Anthologie

Das stete Klacken des Blinkers vermischte sich mit dem leisen Dröhnen des prasselnden Regens auf das Autodach. Kleine Wasserrinnsale bildeten sich auf der Windschutzscheibe und verzerrten die nächtlichen Straßenlichter bevor die Scheibenwischer diese wieder wegwischten. Die dunklen Straßen waren leergefegt in der tiefen Nacht, lediglich ein dunkelblaues Auto stand einsam und ungeduldig wartend an der Kreuzung.

Im Inneren des Autos löste sich kurz der Blick des Fahrers von dem blendenden Licht der roten Ampel. Sein angespannter Griff um das Lenkrad lockerte sich ein wenig und er lehnte sich in das kalte Sitzpolster der Rückenlehne. Seine Augen glitten hinüber zum Beifahrersitz, in dem ein sichtlich erschöpfter junger Mann saß. Der Körper des Beifahrers hing entkräftig im Sitz, während sich sein Brustkorb unruhig hob und senkte. Seine braunen Haare verhangen seine linke Gesichtshälfte, sodass der Fahrer sein Gesicht nicht sehen konnte. Im schwachen Licht der Straßenlaternen waren die Narben an seinen Händen kaum auszumachen, welche wiederrum kraftlos zu Fäusten zusammengeballt waren. Seinen Kopf hatte er an die Seitenscheibe gelehnt und starrte mit leerem Blick ziellos hinaus in die Dunkelheit.

Eilig lösten sich die grauen Augen des Fahrers von der erschöpften Gestalt und fixierten die Ampel erneut an. Bereits seit Anbeginn der Fahrt herrschte eine dämpfende Stille im Auto vor, die die Einsamkeit der Nacht nur zu verstärken schien.

Plötzlich stieß ein Auto aus der Dunkelheit eilig über die Kreuzung und wurde abermals von der gnadenlosen Schwärze verschluckt. Für einen Bruchteil einer Sekunde löste sich der Kopf des jungen Mannes leicht von der Scheibe und starrte beinahe überrascht auf die Stelle, wo das Auto zuletzt zu sehen war. Scheinbar enttäuscht ließ er traurig seinen Blick auf seine bleichen Hände fallen, die leblos zwischen seinen Oberschenkeln lagen. Er öffnete kurz seinen Mund und bewegte langsam seine Lippen, aber die stillen Worte wurden vom Gedonner des Regens übertönt.

Dennoch drehte sich der Kopf des Fahrers erneut zu ihm um. Die grauen Augen musterten rasch den jungen Mann bevor sie ruhig auf seinem Gesicht verharrten.

„Was ist los?“, fragte dieser mit ruhiger aber eindringlicher Stimme, „Ich habe dich nicht verstanden.“

Angespannt begann der Beifahrer mit seinen Händen zu spielen bevor er eine Antwort gab: „Können wir nicht einfach… umkehren?“

Der Tonfall des jungen Mannes klang flehend mit einer Spur von Verzweiflung. Seine Augen starrten angespannt seine Hände an, ihm war es unangenehm dem Fahrer ins Gesicht zu sehen.

In der einsetzenden Stille nach der verstummten Frage, waren einige tiefe Atemzüge des Fahrers zu vernehmen. Bevor dieser jedoch zur Antwort ansetzen konnte, sprang die Ampel auf Grün. Der Motor brummte leise auf und das Auto bog sanft, jedoch mit einer gewissen Eile, um die Kurve.

„Tolstoy!“, der junge Mann hatte schlagartig seinen Kopf gehoben und starrte panisch den Fahrer an, „Bitte. Ich… ich fühle mich auch schon besser.“

Der angesprochene Fahrer hielt scheinbar unbeirrt seinen Blick weiterhin auf die menschenleere Straße.

„Wir wissen beide, dass das eine Lüge ist.“, erwiderte dieser im harschen Tonfall, „Ich kann als dein Arzt so etwas nicht einfach ignorieren, wohlwissend wie sich das schnell verschlechtern kann. Gerade in deinem Fall.“

„Mein Fall…“, murmelte der Beifahrer leise als sich sein Blick wieder zur Dunkelheit hinter der Autoscheibe wandte.

Ein leiser angestrengter Seufzer von Tolstoy war zu vernehmen.

„Blue, hör mir zu!“, seine Stimme vermischte einen harschen Befehlston mit einer Spur von Einfühlsamkeit, „Ich weiß sehr gut, dass du nicht wieder ins Krankenhaus willst.“

Ein kurzer Moment der Stille herrschte vor, bevor er weitersprach: „Trotz deiner Angst und Aversion gegenüber Krankenhäusern, weißt du schlussendlich selber das es aber nicht anders geht. Du wärst sonst seit etlichen Jahren nicht mehr am Leben.“

Blue’s Hände ballten sich zu Fäusten zusammen.

„Ich kann es dir nicht versprechen, aber wir bemühen uns darum, dass du so schnell wie möglich wieder gesund rauskommst. Okay?“, sprach Tolstoy unbeirrt weiter als ein hellbeleuchteter hoch aufragender Gebäudekomplex in der Ferne sichtbar wurde.

Langsam verhallte der letzte Satz und wurde erneut vom Geprassel des nachlassenden Regens übertönt. Auf ein Neues legte sich Stille über das einsame Auto in der Nacht. Scheinbar unaufhaltsam kam der Gebäudekomplex näher, dessen helle Beleuchtung schmerzhaft durch die Dunkelheit der Nacht schnitt. Es wurden große Glassfronten an den clusterartigen, modernen weißen Gebäuden sichtbar. Von irgendwo aus der Ferne drang das gedämpfte Geräusch eines Martinshorns in das Auto. Auf der monotonen Fahrstrecke verrannen Minuten wie Sekunden während der Regen erstarb.

Schließlich drosselte das Auto seine Geschwindigkeit und bog knirschend auf einen umzäunten Parkplatz ein. Ein besonders hoch aufragender Teil des Komplexes, welches wie ein weißer gläserner Riese wirkte, lag direkt neben dem Parkplatz. Nur einige Meter davon entfernt kam das Auto zum Halten. Anschließend erstarb das Geräusch des Motors.

Während die Lichter im Innenraum angingen, war das schnappende Geräusch des sich lösenden Sicherheitsgurtes zu vernehmen. Eilig zog Tolstoy’s Hand den Autoschlüssel ab und öffnete die Autotür. Ein Schwall kühler, nasser Nachtluft strömte unaufhaltsam in das Auto und begann die behagliche Wärme zu vertreiben. Tolstoy warf einen kurzen Blick zu Blue rüber, der nach wie vor müde im Sitz hing und sich nicht zu bewegen schien.

„Komm, Blue! Je eher du aussteigst, desto eher hast du es hinter dir.“, Tolstoy’s sanfter Tonfall schien zum jungen Mann durchzudringen.

Während Blue endlich etwas widerwillig aus dem Auto stieg, trat Tolstoy mit einer unscheinbaren Sporttasche in den Händen vor das Auto.

Erst jetzt war seine hochgewachsene schlanke Statur unter seiner Kleidung zu vernehmen. Im hellen Licht des Autoscheinwerfers und der umgebenden Laternen, war deutlich zu sehen, dass er wesentlich älter war als Blue. Doch aufgrund seiner ungebändigten grauen Haare, welche im Kontrast zu seinem jungen Gesicht standen, war es schwer sein Alter korrekt zu schätzen. Seine grauen Augen, welche keine Spur von Müdigkeit zeigten, fixierten Blue als dieser schleppend auf ihm zuging. Dessen kurzen braunen Haare hingen in sein gesenktes Gesicht, während er seine Hände in den Taschen seiner Jogginghose vergraben hatte. Blue war eigentlich nur etwas kürzer gewachsen als der grauhaarige Mann, aber er wirkte durch sein weites T-Shirt und seinen gebeugten Gang erheblich kleiner.

Beide Gestalten überquerten stummschweigend denn regengetränkten Parkplatz und mussten dabei einige Male großen schwarz schimmernden Pfützen ausweichen. Der grobkörnige Asphalt, der unter ihren Schuhen knirschte, hörte abrupt vor einem kleinen Grasstreifen auf, welcher dem Parkplatz von der Durchfahrtsstraße vor dem Gebäude trennte. Durch die Schwärze der Nacht schnitt pulsartig blau leuchtendes Lichts. In einigen Metern Entfernung, vor dem scheinbaren Haupteingang des Gebäudes, stand ein Krankenwagen, dessen grelle Signalleuchten schnell und regelmäßig aufblitzen. Blue blieb abrupt mitten im Grasstreifen stehen und starrte entgeistert zum Rettungswagen rüber, der inzwischen von Menschen umgeben war.

„Blue?“, Tolstoy berührte ihn leicht am rechten Oberarm, woraufhin er überrascht zusammenzuckte.

„Das ist die falsche Richtung. Wir müssen da entlang.“, in Tolstoy’s Stimme schwang, trotz des sanften Tonfalls, ein auffordernder Nachdruck mit als er auf einen Seiteneingang in der Entfernung deutete.

Blue löste verängstigt seinen Blick von der fremden Szene, die sich vor dem Haupteingang abspielte und gemeinsam überquerten sie stumm die Straße. Der Gehweg, welcher direkt am Gebäude verlief, war durch die Straßenlaternen und dem diffusen Licht, was aus den Glasfronten herausdrang, hell erleuchtet und bildete eine kleine unsichtbare Grenze zur dunklen Nacht. Mit jedem Schritt entfernten sich beide vom Haupteingang und blieben nach einer Weile vor einer verschlossenen metallenen Tür stehen. Unter einem kleinen Schild, welches neben der Tür angebracht war, befand sich ein Kartenleser. Tolstoy führte mit einer fließenden Handbewegung seinen Personalausweis durch den Schlitz des Gerätes, wodurch sich leise klickend die Tür öffnete.

Note: Tolstoy wird hier als Vorname genutzt und als "Tol-stoy" ausgesprochen. Ja, mir ist bewusst, dass es der Nachname eines berühmten russischen Schriftstellers ist. Aber ich fand er klingt auch gut als Vorname *shrug*