Write it again!

Es ist Winter und es schneit auf meine Holzterrasse. Zwei größere und ein kleiner Stuhl, ebenfalls aus Holz, ermöglichen einer kleinen glücklichen Familie das Bestaunen des herabfallenden Schnees. Auf zwei Stühlen schichten sich Schneeflocke für Schneeflocke, bis diese ganz mit dem weißen Meer verschmelzen.

Es ist Winter und es schneit auf unsere vergilbte Holzterrasse. Zwei größere und ein kleiner Stuhl, ebenfalls aus Holz, ermöglichen meiner wundervollen Familie das Bestaunen des herabfallenden Schnees. Vor allem ich genieße es diese eintönige und doch so bezaubernde Szenerie mit meinen Blicken zu untersuchen, bis die Kälte doch das Hineingehen empfiehlt. Auf zwei Stühlen schichten sich bald Schneeflocke für Schneeflocke, bis diese ganz mit dem weißen Meer verschmelzen.

Philip schloss die Tür zu seiner Wohnung auf, putzte sich die Schuhe auf der Fußmatte ab und trat hinein. Seinen Rucksack schmiss er neben die Kommode in der Diele und ging dann ins Wohnzimmer. Sarah saß dort auf dem Sofa, eine Decke um sich gehüllt, eine leicht dampfende Teetasse auf dem Tisch vor sich stehend und tippte auf ihrem Handy herum.

„Bin wieder da“, sagte Philip.

„Ich hab’s gemerkt“, sagte sie, ohne aufzusehen. „Wie war’s?“

Philip zuckte die Achseln. „Okay. Nichts Besonderes. Bei dir?“

„Ging so. Die Leute stellen sich halt manchmal dumm an, aber ist halt so. Da kannst du ihnen auch noch so oft erklären, was sie bei ihren Liegestützen falsch machen.“

„Hm“, machte Philip zustimmend, ohne dass er wirklich zugehört hatte. Er ging in die Küche, wo er die Schubladen nach etwas fürs Mittagessen durchsuchte. Er fand eine Konserve mit Bihun-Suppe, öffnete sie und kippte den Inhalt in eine weiß-blaue gemusterte Porzellanschale, die er anschließend in die Mikrowelle stellte. Während die Suppe aufgewärmt wurde, nahm er sich zusätzlich aus einer Packung eine rohe Toastscheibe und schlang sie schnell herunter. Das war eines der wenigen Dinge, auf die er als Kind stolz gewesen war: Er konnte eine rohe Scheibe Toast in unter eine Minute essen, anders als seine Freunde, die zum Teil fast bei ihren Versuchen erstickten.

Die Mikrowelle piepte, er nahm die Schale heraus, nahm sich noch eine Scheibe Toastbrot sowie einen Löffel und ging in sein Zimmer. Dort setzte er sich an den Schreibtisch, schaltete seinen Laptop an und schaute auf Netflix eine Episode Better call Saul, während er die Suppe erst ein wenig abkühlen ließ und dann aß. Immer wieder starrte er aus dem Fenster – es sollte eigentlich langsam Frühling werden, aber das Wetter war tagelang trist, grau und verregnet gewesen. Auch jetzt fielen die Tropfen auf die Straßen und in die bereits gebildeten Pfützen, durch die hin und wieder ein Auto fuhr.

Kann kaum gutes Wetter für die Suizidraten sein, dachte Philip bitter.

Auf dem Weg von der Universität nach Hause hatte er die kahlen Zweige der Bäume am Straßenrand gesehen und die blumenlosen Grasflächen der Vorgärten von Wohnhäusern. Alles schien sich dazu entschieden zu haben, ungewöhnlich spät zu erblühen.

Nach dem Ende der Folge brachte er die leere Porzellanschale in die Küche und stellte sie in die Spülmaschine, die noch nicht voll genug war, als dass man sie anstellen müsste. Sarah war offenbar in ihr Zimmer gegangen, aus dem nun dumpf Musik dröhnte. Sie würde sich heute Abend vielleicht mit Freunden treffen. Vielleicht würden ihre Freunde auch hierhin kommen.

Wieder in seinem Zimmer setzte er sich erneut vor seinen Laptop und suchte sich auf der Lernplattform seiner Universität ein paar Texte zusammen, die er bis nächste Woche würde lesen müssen. Er lud sie herunter, druckte sie aus und bearbeitete sie, indem er beim Lesen einzelne Stellen mit Textmarker markierte oder mit Bleistift etwas an den Rand schrieb. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab und so musste er mehrfach innehalten und eine Textstelle noch einmal neu durchgehen, bis er sie auch wirklich gelesen hatte.

Als er mit dem letzten Text fertig war, streckte er sich kurz und sah auf die Uhr an der Wand neben seinem Schreibtisch. Es war kurz nach fünf, und draußen wurde es allmählich dunkler. Der Regen hatte aufgehört, aber die Straßen glänzten noch nass.

Philip sah zu, wie der Sekundenzeiger der Uhr einmal um das Zifferblatt wanderte, dann stand er auf, legte sich ins Bett und spielte ein wenig mit seiner Nintendo Switch.

Eigentlich war es eine blöde Idee gewesen, eine zu kaufen. Smash Ultimate oder das neue Mario Kart spielte er immer allein gegen die KI-Gegner, was schnell seinen Reiz verlor. Bald legte er die Konsole beiseite und ging dazu über, stattdessen Franz Kafkas Der Prozess zu lesen.

Gegen halb acht hörte er die Türklingel und wie Sarah unmittelbar darauf die Tür öffnete. Dumpf erklang das Lachen ihrer Freunde und kurz darauf hörte Philip, dass sie alle ins Wohnzimmer gingen. Musik wurde angestellt, laut genug, dass Philip sich nicht wunderte, dass Sarah und ihre Freunde ihre Gespräche brüllend führen mussten. Unfreiwillig hörte er mit, wie sich über irgendwen unterhielten, der jetzt mit irgendeiner anderen zusammen war, und wie wenig sie letztere Person leiden konnten.

Eine Stunde später stand Philip auf, ging ins Bad und putzte seine Zähne. Bevor er sich wieder mit seiner Lektüre ins Bett legte, wechselte er in seinen Schlafanzug und zog die Jalousien vor seinen Zimmerfenstern herunter.

Im Schein seiner Nachttischlampe las Philip weiter in dem Buch, bis seine Augen so müde wurden, dass er es weglegte, die Lampe ausschaltete und sich in meine Decke einrollte. Er schloss die Augen und versuchte, die laute Musik und das dröhnende Gelächter und Geschrei aus dem Wohnzimmer zu überhören.

Irgendwann gelang ihm das lange genug, dass er einschlafen konnte, oder vielleicht war er einfach so müde geworden, dass es keinen Unterschied mehr machte. Der Schlaf kam aber zu spät, als dass er Philip vor all den Dingen hätte bewahren können, die ihm davor durch den Kopf gingen und die er den Rest des Tages erfolgreich verdrängt hatte. Diese Dinge waren etwas, wegen das er längst etwas hätte unternehmen sollen – er wusste aber nicht, wie, und so blieb ihm eben nichts anderes übrig, als nicht an sie zu denken, solange er für dieses Problem keine Lösung fand.

Am nächsten Tag wurde ihm allerdings exakt eine solche Lösung präsentiert.

Philip wachte auf, bevor sein Handywecker klingelte. Er knipste die Nachttischlampe an, weil es noch dunkel war, und starrte an die Decke. Regentropfen wurden vom Wind an die Fenster des Schlafzimmers gepeitscht und sorgten für ein beständiges Trommeln.

In etwa anderthalb Stunden würde Philip aufstehen müssen, um sich durch dieses Unwetter zur U-Bahn durchzukämpfen, die ihn zur Universität bringen würde. Er hatte zwei Seminare an diesem Tag.

Philip seufzte, stand auf und ging in das Badezimmer, das er sich mit Sarah teilte. Er duschte, putzte sich die Zähne, und ging dann wieder zurück in sein Zimmer, um sich anzuziehen. Anschließend sammelte er die Texte ein, die er für die heutigen Seminare brauchen würde, und steckte sie in seinen Collegeblock, den er mitsamt seinem Etui in seinen Rucksack packte.

Als Philip in die Küche kam, um sich Frühstück zu machen, war Sarah bereits da. Sie stand mit einer dampfenden Tasse vor der Kaffeemaschine.

„Morgen“, sagte sie.

„Morgen“, erwiderte Philip. „Du bist früh auf. Wo gestern doch …“

„Die sind wieder früh gegangen. Wir haben nichts allzu Verrücktes gemacht. Und ich leite heute Vormittag Übungen.“

„Verstehe“, murmelte Philip, holte aus einer Schublade die Packung Toast von gestern hervor und schob zwei Scheiben in den Toaster. Sarah hatte bereits Kaffee gemacht, und Philip schenkte sich eine Tasse ein. Der Kaffee war heiß, aromatisch und schmeckte gut.

„Ich wollte mit dir übrigens reden“, sagte Sarah.

„Hm?“, machte Philip und nippte an seiner Tasse.

Sarah strich sich durch ihr kurzes blondes Haar, eine Geste, die sie machte, wenn sie über etwas Ernstes reden wollte.

Ist irgendjemand gestorben?, dachte Philip.

„Also, es geht um Folgendes“, sagte Sarah und griff nach etwas, das neben der Kaffeemaschine lag. „Hier.“

Philip starrte auf den Flyer, den sie ihm unter die Nase hielt. „Eine … Brettspielgruppe?“, fragte er irritiert.

„Die trifft jeden Dienstag, also auch heute“, sagte Sarah. „Kevin hat mir gestern den Flyer gegeben. Ich dachte, das wäre vielleicht etwas für dich.“

„Wie meinst du das?“, fragte Philip. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein besonderes Interesse für Brettspiele gezeigt zu haben.

„Weil du … Nun, weil du nie was machst“, sagte Sarah vorsichtig.

„Bitte?“, fragte Philip und zog eine Augenbraue hoch.

„Du weißt, was ich meine. Du gehst nie raus, außer wenn du zur Uni gehst. Du triffst dich mit niemandem. Du hängst den ganzen Tag alleine in deinem Zimmer rum.“

„Na und?“, sagte Philip. „Vielleicht mag ich’s ja so.“

„Wenn du meinst. Es gibt Leute, denen das so gefällt. Ich weiß nur nicht, ob du zu denen gehörst. Du hattest doch Freunde, mit denen du dich getroffen hast, oder nicht?“

„Schon“, sagte Philip.

Tatsächlich hatte er am Anfang seines Studiums mehrere Freunde gefunden. Als Erstsemester war das leicht: Alle hatten sich ins Studium reinfuchsen müssen, und sich gemeinsam dabei zu unterstützen, war ein ganz einfacher Weg gewesen, Freundschaften zu schließen. Das Dumme war nur, dass Philips wenige Freunde mit der Zeit alle den Studiengang und damit auch die Uni gewechselt hatten, weil sie sich anderswo in ihrem neuen Fach mehr erwarteten. So viele Leute, hatte Philip damals verbittert gedacht, und ich suche mir die aus, die hinschmeißen. Natürlich hatte er noch ein paar Mal mit ihnen per Whatsapp geschrieben, aber mit der Zeit waren die Kontakte eingeschlafen.

„Du musst natürlich nicht hingehen“, sagte Sarah achselzuckend. „Ich dachte wie gesagt nur, du könntest dadurch ein paar neue Leute kennenlernen. Ich weiß ja auch, dass du Partys nicht magst – bin mir relativ sicher, dass bei einem Brettspielabend nicht gesoffen oder laute Musik gespielt wird.“

„Hm“, machte Philip und nahm den Flyer. „Ich gucke mal. Danke.“

„Keine Ursache.“ Sarah nahm ihre Kaffeetasse und ging in ihr Zimmer.

Philips Toast war inzwischen fertig. Er bestrich ihn mit Erdnussbutter und setzte sich an den Küchentisch.

Während er sein Frühstück aß, schaute er sich den Flyer noch einmal an. Er wusste nicht, ob er wirklich dahin wollte. Andererseits fühlte er sich in letzter Zeit nicht wirklich gut, und es war durchaus möglich, dass das an seiner Einsamkeit lag. Wenn Sarahs Freunde hier waren, dann hatte er manchmal auch mit ihnen geredet, aber es war immer so, dass sie über Leute sprachen, die er nicht kannte und über Insiderwitze lachten, deren Bedeutung er nicht wusste. Es war einfach nicht „sein“ Freundeskreis, und er hatte nie das Gefühl, dazuzugehören.

Vielleicht war es also an der Zeit, wieder eigene Freunde zu finden.