Augen zu beobachten. Eine Weile noch gingen sie schweigend nebeneinander her, als sie dann endlich an einer Parkbank ankamen, deren grünes Holz vom gelben Lampenschein der Straßenlaterne angeleuchtet wurde. Er bat sie, sich auf diese zu setzen. Sie tat dies und saß wie im Theater aufmerksam da. Ihr Blick warfest auf ihn gerichtet. Jetzt, wo er so unmittelbar vor seinem Auftritt stand und das Laternenlicht wie ein Scheinwerfer wirkte, kam noch das unnötige Lampenfieber hinzu. Er musste komisch aussehen, wie er steif dastand und seine Blätter ordnete. „Es ist mehr ein Monolog als eine Szene“, sagte er entschuldigend, doch sie bat ihn, trotzdem vorzulesen. Jetzt kam es darauf an, eine große Show hinzulegen. Er räusperte sich und stellte erleichtert fest, dass seine Stimme wieder normal war. Dann trug er seine Verse vor:
Ich bin ein Sohn des Dorfes Schmied,
der seit jeher jede Begegnung vermied.
Während ich friste mein Dasein,
Nägel hämmernd, groß und klein,
so sehnt es mich nach dem, das ist Groß.
Das, was dem Leben gibt Stoß,
doch vermag ich es nicht zu nennen,
geschweige es zu kennen.
Dann endlich, am Tag, vor einem Jahr
ich habs erfahren, das Wunderbar`
Jemand, den ich glaubte immer fort,
kehrte zurück ins edle Hort
Dies Hort, so wirkte in meiner Sicht
war wie des Königs Palast, niedrigeres nicht
In ihm wohnte die schönste Maid,
Mit der ich einst teilte jedes Leid.
Und sie erkannte mich,
und ich sie auch und dann auch nicht,
Sie wirkte edel und erhaben,
und doch wir uns beide verändert haben
Doch ist es nun die Grenze unsrer Welten
die uns trennt, doch soll es gelten?
Ich bin noch immer ich und doch nicht wie einst
Mich plagt nun Qual, hinterlistigst und gemeinst.
Sie ist des Schmiedes Quell, das Feuer
Welches entflammt meine Sehnsucht ungeheuer
Doch wird sie es erwidern, wenn ich es ihr gestehe?
Oder wiederholt sich die Zeit, wo sie fortgehe?
Wenn ja so fürchte ich, bleibe ich allein
Meine Gefühle für dich sind nicht die dein.
Dies sage ich mir im Schlaf immer wieder
Und hoffe doch, ich sehe dich stets wieder.
Eine lange Pause trat ein. Ein sanfter Wind umspielte die Strähnen ihres Haares, die in ihr Gesicht fielen. Gedankenverloren wischte Julia sich die Haare zur Seite und blickte langsam zu ihm auf.: „Dürfte ich ... die Szene selber einmal lesen?“ Er wirkte wie versteinert. Er hatte gesagt, was er sagen wollte, doch war die Anspannung und Lähmung schlimmer als je zuvor. Zumal war Max absolut kein Talent in lyrischer Dichtkunst. Er hatte versucht, die Wortwahl zu treffen, die sein Herz für angemessen zu halten schien. Doch nun kamen ihn etliche andere Ideen, wie er seinen Text hätte verbessern können. Selbst wenn er davon laufen wollte, so hätte er dies für mehrere Jahre nicht mehr gekonnt. Nur sehr langsam, als befände er sich in Zeitlupe, reichte er die Blätter. Genau so langsam und auch mit zittrigen Händen nahm sie ihm das Manuskript aus der Hand und las es durch. Ihr Blick verschwand hinter dem Papier, doch er konnte an ihrer gerunzelten Stirn ihre Reaktion der Ungläubigkeit ablesen. Denn alles, was sie lesen konnte, waren nur seine Notizen für Geschichte, die er am heutigen Tag in der Schule angefertigt hatte. Es schien ihm passend, gerade diese Notizen ihr zu geben. Für ihn war es ein historischer Tag. Doch das was er ihr vorgetragen hatte entsprach ganz seinem eigenen Gefühlswesen. Max wusste, dass sie sehr gut zwischen den Zeilen lesen konnte, selbst wenn es diese nicht einmal auf dem Papier gab. Jetzt galt es im Moment des Stillstands der Zeit, die beide umgab, nur noch eine Frage zu beantworten: Doch wird sie es erwidern, wenn ich es ihr gestehe?
Er wartete ab. Zehn Sekunden. Eine Minute. Ein Jahr ... es erschien ihm wie eine unerträgliche Unendlichkeit, bis Julia endlich wieder zu ihm aufblickte. Ihr Gesicht war nun ausdruckslos und wirkte leer im fahlen Licht der Laterne. Selbst ihre Augen, die wie Edelsteine funkelten, glitzerten nicht, sondern lagen im Schatten ihrer Augenhöhlen verborgen. Er hörte sein Herz fast zerreißend gegen seine Brust pochen, als würde es sich rechtzeitig vor dem ankommenden Schmerz retten wollen. Dann in einen Moment, wo sich die Wahrheit entschied, hörte es auf zu schlagen und er blickte ihr gebannt und mit einem erwartungsvollen Lächeln geradewegs in ihr Gesicht.
Ihre Augen blitzten wieder auf und Julia gab ihm das breiteste Lächeln, das er je von ihr bekommen hatte.
Am letzten Donnerstag kam es zu einem Feuerwehreinsatz, da ein Brand in einem Hochhaus entfachte. Das fatale daran: Ein sechsjähriger Junge stirbt bei diesem Vorfall. Seine Babysitterin kann sich retten.
Ich spüre eine drückende Hitze, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte. Meine Augen öffnen sich und alles was ich im ersten Moment wahrnehme ist eine Wand aus Nebel… Nein, Rauch. Meine Lunge rebelliert und ich kann ein Husten nicht unterdrücken nicht unterdrücken. Im nächsten Moment höre ich schreie aus dem Nachbarzimmer. Es sind die verzweifelten Schreie von Ryan.
Am Donnerstag wurde die Feuerwehr Brüssel zu einem Brand in einem Hochhaus gerufen. In einer Dreizimmer-Wohnung entstand aus bislang ungeklärten Gründen ein Feuer, bei dem ein kleiner Junge (6) ums Leben kam. Seine Babysitterin (17) konnte sich retten.
Ich springe von der Couch auf, sehe mich hektisch um. Das ganze Zimmer ist voller Rauch, das aus dem Flur kommt, bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, leiten mich meine Beine in ebendiesen und ich erblicke meterhohe Flammen überall um mich herum. Sowohl der Flur, als auch die Küche und das Zimmer von Ryan stehen bereits in Flammen und das Feuer bahnt sich seinen Weg auf mich zu. Ich stehe noch immer im Türrahmen, als ich erneut verzweifelte Schreie aus dem Kinderzimmer wahrnehme. Der Rauch beißt in meinen Augen und scheint auch meine Sinne zu vernebeln, ich habe nicht das Gefühl, dass ich selbst entscheiden kann, was mein Körper tut, alles was ich tue, scheint automatisiert zu passieren.
Wie ein Feuerwehrmann berichtet, hatte das 17-jährige Mädchen unglaubliches Glück, da sie ohne folgenschwere Schäden dem Feuer entkam, anders als der kleine Ryan, welcher sich aus Angst offenbar in einem Eck in seinem Zimmer verschanzte.
Mein Körper senkt sich zu Boden und kriecht dort unten entlang zu Ryans Zimmer, allerdings versperren mir glutrote Flammen den Weg in sein Zimmer. Ich sehe ihn dort sitzen, in dem Eck, weinend und wimmernd, die Arme um sich geklammert, in seinem roten Pyjama. Ich höre meine Stimme, wie sie nach ihm ruft, wissend, dass er dort von allein nicht rauskommen wird. Ich bin verzweifelt, wirklich, aber mein Körper scheint mich zur Wohnungstür zu drängen, mein ganzer Körper will leben, auch, wenn ich Ryan nicht retten kann. Tränen laufen meinen Wangen herunter. Ich höre ihn erneut schreien und es fährt mir durch Mark und Bein. Und ich bewege mich weiter auf den Ausgang zu.
Ein Nachbar berichtet, dass er durch die Schreie des kleinen Jungen wach wurde und er wenig später, bevor er überhaupt begriff, was dort nebenan vor sich ging, durch einen Feuerwehrmann gerettet wurde.
Überall dieser schwarze und beißende Rauch, doch ich kämpfe mich mit aller Kraft bis zur Haustür durch, meine Hand greift nach der Klinke, sie ist heiß, aber dennoch kann ich sie öffnen, als würde mein Gehirn bereits wissen, dass mir nichts anderes übrig bleibt. Die Tür ist offen, ich sinke zurück auf die Knie und krabbele aus der Wohnung, die Schreie noch immer hallend in meinen Ohren.
Ryan konnte von den Rettungskräften nur noch leblos geborgen werden. Noch während die Feuerwehrkräfte vor Ort waren, kamen die Eltern des Jungen nach Hause, die bangend vor dem Hochhaus warteten. Ein Augenzeuge berichtete, dass die Eltern noch versuchten selbst in die Wohnung zu gelangen, um ihren Sohn zu retten.
Jetzt werden sie von einem Kriseninterventionsteam betreut.
Alles was jetzt passiert, habe ich wie in Trance wahrgenommen, ich wurde von einem Feuerwehrmann nach unten begleitet, ich schilderte ihnen, dass noch ein Junge in der Wohnung sei und er versicherte mir, dass man ihn retten würde.
Wie ich später erfuhr, hatte es Ryan nicht geschafft.
Es wird aktuell ermittelt, wie es zu dem Brand in der Wohnung kommen konnte. Es legen auch heute noch Nachbarn Briefe und Kuscheltiere vor das Haus, in Gedenken an den kleinen Ryan, der in diesem Feuer sein Leben lassen musste.
12.6.2019
Kim (10:37)
Kannst du mir mal ibu bringen
Ich brauch was gegen kopfschmerzen
Ich (10:37)
Eine echte Überraschung.
Warum schreibst du?
Kim (10:37)
Weil ich mich garantiert übergebe, wenn ich den mund aufmache
Ich (10:38)
Ja, hast du gestern auch schon.
War wohl doch ein bisschen viel, was?
Kim (10:38)
JA
Kannst du mir jetzt die verfickten tabletten bringen
Mein kopf platzt
Ich (10:38)
Bin ja schon auf dem Weg.
Ich klopfe vorher laut an, okay?
Kim (10:38)
Ich bringe dich um
Philip schmunzelte kurz, stand auf, lief ins Bad und kramte aus dem Schrank über dem Waschbecken eine Packung Ibuprofen hervor, bevor er Wasser in einen Zahnputzbecher füllte und mit beidem in das Schlafzimmer ging. Die Jalousien waren immer noch heruntergelassen, doch fiel ein wenig Sonnenlicht durch die Schlitze zwischen ihnen und den Fensterrahmen. Es war warm, stickig und stank leicht nach Alkohol. Im großen Doppelbett regte sich etwas zwischen den Decken.
„Morgen“, sagte Philip freundlich und leise. Er setzte sich auf Bett und reichte Kim die Tabletten und das Wasserglas.
Kims eigentlich grüne Augen wirkten selbst im dämmrigen Licht des hereinfallenden Sonnenlichts noch gerötet. Ihr kastanienbraunes Haar war zerzaust und durcheinander.
Wortlos nahm sie die Tabletten, stopfte sich gleich drei auf einmal in den Mund und spülte sie mit dem Wasser hinunter.
„Willst du auch was zu essen?“, fragte Philip.
„Kotz ich gleich wieder aus“, murmelte Kim und ließ sich wieder in die Laken sinken.
„Warme Brühe vielleicht?“, fragte Philip. „Ist magenfreundlich.“
„Meinetwegen“, stöhnte Kim.
Philip küsste sie auf die Stirn und verließ wieder das Zimmer. In der Küche stellte er den Wasserkocher an und füllte ein wenig Brühpulver in einer Tasse, das er mit dem bald kochenden Wasser übergoss. Er rührte ein paarmal um und ging zurück ins Schlafzimmer.
„Bitte“, sagte er und stellte die Tasse neben Kim auf den Nachttisch. „Lass sie am besten erst noch etwas abkühlen.“
„Danke“, murmelte Kim.
Philip legte sich neben ihr ins Bett und strich ihr sanft übers Haar.
„Nie wieder“, flüsterte Kim heiser.
„Das sagst du jedes Mal.“
„Dieses Mal meine ich’s aber.“ Sie wälzte sich ein wenig zur Seite. „Ich glaub, ich habe einen Filmriss. Ist irgendwas noch gewesen?“
„Ne. Wir sind früh weg von der Party, nachdem du … Naja, offenbar ein paar zu viel gehabt hattest.“
„Und ich habe mich übergeben?“
„Ja, aber das war, als wir schon wieder hier waren. Ich habe dir noch deine Haare aus der Kloschüssel gehalten.“
„Hm. Danke.“
„Mach ich doch gern. Du wolltest dich übrigens dafür noch revanchieren.“
„Kann mir denken, wie.“
„Ja, aber du hattest gesagt, du würdest dich vorher noch kurz ausruhen und bist dann eingeschlafen.“
„Muss eine Riesenenttäuschung für dich gewesen sein.“
„Ein bisschen vielleicht.“
Ein Anflug des spöttischen Lächelns, das Philip so sehr an ihr liebte, umspielte Kims Lippen. Sie griff nach der Tasse auf ihrem Nachttisch, pustete kurz und nahm einen kleinen Schluck von der Brühe. Angewidert verzog sie das Gesicht.
„Hab schon vergessen, wie eklig ich diese Instant-Scheiße finde.“
„Es scheint dir besser zu gehen“, bemerkte Philip trocken. „Immerhin fängst du schon wieder an, dich zu beschweren.“
„Ich beschwere mich gar nicht. Instant-Scheiße ist nun mal Instant-Scheiße.“
„Aber leichter und schneller zuzubereiten.“
Kim seufzte, stellte die dampfende Tasse wieder ab und ließ sich zurück in die Kissen sinken. „Grins nicht so blöd“, sagte sie. „Vor zwei Wochen war’s andersherum.“
„Und du hast mich den ganzen Tag ausgelacht“, gab Philip zurück.
„Aha, also rächst du dich jetzt. Ich hätte wirklich gedacht, du würdest über solchen Kindereien stehen.“
„Ich überrasche dich eben immer wieder. Deswegen liebst du mich doch.“
„Ich liebe dich nicht, ich hasse dich.“
„Jaja, ich dich auch.“
Kim schmiegte sich ein wenig enger an Philip, der den Arm um sie legte.
„Vielleicht liebe ich dich ja, wenn du den Fernseher einschaltest“, sagte Kim mit geschlossenen Augen.
„Ich dachte, du willst vielleicht lieber etwas schlafen?“
„Eben drum. Fernsehen hilft mir beim Schlafen.“
Philip griff nach der Fernbedienung, die auf dem Nachttisch an seiner Seite des Bettes lag und schaltete den Fernseher ein. Es lief irgendeine Doku über den Amazonas.
„Okay?“, fragte Philip.
„Ja“, sagte Kim leise.
Philip schaute eine Zeit lang den Hubschrauberflügen über den mächtigen Fluss zu, bis er wieder einen Blick auf Kim warf. Sie war offenbar eingeschlafen, ihr Atem ging ruhig und regelmäßig, und ein Ausdruck arroganter Friedlichkeit lag auf ihrem Gesicht. Philip lächelte und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Er bemerkte erst jetzt, dass er selbst eigentlich auch noch ziemlich müde war – er war ja nicht früher ins Bett gegangen als Kim und aus Gewohnheit früh aufgestanden, um Frühstück zu machen, das mittlerweile wohl kalt geworden war. Aber vielleicht würde Kim noch etwas mehr als „Instant-Scheiße“ wollen, sobald sie ein wenig geschlafen und ihr Magen sich wieder beruhigt hatte.
Philip schloss die Augen und atmete ein paar Male tief ein und aus. Kurze Zeit später war auch er eingenickt.
Als Kim aufwachte, fühlte sie sich noch ein wenig matt, aber viel besser als vorher. Die Übelkeit war verschwunden, und die Kopfschmerzen hatten aufgehört. Sie richtete sich auf und streckte sich ein bisschen.
Der Fernseher war immer noch eingeschaltet, und statt der Dokumentation über den Amazonas lief nun offenbar eine Reportage über die Nutzung der Atomenergie und ihre Risiken.
Kim warf einen Blick auf Philip, der neben ihr im Bett lag und offenbar selig vor sich hinschlummerte. Seine Stirn war leicht in Falten gezogen, und es sah beinahe so aus, als würde er im Schlaf angestrengt über irgendetwas nachdenken. Kim musste lächeln.
Dann fiel ihr Blick auf die Tasse mit dem Rest von der Brühe, die er ihr gebracht hatte. Sie seufzte, nahm die Tasse und trank ihren mittlerweile nur noch lauwarmen Inhalt so schnell wie möglich aus. Kalt war das Zeug noch widerlicher, aber sie wollte es jetzt auch nicht wegschütten. Dennoch – sie hatte Hunger auf etwas mit mehr Substanz.
Also stand Kim auf und ging in die Küche. Überrascht stellte sie fest, dass Philip offenbar schon Frühstück gemacht hatte: Auf dem Tisch standen ein Korb mit kleinen Aufbackbrötchen, eine Schale mit Rührei, ein kleiner Teller mit Speck, außerdem Butter, Marmelade, Käse, Schinken und Honig. In einer Obstschale lagen Bananen und Äpfel, und eine Thermoskanne, in der sich vermutlich Kaffee befand, war ebenfalls da. Außerdem war für eine Person gedeckt – Philip hatte offenbar schon gegessen. Kim stellte die Tasse, in der die Brühe gewesen war, in die Spülmaschine und setzte sich an den Tisch. Nach einer zwar kalten, aber immer noch leckeren Portion Rührei mit Speck sowie zwei Aufbackbrötchen mit Erdbeermarmelade und Honig, einer Tasse Kaffee und einem Apfel fühlte Kim sich ausreichend gestärkt und voller Energie für was auch immer der angefangene Tag noch bereithalten würde, wenngleich sie sich immer noch etwas ranzig vorkam. Aber dagegen ließ sich ja auch etwas sehr Einfaches tun.
Sie ging wieder ins Schlafzimmer. Leise, um Philip nicht zu wecken, zog sie ein paar frische Klamotten aus ihrem gemeinsamen Kleiderschrank und ging ins Badezimmer, um zu duschen. Dort schlüpfte sie aus dem T-Shirt und der Unterwäsche, die sie zum Schlafen trug, und stellte sich in die kleine Kabine. Kim bevorzugte es normalerweise, warm zu duschen, drehte aber heute das Wasser auf Kalt. Nachdem sie sich fertig gewaschen und abgetrocknet hatte, zog sie ihre saubere Kleidung an – neue Unterwäsche, eine kurze Cargohose und ein einfaches T-Shirt. Nicht unbedingt Klamotten, in denen sie unbedingt attraktiv wirken würde, aber bequem und praktikabel. Anschließend föhnte sie sich noch die Haare, bevor sie wieder einen Blick ins Schlafzimmer warf.
„Oh, du bist wach“, sagte Kim, als sie Philip aufrecht im Bett sitzen sah. Er hatte eines der Schlafzimmerfenster geöffnet, um frische Luft hereinzulassen. Der Fernseher war aus.
„Ja. Der Föhn hat mich geweckt“, gab Philip zurück.
„Oh. Sorry“, nuschelte Kim in einem Ton, von dem sie hoffte, dass er auf keinen Fall wirkliches Bedauern ausdrückte.
„Jaja“, sagte Philip.
„Danke übrigens für das Frühstück. War lecker.“
„Muss ich noch den Tisch abräumen?“, fragte Philip mit hochgezogener Augenbraue.
„Ähm …“, machte Kim zögerlich. „Nein …“
„Wirklich?“, hakte Philip nach.
„Na hör mal!“, empörte sich Kim. „Glaubst du, ich würde, nachdem du schon so nett warst und mir Frühstück gemacht hast, dich auch noch den Tisch abräumen lassen?“
„Schon gut“, sagte Philip und hob beschwichtigend die Hände. „Tut mir leid, dir das unterstellt zu haben, brauchst nicht gleich sauer zu werden.“
„Bin ich aber!“, erwiderte Kim entrüstet. „Tatsächlich bin ich sogar so sauer, dass ich jetzt wieder in die Küche zurückgehe, um dich mit meiner Abwesenheit zu strafen!“
Sie hastete zurück in die Küche, stellte das dreckige Geschirr in die Spülmaschine, die verderblichen Lebensmittel in den Kühlschrank und den Honig in ein Regal über der Arbeitsplatte.
„Hab dir verziehen“, sagte sie, als sie danach wieder ins Schlafzimmer kam.
„Sehr gnädig“, sagte Philip trocken, aber mit einem Lächeln. „Was sollen wir heute machen?“
„Weiß nicht so genau“, sagte Kim. „Es ist halt ein Dilemma.“
„Was ist ein Dilemma?“, fragte Philip.
„Nun, ich habe gerade geduscht und mich angezogen“, sagte Kim, während sie zum Bett ging, Philip sanft in die Kissen drückte und sich auf ihn legte. „Will ich mich da wirklich direkt wieder ausziehen und Aktivitäten widmen, bei denen ich ins Schwitzen geraten könnte?“
„Nun, du hast es letzte Nacht aber versprochen“, gab Philip zu bedenken.
„Und meine Versprechen muss ich ja halten“, stimmte Kim zu und küsste ihn sanft, aber leidenschaftlich, während er mit seiner Hand durch ihr Haar fuhr.
Es klingelte.
„Verdammt“, sagten beide gleichzeitig. Kim rollte seufzend von Philip herunter und stand auf.
„Bin gleich wieder da“, sagte sie und zwinkerte.
„Hey, keine Eile“, rief Philip ironisch hinterher.
Kim öffnete die Wohnungstür, betätigte den Summer daneben und wartete darauf, dass der Besucher das Treppenhaus hochkam. Den Schritten nach zu urteilen war es nur eine Person.
Kurze Zeit später erschien ein nervös wirkender junger Mann mit strohblondem Haar auf dem Treppenabsatz. Kim schätzte ihn auf etwas mehr als 20, also ungefähr in ihrem und Philips Alter. Vielleicht ein bisschen jünger, aber das nahm sie vielleicht nur an, weil er unsicher wirkte. An sich war er vielleicht nicht unbedingt gutaussehend, aber auf gewisse Weise hübsch. Der Mann trug passend zum Sommer eine kurze beigefarbene Hose und ein blaues Polohemd.
Als er vor Kim stand, nuschelte er irgendetwas Unverständliches.
„Wie bitte?“, fragte Kim mit hochgezogener Augenbraue.
„Ich … Ich wollte wissen … Ist das hier die … Ähm, die Detektei?“
„Detektei?“, fragte Kim und war einen Moment verdutzt, bevor es ihr wieder einfiel. „Oh ja!“, rief sie, lächelte breit und winkte den Mann herein. „Ja, da sind Sie hier richtig, Kommen Sie rein, kommen Sie rein!“
Sie führte den Mann in das Arbeitszimmer, das sie und Philip gemeinsam nutzten. Dort stand ein großer Schreibtisch und drei Stühle sowie mehrere Bücherregale. Unter dem Schreibtisch stand ein Rechner, an den ein Drucker und ein auf dem Tisch stehender Bildschirm angeschlossen waren.
Kim bugsierte den Gast in einen der Stühle. „Einen Moment bitte“, sagte sie, „ich bin gleich wieder da. Ich muss nur meinem Kollegen Bescheid sagen, er schreibt gerade einen Bericht zu Ende. Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Es ist ja schrecklich warm draußen.“
„Danke, nein“, sagte der Mann.
Kim lief ins Schlafzimmer.
„Wer war das?“, fragte Philip sofort.
„Ein Klient!“, flüsterte Kim, damit der Mann sie nicht hören konnte.
„Ein Klient?“, fragte Philip. „Was denn für ein … Oh.“ Sein Gesicht fiel ein wenig ein, als er begriff.
„Mehr Begeisterung!“, zischte Kim aufgeregt. „Unser erster Klient!“
„Ich glaube einfach immer noch, dass das keine gute Idee war.“
„Ach was! Jetzt sitz da nicht rum, schnapp dir lieber deinen Notizblock aus dem Nachttisch, warte eine Minute, und dann komm rüber! Und denk daran, was wir besprochen haben, mein lieber Tommy!“
„Nenn mich nicht so“, sagte Philip und verdrehte die Augen.
Kim zuckte mit den Achseln und ging wieder rüber ins Arbeitszimmer.
Philip seufzte, starrte an die Decke und murmelte leise: „Ich verfluche euch, Tuppence und Tommy Beresford.“
Es war vor ein paar Wochen gewesen, dass Kim sich diese Kurzgeschichten über ein Kriminalfälle lösendes Ehepaar gelesen hatte und auf die Idee gekommen war, dass es doch aufregend wäre, selbst Detektiv zu werden. Philip hatte das für eine vorübergehende verrückte Idee gehalten, der er nicht widersprechen hatte wollen, weil er geglaubt hatte, dass Kim es ohnehin nicht ernst meinen und schnell die Lust verlieren würde. Zu seinem Erschrecken hatte sie sogleich kleine Werbeplakate erstellt und in der Universität aufgehängt sowie angefangen, noch einen Haufen andere Kriminalromane zu kaufen und zu lesen. Außerdem hatte sie sich über den Detektivberuf im Internet schlau gemacht und Arbeitsverträge erstellt, sodass Philip schließlich hatte einsehen müssen, dass das nicht so schnell vorübergehen würde, wie er gedacht hatte. Doch bisher war zumindest niemand auf den Gedanken gekommen, sie mit einem Fall zu beauftragen.
Philip seufzte noch einmal, holte aus der Nachttischschublade seinen Schreibblock hervor, auf dem er normalerweise seine Gedichte schrieb, und ging hinüber ins Arbeitszimmer.
„Ah, Philip, da bist du ja“, sagte Kim, als er eintrat und sich neben sie hinter den Schreibtisch setzte. Obwohl sie ihn duzte, war ihr Tonfall distanziert – ganz so, als seien sie nicht zusammen, sondern einfach Kollegen. „Der Bericht ist also fertig?“
„Ja“, sagte Philip zögernd.
„Etwas nicht in Ordnung damit?“, fragte Kim.
„Nun ja“, sagte Philip, sich seinen Text in Erinnerung rufend, „da ist etwas, das mir immer noch Kopfzerbrechen bereitet …“
„Sag nichts“, unterbrach Kim ihn. „Ich kann es mir denken. Die Haarbürste, nicht wahr?“
Philip nickte.
„Ja, das kam mir auch komisch vor“, meinte Kim. „Warum sollte sie ausgerechnet dort liegen? Wir sollten da vielleicht noch einmal mit dem Kommissar drüber sprechen. Die Angelegenheit ist zu wichtig, als dass wir uns Nachlässigkeit leisten könnten.“
Wieder nickte Philip.
„Ach!“, sagte Kim, „Aber wo bleiben meine Manieren?“ Sie gestikulierte wild zwischen Philip und dem Klienten hin und her. „Philip, das ist Lucas Bohm. Herr Bohm, das ist Philip Ostermann, mein Kollege.“
„Freut mich sehr“, sagte Philip.
„Ja, ebenso“, gab Bohm zurück. Philip fand es merkwürdig, von jemandem, der jünger als er selbst wirkte, als „Herr Bohm“ zu denken, aber etwas sagte ihm, dass er diesen Gedanken wohl besser für sich behielt.
„Also, worum geht es nun?“, fragte Kim. „Wurde ihnen in der Uni etwas gestohlen? Denn dass sie an der hiesigen Universität studieren, ist ja wohl vollkommen klar.“
„Nein, es wurde mir nichts geklaut“, erwiderte Bohm. „Gestohlen, meine ich. Woher wissen Sie, dass ich hier studiere?“
„Berufsgeheimnis“, sagte Kim lächelnd.
Weil du unsere Plakate nur in ein paar Schaukästen in der Uni gehängt hast und der Kerl zu jung ist, um ein Dozent zu sein, also sehr wahrscheinlich dort studiert, dachte Philip.
„Nun ja“, sagte Bohm, „Jedenfalls geht es um … Also, ich suche jemanden, den ich vor ein paar Tagen kennengelernt habe. Auf einer Party.“
„Jemand … Besonderes?“, fragte Kim.
Bohm errötete. „Nun, ja. Sein Name war Tim und wir hatten uns ganz gut unterhalten, aber dann … ist er plötzlich abgehauen.“
„Abgehauen?“, hakte Kim nach.
„Ja. Sein Handy hat geklingelt, er ist drangegangen, kreidebleich geworden und hat mir dann gesagt, er müsse jetzt leider dringend weg. Ich wollte ihn noch nach seinem Nachnamen oder seiner Nummer fragen, aber …“ Er brach ab und machte ein trauriges Gesicht.
„Ich verstehe“, sagte Kim mitfühlend. „Und ich nehme an, wir sollen Tim finden.“
„Ja“, nickte Bohm.
„In Ordnung!“, sagte Kim eifrig. „Dann erzählen Sie mal: Wo war die Party, wer war der Gastgeber, wie sah Tim aus, hatte er irgendwelche besonderen Kennzeichen? Sagen Sie uns alles, was wichtig sein kann.“
„Nun …“ Bohm überlegte. „Also, die Party war in der Rautstraubstraße 9.“
Später versuchen, dreimal schnell hintereinander „Rautstraubstraße“ zu sagen, notierte sich Philip.
„Die ist ja gar nicht so weit entfernt“, murmelte Kim. „Noble Gegend.“
„Ja, irgendein junges reiches Pärchen hat dort jedenfalls eine House Party geschmissen – ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie die heißen. Ich war nicht wirklich eingeladen, aber eine Freundin meines Bruders hat meinen Bruder und mich hereingebracht. Ich glaube, den Gastgebern war es auch egal, dass am Ende haufenweise Leute da waren, die sie nicht kannten.“
„Hm, das könnte die Sache verkomplizieren“, meinte Kim.
„Wieso?“, fragte Bohm.
„Weil die Gastgeber uns vielleicht hätten sagen können, wer dieser Tim war“, antwortete Philip. „Aber wenn die selbst keinen Überblick über ihre Gäste hatten, ist es gut möglich, dass sie das auch nicht wissen.“
„Wann war die Party?“, fragte Kim.
„Letzte Woche Samstag.“
„Hm. Und dieser Tim, wie sah er nun aus?“
„Also, kurze schwarze Haare, blaue Augen. Leichter Dreitagebart. Etwa so groß und so alt wie ich – ich bin 20.“
„Statur?“ fragte Kim. „Eher dünn oder …“
„Relativ athletisch. Aber nicht übertrieben sportlich, würde ich meinen.“
„Irgendetwas anderes, das uns weiterhelfen könnte?“, fragte Kim. „Hat er Hobbys erwähnt oder Orte, an denen er sich gerne aufhält?“
„Nun … Also, er sagte, er wäre mit einer Freundin dort gewesen. Wobei er ‚einer‘ besonders betont hat – also keine feste Freundin, nehme ich an. Ich meine, sonst …“
„Natürlich“, sagte Kim.
„Und er hat gesagt, er schreibt Gedichte. Er hat mir sogar eins auf einem Zettel gezeigt, den er dabeihatte – er hatte ihn mir gegeben, kurz bevor er verschwunden ist und hat ihn dann wohl vergessen.“
Bohm holte ein kleines Stück Papier aus der Tasche und legte es auf den Schreibtisch. Kim nahm es und hielt es so, dass Philip es auch lesen konnte.
„Wahrheit, Wahrheit, gut und schön,
Sollst an meiner Seite stehn.
Wahrheit, Wahrheit, du bist mein
Und gehörst mir ganz allein.
Aber Wahrheit, du musst sehn:
Bist so schrecklich unbequem.
Liebe Wahrheit, kompliziert,
Wer dich sagt, der stets verliert.
Liebe Wahrheit, musst verstehn:
Nötig ist’s, dich zu verdrehn.
Aber Wahrheit, dein Gesicht –
Ganz verbergen will ich’s nicht.
Wahrheit, ja, ich liebe dich,
Doch oft hintergehst du mich.
Meine Wahrheit, bleib in Ketten,
Um mir Einfachheit zu retten.
Denn Einfachheit, ich brauche dich,
Die Wahrheit ist zu schwer für mich.
Oh Einfachheit, nur du allein
Dringst in der Menschen Herzen ein.
Drum Wahrheit, wenn du einfach bist,
Und was du sagst, bestärkend ist,
Dann sei mir bitte Schirm und Schild
Als Helfer immer wohl gewillt.
Doch wo du, Wahrheit, widersprichst,
Zu Einfachheit Komplexes mischst,
Da schweige still und lächle nur
Als treueste Begleitfigur.
Wahrheit, wie kannst du’s nur wagen,
Mich jetzt derart anzuklagen?
Denn nein, ich bin kein Populist,
weil, was ich tu, fürs Gute ist.“
„Hm“, machte Kim und runzelte die Stirn. Philip glaubte zu verstehen, was sie meinte – es schien nicht unbedingt ein Gedicht zu sein, das man in einem lockeren Gespräch auf einer Party hervorholen würde.
„Klingt sehr … politisch“, bemerkte er vorsichtig.
„Nun, wir hatten ein bisschen auch über Politik geredet“, sagte Bohm.
„Tja, das ist … interessant“, murmelte Kim und fotografierte sich mit ihrem Handy das Gedicht ab, bevor sie Bohm den Zettel zurückgab. „Gibt es sonst noch etwas, das sie uns sagen können?“
Bohm schüttelte bedauernd den Kopf.
„Nun gut, ich denke, Ihre Informationen sind ohnehin ausreichend“, sagte Kim und lächelte aufmunternd. Bohms Gesicht hellte sich merklich auf.
„Natürlich kann es ein wenig dauern“, fuhr Kim fort. „Aber ich denke, es gibt durchaus ein paar Möglichkeiten, wie wir Tims Identität ermitteln können.“
„Das wäre schön“, sagte Bohm. „Was das Honorar betrifft …“
Kim winkte ab. „Wir arbeiten umsonst. Zumindest in diesem Fall. Aber schreiben Sie mir mal Ihre Nummer auf, damit wir Sie anrufen können, wenn wir weitere Fragen oder Tim gefunden haben.“
„Ich verstehe dich nicht“, sagte Philip, nachdem ihr Klient gegangen war. „Du erstellst Arbeitsverträge und dann arbeiten wir umsonst?“
„Anfangs ja. Wir fördern eine Nachfrage, dann machen wir das Angebot teurer. Außerdem hast du ihn doch gesehen. Er war offenkundig ein bisschen verknallt und verzweifelt. Da ziehen wir ihm doch nicht das Geld aus der Tasche.“
„Wenn du meinst“, seufzte Philip. „Wir finden den Kerl ja sowieso nicht. Jedenfalls wüsste ich nicht, wie.“
„Oh, bitte, das ist doch einfach“, sagte Kim. „Ich gehe zu den Gastgebern und frage sie aus.“
„Aber die wussten doch selbst nicht, wer alles bei ihrer Party dabei war.“
„Ja, und? Aber ein paar Leute kannten sie sicher – und die kannten wiederum vielleicht ein paar andere Leute. Wenn die Gäste Bekannte von Bekannten von Bekannten waren, sollten wir früher oder später auf jemanden stoßen, der diesen Tim kannte.“
„Aha“, sagte Philip. „Gut, dann gehen wir eben …“
„Nein“, sagte Kim. „Ich sagte doch: Ich gehe. Du bleibst hier und machst etwas anderes.“
„Und was, bitteschön?“
„Tim hat Gedichte geschrieben – vielleicht ist er in einer dieser Schreib- oder Dichtergruppen. Gibt doch ein paar davon in der Stadt. Wenn du da ein paar Leute anrufst, dann kannst du vielleicht was herausfinden.“
„Falls er in einer solchen Gruppe war oder ist“, bemerkte Philip. „Scheint mir ein ziemlicher Schuss ins Blaue zu sein.“
Kim zuckte mit den Achseln. „Mag sein, aber es kann nicht schaden, das zu probieren. Natürlich“, fügte sie grinsend hinzu, „darfst du gerne auch auf andere Weise ermitteln, wenn dir eine bessere einfällt.“
Philip fiel keine bessere ein, und so kam es, dass Kim sich kurz die Notizen, die Philip sich zu Tim gemacht hatte, abfotografierte und ging.
Philip seufzte. „Ich verfluche dich, Agatha Christie.“ Dann schaltete er den Computer im Arbeitszimmer ein und suchte nach Schreibgruppen, bei denen er nachfragen konnte.
Kim betätigte die Klingel von Rautstraubstraße Nr. 9. Das Haus war geradezu eine Villa, der eigentlich nur noch ein großer mit Zaun und Tor von der Straße abgetrennter Vorgarten fehlte, um auf vollkommene Art und Weise die klischeehafte Behausung der reichen Oberschicht zu verkörpern. Obwohl aber das Haus recht protzig war, eignete es sich wahrscheinlich gut für Partys. Wie Kim aufgefallen war, hatten auf dem Klingelschild die Namen „Dominik Eisenhauer“ und „Katrin Brauer“ gestanden.
Die weiße Tür wurde geöffnet und Kim stand einem jungen, gutaussehenden Mann gegenüber, der eine kurze Hose und ein olivgrünes Tank Top trug. Er war braun gebrannt, sein Haar war kurz und zerstrubbelt. Anscheinend war das Dominik Eisenhauer.
„Hallo“, sagte Kim und lächelte. „Ich …“
„Bist aber früh dran“, unterbrach sie der Mann. „Wobei du ein bisschen anders aussiehst als auf den Fotos.“
Kim war kurz verdutzt, fing sich aber wieder, als ihr schlagartig bewusst wurde, dass sie die Situation zu ihrem Vorteil nutzen konnte.
„Naja, bei solchen Fotos wird doch ständig geschummelt, oder?“, lachte sie und zwinkerte.
„Mag sein. Aber in deinem Fall“, er ließ seinen Blick über sie wandern, „macht das nicht viel, schätze ich. Nur deine Klamotten solltest du nochmal überdenken. Aber jetzt komm rein, bevor die Nachbarn dich sehen.“
Arrogantes Arschloch, dachte Kim, als sie eintrat ein und sich umsah. Sie stand in einer Art kleinen Eingangshalle, von der Treppen nach oben führten und Wohnzimmer und Küche abzweigten. Auf einer Kommode sah Kim mehrere gerahmte Fotos von Eisenhauer mit einer außergewöhnlich hübschen und jungen blonden Frau. Vermutlich seine Freundin.
„Willst du vorher was trinken?“, fragte Eisenhauer.
„Oh, gerne“, sagte Kim und folgte dem Mann in die weiß und steril wirkende Küche. An einer Wand hing ein Kalender. Kim fiel auf, dass von letzten Freitag bis nächsten Mittwoch „Katrin Geschäftsreise“ eingetragen war.
„Was möchtest du denn?“, fragte Eisenhauer.
„Informationen“, sagte Kim, die entschied, dass sie die Scharade nicht länger aufrechterhalten musste. „Ich will einfach nur die Namen und Telefonnummern aller Gäste deiner Party von letzter Woche Samstag, an die du dich noch erinnern kannst.“
„Was?“, fragte Eisenhauer verdutzt. „Soll das ein Rollenspiel werden?“
„Ich fürchte nein“, sagte Kim. „Ich nehme an, du hast jemand anderen erwartet. Vielleicht jemand, den du dafür bezahlst, vielleicht auch nicht. Ich denke aber, dass deine Freundin davon so oder so nichts wissen sollte, oder?“
Eisenhauer verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ich weiß nicht, wer du bist und was du willst“, sagte er leise und bedrohlich, während er auf sie zukam, „aber glaub mir, wenn du Katrin irgendwas hiervon erzählst, dann …“
Er packte Kim grob am Arm, dass es wehtat. Sie zögerte nicht, sondern trat ihm zwischen die Beine, befreite ihren Arm, packte den seinen und drückte ihn dann mit einem Hebelgriff so zu Boden, dass er auf dem Bauch lag. Eisenhauer stöhnte vor Schmerz, dann fluchte er zornig. Während Kim mit einer Hand seinen Arm weiterhin in einem schmerzhaften Hebel festhielt, zog sie mit der anderen ihr Handy aus der Tasche und aktivierte die Aufnahmefunktion.
„Ich sage es nochmal“, sagte Kim freundlich. „Ich will nur ein paar Namen von den Leuten, die auf eurer Party waren. Wenn du deine Freundin betrügst, ist mir das eigentlich ziemlich egal. Also hast du zwei Optionen: Du sagst mir, was ich wissen will und löst somit ganz einfach das kleine Problem, das du dir gerade selbst eingebrockt hast, oder du weigerst dich – aber dann erkläre ich deiner Freundin, was du hier so treibst, wenn sie weg ist.“
„Ach ja?“, zischte Eisenhauer. „Die glaubt dir kein Wort. Du hast keine Beweise dafür.“
„Ich habe die Person, die gleich hierhinkommt.“
„Und? Die Nutte schick ich weg und sag, sie hat sich halt in der Adresse geirrt.“
„Danke für das Geständnis“, sagte Kim. Sie lehnte sich ein wenig vor und hielt dem immer noch auf dem Bauch liegenden Eisenhauer das Handy vors Gesicht. Der Mann erschlaffte ein wenig.
„Also?“, fragte Kim. „Ein paar Namen sind doch nun wirklich nicht zu viel verlangt, oder?“
Philip seufzte und strich eine weitere Nummer auf seinem Notizblock durch. Es war frustrierend. Manche Schreibgruppen hatten gar keine Nummer, sondern nur eine E-Mail-Adresse – die Antworten standen aus – und bei denen, die eine Nummer hatten, wusste er einfach nicht, was er sagen sollte. Er hatte es als Detektiv versucht und festgestellt, dass ihm keiner etwas sagen wollte. Danach hatte er die übrig Gebliebenen angerufen und Interesse an einem Beitritt vorgetäuscht, wobei er beiläufig erwähnte, dass er durch seinen guten Freund Tim auf die Gruppe aufmerksam gemacht worden war. So hatte er zumindest bei manchen durch die verwirrte Reaktion erfahren, dass dort wohl kaum ein Tim Mitglied war – aber bei anderen hatten die Leute nur etwas gesagt wie „Ach, der gute Tim!“ und danach hatte Philip nicht weiter fragen können, wie dieser Tim aussah, denn er hatte ja gerade behauptet, ein guter Freund von ihm zu sein. So funktionierte das alles irgendwie nicht.
Er nahm sein Handy und schrieb an Kim.
Ich (14:38)
Ich habe keine Lust mehr.
Kann ich nicht irgendwas anderes machen?
Kim (14:38)
Klar
Wenn du was Besseres weißt ;)
Ich (14:38)
Ne.
Aber es ist einfach doof, bei den Leuten anzurufen.
Und es führt zu nichts.
Kim (14:39)
Ich rufe gerade die ganzen Partygäste an
Du brauchst einfach Geduld, mein Lieber ;)
Aber keine Sorge, ich mache das schon
Ich (14:39)
Jaja
Philip legte das Handy weg. Vielleicht sollte er es wirklich einfach Kim überlassen. Immerhin war der ganze Zirkus ihre Idee gewesen. Dann wiederum … Als Kind hatte er eigentlich gerne Detektiv sein wollen. Es war einer dieser Berufswünsche, die man als Kind und dann nie wieder hat. Dennoch, jetzt an einem detektivischen Routineauftrag zu scheitern, während Kim die ganze Arbeit machte, fühlte sich falsch an.
Er ging noch einmal die Notizen durch, die er sich während des Gesprächs mit Bohm gemacht hatte.
Auf einmal stutzte Philip bei etwas, das er sich am Anfang notiert hatte. Für einen Moment starrte er auf das Blatt, dann sah er zur Decke hinauf und dachte nach. Schließlich nickte er wie zu sich selbst und rief auf seinem Laptop Google auf.
„Und Sie sind sich ganz sicher?“, fragte Kim. „Er schreibt Gedichte, hat dunkle Haare, blaue Augen, Dreitagebart, vermutlich nicht Hetero – ach, Bi also … Okay, danke, vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen.“
Sie legte auf und reckte triumphierend die Faust in die Luft. Dann sah sie auf die Uhr und stellte überrascht fest, dass es schon relativ spät war. Sie hatte die letzten Stunden damit verbracht, erst die Leute anzurufen, die Eisenhauer ihr genannt hatte, um dann nach dem Schneeballprinzip immer mehr Leute hinzuzugewinnen. Dabei hatte sie jeweils das Gedicht, das Tim verloren hatte, als Vorwand benutzt und gesagt, sie wollte es ihm zurückgeben. Letzten Endes war das Ganze aber sogar schneller gegangen, als sie gedacht hatte.
Kim erhob sich von der Parkbank, auf der sie die letzten Stunden verbracht hatte, und streckte sich ein wenig, bevor sie den Nachhauseweg antrat.
„Ich habe ihn, Philip!“, rief Kim triumphierend, als sie in die Wohnung kam. „Er heißt …“
„Tim Baumgarten, wohnhaft in der Friedrichsstraße, Hausnummer 83“, ergänzte Philip, der im Wohnzimmer auf dem Sofa lag.
„Was?“, fragte Kim entgeistert. „Woher weißt du das?“
„Berufsgeheimnis“, sagte Philip.
„Philip …“, sagte Kim drohend.
Philip lachte. „Nun, erinnerst du dich noch, dass Tim auf der Party erst einen Anruf erhielt, bleich wurde und dann wegmusste?“
„Ja. Und?“
„Ich dachte mir, dass da vielleicht etwas Schlimmes passiert und er darüber benachrichtigt worden war. Irgendetwas in der Nähe, wo er schnell hinkonnte und dann auch schnell hinwollte. Also habe ich die Unfallmeldungen der fraglichen Nacht in unmittelbarer Umgebung des Hauses durchgesehen und siehe da: Eine junge Frau war offenbar betrunken über die Straße gelaufen, angefahren und dann ins nächste Krankenhaus gebracht worden.“
„Das war doch nicht … Die Freundin, mit der er auf der Party gewesen war?“
„Ins Schwarze, meine liebe Tuppence.“
„Nenn mich nicht so“, sagte Kim ärgerlich. „Weiter.“
„Nun, das Krankenhaus war das Marienkrankenhaus.“
„Wo deine Schwester arbeitet.“
„Jep. Ich habe sie gefragt, ob sie sich nicht mal umhören kann. Und da hat sie mir, nachdem sie mit dem zuständigen Pflegepersonal gesprochen hatte, sagen können, dass das fragliche Unfallopfer noch da war und neben Besuch von der Familie auch noch Besuch von einem jungen Mann erhielt, der – den Gesprächen mit dem Opfer nach zu urteilen – offenbar Tim hieß. Wie der Zufall es wollte, war er gerade übrigens da und meine Schwester hat ihm meine Nummer gegeben. Er hat mich angerufen, ich habe ihm die Sache erklärt und fertig.“
Er grinste Kim breit an.
„Wann wusstest du seinen Namen?“, fragte sie.
„Naja, das war zugegebenermaßen erst vor etwa zehn Minuten. Meine Schwester musste ja auch noch arbeiten.“
„Ha!“, sagte Kim. „Dann wusste ich es vor dir!“
Philip verdrehte die Augen. „Aber ich hatte weniger Aufwand“, protestierte er.
„Dafür war bei mir der Erfolg früher oder später garantiert“, sagte Kim. „Bei dir hätt’s ja sein können, dass gar kein Unfall damit zu tun hatte.“
„Der Erfolg gibt mir Recht.“
„Trotzdem war ich schneller.“
„Schön“, resignierte Philip. „Unentschieden?“
„Hm … Okay“, machte Kim. Sie legte sich zu Philip aufs Sofa und küsste ihn.
„Und jetzt“, flüsterte sie, „hoffen wir einfach, dass es nicht wieder klingelt, ja?“
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