Platzhaltername - Ein NaNo-Spontan-Projekt

Bist du bereit?

Es erwartet dich eine Reise voller Geheimnisse. Eine Reise voller Abenteuer und Gefahren, wagemutigen Helden, die sich diesen stellen und treuen Gefährten, die sich tapfer in jede Schlacht stürzen. Eine Geschichte voller unglaublicher Begebenheiten, die alles auf den Kopf stellen können.

Doch es erwartet dich auch eine Reise voller Abgründe. Eine Reise voller Intrigen und Schmerz, verlorenen Geistern, die daran zerbrechen und grausamen Gestalten, die manipulativ jeden in ihre Fänge zu reißen scheinen. Eine Geschichte voller Verluste, die dich alles Gute der Welt hinterfragen lassen können.

Also frage ich nochmal: Bist du bereit dafür? Bereit die Schatten der Existenz zu erkennen und die Wahrheit zu sehen? Nicht mehr nur von äußerem Schein geblendet und von Gutglauben über allem Unschönen zu schweben? Bist du bereit zu fallen und dann auf dem Boden angekommen dazu fähig sein, sowohl das Erhabene wie auch das Niederträchtige zu sehen?

Bist du bereit?

Dann mach die Augen auf.

Es war ein ruhiger Tag. Dieses Gefühl hatte ich schon, als ich nach dem Aufstehen aus dem Fenster sah und nichts brannte.

Und ich schien recht damit zu behalten, denn als die Sonne am höchsten stand war ich auch erst vor meiner ersten Auseinandersetzung des Tages weggerannt und hatte mich in einer schmalen Gasse an die Wand gelehnt.

„Ist ja fast wie Urlaub heute“, ertönte eine tiefe Stimme neben mir und ich sah es aus den Augenwinkeln kurz hell flackern.

„Ist doch gut, wenn die Arbeit mal einfacher zu erledigen ist“, antwortet ich und sah auf die kleine, sanft gelb leuchtende Kugel, die neben mir erschienen war. „Den ganzen Stress hier brauche ich auch nicht jeden Tag.“

„So lange du fertig wirst…“, fing die Lichtkugel wieder an zu sprechen, doch ich fing sie schnell in meinen Händen ein, damit sie still war.

„Beschwer dich nicht, ich habe ihn noch nie enttäuscht. Und jetzt wieder rein mit dir, bevor dich noch jemand sieht und die ganze schöne Ruhe heute wieder weg ist.“ Meine Worte wirkten, denn einen Moment später leuchteten meine Hände und Unterarme auf, als sich die Energie wieder in meinen Körper zurückzog.

Einen Moment später hörte ich auch schon die schweren Schritte der Stadtwache. Der charakteristische Klang ihrer stahlbesetzten Sohlen war unverkennbar. Ich wurde schon zu oft von diesem Geräusch verfolgt, als dass ich es je vergessen könnte.

Schnell lief ich die Gasse weiter. Ich wollte nicht hier gefunden und erkannt werden. Ich hatte eine Aufgabe zu erledigen. Wie aus Reflex tastete ich nach dem zusammengefalteten Blatt Papier in meiner Hosentasche, als müsste ich mich vergewissern, dass es noch da ist. Zu gerne hätte ich gelesen, was draufstand, aber es war mir verboten worden. Ich sollte es nur zustellen, alles andere bräuchte mich nicht zu interessieren. Also tat es das auch nicht.

„Hast du das von diesem Iniqui gehört? Er soll wohl in die Weststadt geflohen und dort dann einfach vor aller Augen verschwunden sein“, drangen Worte leise an mich. Ich sah nicht auf, um zu erfahren, wer es gesagt hatte. Bei dem Wort „Iniqui“ zuckte ich leicht. Es fühlte sich komisch an, wenn andere uns so nannten. Es klang einfach anders. Herabwürdigender, als wären wir eine unwillkomene Plage. Dabei hatten wir uns den Namen selbst gegeben. Naja ok, er hatte uns den Namen gegeben, doch wir waren alle Stolz darauf. Wir waren stolz darauf, eine Einheit von Andersartigen zu sein. Er sagte oft, dass wir die nächste Stufe der Menschheit wären. Dass unsere Kräfte eine neue Evolution der Menschheit darstellen würde, die er erschaffen habe.

Unterbewusst ballte ich meine Fäuste. Darüber nachzudenken machte mich wütend, nur konnte ich nicht sagen, wieso. Es war wie ein nerviges Jucken in meinem Gehirn, dass nicht aufhören wollte.

„Hey! Pass doch auf wo du hinläufst!“, schrie mich jemand an. Ich zuckte zusammen und sah eine ältere Frau vor mir stehen, mit der ich fast zusammengestoßen wäre. Schnell murmelte ich ein „Entschuldigung“, zog den Kopf ein und wollte schnell weitergehen. Doch die Frau ließ es damit nicht gut sein. „Dämliche Iniqui! Ihr denkt wohl, euch gehört die ganze Welt, was? Passt nicht auf, was vor und hinter euch passiert! Ihr dreckigen Mutanten seit keinen einzigen billigen Cent wert!“, schrie sie mir hinterher.

Bei den letzten Worten fror ich mitten in der Bewegung ein, bevor ich mich langsam zu ihr umdrehte und sie jetzt direkt und voller Wut anstarrte. Meine Haut knisterte vor Spannung und ich spürte, wie die Energie durch meinen Körper pulsierte und die Kontrolle über mich bekam. Langsam ging ich wieder auf sie zu. „Was. Hast. Du. Grade. Gesagt.“, knurrte ich mit zusammengepressten Zähnen hervor. Sie wurde ganz bleich und ich hörte ihren Atem schneller und panischer werden, während sie zurückwich. Erst jetzt bemerkte ich die vielen anderen Menschen auf dem Platz, die gebannt den Atem anhielten und zwischen mir und ihr hin und herschauten.

„Dämliche Iniqui, was? Jetzt scheinst du ja doch nicht mehr so mutig zu sein.“ Meine Stimme klang schon fast wie ein amüsiertes Schnauben. Die Frau wich immer noch vor mir zurück, stolperte dabei über einen leicht erhöhten Pflasterstein und landete auf ihrem Hintern. Einen Moment später stand ich über ihr.

„Bitte… Ich habe eine Familie… Und Kinder…“, flehte sie leise. Ich hörte wieder das vertraute klingen der Stahlsohlen auf Stein, doch diesmal war es mir egal.

„Bringst du denen auch bei, was für Abschaum wir sind? Werden meine Brüder und Schwestern von deiner Familie auch so beleidigt und verspottet, wie du es mich hast?“ Der Blick der Frau wurde immer ängstlicher und sie sackte immer mehr in sich zusammen, während ich mich immer bedrohlicher über sie beugte. „Du bringst ihnen bei, dass wir Monster sind, nicht? Keiner verdient es, als Lügner zu sterben, also lass mich deine Worte wahr machen.“ Meine Worte waren nicht mehr als ein bedrohliches Flüstern, dass nur sie und ich hören konnten. Das Geräusch der Schuhe wurde immer lauter.

„Da! Das ist sie! Sie hat die arme alte Frau einfach so aus dem Nichts angegriffen! Sie ist eine von denen! Seht euch nur ihre Augen an!“, rief eine männliche Stimme und die Schritte wurden schneller. Meine Gedanken wanderten kurz zu meiner Aufgabe, die ich noch zu erfüllen hatte. Ich durfte ihn nicht enttäuschen.

Mit einem letzten bösen Funkeln wendete ich den Block von der Frau ab und sah mich um. 5 Wachleute liefen auf mich zu und das schien die inzwischen beachtliche Zuschauermenge mutig zu machen, denn sie schlossen sich immer mehr zusammen und kamen auch auf mich zu. Es war schon zu spät zum Wegrennen. Sie waren schon zu nah und ich war komplett umzingelt. Die Wut und der Hass auf mich war in jedem einzelnen Augenpaar deutlich zu sehen.

„Keinen Widerstand oder wir werden dich auf der Stelle unschädlich machen!“, rief einer der Wachmänner mir zu. Er war nur noch wenige Schritte von mir entfernt. Ich schnaubte und schüttelte leicht den Kopf. ‚Unschädlich machen‘, ich wusste genau, was das bedeutete.

Sie kamen mir immer näher. Noch drei Schritte… Zwei… Ich schloss meine Augen und atmete aus.

Dann explodierte ich.

Die Schockwelle schleuderte alles um mich herum einige Meter weit weg. Ich roch den Rauch der kleinen Flammen um mich herum in der Luft. Die Menschen, die mich eben noch umzingelt hatten, lagen jetzt auf dem Boden verteilt. Sie waren nicht tot, vermutlich nicht mal ernsthaft verletzt, dafür war meine Energie nicht stark genug. Aber sie waren für die wertvollen Sekunden außer Gefecht gesetzt die ich brauchte, um wegzurennen.

Und wie ich rannte, weg von dem offenen Platz hinein in Seitengassen, die immer schmaler und dunkler wurden. Ich achtete nicht darauf, wohin ich rannte, ich wollte nur weg, an einen Ruhigen Ort in Sicherheit. Unterbewusst mussten mich meine Füße zu einer Sackgasse gebracht haben, die mich nur die eine Wand vor mir breit von Sicherheit trennte. Noch ein Mal konzentrieren, dann war ich auf der anderen Seite. Wieder knisterte meine Haut, diesmal nur ganz leicht und ich legte meine Hand auf einen der großen Steine vor mir. Er flackerte kurz auf, bevor er komplett verschwand und ich mich durch das Loch auf die andere Seite ziehen konnte. Durch so ein Sicherheitssystem konnte uns niemand folgen. Sobald ich durch war, erschien er wieder.

Dann sackte ich an der Wand zusammen in das Gras und brach in Tränen aus. Wie konnte das nur alles so eskalieren? Warum hassten uns die Menschen so sehr? Warum hatte ich mich nicht genug unter Kontrolle, um solche Beleidigungen einfach zu ignorieren?

Schon wieder hatte ich ihr Bild von uns als Monstern gestärkt. Er sagte immer, dass wir besonders wären. Dass die Menschen dazu da wären, um uns zu dienen. Das wir Iniqui mit unseren Kräften dazu bestimmt wären, über die Menschen zu herrschen. Das wir, die er aufgenommen und mit unserer Macht gesegnet hatte, besonders wären und es verdient hätten, über allem anderen zu stehen. Dass die Menschen uns verehren sollten. Dass wir uns nicht vor ihnen verstecken oder vor ihnen fliehen müssten, so wie wir es jetzt taten. Ihm war egal, was dabei passierte, denn wir waren ja im Recht. Wir waren die gesegneten, die höhere Evolutionsstufe. Wir waren die, die verehrt werden müssten und nicht gejagt. Und doch konnte ich nicht aufhören zu weinen.

Ich schlang meine Arme um meine Beine und vergrub mein Gesicht zwischen meinen Knien, um meine Tränen zu verstecken. Dabei konnte ich nicht mal wirklich sagen, was mich am meisten belastete. War es die Beleidigung gewesen? Dass sie mich und Meinesgleichen wertlos genannt hatte? Dass die Menschen das als normal und unproblematisch ansahen und ich das Problem war? Dass es nicht zählte, was Menschen uns antaten, denn wir waren die Monster? Oder war es, dass ich meine Kraft nutzen musste. Dass so viele Menschen um mich herum betroffen waren. Es war nicht das erste Mal gewesen, aber das erste Mal so öffentlich. Und dann war da noch ein Gedanke, ganz leise weit hinten in meinem Kopf. Dass ich Angst hatte. Angst vor mir. Wären die Wachen nicht gekommen oder meine Aufgabe schon erledigt gewesen… Was hätte ich mit der Frau noch getan? So gerne würde ich mir einreden können, dass „ich“ das nicht war. Dass die Energie die Kontrolle über mich gewonnen hatte, dass sie wie ein Urinstinkt ist, die mich überwältigt. Doch ich wusste es besser. Alles was ich tat, war „ich“. Das war nur nicht, wie ich sein wollte, sondern die pure Form dessen, was und wie ich wirklich bin.

„Hey, jetzt beruhig dich doch mal…“, kam die sanfte Stimme von meinem kleinen Licht.

„Du hast gut reden…“, schluchzte ich. „Du bist mein Irrlicht, meine Energie… Du sollst mich leiten und nicht so wahnsinnig werden lassen“

„Ich habe dich doch noch nie falsch geführt, oder? Hättest du dir das echt gefallen lassen wollen? Ich meine, wenn du ein Mensch wie sie gewesen wärst und sie dir das an den Kopf geworfen hätte was sie gesagt hat, wärst du dann einfach weiter gegangen? Warum solltest du dir als Iniqui mehr gefallen lassen, als ein Mensch es tut?“ Seine Stimme klang tadelnd, aber warm. Ich wusste, er meinte es nur gut mit mir, aber es half nicht. Ich war kein Mensch wie sie. Woher sollte ich wissen, wie ich reagiert hätte? Wieso hätte sie mir solche Worte hinterherrufen sollen, wenn ich so wäre wie sie? Warum hätten sie mich für die Böse halten sollen, wenn ich wäre wie sie?

Ich spürte Wärme von meinem Rücken aus durch meinen Körper strömen. Es fühlte sich an, wie eine liebevolle Umarmung, wohltuende Ruhe und tröstender Beistand. Mein Irrlicht war wieder in mich zurückgekehrt. Ich wusste, was das bedeutete. Ich musste weiter machen. Es brachte mir nichts, mich hier in Elend zu verkriechen und darüber hinweg meine Aufgabe zu vernachlässigen. Er würde nicht begeistert sein. Er würde sicher schon von davon wissen, wie ich hier zusammengebrochen war und allein deswegen schon nicht besonders gut gelaunt sein, wenn ich ihn heute Abend zur Berichterstattung sehen würde. Da sollte ich ihn nicht noch unglücklicher machen, indem ich bei meinem Botengang versagt hatte.

Ich tastete nach dem Stück Papier und zog es aus meiner Tasche. Es war noch ganz, immerhin. Ich hatte meine Kraft inzwischen also wirklich besser im Griff. Diesmal hatte ich mich auch nicht selbst dabei verletzt. Mein Blick hing einige Sekunden lang an dem Zettel. Zu gerne wüsste ich, was darauf geschrieben stand. Ich strich ihn glatt und steckte ihn wieder weg. Der Inhalt war nicht für mich bestimmt.

Langsam stand ich auf und sah mich kurz um. Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen und bis eben hatte ich nicht mal bemerkt, was sich alles verändert hatte. Der Garten war viel gepflegter geworden, das Gras war gemäht und die Bäume und Sträucher wuchsen nicht mehr so wild wo sie wollten, sondern hatten ihre Ordnung. Ein schmaler Steinweg führte jetzt durch die Grünanlage, wo früher nur ein Trampelpfad war. Die Mauer, die den ganzen Garten eingrenzte, war komplett sauber und nicht mehr von Ranken bewachsen.

Irgendwie machte mich das traurig, ich hatte die Unordnung gemocht. Ich hatte diese wild wachsende Freiheit hier genossen. Und jetzt wirkte es schon fast steril.

Ich wischte mir die letzten Tränen weg und ging dann den Steinweg entlang. Das kies knirschte mit jedem Schritt unter meinen Füßen und ich kam mir dabei so bloßgestellt und beobachtet vor. Nach ein paar Metern kam ich an einem kleinen Brunnen vorbei, um den Apfelbäume gepflanzt waren. Schnell wusch ich mir darin mein Gesicht in der Hoffnung, dass es die Rötungen vom Weinen verschwinden lassen würde. Meine Reflektion im Wasser war da aber anderer Meinung. Meine Augen waren rot und verquollen, was mein sonst eher blasses Iniqui-Mal umso stärker hervorstechen ließ. Schon lange hatte ich es mir nicht mehr genauer angesehen. Ich beugte mich runter, näher an die Wasseroberfläche und strich ganz leicht über die feinen Linien unter meinen Augen, die aussahen, als hätte man sie mit einer Nadel in meine Haut geritzt.

„Erina? Bist du das?“ Vor Schreck zuckte ich zusammen. Diese Stimme hatte ich auch schon lange nicht mehr gehört. Ich wollte nicht, dass sie mich so sah. „Jetzt dreh dich endlich um, ich erkenne dich doch, wenn du in meinem Garten stehst!“, wurde mir etwas ungeduldig zugerufen. Langsam drehte ich mich um und sah schuldbewusst zu der Person, die mit beiden Händen in die Seiten gestemmt auf der Terrasse stand. „Hi Oma…“, antwortete ich etwas schüchtern und hob meine Hand zögerlich zu einem halbherzigen Gruß. Sie sah mich entgeistert an, schüttelte leicht den Kopf und kam zu mir.

„Du siehst furchtbar aus“, stellte sie fest, als sie vor mir stand. Ich konnte nicht antworten und starrte auf den Boden. Sie seufzte. „Nur weil ich dir und deiner Mutter zuliebe meinen Garten als Safehouse zur Verfügung stelle, heißt das nicht, dass ich besonders glücklich über eure Entscheidung bin… Und du scheinst es auch nicht zu sein, wenn ich dich so sehe.“ Ihre Stimme war so wahnsinnig sanft und vertraut. Sie erinnerte mich an mein früheres Leben. Ein ruhigeres Leben.

„Nein, mach dir keine Gedanken“, sagte ich zögerlich. „Es ist alles gut, ich hatte nur… einen anstrengenden Tag bisher…“ Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter. „Ich mache mir doch nur Sorgen um dich… Ich weiß noch als du kleiner warst und fast jeden Tag hier bei mir durch den Garten gerannt bist… Du warst damals so glücklich und fröhlich und voller Lebensfreude - “ Ich unterbrach sie mitten im Wort. „Ich war einfach nur klein und naiv. Alles hier hat sich verändert. Der Garten war mal so wild und frei… Und jetzt? Du hast doch auch deine Entscheidung getroffen, wie du dein Leben führen willst und was du willst, was andere sehen, wenn sie auf dein Leben schauen…“

„Und was genau willst du, dass andere bei dir sehen? Willst du dich wirklich nur durch die Male unter deinen Augen auszeichnen lassen? Oder durch euren komischen Sektenführer?“

„Es reicht!“ Ich unterbrach sie ziemlich harsch. Woher meine plötzliche Wut kam, konnte ich nicht sagen, aber es fühlte sich so an, als würde ich von innen heraus verbrennen. Sie sah mich besorgt an. „Deine Augen, mein Liebes…“, sagte sie seufzend und schnell drehte ich mich von ihr weg und rieb meine Augen. Ich musste nicht in mein Spiegelbild sehen, um zu wissen, dass sie wieder geleuchtet hatten.

„Ich hoffe du erkennst irgendwann, dass das nicht du bist…“, fing sie nochmal an, aber ich schüttelte schnell den Kopf. Die Worte trafen mich wie Backsteine.

„Es war schön mit dir zu reden Oma, ich muss weiter“, antworte ich hastig, ohne sie anzusehen. Ich wusste, dass es sie enttäuschte, aber ich hielt es hier einfach nicht mehr aus. Es war wie eine innere Spannung, die mich zu zerreißen drohte, doch ich konnte beim besten Willen nicht ausmachen, woher sie kam und zwischen was es mich eigentlich zu zerreißen drohte. Ich musste einfach weg von hier.

„Du bist hier immer willkommen, das weißt du hoffentlich. Und pass bitte gut auf dich auf!“, rief meine Oma mir beim Weggehen noch hinterher. Ich sah nur kurz nochmal zu ihr zurück und hob meine Hand kurz zum Abschied, bevor ich durch das Vordertor wieder auf die Straße trat.

Meinen Blick hielt ich gesenkt. Ich wollte nicht schon wieder Ärger auf mich ziehen und ich war immer noch zu angespannt, als dass meine Augen wieder ihre normale braune Farbe hatten. Zum Glück war es jetzt nicht mehr weit bis zu meinem Ziel. Ich steckte meine Hände in meine Hosentaschen, umklammerte den Zettel darin und ging so schnell ich konnte, ohne zu rennen weiter. Immer wieder hörte ich einige Wortfetzen von Gesprächen.

„…eine arme alte Frau angegriffen“

„…eine von denen…“

„…den ganzen Marktplatz gesprengt…“

„…gefährliche Monster…“

„…Abschaum wie die…“

„…gehören alle weggesperrt…“

„…nicht sicher hier…“

„…unschuldige Menschen zum Opfer…“

So sehr ich auch versuchte, die Stimmen auszublenden, desto lauter schienen sie zu werden. Bald wusste ich schon nicht mal mehr, ob sie von den Menschen um mich herum kamen, oder aus meinem eigenen Kopf heraus.

Nur noch zwei Straßen weiter, dann war ich da. Die nächste Abzweigung rechts rein, dann irgendwann Links und dann kam der Laden auch schon bald. Immer wieder wiederholte ich das in Gedanken, in der Hoffnung, es würde die Stimmen leiser machen. Ich wurde immer schneller, rannte schon fast, ich wollte unbedingt an mein Ziel kommen und mich wieder zurückziehen können. Immer wieder kam mir der Blick der alten Frau wieder vor Augen und ihre Worte zu mir. Ich war doch schon oft für meine Art beleidigt worden… Warum nahm mich das ausgerechnet heute so sehr mit?

Die letzte Abzweigung, jetzt nur noch die Straße entlang und dann – knallte ich gegen jemanden großes, stolperte nach hinten und fiel auf den Boden. Ich versuchte mich mit meinen Händen aufzufangen, doch beim Aufprall zog ein stechender Schmerz durch meine Hände und meine Handgelenke schmerzten. „Pass doch auf!“, sagte der Mann, in den ich hineingelaufen war, genervt, bevor er an mir vorbei einfach weiter lief. Langsam setzte ich mich in den Schneidersitz und versuchte meine Handgelenke zu bewegen. Sofort verzog ich vor Schmerzen das Gesicht und keuchte auf. „Ahh… verdammt…“, zischte ich leise hervor und tastete ganz vorsichtig meine Handgelenke mit den Fingerspitzen ab. Dabei drehte ich meine Hände ganz vorsichtig zu mir und sah auf meine Handflächen. Ich hatte mir die Handballen aufgeschürft, aber es blutete zum Glück nicht. Doch jede Bewegung meiner Hände tat höllisch weh.

„Ist alles OK bei Ihnen?“, hörte ich eine Frauenstimme fragen. Sofort kam Panik in mir auf. Ich wollte nicht schon wieder in einen Streit geraten, ich musste hier schnell weg.

„Jaja alles gut“, murmelte ich schnell und stand etwas holprig auf. Ohne sich mit den Händen selbst aufhelfen zu können war das gar nicht so einfach.

„Sind Sie sich sicher? Brauchen Sie einen Arzt? Ihre Hände sehen nicht gut aus“, redete sie weiter, doch ich versuchte nur abzuwinken, was mich wieder vor Schmerzen aufkeuchen ließ.

„Wirklich alles gut, ich habs nicht weit…“, sagte ich noch schnell und ging dann weiter, ohne die Frau auch nur ein Mal anzusehen, um mich nicht direkt wieder als Verachtenswert zu offenbaren. Sie rief mir noch irgendetwas hinterher, doch es war mir egal. Sie würde mir ja eh nicht mehr helfen wollen, wenn sie mein Gesicht sehen würde.

Es war ja auch nicht mehr weit. Nur noch die Straße entlang. Ich konnte den Laden schon sehen. Nur noch ein paar Meter. Endlich stand ich vor der Tür und wollte sie aufdrücken, doch sobald ich meine Hand auf die Tür legte, keuchte ich wieder vor Schmerzen auf. Ich versuchte ganz leicht, gegen die Tür zu drücken, doch der Schmerz wurde unerträglich. „Ach verdammt…“, zischte ich leise, bevor ich die Tür mit meiner Schulter aufdrückte.

Beim Eintreten klingelte die Glocke über der Tür. Der Laden war so, wie immer. Ein bisschen dunkel, ein bisschen muffig riechend und die vollgestopften Regale quollen über wie immer. Ich musste lächeln. Auch wenn ich wusste, dass die Antiquitäten und alte Bücher nur dazu dienten, eine Fassade für den eigentlichen Verkauf hier zu bilden, so wurde es doch immer voller hier. Der Besitzer hatte wohl wirklich ein schwaches Herz für solche Dinge.

Langsam ging ich durch die dunklen Holzregale und sah mich um. Es gab hier so viele alte Bücher, nur von einem Drittel davon konnte ich den Titel lesen. Wie viel Wissen hier wohl stand? Ob jemals ein Mensch so viel wissen konnte, wie hier gesammelt war?

„Ah, ich habe Sie schon erwartet“, wurde ich freundlich begrüßt und damit aus meinen Gedanken gerissen. Ich sah in die Richtung, aus der die Stimme kam und erschrak. Der Besitzer des Ladens stand direkt neben mir und ich hatte ihn bis grade eben nicht bemerkt. Schnell ging ich einen Schritt zurück und musterte ihn. Er sah aus, als wäre er erst 30 Jahre alt, aber so sah er schon aus, als ich ihn vor 12 Jahren das erste Mal getroffen hatte. Er veränderte sich auch sonst kaum. Seine kurzen Haare waren glattgekämmt und sein Drei-Tage-Bart war gepflegt und nicht mal ein kleines bisschen länger als sonst. Sein Gesicht sah aus, wie in Stein gemeißelt. Nicht, dass es unfreundlich war oder kalt, nein es wirkte immer freundlich und einladend, aber es hätte trotzdem das Gesicht einer Marmorstatue sein können. Sein dunkelgrünes Hemd und die schwarze Hose fügten sich perfekt in die gepflegte, fast schon edle Gesamterscheinung, die er immer von sich zeigte. Früher hätte ich wohl gedacht, er wäre ein Vampir, aber inzwischen wusste ich, dass das Schwachsinn war. So etwas wie Vampire gab es ja nicht wirklich. Trotzdem konnte ich nicht aufhören zu denken, dass er irgendwie in der Zeit stehen geblieben war.

Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue erwartungsvoll an. „Haben Sie nun etwas für mich, oder wollen Sie nur meine Bücher bewundern?“ Seine Stimme klang belustigt.

„Ähm, j-ja klar… Moment“, stotterte ich hervor und biss die Zähne zusammen, während ich versuchte, den Zettel aus meiner Hosentasche zu holen.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er skeptisch. Ich konnte nicht antworten. Hätte ich den Mund geöffnet, hätte ich wohl nur Schmerzenslaute von mir gegeben. Warum mussten Hosentaschen auch so eng sein? Als ich den Zettel endlich aus meiner Hosentasche herausbekommen hatte, hielt ich ihm diesen schnell hin und musste mich zusammenreißen, ruhig zu atmen, um den Schmerz in meinen Handgelenken zu beruhigen. Er nahm den Zettel an sich, doch nahm auch meinen Arm und sah sich meine Hände an. Meine Handgelenke waren inzwischen schon ziemlich rot und ein leichter Blaustich schimmerte auch durch.

„Unglücklich gestürzt?“, fragte er mich und drehte mein Handgelenkt hin und her um es sich kritisch anzuschauen.

„Ahh aua… Ja bin ich… Aua, bitte seien Sie etwas vorsichtig – Au!“, keuchte ich hervor.

„Beide?“, fragte er, den Blick ganz an meinem kaputten Handgelenk. So wie es schmerzte, war es das spätestens jetzt. Ich nickte und gab ein leises „Mhm“ von mir. Er ließ meine Hand los und ging durch die Regale zu seiner Kasse und dem dahinterliegenden Büro. Zögerlich folgte ich ihm. Er winkte mich in sein Büro, warf noch einmal einen skeptischen Blick in den Laden, bevor er die Bürotür hinter sich schloss. Ich war etwas verwirrt und stand hilflos im Raum.

"Setzen Sie sich doch bitte", bat er mich mit einem Wink auf einen der beiden sehr modern wirkenden Stühle, die vor dem alten Schreibtisch standen.

"Was haben Sie vor?", fragte ich etwas ängstlich. Er antwortete mit "Ihnen helfen. Jetzt setzen Sie sich bitte." ohne mich anzusehen. Schnell folgte ich seinen Worten, während er zu einem der Wandregale ging und verschiedene Schubladen öffnete und wieder schloss. Unsicher sah ich mich im Raum um. Seine Liebe für Antiquitäten und alte Dinge zeigte sich auch hier. Es gab nicht viele Möbel neben dem Schreibtisch und den Stühlen. Hauptsächlich nur noch Regale und Schränke, die mit Büchern und kleinen Skulpturen vollgestopft waren. Neben der Tür stand eine hohe Vase, die mit wilden Mustern in brauner Farbe bemalt war. Mein Blick blieb aber dann an einer kleinen Statue hängen, die auf dem Schreibtisch stand. Es war ein Mann, der einen von wild aussehenden Pferden gezogenen Wagen lenkte. Sein rechter Arm zeigte nach oben, mit der Linken hielt er die Zügel. Er schien nur eine Art Tuch um den Körper gewickelt zu haben, denn man konnte deutlich einen Teil seiner Oberkörpermuskeln sehen. Seine Pose war irgendwie mächtig, heroisch und stark. Die vier Pferde hatten wehende Mähnen und bäumten sich auf, als würden sie sich gegen die Zügel wehren, aber gleichzeitig auch eine wilde Eleganz in sich tragen, die zum Vorschein kam. Das vorderste Pferd schien fast zu fliegen.

"Das ist Apollon in seinem Sonnenwagen", riss mich Daniels Stimme aus meinen Gedanken. Er hatte ein Buch, zwei Rollen Bandagen und einige kleine Tuben in den Händen, die er auf dem Schreibtisch ablegte. Ich sah ihn verwirrt an. "Wer ist Apollon?", fragte ich unsicher. So wie er den Namen genannt hatte klang es so, als müsste man ihn kennen. Er lachte leicht, öffnete das Buch auf einer Seite voller mir unbekannter Symbole und ging dann vor mir in die Hocke. Zögerlich hielt ich ihm meine Arme hin und er schloss seine Hände um meine Handgelenke.

"Apollon ist ein Gott. Er steht für Musik, Kunst und Kultur, aber auch für Magie. Und er zieht den Sonnenwagen, was hier in der Skulptur gezeigt wird", sagte er und ich konnte seine Augen kurz schwach türkis leuchten sehen, bevor er sie schloss. Verwundert starrte ich ihn an. Das hatte ich bei ihm noch nie gesehen.

"Sie… Sie sind einer von uns? Wo sind ihre Male?", fragte ich verwirrt. Er lachte wieder leicht. "Nein, ich bin nicht wie Sie. Ich habe kein Irrlicht. Deswegen müssen Sie Ihres benutzen, um die volle Schönheit der Skulptur zu sehen", antwortete er und ich sah ihn verwirrt an. Er sah mich wieder an und lächelte belustigt. "Sie müssen ihr Irrlicht rauslassen und dann mit der Skulptur verschmelzen", erklärte er mir etwas nachdrücklicher.

"Das geht?", fragte ich überrascht und wieder lachte er.

"Es gibt viel, was ihr nicht über eure Kraft zu wissen scheint. Versuch es einfach." Seine Stimme klang freundlich, aber ich fühlte mich trotzdem irgendwie dumm. Dann nickte ich und schloss kurz meine Augen. Einen Moment später flackerte mein kleines gelbes Irrlicht wieder neben mir. Ich sah verwirrt zwischen ihm und Daniel hin und her.

"Ihr macht das schon, ich kümmere mich jetzt um Ihre Handgelenke", sagte Daniel zuversichtlich und schloss wieder seine Augen.

"Was genau willst du jetzt von mir?", fragte mein Irrlicht skeptisch. Ich sah es ratlos und überfordert an. "Ich weiß es doch auch nicht… Wie verschmilzt du denn mit einer Skulptur?", fragte ich es ein wenig hilflos und es zog noch viel skeptischer seine Augenbraue hoch, als ich es je bei ihm gesehen hatte.

Plötzlich zuckte ein starker Schmerz durch meine Arme, der mich aufschreien ließ. Auch wenn es vermutlich mehr ein Schrei aus Schreck war als aus tatsächlichen Schmerzen. Ich starrte geschockt auf meine Hände und sah unter Daniels Handflächen türkises Licht hervorscheinen.

"Was… Was machst du?" Meine Stimme klang panischer als beabsichtigt.

"Lenken Sie sich bitte ab, das wird noch einen Moment dauern", antwortete er monoton. Nach dem ersten Schock waren die Schmerzen dann auch tatsächlich erträglich.

Ich atmete tief durch und sah dann wieder auf die Statue. Mein Irrlicht schwebte inzwischen daneben.

"Und jetzt?", fragte es mich ratlos und ich schüttelte ebenso unwissend den Kopf.

"Flieg einfach mal drum herum oder so?", schlug ich vor und ich sah ganz deutlich, dass es kurz überlegte, mir zu widersprechen, es sich dann aber anders überlegte und anfing, um die Statue drumherum zu schweben. Erst passierte nichts, aber immer dann, wenn es den Pferdeköpfen besonders nahe kam, schienen diese zu verschwimmen. Erst ganz leicht und dann immer deutlicher.

"Hey kannst du näher rangehen?", fragte ich, mit meinem Blick gebannt an den Pferdeköpfen hängend. Es kam der Statue immer näher, bis nur noch Bruchteile von Millimetern die beiden trennten.

Und dann war es plötzlich weg.

Ich wollte vor Schreck aufspringen und nach der Statue greifen, doch meine Hände wurden mit aller Kraft festgehalten und die Schmerzen, die ich tatsächlich komplett ausgeblendet hatte, zuckten wieder durch meine Arme.

"Was… Was ist da passiert? Was haben sie getan?" Meine Stimme war panisch und schnell.

"Beruhigen Sie sich, es ist alles gut. Sehen Sie einfach nur, was passiert", antwortete Daniel monoton, ohne die Augen zu öffnen. Voller Angst, mein Irrlicht verloren zu haben, starrte ich auf die Statue. Sie fing wieder an zu verschwimmen, dann breitete sich ein fast schon goldenes Licht von ihr aus, erst ganz leicht und dann immer mehr. Es schien fast, als würden die Figuren sich bewegen. Die Pferde bäumten sich wild auf, als würden sie sich von ihren Zügeln losreißen wollen, schüttelten dabei ihre Köpfe und ihre Mähnen wehten im Wind. Apollon schlug die Zügel und schien lautlos zu schreien während sein rechter Arm zu den Bewegungen der Pferde schwankte. Alles sah aus, wie in Zeitlupe oder wie als wären es viele einzelne Bilder, die zu langsam nacheinander gezeigt würden, um eine fließende Bewegung zu zeigen. Bei jeder Bewegung schien das goldene Licht sich wie Funken von der Statue zu lösen und durch den Raum zu schweben. Mit offenem Mund starrte ich darauf und konnte den Blick von diesem wunderlichen Bild nicht abwenden. Ich merkte nicht einmal wirklich, wie Daniel meine Hände losließ und sich die Bandagen und Tuben zurechtlegte. Immer wieder schienen die Bewegungen der Statue sich zu wiederholen, aber es sah nie gleich aus. Wie ein flackerndes Feuer, dass mit den gleichen lodernden Flammen immer wieder neue Bilder erschaffen konnte. Es sah so lebendig aus.

"Ich wusste doch, es würde Ihnen gefallen" Daniels Stimme klang belustigt, aber er lächelte mich dabei freundlich an, während er eine Creme nach der anderen auf verschiedene Teile meiner Hand und Handgelenke rieb. Ich sah nur kurz zu ihm und dem, was er da tat, bevor mein Blick wieder an der Statue hing.

"Wie geht sowas?", fragte ich ihn dann leise.

"Es ist eine bestimmte Art der Kunst. Nicht jede Statue kann solche Energie in sich aufnehmen wie diese hier. Sie wurde aus einem bestimmten Stein gehauen und bei dem Schaffensprozess kontinuierlich mit Magie infusioniert, aber das zu erklären würde jetzt definitiv den Rahmen sprengen", antwortete er fachmännisch, während er die Bandagen um meine Hände wickelte.

"Mit… Iniqui Magie?", hackte ich nach und er schüttelte lachend den Kopf.

"Es gab schon immer und gibt noch so viel mehr Formen von Energie und dem was man Magie nennt."

"Wirklich?" Ich klang skeptischer als beabsichtigt.

"Dachten Sie wirklich, ihr wärt die einzigen?" Er klang schon wieder so, als würde er sich lustig über mich machen wollen.

"Naja… Ja?" Die Unsicherheit in meiner Stimme war nicht zu überhören. Er hielt belustigt grinsend seine Hände hoch und wackelte demonstrativ damit. "Ja aber wenn Die kein Iniqui sind, was sind Sie dann?" Meine Neugierde war definitiv geweckt worden.

"Es ist kein Zufall, dass ich mich so für Antiquitäten und Antikes interessiere. Wenn man den Überlieferungen glauben darf, dann kommt meine Kraft direkt von ihm." Er deutete auf die noch immer leuchtende und lebendige Statue.

"Von einem Gott?", fragte ich geschockt.

"Ist das denn so abwegig? Wenn Ihre Kraft von einem Menschen geschaffen wurde, warum sollte ein Gott das dann nicht können?"

"Naja… Ich glaube nicht an Gott… oder Götter."

"Spielt das denn eine Rolle? Wenn es sie wirklich gibt, dann auch ohne, dass Sie oder irgendjemand anderes an sie glauben. Ihre medizinische Versorgung ist jetzt im Übrigen fertig", schloss er das Gespräch und ich sah auf meine einbandagierten Hände und Arme. Die Schmerzen hatten tatsächlich komplett nachgelassen und ich konnte meine Hände sogar leicht bewegen, ohne dass es schmerzte. Wie er das wohl geschafft hatte? Ich kannte niemanden, der solche Heilerkräfte hatte.

"Und jetzt?", fragte ich ihn zögerlich.

"Sie sollten sich noch ein paar Tage schonen, das werden Sie brauchen. Lassen Sie den Verband an, dann sollte es spätestens nächste Woche wieder vollständig geheilt sein. Es war keine leichte Verletzung, mehr konnte ich nicht für Sie machen." Er klang tatsächlich entschuldigend.

"Vielen Dank…", murmelte ich und sah wieder zu der Skulptur. Er war mir ein komplettes Rätsel. Woher hatte er diese Kräfte? War es so, wie er sagte? Gab es diese Götter wirklich? Existierte irgendwo dieser Mann in seinem Sonnenwagen?

"Sie sollten Ihr Irrlicht zurückrufen", sagte Daniel. Es blieb kein Zweifel daran, dass er dieses Treffen damit als beendet erklärt hatte. Etwas ratlos sah ich erst zu Daniel, dann zu der Skulptur und berührte sie dann zögerlich. Sofort leuchtete sie heller auf und ich konnte sehen, wie sich das Licht durch meine Hand wieder in meinen Körper zurückzog. Die Statue erstarrte wieder.

Dann stand ich auf und ging wieder in den Laden. Er folgte mir aus dem Büro heraus und begleitete mich zur Tür. "Warten Sie noch einen Moment, ich habe etwas vergessen", sagte er und ich drehte mich etwas irritiert zu ihm um und konnte nicht so schnell ausweichen, wie er seine Hand auf mein Schlüsselbein gelegt hatte. Irgendetwas unbestimmtes zuckte durch meinen ganzen Körper und ich sprang schockiert auf und drückte mich an die Tür. "Was…", japste ich auf und er sah mir prüfend in die Augen. "Gut. Ihre Erinnerungen sind versiegelt. Er muss nicht von meiner Energie wissen, ich muss darauf bestehen, dass Sie das respektieren." Er klang ernst und kalt. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Und was meinte er überhaupt damit, dass er meine Erinnerungen versiegelt hatte? Schnell und abgehackt nickte ich, bevor ich die Tür öffnete und schnell aus dem Laden floh.

Es war schon dunkel, als ich in wieder nach Hause kam. Es war ein großes Herrenhaus, viel zu viele Räume und noch mehr Betten. Ich hatte mir nie die Mühe gemacht, sie zu zählen. Auch wenn es von außen eher zugewuchert und heruntergekommen aussah, so war es doch hinter der Fassade unfassbar prunkvoll. Die Eingangshalle war riesig und zog sich über alle drei Stockwerke des Hauses. Überall liefen andere Iniqui mit ihren Irrlichtern in allen möglichen Farben und Formen herum. Ein großer Kronleuchter hing von der Decke herunter und das Licht spiegelte sich im polierten Marmorboden. In jedem Stockwerk ging nach links und rechts jeweils ein Flur ab, der zu einem Großteil der Schlafzimmer führte, im ersten und zweiten Stockwerk ging auch noch jeweils ein Flur in den hinteren Hausteil ab. Hier im Erdgeschoss war vor mir nur eine große Tür, umrahmt von Treppen an beiden Seiten zum Rundgang im ersten Stockwerk. Hinter dieser Tür war sein Raum. Ich hatte sicher nicht lange Zeit, bis er mich zu sich rufen würde.

Schnell ging ich die Treppe hoch, um zu meinem Schlafzimmer zu kommen. Dabei wich ich wie gewohnt zwei grün leuchtenden Eulen und einer hellblauen Katze aus, die die Treppe runterstürmte, einer blassgrau schimmernden Maus hinterher. Die beiden Iniqui standen unten an der Treppe und lachten, während sie ihre Irrlichter beim Spielen beobachteten. Schon so lange wünschte ich mir, dass auch mein Irrlicht bald andere Formen annehmen könnte, doch diese Kraft bekam man wohl erst, wenn man würdig und erfahren genug war. Dann dachte ich wieder an die Statue und was mein Irrlicht damit gemacht hatte und lächelte. Das war auch ziemlich cool gewesen und ich wäre jede Wette eingegangen, dass sowas noch keiner hier getan hatte.

Vorsichtig drückte ich die Tür zu meinem Schlafzimmer auf. Zu viel Gewicht oder Belastung tat immer noch weh, aber immerhin war es erträglich, wenn ich aufpasste. Direkt wurde ich von einem meiner 4 Mitbewohner begrüßt.

„Erina! Erina! Erina! Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist! Das ist so cool schau her!“

„Wow Jack, lass mich erst mal ankommen bitte“, antwortete schnell, sah dann aber dahin, wo er aufgeregt hindeutete. Neben seinem Bett saß ein kleiner, blasslilaner Fuchs.

„Dein Irrlicht hat seinen Formwandel bekommen?“, fragte ich ihn dann erstaunt. Er hüpfte fast vor Freude. „Ja, endlich! Ich hab mir das schon soooo lange gewünscht! Ich kann es kaum glauben!“ Ich musste lachen. Jack war zwar ein Jahr älter als ich, aber manchmal verhielt er sich wie ein kleines Kind. Die Tatsache, dass man seine deutliche Zahnlücke immer direkt sah, wenn er fett vor sich hin grinste, machte ihn dazu dann auch noch einige Jahre jünger. „Richtig cool!“, stimmte ich ihm zu und lächelte ihn ehrlich an. Damit war er wohl zufrieden und hüpfte förmlich zu seinem Bett zurück. Erleichtert atmete ich aus und rieb mir den Kopf.

"Achja, ich glaube er will dich bald sehen. Er hat schon nach dir suchen lassen. Aber du solltest dich vielleicht vorher umziehen", sagte Jack etwas in Gedanken versunken zu mir, während er seinen Fuchs streichelte. Ich antwortete mit einem unverständlichen Grummeln und ging zu meiner Kleiderstange. Er hatte recht, meine Kleidung war ziemlich dreckig geworden heute und ich würde ihm nicht mit meiner Alltagskleidung gegenüber treten können. Ich hatte Flecken von Gras und Erde an meiner hellgrauen Hose und mein dunkelblaues Shirt hatte bei näherer Betrachtung etwas Ruß von meiner Explosion abbekommen. Schnell griff ich nach meiner blassgrünen Iniquikleidung. Ich war noch eine Formlose, mein Irrlicht hatte noch keine Form angenommen. Wir waren die untersten der Iniqui. Das Grün unserer Kleidung stand dafür, dass wir die Hoffnung und neue Zukunft waren. Nachdem das Irrlicht seine Form verändert hatte stieg man automatisch auf zum Formvollen und bekam beige Kleidung, als Zeichen dafür, dass man vor dem Scheideweg in alle Richtungen stand und sich seine Farbe jetzt selbst suchen musste. Nach einer speziellen Zeremonie, für die man spezielle Anforderungen erfüllen musste, die wohl jeder einzeln für sich bekam, wurde man Formvollendet und konnte die Farbe seiner Kleidung wählen. Sie musste aber blass bleiben, denn die strahlenden Farben blieben den Erleuchteten vorbehalten. Die Erleuchteten waren quasi die mächtigeren unter uns und es waren immer nur 10 gewesen. Jeder von ihnen trug eine andere Farbe. Wie man zu einem Erleuchteten wurde, wusste niemand so wirklich. Die Erleuchteten selbst redeten nicht darüber und wenn einer von ihnen durch einen Neuen ersetzt wurde, verfiel er danach immer in fast schon apathisches Schweigen.

Plötzlich hörte ich ein leises Rauschen und im nächsten Moment kam ein strahlend weiß leuchtender Adler durch die geschlossene Tür geflogen und landete vor mir. Er war wirklich riesig, bestimmt 1,80m groß und damit größer als ich. Erst plusterte er sich leicht auf und wackelte dann etwas mit dem Kopf, bevor er mich direkt ansah. Es war wie eine äußere Macht, die mein Innerstes umkehrte und ich konnte mich nicht dagegen wehren. Mein kleines gelbes Irrlicht war erschienen und sah wirklich lächerlich neben diesem mächtigen Irrlicht aus. Der Vogel aus purem Licht war sein Irrlicht und es rief mich zu ihm. So schickte er Nachrichten an uns. Sein Irrlicht musste nicht mit uns reden können, man konnte eh immer nur mit seinem eigenen kommunizieren, aber es pflanzte einem die Gedanken und Befehle förmlich in den Kopf. Es war schwer zu beschreiben, weil ich auch nicht ganz verstand wie es funktionierte, aber sobald es einen anschaute, wusste man einfach was verlangt war. Ich schluckte schwer und hob die Hand mit meiner Iniquikleidung hoch, als Zeichen, dass ich mich noch schnell umziehen und dann sofort kommen würde. Der Adler legte den Kopf leicht schief und kniff die Augen zusammen, nickte mir dann aber zu und flog mit unnatürlicher Leichtigkeit wieder durch die Tür von mir weg.

Ich atmete viel zu laut aus, aber ich brauchte das. Ich musste die ganze Anspannung, die sich eben in mir angesammelt hatte, irgendwie wieder loswerden. Dann rieb ich mir das Gesicht. Was würde er nur sagen, wenn er in meinem Kopf die Erinnerung an die Statue finden würde? Daniel hat gesagt, er sollte es nicht erfahren, aber wie konnte ich vor ihm ein Geheimnis bewahren? Erst jetzt wurde mir viel zu stark bewusst, wie sehr ich heute gegen seine Befehle gehandelt hatte. Ich hatte gezweifelt, von fremden Göttern erfahren, ich war explodiert und weggerannt, anstatt zu bleiben und die Menschen zurechtzuweisen, so wie er es wollte. Ich hatte mich versteckt, Schwäche gezeigt, mit meinem Irrlicht etwas getan, was hier niemand anderes auch nur mal erwähnt hatte.

„Bist du okay, Ri?“ Jake meinen alten Kinderspitznamen sagen zu hören ließ mich instinktiv etwas lächeln. Es war noch einfacher, als wir beide noch jünger waren und er nicht so viel von uns verlangt hatte.

„Ja, passt schon, ich sollte mich besser beeilen“, nuschelte ich zwischen meinen Händen hervor, atmete nochmal tief durch und zog mich schnell um. Meine dreckige Kleidung warf ich dabei achtlos auf mein Bett. Die würde ich später noch wegräumen können. Dann ging ich aus dem Zimmer raus und lief zu seiner großen Tür. Meine Hände zitterten vor Nervosität.

„Bist du bereit?“, fragte mein Irrlicht mich und ich nickte leicht. Es war gut zu wissen, dass es bei mir war, so war ich immerhin nicht allein. Auch wenn es mir nicht helfen können würde, wenn irgendetwas passierte. Er hatte die Energie geschaffen, er hatte auch die Kontrolle darüber. Wenn er sie sich nahm, gab es absolut nichts mehr, was ich tun konnte. Schon von der Treppe aus sah ich den riesigen weißen Adler vor der Tür sitzen. Als ich schließlich vor ihm stand, sah er mich eindringlich an und ging dann hinein. Ich wusste, dass ich ihm zu folgen hatte, er wartete auf mich. Ich atmete noch einmal tief durch, ballte meine Hände zu Fäusten um das Zittern irgendwie zu verstecken und dann öffnete ich die Tür.